Bibliographie: - Planet Poster



Francisco Welter-Schultes

Umweg nach Cayenne

Band 3

manuskript version 18.6.2004

Umweg nach Cayenne ist eine Autobiographie. Alle im Buch vorkommenden Personen sind Personen des wirklichen Lebens. Um ihre Privatsphäre zu schützen, wurden die meisten von ihnen unter Pseudonym vorgestellt. Ausser Personen des öffentlichen Lebens.

Titelfoto Teil 3a: Kleiner ruhiger Bach im tropischen Regenwald, wie bei Cristales in Kolumbien and der Grenze zu Panamá.

Titelfoto Teil 3b: Brasilianische Bundesstrasse BR 316 bei Tanquinho.

(Die Zweiteilung ist nur, weil der Copy-Shop die Bücher nicht so dick binden kann.)

Grundsätzlich wird die alte Rechtschreibung verwendet, mit einigen Abänderungen (modernere Silbentrennung, durchgängig ss statt ß).

Umweg nach Cayenne

Inhalt des dritten Bandes

|21 |Dreissig Schritte bis zum Ufer - |9 | |

| |English for runaways | | |

|22 |Feierabend in den Tropen - Veracruz |69 | |

| |Gringo in Mexico | | |

|23 |Von Chiapas bis Nicaragua - |102 | |

| |Eintritt in die Länder Mittelamerikas | | |

|24 |Du siehst im Dunst die zwei Palmen - |132 | |

| |Ein langer Weg am Karibikstrand | | |

|25 |Und nachts hämmern die Spechte - |160 | |

| |Bei den Mískito-Indianern in Honduras | | |

|26 |Oder arbeitest du für lasía? - |227 | |

| |Nicaragua, 1988 | | |

|27 |Fussball und Moskitos - |258 | |

| |Zu Fuss nach Südamerika | | |

|28 |Schuster in Kolumbien - |302 | |

| |Bogotá | | |

|29 |Ich bin halt so ein bisschen auf der Suche - |315 | |

| |Quichua in Ecuador | | |

|30 |Land der Inkas - |345 | |

| |Einmal durch Peru | | |

|31 |Tarea in Oruro - |396 | |

| |Arbeit auf dem Altiplano | | |

|32 |Meinetwegen bis zum Südpol - |414 | |

| |Strassen ans Ende der Welt | | |

|33 |Caballuno - Pferdefleisch - |454 | |

| |Eine Estancia in Feuerland | | |

|34 |Inspektor im Ausnahmezustand - |478 | |

| |Río Grande, Feuerland | | |

|35 |El pero del sábado - |530 | |

| |Ein Lächeln in Buenos Aires | | |

|36 |Truck-Tramp 399 - |547 | |

| |Über Paraguay nach Brasilien | | |

|37 |Keine Angst, glücklich zu sein - |576 | |

| |Politik und Träume in Bahia | | |

|38 |Slalomfahren zwischen Trucks - |604 | |

| |Mit dem Fahrrad an den Amazonas | | |

|39 |Zwischen squatt und chantier - |623 | |

| |Cayenne, Französisch-Guyana | | |

|40 |Wir sind einfach nur Leute - |667 | |

| |Eine Insel im Amazonas | | |

|41 |Zurück aus dem Urwald - |687 | |

| |Europa, 1990 | | |

Montag, 1. Juli 2002. Ich muss mich fast schon zwingen, den dritten Band anzufangen. Die Erinnerung tendiert dazu, unkooperativ zu sein. Sie löscht Daten und Ereignisse. Ist vielleicht manchmal auch gut so. Ich lebe nur sehr ungerne in der Vergangenheit und es fällt mir schwer, mich in viele Jahre zurückliegende Ereignisse, Gefühle und Probleme von neuem einzuarbeiten. Aber jetzt habe ich die ersten beiden Bände auch schon hinbekommen, dann wird es für den dritten auch noch reichen. Und ganz so schlimm wars ja auch nicht immer.

Wir befinden uns also Anfang Oktober 1987 mit einem One-Way-Ticket in einer Maschine von Pakistan International Airlines etwa zehntausend Meter über dem Nordatlantik auf dem Flug von Frankfurt nach New York. Mit zweihundertsechzig Dollars in der Tasche. Die Spannung liegt berechtigterweise darin, ob sie mich damit in New York auch einreisen lassen.

1-20

Was bisher geschah.

Die Story ging irgendwann gegen Anfang des ersten Bandes an jenem Tag im Dezember 1976 los, als ich in die fünfte Klasse eines Mainzer Gymnasiums eingeschult wurde. Eine der beiden Schülerinnen, die den Job hatten, mich eine Treppe nach unten in die Klasse zu bringen, war auf irgendeine geheimnisvolle Weise und ohne dass sie etwas davon ahnte, anders als die anderen. Nach einem halben Jahr hatte ich plötzlich eine Idee, wie ich hinter dieses Rätsel kommen könnte.

Bereits vorher hatte ich herausgefunden, dass es einen Gott gab - oder eine Göttin, falls sie weiblich war - und dass sich damit Fragen beantworten liessen. Und auf meine naive Frage, ob das komische Gefühl daran liegen könnte, dass ich dieses Mädchen später einmal heiraten würde - ich liess mir diese Frage in einem Traum beantworten - kam ziemlich überraschend ein völlig klares und unzweideutiges Ja.

Was wiederum unmittelbar die überaus knifflige Frage aufwarf, ob es denn in irgendeiner Form eine Art vorgezeichnete Zukunft gab.

Dies ist nicht die Geschichte dieses Mädchens.

Es scheint eher die Geschichte dieser überaus kniffligen Frage zu sein. Meine Mitschülerin beantwortete sie vorsichtshalber spontan mit nein, als ich ihr die Sache auf einer Klassenfahrt einmal erzählte. Ich selber war zwar vorsichtiger mit derart naheliegenden Antworten, konnte mir aber auch keinen Reim darauf machen. Wenn die Zukunft schon vorgezeichnet war - oder wäre - wie funktionierte dann das Leben?

Subjektiv deutete ich den Traum lange Zeit als ein Versprechen, einmal dieses Mädchen zu heiraten. Aber genau genommen war es nie als ein Versprechen formuliert gewesen. Es war nur eine Information, gegeben als Erklärung für ein vages Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte, wenn ich in ihrer Nähe war.

Darauf, dass meine Mitschülerin mit der Geschichte nicht allzu viel zu tun haben konnte, kam ich irgendwann auch selber. Und auch darauf, dass ich es nicht mehr lange aushalten würde, mit ihr täglich in die Schule zu gehen.

Aber ich hatte ja geschiedene Eltern, und irgendein Vorteil musste dabei ja rausspringen. So entschied ich mich im Alter von vierzehn Jahren zusammen mit meinem zwölfjährigen Bruder Norbert, dem Zuhause in Mainz den Rücken zu kehren. Ein Satz meiner Mitschülerin schien mich fortan zu begleiten: Du müsstest dich verändern.

Was nicht schwer zu erraten war. Aufgewachsen war ich bis dahin in einem ziemlich wenig erstrebenswerten familiären Umfeld von Hass, Verlogenheit, Gefühlskälte, Intoleranz, geschiedenen Eltern und Prügelstrafe als bestem Mittel einer Erziehung, die allgemein darauf rauslaufen sollte, dass Kinder am Ende genauso würden wie ihre Eltern - also völlig durchgeknallt.

Völlig durchgeknallt war auch unsere Idee, morgens um vier aus dem Haus zu schleichen und dabei unsere Fahrkarten zu vergessen. Also mussten wir unsere erworbenen Fähigkeiten aus der Erziehung auf der nächstbesten Polizeiwache zum Besten geben - dessen hilfsbereites Personal zwar ein wenig verwundert reagierte, uns schliesslich aber freundlicherweise zum Bahnhof brachte. Siebenhundert Kilometer weiter landeten wir in der Kleinstadt Neustadt an der Ostsee, wo unsere Mutter wohnte.

Zumindest vorübergehend. Schon seit Jahren lebte sie ständig vorübergehend in verschiedenen Städten - genau deshalb waren wir seit der Scheidung bei unserem Vater gewesen. Zwei Jahre später zog sie auch aus Neustadt wieder weg und wir blieben alleine zurück, was nicht ganz stressfrei, aber dafür ganz informativ war.

Unter anderem lernten wir, was ein Rechtsstaat war - ein Staat, der jenseits des Abiturwissens in einer Welt existierte, in der Minderjährige im Gegensatz zu Erwachsenen beispielsweise jederzeit fristlos aus einer Wohnung gekündigt und auf die Strasse gesetzt werden konnten - sie konnten sich ja praktischerweise nicht dagegen wehren, denn sie konnten ja vor Gericht keinen einzigen Antrag stellen.

Auch die Demokratie hatte nur eine bescheidene Existenz jenseits des Abiturwissens und so gab es trotz riesiger Grossdemonstrationen jahrzehntelang so gut wie keine Möglichkeit, in der Energie- und Rüstungspolitik Einfluss auf die Kräfte zu nehmen, die in Wirklichkeit das Land zu regieren schienen. Der Rechtsstaat lernte aber auch ein bisschen uns und gleichzeitig seine eigenen Grenzen kennen - die Volkszählung 1987 liess sich nicht mehr ganz so einfach durchsetzen wie die Stationierung von immer neuen Atomraketen.

Ich hatte inzwischen Zivildienst gemacht und meine Zeit in Schleswig-Holstein war zuende. An einem regnerischen Donnerstag im September 1987 machte ich mich auf einen Weg, von dem ich eigentlich nur eine blasse Ahnung hatte, wohin er mich führen würde.

Ein Weg mit einer spirituellen und einer geographischen Komponente. Es schien mit dem südamerikanischen Kontinent zu tun zu haben. Mit Indianern, mit Wäldern, mit Armutsvierteln, mit Strassen, die mir entgegenkommen würden. Aber ich hatte gar nicht das Geld, nach Südamerika zu kommen. Dann eben Nordamerika, hatte ich mir gesagt, und so sass ich nun im Flugzeug nach New York.

Ich unterhielt mich mit dem Pastor von der Church of Christ, der mir vor dem Flug die dreissig Pfennig spendiert hatte, damit ich Lina in Hamburg noch einmal anrufen konnte. Lina, mit der ich vier Wochen in Kreta gewesen war. Der nette Pastor schrieb mir einen Zettel, dass ich nach Argentinien unterwegs sei und dass jeder, der diesen Brief las, mir seine Hilfe anbieten sollte. Wie eine Art Schutzbrief eines Sultans für eine Reise durch ein wildes und gefährliches Land.

Das Flugzeug landete in New York JF Kennedy. Und jetzt wurde es erstmal wie versprochen spannend.

21

Dreissig Schritte bis zum Ufer -

English for runaways

Freitag, 2. Oktober 1987

Mein Rucksack war unversehrt aus der Gepäckausgabe gekommen und ich reihte mich in die Schlange der Nicht-US-Bürger, die nun durch die Passkontrolle mussten. Der Rucksack sah abenteuerlich aus, mit Holzstöcken statt Metallstäben als Aussengestell, selbstgenäht und aus grünlich gemustertem Stoff. Genauer, Irene Westerwald aus Neustadt hatte ihn genäht, mit ihrer Nähmaschine.

Vor mir ging alles schnell, die Leute kamen schnell durch die Kontrolle. Aber nicht bei mir, und genau das hatte ich erwartet. An meinem Pass mit dem Visum war nichts auszusetzen. Der Beamte hinter dem Schalter wollte mein Rückflugticket sehen. Ich hatte kein Rückflugticket. Das sei aber schlecht, so könne er mich nicht einreisen lassen.

In solchen Situationen begann ich zu zittern und ich musste mich daher sehr anstrengen, meinen Adrenalinpegel zu überspielen.

Maybe I should explain you a few words, fing ich an und holte den Zettel vom Hamburger Reisebüro team-reisen heraus.

- Well, I'm a hitchhiker, and a want to hitchhike from New York to Mexico and then all the way down to South America and fly back to Germany from Argentina....

Er überflog den Zettel vom Reisebüro, der mit Stempel und Unterschrift sehr professionell aussah und wo in perfektem Englisch stand, der Rückflug von Argentinien sei bereits gebucht und bezahlt.

Vielleicht hätte ich vorher entweder noch ein bisschen Englisch statt Spanisch üben sollen, oder in der Elften besser aufpassen, als es um die Unterschiede zwischen britischem und amerikanischem Englisch ging. Dann hätte ich in diesem Moment vielleicht verstanden, was jetzt passierte.

Ich wusste nicht, dass es in den meisten Bundesstaaten der USA verboten war, per Anhalter zu fahren - und sagte dem Beamten der Einwanderungsbehörde also praktisch ohne Umschweife, ich wollte in die USA einreisen, um dort etwas Verbotenes zu tun. Hätte ich das in dem Moment gewusst, hätte ich jetzt noch weniger verstanden, was jetzt passierte.

Die Augen des Beamten blitzten einmal kurz auf, er sah mich an und lächelte. Dann fragte er, wieviel Geld ich dabei hatte. Ich zeigte ihm die zweihundertsechzig Dollar in American Express-Reiseschecks. Das sei aber ziemlich wenig, meinte er.

As I told you, I am a hitchhiker, and hitchhiking is cheap, versuchte ich ihn davon zu überzeugen, dass es ja extrem billig sei, per Anhalter zu fahren. Er warf einen Blick auf meinen Rucksack. Sehr rustikal. Ob ich keine andere Geldquelle hätte, fragte er. Mein Bruder könnte mir Geld zuschicken, antwortete ich verlegen. Der Beamte sah mich ein wenig erstaunt an. Eine kurze Diskussion schloss sich an, ob ich in den USA bleiben oder arbeiten wollte, was ich noch einmal mit dem Hinweis verneinte, ich wollte ja nach Mexico trampen. Ich holte den Schutzbrief des Sultans von der Church of Christ heraus und legte ihn dazu. Wie lange ich bis Mexico bräuchte. Na, so drei Monate vielleicht.

Er drückte einen kleinen, wortkarg aussehenden Stempel in den Pass, gab ihn mir wortlos zurück und schob mir meine ganzen Zettel wieder zu.

- Und jetzt?

- Ja, weitergehen, andere stehen auch noch in der Reihe.

Ich sah mir den Stempel an. Wohl kaum ein Land hatte einen Einreisestempel, der so billig aussah und so wenig hergab wie dieser. Mir war immer noch nicht klar, ob ich damit die Einreise hatte. Ich entschied mich, mich dumm zu stellen und einfach freundlich zu fragen.

- Wieviele Monate kann ich jetzt in den Vereinigten Staaten bleiben?

- Sechs Monate.

- Oh, danke. Vielen Dank.

Ich war völlig überrascht, das war die Einreise und ich hatte sechs Monate Visum! Ich brauchte nicht zurück nach Europa! Sechs Monate waren das Maximum, was sie in den USA einem Touristen geben konnten. Aus irgendeinem Grund hatte ich jetzt den Höchstpreis gewonnen. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen.

English for runaways. Englisch für Fortgeschrittene. To hitchhike - per Anhalter fahren (britisches Englisch) wurde in den USA nicht verstanden, und to hike hiess im amerikanischen Englisch wandern. Der Beamte hatte es also so verstanden, dass ich einer der ganz Harten sein musste, einer derer, die einen ganzen Kontinent zu Fuss durchquerten. Der hohe Respekt der Amerikaner vor diesem Pioniergeist war es, der kurz in seinen Augen aufgeblitzt war, der wilde Westen, etwas, wovon ein Beamter der US Immigration nur träumen konnte.

Als nächstes folgte die Gepäckkontrolle am Zoll. Ich hatte mir haltbare Essensvorräte mitgenommen, Salami und Kassler aus einem Supermarkt. Der Typ erzählte etwas von einem Einfuhrverbot für Lebensmittel, lächelte mies und strich sich das Fleisch ein. Ein anderer gab mir eine Adresse in Manhattan, wo ich hingehen könnte. West achtundachzigste Strasse, die seien ganz gut drauf.

Ich verliess das Flughafengebäude zu Fuss und wanderte los, nach Westen, Richtung Manhattan. Natürlich gab es nirgendwo Fusswege. Die ersten paar Kilometer musste ich an der Seite irgendwelcher Autobahnen gehen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit Manhattan war.

Brief Forum 1, Oktober 1987

Es waren vielleicht dreissig Schritte bis zum Ufer, aber zwischen mir und den Bäumen stand das Wärterhäuschen. Es hatte schon längst begonnen zu dämmern. Nach zwei Stunden Laufen war der Rucksack schwer geworden. Ich fasste all meinen Mut zusammen und ging hinein. Uns so lernte ich den Wärter kennen.

Ein bisschen komisch fand ers ja, als ich ihm erklärte, dass ich irgendwo unter den Bäumen hinter der Absperrung übernachten wollte. Howard Beach, mit Blick auf die Jamaica Bay. Er bot mir Kaffee und Kuchen an. Das New Yorker Wasser sei gut. Und dann begann er, ein bisschen über sich und sein Land zu erzählen.

Er dürfte etwa sechzig Jahre alt gewesen sein, seine Eltern waren aus Italien eingewandert. Von seiner alten Arbeit hatten sie ihn entlassen, weil er zu alt geworden war; er war froh, dass sie ihm diesen Wärterposten angeboten hatten.

New York? Das sei nichts für mich. Die Leute, die Kriminalität... naja, in Queens gings gerade noch. Aber sonst - schlechte Stadt. Ich wollte ja gar nicht in New York bleiben, erklärte ich, ich hatte eben nur den billigsten Flug von Frankfurt nach Amerika genommen.

So - per Anhalter weg? - Schlag dir das aus dem Kopf. Keiner wird dich mitnehmen. Die Leute hätten viel zu viel Angst. Zu Recht: New York hatte seine sechs bis zehn Morde am Tag. Ausserdem sei Trampen in den meisten Staaten der USA verboten, auch wenn kein Polizist mich dafür belangen würde.

- Auf dem Land ists anders. Geh nach Westen. You'll see - people will help you.

Brötchen hatte er noch. Im Wetterbericht nannten sie eine dreissigprozentige Wahrscheinlichkeit dafür, dass es in der Nacht regnen könnte. Er erklärte mir, wo ich mich am besten hinpacken könnte, unter den Bäumen, er hätte natürlich niemanden gesehen. Dann drückte er mir zwei Dollar in die Hand und beschrieb mir den Weg, wie ich morgen mit der U-Bahn nach Manhattan in die Stadt kommen würde.

Es gab keinen Regen in dieser Nacht.

Die U-Bahn-Station hiess gemeinerweise Howard Beach/JFK Airport. Zwei lange Stunden war ich gestern an irgendwelchen Parkways langgelaufen, und dem Namen dieser Subway Station nach zu schliessen war ich offenbar keinen Meter weiter gekommen. Na, das konnte ja heiter werden.

Die U-Bahn unterquerte den East River nach Manhattan und ich stieg ein oder zwei Sationen später aus, ein paar Blocks von den World Trade Centers entfernt. Die brauchte ich mir jetzt nicht anzusehen, das konnte ich später immer noch. Ich ging ein wenig auf dem Broadway spazieren, immer nach Norden, erreichte irgendwann den Central Park, setzte mich auf einen Stein zwischen Wiesen und Bäumen und liess mir die Oktobersonne ins Gesicht scheinen. Ich musste an Lina denken. Und an die Indianer, denen dieses Land völkerrechtlich noch heute gehörte. Die Felsen, die Wiesen, die Bäume. Lina war jetzt auf der anderen Seite des Atlantik. Verdammt, war ich auf einmal weit weg.

Wie gross Manhattan war. Dreissig Blocks weiter fand ich auf der Westseite vom Central Park tatsächlich die Adresse, die mir der Typ von der Zollkontrolle gegeben hatte. Eine Holländerin leitete in einem Altbau eine Art Hostel für europäische Rucksack-Touristen. Die Leute fand ich nett. Morgen wollten welche in die Bronx. Ich wollte nicht im Haus übernachten, nahm meinen Schlafsack und ging in den abendlichen Central Park.

Direkt an einem See stand ein kleiner Pavillon und ich setzte mich hinein. Gegenüber lagen ein paar Museen. Jüdisches Museum, Guggenheim-Museum. Ein englischer Soldat kam hinzu, ich hatte mich fast erschrocken, setzte sich wie jeden Abend und genoss die ruhige Stimmung am See. Später ging ich ein paar Felsen hinunter und legte mich schlafen. Ich hätte nicht gedacht, dass es so romantisch sein konnte, unter freiem Himmel im Central Park in Manhattan zu übernachten.

Die nächsten beiden Tage spazierte ich mit einigen Leuten aus dem Hostel durch Harlem und South Bronx. So spektakulär fand ich es nicht - anders als in Berlin-Kreuzberg sah es hier auch nicht aus. Die Rucksacktouristen kamen wohl eher aus anderen Gegenden und für sie war New York etwas ganz Besonderes. Die Holländerin, die mit ihren blonden Haaren wie ein Mädchen aus der Käsereklame aussah, fand es nicht so gut, dass ich zwar den ganzen Tag bei ihnen rumhing, nachts aber jedesmal im Central Park schlief. Dann würde sie ja kein Geschäft machen, und wenn das andere mitbekämen...

Der englische Soldat fand es auch nicht gut, dass alle nur ans Geld dachten. Wie man in New York wohl an Geld kommen könnte? Oh, das sei nicht schwer. Handwerker seien gefragt, Schreiner oder Tischler. Wenn du ein Handwerk kannst, hast du hier sofort einen Job. Und ziemlich gut bezahlt ausserdem.

Nun gut, aber mein Job war es offenbar nicht, in New York an Geld zu kommen. Auch stundenlang den Leuten mit ihren ferngesteuerten Spielzeugbooten auf einem der Seen im Central Park zuzuschauen war hier nicht mein Job. Nach der dritten Nacht im Central Park machte ich mich auf den Weg. Geh nach Westen, hatte der Wärter gesagt.

Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte. Alles, was mein Gefühl hergab, war eine vage Richtung nach Westen. In der Tasche hatte ich zwei Adressen von Gerwin Holzer aus Neustadt. Eine lag in British Columbia, Kanada, und eine am Amazonas in Brasilien. Kanada lag näher. Und es war im Westen. Geh nach Westen. You'll see - people will help you.

Ich hatte vergeblich versucht herauszubekommen, wo man sich als Anhalter in New York hinstellen könnte, um nach Westen zu trampen. Von den Rucksacktouristen, die im Hostel waren, gab es nur spärliche Informationen. Ja, trampen würde schon gehen, hatten einige gehört, auch wenn es verboten war. Aber man musste wirklich wissen, wo man sich hinstellen musste. Einen Rasthof wie in Hamburg-Stillhorn gab es ganz offenbar nicht. Und auch der Traum vom Trampen in grossen amerikanischen Überland-Trucks, mit Schnauzen, viel Chrom, dumpfen Hupen und bärtigen Truckern hatte wohl nur ganz wenig mit der harten Realität zu tun.

Ich ging den Broadway entlang durch das morgendliche Harlem, immer weiter nach Norden. Bei der einhundertachtundsiebzigsten Strasse bog ich nach links ab und ging auf die George Washington-Brücke zu. Interstate Highway 95 stand an der Strasse. Und direkt vor der Brücke - eine Überraschung. Hier stand doch tatsächlich ein Tramper, direkt vor der Brücke. Neben dem Wappen mit der 95. Also doch. Von wegen, keine Tramper in New York.

Die George Washington-Brücke war eine imposante Stahlkonstruktion über den Hudson River und verband als einzige Brücke Manhattan mit New Jersey. Aufgehängt auf zwei zweihundert Meter hohen Pfeilern, führte die fast zwei Kilometer lange Spannbrücke mit ihren auf zwei Etagen geführten vierzehn Spuren nach ein paar Kilometern auf den Interstate Highway 80 nach Pennsylvania, Ohio und Chicago. Es war der direkte Weg nach Westen. Ich nahm meinen dicken schwarzen Stift, suchte mir aus Harlems allgegenwärtigen Müllbergen einen Karton und schreib darauf West. Mit einen grossen freundlichen Daumen. Comics malen hatte ich mir inzwischen ganz passabel beigebracht.

[pic]

George Washington Bridge über den Hudson River, von New Jersey aus gesehen. Strassen in zwei Etagen, Fussweg im Vordergrund, auf der oberen Etage. Foto aus dem Internet.

Etwas war allerdings merkwürdig. Der Tramper war alles andere als begeistert, dass ich ankam, und reagierte ziemlich unfreundlich auf die Konkurrenz. Das war mir in Europa noch nie passiert. Auch wenn es natürlich immer schwerer war wegzukommen, wenn mehrere dastanden - es gab immer eine Solidarität unter den Trampern, sie erzählten sich ihre Reiseziele, ihre Erfahrungen und wie lange sie schon dastanden. Und dass diejenigen Vorrang hatten, die am längsten warteten, war ein ungeschriebenes Gesetz.

Na gut, dann eben nicht, sagte ich mir, und vertrieb mir die halbe Stunde in einem Bus Terminal nebenan, bis er mitgenommen wurde. Dann stellte ich mich hin, an dieselbe Stelle. Länger als vier Stunden konnte es nicht dauern.

Im Bus Terminal war ich nicht recht schlau daraus geworden, wie man mit dem Bus nach Westen kommen könnte. Vor allem, wohin genau sollte ich fahren? Ich müsste mir ja ein Ticket kaufen. An einen ganz bestimmten Ort. Das war der Vorteil am Trampen. Der Wagen, der dich mitnahm, konnte selbst entscheiden, wohin er fuhr. Und genau das wäre mein Weg. Mit einem Bus ging das nicht.

Ein dunkelgrüner Transporter hielt an. Kennzeichen New Jersey. Die amerikanischen Kennzeichen waren nach Bundesstaaten sortiert. Der Wagen hielt allerdings nicht an der Zufahrt auf die Brücke, sondern auf einer Art Rangiergelände daneben. Der ein wenig italienisch aussehende Typ mit Dreitagebart meinte, er würde nach Westen fahren und könne mich mitnehmen, allerdings müsse er vorher noch etwas erledigen. Das würde aber nicht lange dauern. Ich war von Natur aus misstrauisch, und erst recht nachdem ich von allen möglichen Leuten vor der hohen Kriminalität in New York gewarnt worden war.

Er nannte ein Ziel in Pennsylvania. Ich wusste nicht, wo genau das war, aber egal, Pennsylvania reichte aus. Er hatte einen Arbeitswagen und Kennzeichen von New Jersey. Das gab Sinn.

Also stieg ich ein und packte den Rucksack vor meine Beine auf den Beifahrersitz. Er fuhr los, ein paar Strassen zurück in die Stadt, unterhielt sich ein bisschen mit mir und fragte, was ich so machen wollte. Ich sagte, dass ich vor wenigen Tagen erst in den USA angekommen war, und er fragte, ob ich denn schon amerikanisches Geld umgetauscht hätte. Ich blieb vorsichtig und sagte lieber nichts von den Reiseschecks. Und ob ich ihm etwas für die Fahrt geben könnte. Das sei üblich hier. Ein paar Dollar. Irgendwo hatte ich einen zehn-Dollar-Schein. Er würde mir was davon wiedergeben, meinte er, an einer Raststätte auf der Fahrt nach Pennsylvania.

Dann hatte er noch einen Gedanken. Ob ich wirklich nicht mehr amerikanisches Geld als zehn Dollar hätte. Nein, sagte ich. Auf dem Land sei es sehr schwer, ausländische Währungen zu tauschen. Er bot mir an, bei einer Bank anzuhalten, damit ich deutsches Geld tauschen könnte.

Mist, das war verdächtig. Der Typ machte nicht den Eindruck eines Kriminellen, aber sein Verhalten war komisch. In Europa war es war grundsätzlich tabu, beim Trampen über Geld zu sprechen. Er hielt vor einer Bank an. Na gut, wenn es ihn glücklich machte, dann würde ich eben so tun, als würde ich Geld tauschen. Ich zog mir meine Jacke an, nahm die Tüte in die Hand und ging zum Eingang der Bank. Den Rucksack liess ich im Auto, Wertsachen waren nicht drin. Die Bibel war drin. Ich betrachtete das ein wenig als Sicherheit, dass der Typ nicht einfach abhauen würde.

Als ich durch die Glastür der Bank ging, liess ich den Wagen nicht aus den Augen. Der Fahrer machte nochmal eine Geste, ja, es sei der richtige Eingang. In diesem Moment legte der Typ den ersten Gang rein und fuhr los. Sofort war ich aus der Bank, rannte hinter dem Wagen her und bekam ihn fast sogar noch zu fassen. Doch er war schneller und irgendwann war er mit hoher Geschwindigkeit in der hundertsechsundsiebzigsten Strasse verschwunden. Ich hatte keine Chance. Aber warum denn? Was wollte er denn mit meinem Rucksack?!

Ich war völlig aufgelöst. Ich konnte es überhaupt nicht haben, beklaut zu werden. Er hatte zehn Dollar und ansonsten keine Wertsachen, aber verdammt - er hatte meinen Schlafsack. Und lauter Klamotten. Linas Pullover. Die Bibel. Na, dann konnte Gott ja nicht besonders viel daran gelegen sein, dass ich mich weiter mit der Bibel beschäftigte. Mich irritierte ein wenig, dass ich die Präsenz Gottes in dieser Szene ziemlich deutlich zu spüren meinte.

Ich lief ziellos die Fort Washington Avenue entlang und überlegte, was ich machen sollte. Ich schrieb mir das Kennzeichen des Wagens auf einen Zettel. Dann kam ich endlich auf die schlaue Idee, eine Polizeiwache zu suchen. Ich fragte einen Verkäufer vor einem Obstladen an der Strasse.

- Excuse me, can you please tell me where the next police station is?

Der Verkäufer runzelte die Stirn. Ah, entweder taubstumm oder Puertoricaner.

- Do you speak English?

Er schüttelte den Kopf und betrachtete das Gespräch fast für beendet. Aber ich hatte ja noch mehr auf Lager. Andersrummige Fragezeichen nämlich.

- ¿Habla Usted español?

- ¡Si, como no!

- ¿Dónde está la estación de policia?

Und in perfektem Spanisch bekam ich von dem sehr freundlichen Verkäufer nun erklärt, wo drei Blocks weiter die nächste Polizeiwache war. Ich hatte es im Gefühl gehabt, dass ich Spanisch lernen sollte, in Hamburg. Und ich hatte es schneller gebaucht als ich mir vorgestellt hatte.

Auf der Polizeiwache waren sie sehr freundlich. New Yorks Polizisten seien die erfolgreichsten Verbrechensjäger weltweit, stand stolz auf einem Plakat. Na, ob sie sich wenigstens die Mühe gemacht hatten, vorher noch die Statistiken zu fälschen? Sie gaben das Kennzeichen in einen Computer und bekamen ziemlich schnell raus, dass der Wagen einem Typen aus New Jersey gehörte und als gestohlen gemeldet war. Na, das war ja ganz toll.

Sie liessen sich auch nicht davon überzeugen, eine Suchmeldung an die umherfahrenden Streifenwagen rauszuschicken, um ihre Erfolgsstatistik auf natürliche Weise aufzubessern. Es brachte auch nichts, dass ich ihnen erklärte, es seien sehr wichtige Medikamente in meinem Rucksack. Geduldig nahmen sie die Personenbeschreibung des Typen auf und was ich alles als gestohlen meldete. Ein bisschen Mitleid kam sogar auf, als ich sagte, a bible. Mit den Medikamenten versuchten sie mir gut gemeinte Ratschläge zu geben, wo ich sie hier bekommen könnte, und als ich nochmal etwas deutlicher sagte, sie sollten eine Suchmeldung an die Streifenwagen rausgeben, um den Verbrecher zu fangen, suchten sie mir die Adresse der deutschen Botschaft raus, die mir das Geld für das geklaute Rückflugticket vorstrecken würde. Am Ende musste ich mich aus meinen ganzen Geschichten wieder einigermassen glimpflich rauswinden und war froh, aus der hilfsbereiten New Yorker Polizeiwache endlich wieder raus zu sein. Hm. Komisches Verständnis von erfolgreicher Arbeit hatte die. In Mainz war das aber anders abgelaufen.

Immerhin, es schien die Sonne. Noch ein paar Blocks weiter und ich stand wieder vor der George Washington Bridge. Ich überlegte kurz, und dann entschied ich mich, loszugehen. Hier ging das, wir waren hier nicht auf der Fehmarnsundbrücke. Es gab einen Fuss- und Radweg an der Südseite des Interstate Highway 95.

Auf der anderen Seite des Flusses lag New Jersey. Im Prinzip war es immer noch New York; die Stadt mit über zwölf Millionen Einwohnern hatte einen riesigen Grossraum. Ich setzte mich direkt hinter der Brücke in eine Parkanlage von Fort Lee mit Blick nach Manhattan über den Fluss und zählte zusammen, was ich noch besass.

Eigentlich war das noch ganz schön viel. Wenn ich eine Liste der Sachen zusammengestellt hätte, die ich bei der Einreise dabeigehabt hatte, würde jetzt nur ein kleiner Teil fehlen. Die ganzen Sachen aus den diversen Taschen der Jacke waren noch da, und das war gar nicht so wenig. Und die Tüte mit den wertvollen Landkarten, ein paar Papieren und Süssigkeiten hatte ich ja auch noch. Was wirklich fehlte, waren Rucksack und Schlafsack. Und das Handtuch. Handtuch war delikat. Das bedeutete, ich musste zu Fuss los. Jedenfalls nicht per Anhalter. Das ging nicht ohne Handtuch[1].

Der fehlende Schlafsack machte die Sache kompliziert. Wo sollte ich jetzt schlafen? Nun gut, die Bibel hatte ich nicht mehr, aber ich wusste auch so, dass da Sprüche drinstanden, wir sollten uns um solche Fragen keine Sorgen machen. Also gut, es sollte offenbar so sein.

Ich machte mich auf den Weg nach Westen. Zu Fuss, wie ich schon dem Beamten von der Immigration in JF Kennedy gesagt hatte. Ohne zu verstehen, was ich da überhaupt gesagt hatte. Landkarten hatte ich zwar, ausgeschnitten aus einem ausrangierten Schulatlas, aber alle waren ziemlich schnell hinter Manhattan zuende. Ich suchte mir eine Strasse aus, die in Richtung des Sonnenuntergangs führte. Das nächste Stadtviertel hiess Hackensack. Es wurde Abend.

Ich überquerte den Hackensack River und ging zu ein paar Bäumen in einen Park am Fluss. Der Park war gross und vor allem ruhig und ungestört. Das Wetter war schön, aber in den Nächten konnte es schon empfindlich kalt werden. Ich nahm mein Taschenmesser und schnitt mir eine Menge Zweige von einem Baum ab. Daraus machte ich mir ein Bett. Wie bei Rüdiger Nehberg. Einmal hatte er in einer Survival-Tour ganz Deutschland auf diese Weise durchquert, zu Fuss ohne Zelt und Schlafsack.

Dienstag, 6. Oktober 1987

Die Nacht war angenehm und verlief ohne Zwischenfälle. Am Morgen wurde ich von den Vögeln geweckt. Die Arbeit, den Schlafsack zusammenzurollen und den Rucksack zu packen konnte ich mir praktischerweise sparen - schnell war ich wieder auf dem Weg nach Westen. Die Strassen in dieser Stadt spielten allerdings nicht immer so mit, wie ich wollte - wenn sie nicht gleich wieder endeten, führten sie leicht nach Norden.

Norden konnte ich jetzt nicht mehr brauchen. Da ich jetzt keinen Schlafsack mehr hatte, war die Idee mit Kanada erstmal überholt. Denn Kanada wäre noch kälter im nahenden Winter - ich musste also nicht nur nach Westen, sondern vor allem in den nächsten Wochen auch ein gutes Stück nach Süden kommen, wenn ich nachts nicht erfrieren wollte. Wenn mir die Strassen zu weit nach Norden führten, ging ich ab und zu einfach eine Querstrasse nach Süden. Wo ich mich genau befand, interessierte mich erstmal nicht, ich hatte sowieso keinen Stadtplan von hier. Der nächste Fluss, den ich überquerte, war der Passaic River. Und das nächste Stadtviertel hiess entsprechend auch Passaic.

Langsam nahm die durchschnittliche Höhe der Häuser ab. Vor einem etwas grösseren Gebäude blieb ich stehen und überlegte einen Moment. Es war eine öffentliche Bibliothek. Bibliotheken könnten auch Landkarten haben, dachte ich mir, und musste mich ziemlich überwinden, hineinzugehen. Denn gewaschen hatte ich mich schon seit Tagen nicht, das gehörte momentan absolut nicht zu meinen Problemen. Eigentlich sah ich langsam aus wie ein Penner.

Aber die in der Bibiothek waren nett und zeigten mir die Kartenabteilung. Ich schrieb mir aus der Karte von New Jersey jede Menge Orte heraus, die in meiner Richtung lagen. Ich hatte richtig vermutet, ich musste erstmal nach Westen, wenn ich endlich aus dieser Stadt raus wollte. Dann müsste ich New Jersey in südwestlicher Richtung durchqueren, bis zu einem Ort, der Frenchtown hiess und am Delaware River lag, und danach weiter durch Pennsylvania.

Ich wanderte den ganzen Tag, aber aus der Stadt kam ich heute nicht mehr raus. Immerhin, die Bebauung ging langsam über in Einfamilienhäuser, und an einem Haus sah ich endlich einen Wasserhahn. Ich drehte mich verstohlen um - seit Stunden hatte ich hier niemanden mehr zu Fuss gehen sehen - und schlich mich auf das Grundstück. Endlich Wasser. Ich muss fast zwei Liter getrunken haben. Grossstädte wie New York waren streckenweise eine ganz schöne Wüste.

Bald wurde es Abend und ich musste wieder eine Stelle zum Übernachten suchen. Hin und wieder waren Altpapier-Zeitungen am Strassenrand gestanden und ich hatte mich bedient. Diese Nacht würde ich ausprobieren, wie es mit Zeitungen ging.

Das Wetter hatte sich verschlechtert. Bewölkung war aufgekommen, ich musste mich auf Regen gefasst machen. Zwischen ein paar Bäumen fand ich eine unauffällige Stelle. Einige Kisten lagen herum. Ich baute mir eine Art Höhle und deckte mich mit den Zeitungen zu. Natürlich, es musste tatsächlich anfangen zu regnen.

Mittwoch, 7. Oktober 1987

Ganz durchnässt war ich nicht am frühen Morgen, aber so romantisch wie die Nacht zuvor war es nicht gewesen. Die nassen Zeitungen konnte ich im Altpapier entsorgen. Inzwischen hatte ich auch kaum noch Lebensmittel. Hin und wieder wuchsen irgendwo Äpfel oder Birnen. Ich erreichte das Stadtviertel Caldwell, ein reines Wohngebiet. Caldwell lag genau westlich von Passaic und Hackensack, ich war also auf dem richtigen Weg.

Den dritten Tag war ich nun schon unterwegs, und war immer noch nicht aus der Stadt raus. Mexico City und Tokyo hatten zwar mehr Einwohner als New York, waren jedoch dichter bebaut. New York musste mit seinen riesigen Vierteln von Einfamilienhaus-Grundstücken die von der Fläche her grösste Stadt der Welt sein.

Hinter West Caldwell riss die Bebauung endlich auf und gab den Blick auf die grünen Wiesen von New Jersey frei. Ich wusste, was ich hinter mir hatte: ich war tatsächlich zu Fuss aus New York rausgelaufen. Ein wahrhaft würdiger Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Stände ich heute noch einmal davor, ich würde vielleicht nochmal an der George Washington Bridge beginnen.

Hanover, Florham Park, Madison. Nun konnte ich es mir endlich leisten, nach Südwesten zu gehen. Und mir die Tafeln durchzulesen, die in Erinnerung an irgendwelche Szenen aus dem Bürgerkrieg von 1865 aufgestellt waren. Oder auf denen das Jahr irgendeiner Ortsgründung verzeichnet war.

Unter ein paar Bäumen machte ich Pause. Irgendwie hatte ich immer noch etwas Brot und Käse. Neben einer Kirche stand eine kleine Tafel mit historischen Daten. 1781. Wie stolz sie hier waren, wenn sie bei ihren Jahreszahlen mit einer siebzehn aufwarten konnten. Wenn ich überlegte, wo ich herkam. In Mainz und Trier konnten sie locker eine null statt einer siebzehn davor schreiben, und selbst bei einem Kaff mit so einem historisch ungünstigen Namen wie Neustadt reichte es immer noch locker für eine zwölf. Ein Polizeiwagen hielt an und ein freundlicher Polizist stieg aus.

Fast ein wenig schüchtern fragte er mich nach Papieren und was ich hier machte, alleine, und vor allem zu Fuss. Oh, ich sei Tourist, aus Germany, und uns in Germany würde zu Fuss gehen Spass machen. Ach ja, das hatte er auch schon gehört. Allerdings noch nie einen deutschen Reisepass gesehen. Standen auch richtige deutsche Wörter drin. Er war froh, dass er mit mir keine Arbeit hatte, lächelte und bot mir an, mich als Entschädigung für seine Indiskretion ein paar Kilometer mitzunehmen. Über New Vernon und Logansville ging es nach Südwesten.

Germany sei wohl ziemlich weit weg, meinte der Polizist, nie käme er auf den Gedanken, so weit fortzufahren. Und das mit der deutschen Sprache fand er auch komisch. Die müssten dann ja vor dem Sprechen alles, was sie denken, erstmal übersetzen, sinnierte er nachdenklich, und stellte es sich ziemlich unpraktisch vor. Deutsch war in der Tat ziemlich unpraktisch hier, konnte ich ihm beipflichten. Ständig war ich auf der Suche nach irgendwelchen Vokabeln. Verdammt, was hiess zufällig auf Englisch?

Im Supermarkt von Bernardsville durfte ich mir sogar was zu Trinken aussuchen. Ich entschied mich für eine grosse Plastikflasche Orangensaft. So konnte das weitergehen. Bullen-Tramp nach Bernardsville, schrieb ich in mein kleines chinesisches Tagebuch. Das selbstverständlich in der Jacke gewesen war. Ich würde alle meine Tramps ins Tagebuch schreiben.

Das Tagebuch war mehr oder weniger eine Art Gerüst. Ich schrieb ausser den Tramps meist nur ein paar Orte rein, durch die ich durchgekommen war. Später kamen Abschriften von Briefen dazu, die ich an Bekannte schrieb.

Irgendwo zwischen Bernardsville und Lamington musste ich übernachtet haben. Fast ein Jahrzehnt lang konnte ich mich noch genau an jeden einzelnen Übernachtungsplatz erinnern. Irgendwie schaffte ich es immer wieder, mir einen Schlafplatz herzurichten und irgendwo unter Blättern, Stroh oder Zeitungen eine ruhige Nacht zu verbringen. Und langsam gewöhnte ich mich dran und es begann sogar, ein wenig Spass zu machen. New Jersey lag etwa so südlich wie Italien, aber es erinnerte eher ein bisschen an Dänemark.

Nur dass überall wilder Wein wuchs. Die ersten Europäer, die mit Leif Eriksson vor tausend Jahren von Grönland kommend möglicherweise hier oder in Neufundland an Land gegangen waren, nannten die Gegend Vinland[2]. Wenn ich gefragt worden wäre, worin sich dieses Land von Dänemark unterschied, hätte ich als erstes den Wein genannt. Es wuchsen hier viele verschiedene Arten.

8. Oktober 1987

Wieder war ich schon früh am Morgen unterwegs. Die Strasse führte genau in die Richtung, die ich haben wollte. Westsüdwest. Vorbei an weiten grünen Pferdekoppeln hinter leuchtend weissen Holzzäunen. Fast wie eine Bilderbuchlandschaft. Immer wieder kam die Strasse durch Ortschaften. Lamington, Potterstown, Lebanon. An der Kreuzung in Lebanon wusste nicht so recht, wo ich weitergehen sollte. Ich hatte ja keine genaue Landkarte. Ausnahmsweise standen auch mal zwei oder drei Häuser rum, die den Eindruck von einer Art altem Dorfkern vermittelten. Aber wo ging es jetzt nach Frenchtown weiter? Frenchtown lag am Delaware River, der hier die Grenze zu Pennsylvania bildete, und dort gab es eine Brücke. Aber welche der beiden Strassen führte dort hin? Da in den USA grundsätzlich nie Leute zu Fuss unterwegs waren, hatte ich keine andere Wahl. Dann musste ich eben ein Auto anhalten. Auch wenn es verboten war.

Ein weisser Pritschenwagen hielt an. Pickup trucks hiessen die hier. Eine blonde Frau kurbelte die Scheibe herunter und fragte, wo ich hinwollte. Oh, das war wirklich eine Überraschung. Frauen hielten selbst in Europa nur selten für Anhalter an. Offenbar hatte ich New York wirklich hinter mir gelassen. Wo es von hier nach Frenchtown gehen würde, fragte ich sie. Hier lang, meinte sie, und sie würde in die Richtung fahren. Ob ich mitfahren wollte. Immer noch etwas misstrauisch nach der schlechten Erfahrung in New York stieg ich ein. Ich fragte sie, wo sie hinfuhr. Sie zuckte die Achseln und meinte lächelnd Cherryville! Es war ihr klar, dass ich nicht wusste, wo das war. Ich wusste es auch wirklich nicht.

Cherryville, fast fünfzehn Kilometer waren das. Immerhin wusste ich, dass ich schon längst die Hälfte des Bundesstaates New Jersey durchquert hatte. Sie hielt vor der Zufahrt zu einem Grundstück an und beschrieb mir den Weg nach Quakerstown.

Ich ging durch einen lichten Wald die Strasse nach Quakerstown entlang und versuchte wieder zu trampen. Und erstaunlich schnell hielt wieder ein Wagen an, ein netter junger Familienvater, der mich wieder fünfzehn Kilometer weiter fuhr, und diesmal tatsächlich nach Frenchtown. Das bedeutete, ich hatte ganz New Jersey durchquert. Stolz ging ich über die Brücke über den Delaware River nach Pennsylvania.

Würde ich nun diesen Fluss entlang nach Süden gehen, käme ich unweigerlich in den Grossraum von Philadelphia. Ich musste noch ein gutes Stück nach Westen, um die Millionenstadt zu umrunden, und weil es nach Westen keine Strasse gab, musste ich erstmal nach Norden entlanggehen, nach Jugtown. Ein Wagen nahm mich wieder mit und fuhr nach Kintnersville. Ein kleiner Ort aus ein paar Einfamilienhäusern auf den Hügeln über dem Delaware River. Und wieder war ich fünfzehn Kilometer weiter. Er hielt an einer Bar an, spendierte mir einen Snack mit leider null Nährstoffen und skizzierte mir auf einem Zettel, wie ich von hier weiterkäme. Nockamixon Lake, hatte ich mir der Bibliothek in Passaic noch rausgeschrieben.

Heute war mein Glückstag. Ich hatte ausserdem an der Strasse bei Lamington einen leeren Erbsensack gefunden. Mit noch ein paar anderen Textilien liess er sich zu einem Rucksack zusammenbasteln.

Es war Abend geworden und ich ging die Easton Road entlang nach Süden. Überall in der zersiedelten Landschaft standen Einfamilienhäuser mit Briefkästen an der Strasse. Wie bei Micky Maus. Gegenüber einer solchen Ansiedlung lag ein kleiner Wald mit dichten Nadelbäumen. Sehr gut, die Nacht war schon gemietet, denn Nadelbäume waren ziemlich gut regendicht. Und blickdicht ausserdem. Einmal hörte ich noch einen Hund bellen, aber dann war Ruhe und die Nacht senkte sich über das grüne und hügelige Land.

9. Oktober 1987

Mit dem Sonnenaufgang stand ich auf und machte mich auf den Weg. Tatsächlich, ein paar Hunde sahen mich und fingen an zu bellen. Das war kein gutes Zeichen, Wachhunde könnten auf eine höhere Kriminalitätsrate deuten. Aber ich kam voran, und endlich einmal nach Süden. Die Strassen hatten Nummern. Die Namen der Orte waren hier weniger wichtig als diese Nummern. Auch der Typ gestern hatte mir auf die Skizze nur die Nummern der State Highways geschrieben. Sechshundertelf, vierhundertzwölf, fünfhundertdreiundsechzig. Die letzte war der Mountainview Drive, eine freundliche und gut ausgebaute Strasse, die durch den Nockamixon State Park führte. Hörte sich einladend an und führte ausserdem nach Südwesten. Am Strassenrand fand ich eine Kassette. Ich hob sie auf und nahm sie mit. Irgendwann würde ich die Gelegenheit haben, die anzuhören. Vielleicht war es ja eine Botschaft für mich.

Nockamixon war der Name des Sees hier und stammte garantiert aus igendeiner alten Indianersprache, wie viele Flussnamen hier[3]. Pennsylvania war ein schönes Land. An vielen Orten spiegelten Gedenktafeln mit alten Jahreszahlen die Geschichtsverbundenheit und den Stolz der Bevölkerung. Aber nirgendwo ausser in den Ortsnamen fanden sich Hinweise, was sich hier zu Zeiten der Besiedlung wirklich abgespielt haben musste[4]. Völkerrechtlich gesehen gehörte den Vereinigten Staaten kaum ein Quadratmeter ihres Landes[5].

William Penn, der Quaker gewesen war, hatte 1682 von den Lenape-Indianern Philadelphia gekauft. Für Waren im Wert von fünfundzwanzig Dollar. Immerhin, dieser Vetrag sollte Jahrhunderte später als der einzige Vetrag zwischen nordamerikanischen Indianern und Weissen bezeichnet werden, der nie gebrochen wurde.

Dreihundertdreizehn. Der Mountainview Drive war zuende und stiess auf die nächste Strasse. Hm, wo musste ich denn jetzt hin? Ich hatte die Wahl zwischen Südost oder Nordwest. Nach Osten auf keinen Fall, denn direkt südlich von hier lag jetzt Philadelphia. Dann schon lieber nach Norden.

Eine Frau hielt an und nahm mich mit, nach Nordwesten. An einem Supermarkt hielt sie an, um etwas einzukaufen. Danach würde sie noch nach Quakertown weiterfahren. Sie war unsicher. Offenbar war sie es nicht gewöhnt, den Schlüssel abzuziehen und den Wagen abzuschliessen. Oh, meinte ich zu ihr, nehmen Sie den Schlüssel mit - das sollten Sie generell tun, wenn Sie Anhalter mitnehmen.

Quakertown in Pennsylvania war etwas grösser als das in New Jersey, und ausserdem der wirklich letzte Ort auf meiner handgemalten Karte von Passaic. Langsam kam die Oktobersonne raus. Endlich fand ich auch den passenden Bach an der Strasse, wo ich ungestört eine Wasch-Session einlegen konnte. Das wurde auch langsam mal Zeit. Ich legte mich auf eine Wiese und liess meine Sachen in der Sonne trocknen. Ein paar Kleidungsstücke hatte ich am Strassenrand gefunden. Es war sowieso erstaunlich, was in einem so reichen Industrieland alles an der Strasse lag.

Zwei oder drei Stunden wanderte ich noch nach Westen, vorbei an Pennsburg, bis ich noch einmal Glück hatte und einer mich nach Boyertown mitnahm. Das waren nochmal fünfzehn Kilometer.

10. Oktober 1987

Boyertown-Birdsboro-Gibraltar-568-Alleghenyville-Knauers. Fast vierzig Kilometer wanderte ich heute, durch schöne liebliche Täler mit Wiesen und Wäldern. In Knauers fand ich eine alte Scheune mit Laub, in der ich übernachten konnte. Ich sollte mich auch langsam mal an die Meilenangaben gewöhnen.

11. Oktober 1987

Erstmal lief ich mich wieder fünfzehn Kilometer warm, bis Ephrata, und hielt mich weiter nach Südwesten. Vor Brownstown führte eine Brücke über den US Highway 222. Das war so etwas wie eine vierspurige Bundesstrasse. Stark befahren war sie nicht. Ausserdem fing es an zu regnen. Ein trister Tag. Die Schnellstrasse führte genau in meine Richtung. Sie entlangzugehen wäre zwar alles andere als landschaftlich attraktiv, aber ich würde mir das ständige Kreuz und Quer sparen, das ich bei den Nebenstrassen zu erwarten hätte. Ich ass noch ein paar Äpfel, die ich irgendwo gesammelt hatte, und überlegte.

Bei dem Regen hatte ich sowieso nicht viel von der Landschaft, und an der Strasse käme ich ein paar gute Kilometer voran. Ausserdem musste ich früher oder später über den Susquehanna River, der noch breiter als der Delaware war, und es gab noch weniger Brücken. Der Susquehanna River mündete in die Chesapeake Bay, wo Baltimore lag, und auch diese Millionenstadt musste ich nördlich umrunden. Ich musste noch ein ganzes Stück nach Westen, bevor ich in Virginia wirklich nach Süden gehen konnte. Washington kam vorher auch noch.

Ich ging die Brücke runter, ignorierte die lauten Autos und wanderte Kilometer für Kilometer die Strasse entlang. Es ging besser als ich erwartet hatte. Fast sogar meditativ. Längst hatte ich meinen Schock von New York verkraftet und hatte neuen Mut gefunden, die Vereinigten Staaten nach Südwesten zu durchwandern. Meine Gedanken begannen zu kreisen.

Wozu war ich hier?

Lina hatte sich in mich verliebt - und es mir nicht gesagt, bevor ich nach Amerika flog. Sie hatte mich gehen lassen, überzeugt davon, dass ich Viktoria liebte und sie suchen müsste. Viktoria, meine ehemalige Mitschülerin aus Mainz, mit der ich schon seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatte.

Doch ich hatte nie das Gefühl gehabt, ich konnte mich einfach bei ihr melden, so wie Lina es spontan und ein wenig naiv vorgeschlagen hatte. Ich hatte eher das Gefühl, dass Zeit vergehen musste, bis ein erneuter Kontakt mit Viktoria mögloch wäre. Den Grund verstand ich nicht, aber ich hatte dieses Gefühl. Zeit, die ich beispielsweise damit zubringen konnte, an einem highway in den USA im Regen entlangzuwandern.

Die Strasse war gerade. Sie lief direkt auf die Nordumgehung von Lancaster und die Brücke über den Susquehanna River zu. Nach so vielen Kilometern im Zickzack durch New Jersey und Pennsylvania schien es fast, als wollte mich die laute, verregnete und unattraktive Strasse mit dieser Direktheit ein wenig entschädigen. Wenn mich die Autos nicht mit Absicht nassspritzten, war ich schon zufrieden.

Zeit.

Richtig schön gerade war die Strasse. Man konnte kilometerweit nach vorne sehen. Langsam war ich nass geworden. Aber so schlimm war das auch nicht. Viele Kilometer vor mir befand sich eine Brücke, der ich mich langsam näherte. Wenn der Regen zu stark würde, könnte ich mich dort unterstellen und eine Pause machen.

Zeit, die ich hinter mich bringen musste. Ich musste einfach nur älter werden. In diesen Tagen begann ich mir zu wünschen, ich würde möglichst schnell möglichst viel älter werden. Hoffentlich sollte es nicht noch Jahrzehnte dauern, bis ich sie wiedersehen und sie heiraten würde. Und wenn doch, dann sollten diese Jahrzehnte möglichst schnell vorübergehen.

Warum hielt ausgerechnet jetzt da vorne unter dieser Brücke ein Auto?

Vielleicht würde soviel Zeit vergehen, dass wir uns am Ende gar nicht mehr wiedererkennen würden? Nein, das konnte auch nicht sein.

Der Fahrer des hellblauen Transporters unter der Brücke schien dort eine Pause zu machen. Aber warum ausgerechnet unter der Brücke? Er hatte doch ein Auto und konnte sich überall anders auch hinstellen. Ich dagegen war zu Fuss und brauchte nach acht Meilen eine Pause. Autokennzeichen New Jersey, also Überlandverkehr. Ich erreichte die Brücke.

Der Typ öffnete das Fenster und fragte, wo ich hinwollte. Er hatte mich gesehen und dachte, er hielt mal an. Lancaster, meinte ich, York, Gettysburg, immer weiter nach Südwesten. Just touring around. Woher ich käme. Oh, aus Germany? Ich kann dich mitnehmen, ich zeig dir mal was von America. Ich komme aus Atlantic City.

Atlantic City lag in New Jersey, daher das Kennzeichen. Er fuhr los, die Nordumgehung vorbei an Lancaster. Hinter Columbia ging es auf die grosse Brücke über den Susquehanna River. Die Fahrt endete nach siebzig Kilometern auf einer Wiese in der Nähe der Stadt York, mit einer besonderen Attraktion.

Gun show.

Eine Art Messe. Der Typ war Hobbyjäger und besuchte die alljährlich stattfindende Waffenausstellung. Cool. Wo man alles noch hinkam. Ich ging an den Ständen der Firmen und Händler entlang. In meiner olivgrünen Jacke mit den vielen Taschen fiel ich gar nicht auf. An einigen Ständen hatten sie neben Waffen auch ein paar Survival-Artikel, Wasserflaschen oder Kompasse, was ich interessanter fand. Billige Schlafsäcke gab es leider nicht.

Dann lud er mich noch zu McDonald's zu einem Big Mac ein, schenkte mir einen kleinen Strassenatlas der USA, verabschiedete sich und fuhr wieder zurück, nach Atlantic City, USA. Es gab einen Film, der so hiess. Kanada/Frankreich 1980. Mit Burt Lancaster. Lancaster hatte ich hinter mir. York auch. Der nächste Ort hiess bezeichnenderweise East Berlin. Ich schlich mich auf ein Grundstück, ein Haus mit einer offenen Scheune nebenan. Ob ich die Leute fragen sollte, ob ich hier übernachten durfte? Aber ein Hund war nicht in der Nähe. Ich ging in die Scheune, richtete mir ein Bett im Stroh her und schrieb mit dem restlichen Tageslicht einen kleinen Brief an Swantje und Jens in Neustadt. East Berlin, Pennsylvania.

12. Oktober 1987

Die Nacht war zwar gut, aber bei klarem Nachthimmel war es schon empfindlich kalt geworden, bald war es Mitte Oktober. Ich musste früh aufstehen und los. Oh, sie hatten doch einen Hund, der wohl immer morgens aus der Haustüre gelassen wurde. Er war etwas irritiert, mich aus der Scheune kommen zu sehen. Oder es war ihm auch noch zu kalt, wie mir.

Immer länger dauerte es jetzt, bis ich morgens warmgelaufen war. Ich ging die Strasse nach Westen entlang, als auf einmal ein Wagen anhielt. Ich hatte mich gar nicht umgedreht. Er nahm mich bis Hampton mit, immerhin, zehn Kilometer oder so waren das auch. I can't see anybody walking, hatte er gemeint. Wenn es so weiterging, war ich bald in Maryland. Der nächste Fluss wäre der Potomac River.

Aber mir war immer noch kalt von der Nacht und es tat gut, jetzt erstmal fünfzehn Kilometer an der Strasse entlangzugehen. New Chester, Hunterstown. Langsam tauten auch meine Hände auf.

Gettysburg war in den ersten Julitagen 1863 Schauplatz der wohl fürchterlichsten Schlacht im amerikanischen Bürgerkrieg gewesen. Überall standen die Kanonen, Monumente und Tafeln, die an die tausenden von Toten erinnerten. Und welcher General welche heldenhafte Brigade wo in den Kampf geführt hatte. Die Schlacht hatte den Bürgerkrieg nicht entschieden, eigentlich war sie unentschieden ausgegangen. Die Konföderierten aus dem Süden hatten die Unionisten auf ihrem eigenen Gebiet schlagen wollen, und das hatten sie nicht geschafft. Also hatten sie den Rückzug antreten müssen.

Im Zentrum von Gettysburg gab es ein Touristenbüro, wo mir eine nette Dame einen Briefumschlag gab (You've got a friend in Gettysburg stand drauf) und sogar das Porto spendierte. Ich nahm mir noch ein paar Informationen über die Schlacht mit. Eigentlich war es gar keine geplante Schlacht gewesen, niemand hatte sie vorausgesehen. Die Truppen waren nur mehr oder weniger zufällig aufeinander gestossen. Vielleicht war sie deshalb so brutal gewesen. Tagelange Stellungskämpfe, wie später in der Champagne. Und wie in der Champagne reichte es auch hier nicht zu der Einsicht, etwas derartiges in Zukunft möglichst zu vermeiden.

Hinter Gettysburg fand ich ein paar Dollarscheine im Strassengraben. Ich war ja inzwischen einiges gewöhnt, was am Strassenrand lag, aber dass sie hier schon das Geld aus den Autofenstern warfen, war neu. Doch mit der Methode, wie ich hier durchs Land ging, würde ich die Dollars noch eine hübsche Zeit lang behalten. Ich ernährte mich in diesen Tagen von reifem Obst, Mais und hin und wieder abgepacktem Fast Food-Kram, den ich am Strassenrand fand.

Acht Meilen waren es bis Fairfield. Irgendwo dahinter muss ich wieder übernachtet haben. Es würde immer kälter. Ich musste nach Süden.

Der Strassenatlas war zwar hilfreich, aber wie sollte ich denn inches in Meilen umrechnen? Also, ein Breitengrad entsprach einhundertelf Kilometern. In einer Woche musste ich zweihundertneunundfünfzig Kilometer weit nach Süden kommen, hatte ich mir in Gettysburg ausgerechnet. Also siebenunddreissig Kilometer am Tag. Das wäre zu schaffen.

13. Oktober 1987

Wieder brach ein schöner Tag an. Iron Springs war der nächste Ort. Hinter Greenstone überquerte ich die Bundesstaatsgrenze nach Maryland. Und dann gab es etwas Besonderes.

Der Appalachian Trail. Der bekannteste Fusspfad der USA. Jahrhundertelang hatten Indianer auf ihren Pfaden dieses Land zu Fuss durchwandert. Der Appalachian Trail wurde jedoch als Idee von Weissen geboren, nach 1920, die hiking zu ihrem Hobby gemacht hatten, und führte über viertausend Kilometer durch die Appalachen von Maine bis Georgia. Der Wanderweg war gut markiert und alle paar Meilen gab es Aussichtspunkte oder Hinweistafeln. Einen halben Tag folgte ich dem Appalachian Trail nach Süden durch den Wald. Eine kleine blau-schwarz-weisse Feder lag am Weg. Blue jay, stand auf einer Vogeltafel. Ich legte sie in mein Tagebuch.

Am Nachmittag kam ich an einer Strasse raus. Wo war ich hier? Ein Auto hielt an. Ich konnte den Fahrer natürlich nicht fragen, wo wir hier waren. Erst recht wusste ich nicht, wo ich hinwollte. Er fuhr einfach ein paar Meilen weiter westlich. Ah, eine Stadt, Hagerstown, die war auf dem Atlas eingezeichnet. Endlich wusste ich wieder, wo ich war.

Nun war ich weit genug nach Westen gekommen. Immer noch nordwestlich von Baltimore und Washington, aber wenn ich jetzt direkt nach Süden ging, würde ich diese Städte nicht mehr streifen. Und es wurde höchste Zeit, dass ich nach Süden kam. Maryland war an dieser Stelle nur sehr schmal, sodass ich morgen den Potomac erreichen konnte. Ich hatte zwei Brücken über den Potomac zur Auswahl. Eine nach West Virginia, und eine zwanzig Kilometer weiter flussabwärts, nach Virginia. Die Entscheidung schob ich noch vor mir her.

Gut, das war jetzt aber nicht das Problem. Das Problem war ein anderes. Der Himmel war wolkenlos. Und das bedeutete, in der Nacht würde es Frost geben. Die erste Frostnacht in diesem Jahr. Der Oktober hatte mich eingeholt. Heute Nacht konnte es gefährlich werden.

Tilghmanton hiess der nächste Ort. Auf einem abgeernteten Feld sah ich einen grösseren Strohhaufen. Offenbar hatten schon ein paar Kinder darin gespielt. Ich ging hin. Niemand beobachtete mich. Auf der Strasse war wenig los. Ich baute mir eine Höhle im Stroh, in die ich mich verkroch. Wie bei Rüdiger Nehberg.

14. Oktober 1987

Die Angst war berechtigt gewesen. Die Felder waren am Morgen steinhart gefroren, doch in meiner Strohburg hatte ich sogar eine halbwegs warme Nacht verbracht. Ich stand wie immer früh auf und wanderte weiter nach Süden, erstmal nach Sharpsburg.

Dort hatte ich nun endgültig die Wahl. Ich konnte den direkten Weg nach Süden weitergehen und käme dann bei Harpers Ferry über die Brücke nach Virgina. Oder ich konnte nach Südwesten abbiegen und einen Umweg auf dem Weg nach Süden über die Brücke nach West Virginia gehen. Von dort müsste ich dann irgendwann wieder nach Osten.

Der Umweg war das Ziel, sagte ich mir, und ausserdem sammelte ich Bundesstaaten. Ich nahm die Strasse nach West Virginia. Mein fünfter Bundesstaat. West Virginia hatte eines der schönsten Autokennzeichen der USA. Mit der gelben Silhouette des Bundesstaates. Der erste Ort hinter der Brücke hiess Shepherdstown.

Und weiter nach Süden. Ein Wagen hielt an und nahm mich mit. Der Fahrer war nett und zeigte sich beeindruckt von meiner Tour. Inzwischen konnte ich ja schon mit fünf Bundesstaaten aufwarten, durch die ich schon gekommen war. Er langte in sein Handschuhfach und gab mir eine Strassenkarte von Maryland. Irgendein Wahlgeschenk. Er hatte keine andere Karte, aber empfahl mir, einfach an einer Tankstelle eine zu kaufen. Warum war ich auf diese Idee eigentlich nicht schon selber gekommen?

Er fuhr noch bis Charles Town, von wo ich jetzt nach Osten gehen musste, wenn ich nach Virginia wollte. Leider war Virginia nicht gut ausgeschildert. Zumindest Hillsboro nicht. Ein bisschen unsicher lief ich eine Strasse nach Osten heraus, auf den Shenandoah River zu. Es kam mir ziemlich weit vor. Und dann fand ich in einer Kurve vor der Brücke über den Shenandoah River etwas Besonderes.

Fast wäre ich daran vorbeigelaufen. Am Strassenrand lag ein grosses hellbeiges Badehandtuch. Und es war sogar sauber. Fast als wäre es frisch gewaschen worden. Nun wusste ich wieder, wo mein Handtuch war. Ein Geschenk aus West Virginia.

Folgendes hat der Reiseführer Per Anhalter durch die Galaxis über Handtücher zu sagen.

Ein Handtuch, so heisst es, ist in etwa der wahnsinnig nützlichste Gegenstand, den ein Anhalter überhaupt bei sich haben kann. Teilweise weil es einen enormen praktischen Wert hat - man kann sich darin einwickeln und sich wärmen, wenn man über die kalten Monde von Jaglan Beta strauchelt; man kann darauf liegen, die Seeluft geniessen und sich sonnen auf den marmor-schillernden Sandstränden von Santraginus V; man kann sich damit zudecken, um unter den rötlich glitzernden Sternen in den Wüsten von Kakrafoon zu schlafen...[6]

Der Blick von der Brücke über den Shenandoah River war faszinierend. Wie auf einer Postkarte. Ich legte das Handtuch zusammen und verstaute es im alten Erbsensack, der mir als Rucksack diente. Laut rauschend kam der grosse Fluss aus den bewaldeten Bergen des Shenandoah National Park herunter. Auf der anderen Seite der Brücke kam ein zweiter Fluss dazu, und ein Ort lag im Tal.

Oh, Harpers Ferry am Potomac, ich war fast ein wenig überrascht. Ich war nach Nordosten gegangen statt nach Osten, und dafür war ich jetzt schon wieder am Potomac. Na, egal. Der Umweg war das Ziel. Trotzdem, jetzt wurde es aber langsam mal wirklich Zeit, dass ich nach Süden kam. Wenn ich diesen Fluss noch weiter folgen würde, käme ich noch nach Washington.

Als nächstes kam ich erstmal nach Virginia. Sechster Bundesstaat. Und ausserdem lag eine Tankstelle an der Strasse. Ich ging in den kleinen Store und kaufte mir für einen Dollar eine wunderschöne Rand McNally-Karte von Virginia. Damit war das Glück perfekt.

Ausser der Sache mit dem wolkenlosen Himmel. Im Prinzip war nichts gegen den blauen Himmel einzuwenden. Aber in der Nacht strahlte der Planet ohne schützende Wolkenschicht alle Wärme in den Weltraum ab. Mal sehen, wo ich heute übernachten sollte. Die Strasse nach Süden führte nach Hillsboro.

Aber die sieben Meilen bis Hillsboro schaffte ich nicht mehr. Es fing an zu dämmern. Jetzt wurde es knifflig. Die Temperatur sank schon jetzt unter null Grad. Kein Zweifel, diese Nacht würde noch kälter als die letzte. Nirgendwo gab es eine Scheune oder Stroh. Hier waren nur grüne Wiesen. Hm, das war alles andere als lustig. Zum ersten Mal wusste ich wirklich nicht, wo ich schlafen sollte. Oder sollte ich einfach weiterwandern? Nein, das wäre zu gefährlich, in den USA, in der Nacht. Das ging auch nicht. Es wurde dunkel. Noch drei Meilen bis Hillsboro. Nur sehr ungerne würde ich so spät bei Dunkelheit noch alleine in einen Ort gehen. Auch nicht an der Strasse entlang, zu viele Autos fuhren vorbei.

Ein Schulhaus stand an der Strasse. Mit Wohnhaus daneben. Ich erinnerte mich an einen Spruch. Klopft an, und es wird euch aufgemacht[7]. Na, mal sehn ob das stimmte. Ich ging hin und klopfte an die Türe.

Eine junge Frau machte auf und war einigermassen überrascht. Ihr Mann auch. Ob es hier in der Nähe irgendwo eine Scheune oder sowas gebe, wo ich übernachten könnte. Ja, mal sehen, meinte er, komm mal mit, und fuhr mich im Wagen ein kurzes Stück Richtung Hillsboro. Es gab eine leere Scheune, aber darin war kein Stroh. Ja, kalt würde es heute Nacht, stimmte er mir bei. Ob ich rauchen würde. Nein, danke, grundsätzlich nicht, meinte ich, und erst recht wenn ich in einer Scheune unter Stroh schlafen wollte. Nein, war nur so ne Frage. Er fuhr wieder zurück. Larry hiess er.

Sie hatten noch ein kleines Nebenhaus. Auf keinen Fall dürfte ich rauchen. Aber ausprobieren, ob noch ein anderer Spruch stimmte. Heute testete ich Sprüche.

Viel wichtiger ist jedoch der psychologische Wert eines Handtuchs. Wenn ein strag (strag = Nicht-Anhalter) sieht, dass ein Anhalter ein Handtuch bei sich hat, wird er automatisch annehmen, dass er ebenfalls eine Zahnbürste, Waschlappen, Seife, Keksdose, Weithalsbehälter, Kompass, Landkarte, Bindfaden, Mückenspray, Regenjacke, Raumfahrtanzug und so weiter dabeihaben muss. Ausserdem wird ihm der strag dann bereitwillig alle möglichen Sachen ausleihen, falls der Anhalter irgendeine von diesen oder einem Dutzend anderer Gegenstände zufällig einmal verloren haben sollte. Der strag wird denken, dass jeder, der durch die Längen und Weiten der Galaxis trampt, grauenvolle Gefahren durchsteht, gegen schreckliches Unrecht ankämpft, sich doch noch bis zum Ziel durchschlägt, und dann immer noch weiss, wo sein Handtuch ist - dass das wirklich jemand sein muss, auf den man sich guten Gewissens verlassen kann.

Aber natürlich kannst du ein Schampoo haben, und Seife auch, hier ist das Bad, hier ein Bett, Kissen, Bettdecke ist hier, hier eine zweite, falls es zu kalt ist, und wir bringen dir gleich noch was zum Abendessen. Warm, selbstverständlich.

Ich muss bestimmt eine ganze Stunde im Bad verbracht haben. Larry und Connie unterhielten sich noch ein bisschen mit mir. Glücklich und satt schlief ich ein.

Eigentlich hätte ich es nicht nötig gehabt, in mehr als einer Woche seit New York nicht mehr als einen Dollar auszugeben und mich die ganze Zeit nur von Äpfeln, Birnen und Mais zu ernähren. Aber manchmal war es notwendig, inne zu halten und sich auf sich selbst zu konzentrieren. Auch Rüdiger Nehberg machte seine Survival-Touren nicht, weil ihm das nötige Kleingeld fehlte. Auch nicht, um sich etwas zu beweisen. Ohne Geld einen Kontinent zu durchqueren hatte für mich in diesen Tagen etwas tiefgehend Meditatives.

15. Oktober 1987

Am Morgen gab es Frühstück, belegte Brote und sie gaben mir ihre Adresse. Wenn ich noch einmal in der Gegend sei, könne ich gerne wieder vorbeikommen. Was für freundliche Leute. Larry arbeitete in Leesburg und nahm mich noch ein paar Meilen nach Süden bis Purcellville mit. Und weiter ging ich auf dem Weg nach Süden.

In Harpers Ferry hatte ich gestern mehr als eine Bundesstaatsgrenze überschritten, wie mir schnell bewusst wurde. Die beiden Virginias hatten im Sezessionskrieg auf unterschiedlichen Seiten gestanden. In Virginia war ich nun in den Südstaaten der USA.

Ich merkte es auch an der Bevölkerung. Auf den Strassen sah ich immer mehr Schwarze, die mich auf meinem langen Weg nach Süden immer öfter als Anhalter mitnahmen. Hinter Purcellville hielt gleich eine ganze Fuhre gut gelauter Afroamerikaner an, die auf dem Weg zur Arbeit waren und mich mit viel Musik eine kurze Strecke mitnahmen - um dann festzustellen, dass sie ja nach zwei Kilometern schon am Ziel waren und gar nicht weiter fuhren. Für jemanden wie mich, der zu Fuss unterwegs war, bedeuteten zwei Kilometer eine halbe Stunde und es war eine nette Hilfe.

Ich hielt mich geradewegs nach Süden und es machte immer mehr Spass, nur die backroads zu wählen, die kleinen Nebenstrassen. Virginia zeigte sich hier von seiner besten Seite. Und je weiter ich nach Süden kam, desto wärmer wurde es. Auch die Menschen wurden warmherziger und freundlicher, aufgeschlossener. Hinter Culpeper hielten am Abend zwei junge Leute an, ohne dass ich sie angetrampt hatte, und fuhren mich ein Stück die Strasse entlang nach Süden. Als sie in Rhoadesville abbiegen mussten, fragten sie mich, wo ich übernachten würde. Weiss nicht, werd ich sehen, meinte ich, irgendwo draussen, wie immer. Wenn du willst, kannst du bei uns schlafen, wir wohnen in Mine Run, und morgen früh fahren wir dich wieder hier her.

Sie hatten auf ihrem Grundstück ein kleines Gartenhäuschen. Essen und Milch organisierten sie auch noch.

16. Oktober 1987

Auf der Karte sah ich, dass ich schon fast halb Virgina auf dem Weg nach Süden hinter mir hatte. Die backroads waren nicht immer gleich stark befahren und auch nicht so gut ausgebaut. Zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten sah ich ungeteerte Strassen. Die Landschaft wurde immer schöner.

Hinter Rhoadesville kam Unionville, danach fand ich eine kleine überfahrene Landschildkröte und nahm sie mit. Ich trennte den Panzer ab und schnitt das Fleisch mit dem Messer heraus. Dann entdeckte ich am Strassenrand einen Ameisenhaufen, legte den Panzer hinein und sonnte mich erstmal eine halbe Stunde auf der Wiese. Hier war ich mitten in Virginia. Die Ameisen verrichteten ganze Arbeit. Als sie fertig waren, konnte ich weitergehen.

Ein Polizeiwagen hielt an und fragte, ob ich mitfahren wollte. Ja, gerne, warum nicht. Es tat ihm fast leid, dass er mich nur bis zur Grenze von Orange County fahren konnte, weiter durfte er nicht. Ein Schwarzer kam im Pick-up Truck vorbei, ich hielt gleich den Daumen raus, er hielt an, wechselte noch zwei Worte mit dem Polizisten und nahm mich zehn Meilen weiter bis Louisa mit. Als er mich bei dem Streifenwagen gesehen hatte, wusste er, dass er nicht misstrauisch zu sein brauchte. Und ich brauchte das auch nicht, der Polizist hatte ja gesehen, wer mich mitnahm.

Heute kam ich richtig weit nach Süden. Immer wieder nahmen mich welche mit, bis ich am Abend in der Nähe von Farmville von einem Farmer, Mr. Moler, zu seinem Südstaaten-Anwesen und nach einer kurzen Pause mit seiner Familie nach Farmville zu einem Restaurant gefahren wurde. Eat what you can. Amerikanische Esskultur. Sauerbraten, Salate, Pizza, Kuchen, alles durcheinander. Der Farmer staunte nicht schlecht, wieviel ich essen konnte, obwohl er selber auch nicht gerade zu den fünfundneunzig Prozent dünnsten Amerikanern gehörte.

Ich hätte mich auch ein bisschen mehr zurückhalten können und vielleicht nur sieben statt acht Stücke Kuchen nehmen können nach den zwei halben Hähnchen, dem Wiener Schnitzel und den ganzen Rouladen. Seit New York hatte ich ganz schön was nachzuholen.

Am Abend fand ich wieder eine Scheune mit Stroh. Ein Typ kam an, brachte mir ein Kissen und eine Decke und bot mir noch etwas Fisch an. Gut, dass ich hinter Farmville schon wieder eine Stunde gewandert war, so dass ich nicht den ganzen Fisch ablehnen musste.

17. Oktober 1987

Heute schaffte ich es sogar, von sieben Autos mitgenommen zu werden. Oft nahmen sie mich nur zwei Meilen mit und ich wanderte weiter. Ich glaube, nirgendwo in den Vereinigten Staaten hielten so viele Leute für Anhalter an wie auf diesen backroads in Virginia. Manchmal musste ich nur wenige Meter gehen und wurde schon wieder mitgenommen.

Nachdem ich gestern hundertvierzig Kilometer nach Süden vorangekommen war, konnte ich es mir heute leisten, meinen Kurs ein wenig nach Westen zu korrigieren. Bald wäre ich in North Carolina, und spätestens hier begann wirklich der Süden der USA. Vor Brookneal nahmen mich wieder nette Leute mit, Betty und Daryl, die mich nach kurzer Diskussion gleich zu sich in ihre Wohnung einluden, mir ein paar alte T-Shirts und Socken raussuchten und mir am Abend nicht nur eine Dusche, sondern auch eine Waschmaschine mit Trockner anboten. Das Glück war langsam wirklich perfekt.

18. Oktober 1987

Die Methode, die ich anwandte, den Kontinent zu durchstreifen und die Menschen dieses Landes kennenzulernen, schien in den Nordstaaten kaum feedback gebracht zu haben. In dieser Gegend in Virginia war das ganz offenbar anders. Ich lernte nicht nur das Land, sondern auch seine Leute kennen. Vielleicht waren die Menschen in den warmen Regionen der Kontinente nur deswegen aufgeschlossener und warmherziger, weil sie öfter ausserhalb ihrer Häuser waren.

Heute war Sonntag, Betty und Daryl schliefen sich erstmal aus. Dann kam Bettys Bruder, ein Trucker, der aber leider nur eine Tour nach Chicago hatte. Zu weit im Norden. Er hätte mich mitgenommen, wenn er nach Kalifonien gefahren wäre. Ich musste jetzt nach Südwesten weiter, North Carolina hiess der nächste Bundesstaat. Um halb eins kam ich los.

Lange ging ich nicht zu Fuss. Wieder nahm mich ein Schwarzer mit, bis irgendwo hinter Halifax, und ich ging weiter an der Strasse nach South Boston. Ich sah mir die Fahrer der entgegenkommenden Autos an und verglich den Anteil der schwarzen Fahrer mit dem Anteil der Schwarzen, die mich bislang hier in Virginia mitgenommen hatten. Dabei stellte ich fest, der Anteil war fast gleich. Noch einmal ging ich das Tagebuch durch, alle siebzehn Tramps, rechnete nochmal nach, und es stimmte. Wenn es Rassenprobleme gab in den USA, dann wirkte es sich zumindest nicht so aus, dass Schwarze keine Weissen als Anhalter mitnahmen. Die Fahrer konnten ja nicht sehen, dass ich Ausländer war.

Und ich erfuhr auch, dass Schwarze, wenn sie als Anhalter unterwegs waren, genausooft von Weissen mitgenommen wurden. Mich wunderte nur, dass sich Schwarze und Weisse hier überhaupt nicht vermischten. Fast zweihundert Jahre lebten sie schon hier, seit acht oder zehn Generationen. Die Schwarzen lebten in der Regel in etwas einfacheren Verhältnissen. Schienen auch irgendwie eine eigene Sprache zu sprechen, irgendwas Afrikanisches vielleicht.

Bis hinter South Boston kam ich noch, dann hielt wieder einer an, Ken hiess er, und überraschte mich plötzlich mit ein paar Sätzen auf Deutsch. Ja, meinte er lachend, das hatte er in der high school gelernt. Hoho, auch im Hinterland von Virginia konnten die Schüler Fremdsprachen lernen. Eine Fremdsprache war sogar Pflicht. Drei Sprachen wurden angeboten. Spanisch, Französisch und Deutsch. Die meisten nahmen Spanisch. Wer etwas mehr auf dem Kasten hatte, quälte sich ein paar Jahre mit Französisch. Und die ganz Schlauen, die Mutigen und wirklich Guten, die hatten Deutsch gewählt.

Er wohnte in Cluster Springs, fragte mich aber noch, ob ich nicht nochmal nach South Boston zu seiner Schwester und ein paar netten Leuten mitkommen wollte. Okay, meinte ich, aber nur, wenn ich morgen wieder nach Cluster Springs komme. Ken musste lachen. Hätte er vielleicht auch gesagt.

Es wurde ein netter Abend in South Boston.

19. Oktober 1987

Cluster Springs war nur noch wenige Kilometer vor North Carolina und ich lief langsam auf die Bundesstaatsgrenze zu. Schon von weitem sah ich das Schild. Würde ich North Carolina zu Fuss erreichen? Die Strasse war nicht sehr befahren. Es waren noch wenige hundert Meter bis zum neuen Bundesstaat, als ich von hinten wieder ein Auto hörte. Es war nicht schwer zu hören, was für ein Auto - mein Ziel, North Carolina zu Fuss zu erreichen, rückte in greifbare Nähe.

Denn es war wieder einer dieser silbernen Angeber-Jeeps mit vollkommen übertrieben breiten Rädern, die nie Anhalter mitnahmen. Trotzdem, ich drehte mich um und hielt den Daumen raus. Der Wagen bremste, hielt an und nahm mich mit. Das mit den Vorurteilen war manchmal so eine Sache. So kam ich nach North Carolina.

Zunächst nach Roxboro, wo ich mir wieder eine Rand McNally-Karte kaufte, für North und South Carolina. Erstmal suchte ich mir eine schöne kleine backroad nach Süden, und wanderte aus Roxboro raus.

Doch die Strassen der niedrigsten Kategorie waren hier kaum befahren. Die Gegend war hier nur noch sehr dünn besiedelt und ich musste ab hier die Strassen der nächsthöheren Kategorie entlanggehen. Am Nachmittag nahm mich sogar ein Mexikaner mit, richtig schön weit, bis Graham. Er erzählte ein wenig von Mexico, klang aber wenig begeistert und riet mir, lieber nicht nach Mexico zu trampen. Schon lange lebte er in den USA.

Ich würde hier gerne mal ein paar Wochen arbeiten, sagte ich. Eine Idee hatte er nicht, aber wenn ich wollte, würde ich was finden. Einfach nur fragen, irgendwann bekäme ich schon was. Hatte er auch so gemacht. War das nicht verboten? Ach was, dass du Ausländer bist, will hier keiner wissen. Die Polizei macht hier keine Probleme. Macht sie bei mir auch nicht. Und ich bin Mexikaner.

20. Oktober 1987

Das hatte ich jetzt davon, wenn ich die grösseren Strassen nahm. Ein Lkw hielt an und nahm mich über Asheboro direkt bis nach Charlotte mit. Charlotte war eine riesige Stadt. Und der Schwarze fuhr leider nur bis zum Ortseingang, wo er abladen musste, sodass ich mich davor sah, nun die ganze Stadt durchqueren zu dürfen. Zum Glück hatte ich eine Karte und Charlotte war nicht ganz so gross wie New York. Ausserdem konnte ich mich nicht beschweren, weit über hundert Kilometer hatte der Trucker mich gefahren und nicht weit hinter Charlotte begann South Carolina.

Es war übrigens keine andere Sprache, die die Schwarzen hier sprachen. Es war Englisch. Aber was für eins.

Schon die Weissen sprachen hier einen ziemlich breiten Südstaaten-Slang. Mit der Zeit hatte ich den Eindruck, dass es hier eine grammatische Grundregel gab, wonach in jedem Satz mindestens dreimal das Wort fuck oder fuckin' erwähnt werden musste. Im gegenteiligen Fall fragten sie, ob man Ausländer war. Mit meinem britischen Englisch fiel ich hier schon nach drei Worten auf.

Die Schwarzen hatten das noch perfektioniert. Als sie vor zweihundert Jahren aus Afrika auf die Baumwollplantagen gebracht wurden, hatte man ihnen nicht nur ihre Musikinstrumente verboten, sondern auch ihre eigenen Sprachen[8]. Es schien, als hätten sie sich gesagt, bitte, wie ihr wollt, dann sprechen wir eben Englisch. Aber glaubt nicht, dass ihr davon mehr versteht.

Und tatsächlich, auch die Weissen meinten zu mir, nein, wenn sich die Schwarzen untereinander unterhielten, würden sie das meiste auch nicht verstehen. Grundsätzlich schienen die Schwarzen der Meinung zu sein, ein Wort brauchte nicht mehr als eine Silbe. Und je nach Häufigkeit der Wörter nahm auch die Zahl der als notwendig erachteten Konsonanten ab. Ein Vorteil davon musste unweigerlich sein, dass sie sich in derselben Zeit sehr viel mehr sagen konnten als die Weissen. Die sich mit Kontruktionen wie ain't, gonna oder wanna auch schon um Zeitersparnis bemüht hatten. Aber das war ja noch gar nichts.

Ya e'er 'e'a Pa'?, hatte der Trucker mich mehrmals verzweifelt gefragt, überzeugt davon, dass er perfektes Oxford English sprach, und ich bemühte mich ebenso verzweifelt zu verstehen, was er wohl meinte. Es bemühte sich wirklich und wiederholte seine Frage mehrmals klar und deutlich. Weisse Amerikaner hätten das jetzt verstanden, so viel war mir klar, also musste ich es auch rauskriegen.

- Ya e'er 'e'a Pa'? Pa', Pah'- ya e'er 'eena Pah'? Pa'!

- Pah? What's that, Pah? I'm sorry, I don't understand that.

- Pa'? Ain' 'at Pah'? Pa'!

Oder Pae? Wie wurde das geschrieben? Wusste er auch nicht. Was könnte er meinen? Viele Schwarze hatten mir erzählt, in welchen Ländern und Städten Europas sie oder ihre Väter im Zweiten Weltkrieg gewesen waren. Die Schwarzen hatten hier oft mehr Ahnung von Geographie und Europa als die Weissen.

- Pah' - Frah, ya e'er been the'?

Frah hiess France. Jetzt war es klar. Oh, sorry, nein, noch nie, antwortete ich ihm auf seine völlig deutlich gestellte Frage.

Ya e'er 'e'a Pa'? - "Have you ever been to Paris?"

Nach einem langen Fussweg durch Charlotte nahm mich am späten Nachmittag ein Wagen ein paar Meilen weit bis hinter die Bundesstaatsgrenze von South Carolina mit. Immer öfter fragte ich die Leute, ob sie wüssten, ob ich hier irgendwo arbeiten könnte. Ich brauchte langsam mal eine Pause.

In kleinen Tramps kam ich noch bis hinter York und es wurde dunkel. Ich fragte an einem Haus an der Strasse, ob ich hier irgendwo übernachten könnte, aber das hätte ich mir auch sparen können. Die alten Leute reagierten nur verstört. Äh, nee, übernachten, nee, das geht hier nirgends.

Aber es war ja längst nicht mehr so kalt und ich konnte auch irgendwo in der freien Landschaft übernachten. South Carolina. Ich war im Süden. Die Waldränder am Strassenrand waren über und über mit Efeu und Lianen behangen. Unter einem Birnenbaum legte ich mich hin und schlief ein.

21. Oktober 1987

Heute schaffte ich es in sieben Tramps durch ganz South Carolina und landete am Abend bei Hickory Knob im Sumter National Park am aufgestauten Savannah River. Ich ging zum Park Restaurant. Blöd war, dass es schon dunkel war, aber egal. Ich fragte einfach mal nach Arbeit nach. Erstmal wurde der Chef geholt, der sehr freundlich war, aber leider bedauerte, er habe momentan keine Jobs. Essen hatten sie trotzdem, und die Nacht konnte ich gerne in einem Pferdestall ein paar Meter weiter verbringen. Sie gaben mir eine ausrangierte hellgelbe Wolldecke. Langsam wurde mein Rucksack voll.

22. Oktober 1987

Heute ging ich nur bis zur Brücke am Savannah River, badete im Stausee, wusch ein paar Sachen und legte sie zum Trocknen in die Sonne. Dann schrieb ich einen Brief an die Leute von Forum in Neustadt. Der erste Brief, schrieb ich.

Also: Amerika - das gibts tatsächlich, es sind also nicht nur Erfindungen und geschickt zusammengestellte Fotomontagen...

Mir gefiel der See und ich entschied mich, nachdem ich gestern so schön was zu Essen bekommen hatte, einen Tag einfach Pause zu machen. Ich legte mich auf den Rücken und liess mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Ich musste auch endlich mal die Löcher in meiner Jacke und meiner Hose nähen.

In Abständen von einigen Wochen oder Monaten würde ich regelmässig Briefe ans Forum schreiben, hatte ich mir vorgenommen. Und alle Briefe würde ich in mein Tagebuch abschreiben, bevor ich sie wegschickte. Damit nichts verloren ging.

Die Nacht war schön warm, mit meiner neuen gelben Wolldecke. Am gegenüber liegenden Ufer lag Georgia.

23. Oktober 1987

Georgia. Erstmal ging ich zu Fuss. Die Gegend um den Clarks Hill Lake mit den zwei langen Brücken über den Stausee war zu schön und die Strasse wenig befahren. In Lincolnton gab ich am Mittag den Brief bei der Post ab. Dann wanderte ich weiter, aus Lincolnton wieder raus. Georgia war der südlichste der dreizehn Gründerstaaten der USA.

Ein Schwarzer nahm mich nach Washington mit, dem nächsten Ort an der Strasse nach Westen. Sweet home Alabama kam aus dem Radio. Alabama wäre der nächste Bundesstaat. Ah, you like music, meinte der Fahrer und freute sich. Ob er wüsste, wo es Arbeit gibt. Nein, aber wenn ich mich bemühte, fände ich welche. Auch hier in Georgia. Sein Chef brauchte momentan keine Arbeiter, aber woanders fände ich bestimmt Arbeit.

Mit der einfachen Frage nach Arbeit kam ich mit den Leuten noch viel besser ins Gespräch als wenn ich ihnen von Germany erzählte. Sofort war ich einer von ihnen. Die meisten hier im Süden dachten, ich käme aus den Nordstaaten. Allzu wohlhabend sah ich wirklich nicht aus mit meinem Erbsensack, und erst recht nicht wie ein Rucksacktourist. Eher wie ein Wanderarbeiter. Ich wanderte erstmal durch den Ort. Es gab sogar ein Museum.

Die kleine Stadt Washington war stolz darauf, der erste von den fünfzig oder wieviel Orten in den Vereinigten Staaten gewesen zu sein, der nach dem ersten US-Präsidenten benannt wurde. Im Jahr 1780.

Moment, kurz mal nachschauen, was dazu im Internet steht. Drei Jahre vorher hatte das Land noch den Creek und Cherokee gehört, bevor sie die riesigen Ländereien dem Gouverneur von Georgia überlassen hatten. Als Ausgleich für Schulden, die sie bei Händlern hatten, wie es noch heute in der offiziellen Geschichtsschreibung des Ortes formuliert wurde. Woraufhin die ceded lands - die "überlassenen" Ländereien - an englische, schottisch-irische und deutsche Siedler aus North und South Carolina und Virginia verteilt worden waren. Noch zweihundert Jahre später begann die offizielle Geschichte dieses Landes mit den ceded lands (). Was mit den Cherokee und Creek in diesen und den folgenden Jahrzehnten passierte, gehörte wahrscheinlich nicht zum Thema.

Die historischen Holzhäuser der Innenstadt machten trotzdem einen netten Eindruck. Wo man Arbeit kriegen könnte, fragte ich ein paar Leute in der Stadt. Sie wussten nicht viel, schlugen aber vor, es bei einer Apfelplantage an der Strasse nach Athens zu probieren. Das hatte mir der Trucker, der mich hierher mitgenommen hatte, auch schon gesagt. Sie beschrieben mir, wie ich hinkommen würde. Nur die Meilenangaben unterschieden sich gewaltig. Die Leute hatten grundsätzlich keine Ahnung, wie weit die Strecken wirklich waren, sie gingen ja nie zu Fuss.

Die Plantage war etwa viermal so weit wie sie gesagt hatten. Meilenweit lief ich die Lexington Avenue aus der Stadt raus. Ein Familienauto fuhr an mir vorbei, die Leute warfen Papier aus dem Fenster und hielten ein paar hundert Meter weiter an. Als ich daran vorbeikam, sah ich, dass es ein paar Dollarscheine waren. Ich bedankte mich. Sie beobachteten die Szene, winkten noch kurz und fuhren weiter. Ich habe nie erfahren, welche Familie es gewesen war.

Es war weit und begann bald schon zu dämmern. Am Haus einer alten Baumwollplantage stand Callaway Plantation. Vor den griechischen Säulen des imposanten Herrenhauses hing wie überall neben der US-Flagge und der von Georgia auch die Confederate Flag der Südstaaten. Ein Typ mit einem schwarzen Hund stand davor. Wie weit war denn jetzt diese Apfelplantage noch? Ich ging hin und fragte ihn.

Oh, das sei noch ganz schön weit, unter einer halben Stunde sei ich nicht da, meinte der bärtige Dreissigjährige im Anzug. Aber da würde niemand mehr sein, heute, am Freitag. Dennoch bot er mir spontan an, mich zur Plantage zu fahren und nachzusehen.

Nein, es war wirklich nichts mehr los auf der Plantage. Aber die Saison sei auch schon vorbei, meinte er, und wenn ich hier Arbeit finden könnte, dann bestimmt nicht in der Apfelernte. Oder ob es eine Baumwoll-Plantage gebe? Nein, meinte er lachend, Baumwolle wurde hier schon längst nicht mehr angebaut. Der Boden war schnell ausgelaugt, Baumwolle wuchs hier heute nicht mehr. Wälder, ein paar Weiden. Erdnüsse wuchsen noch, und auch nur mit viel Dünger. Ex-Präsident Jimmy Carter war Erdnussfarmer, ein paar Counties südlich von hier. Die Callaway Plantation sei nur ein Museum.

Ich wollte mir etwas Geld für die Weiterreise verdienen, meinte ich. Aus Deutschland kommst du? Seine Vorfahren waren Iren gewesen, O'Horgan hatten sie geheissen. Um nicht als Iren erkannt zu werden, hatten sie das O' aus dem Nachnamen gestrichen. Doch heute waren sie wieder stolz auf ihre Herkunft und seine Eltern hatten ihm einen zweiten Vornamen gegeben, Owen. Er zeigte mir lächelnd seine Visitenkarte, Michael O. Horgan. Mike war Rechtsanwalt in Washington.

Wir fuhren wieder zurück zur Callaway Plantation. Neben dem stolzen Haus stand eine Art Wohnmobil. Viele Amerikaner wohnten hier in solchen mobile homes, vor allem die Schwarzen. Schien die billigste Methode sein, hier in den Südstaaten zu wohnen. Er lud mich zu sich ein. Erst zeigte er mir die Dusche, zog sich um und schaltete lächelnd den Fernseher an. Ich hoffe es macht dir nichts aus, meinte er etwas verlegen, aber ich darf keine Folge von Miami Vice verpassen. Sein Hund auch nicht. Katie, die mich schon kannte. Ein black lab, wie er mir erklärte. Er mochte diese Hunderasse.

Also gut, meinte er nach einigem Überlegen, wir werden mal sehen, ob wir das schaffen. Du bist aus Germany und willst hier Arbeit finden. Das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinkriegen würden. Ich weiss noch nicht wie, aber wir kriegen für dich Arbeit.

Samstag, 24. Oktober 1987

Am Wochenende war nicht viel los in der verschlafenen Stadt mit den knapp fünftausend Einwohnern. Mit Mike bummelte ich ein wenig durch die Stadt und schrieb einen Brief an Lina. Und ich besuchte das Museum, mit ein paar alten Möbeln aus der Gründerzeit, ein paar Uniformen der Confederate Army und ein paar Indianerpfeilen, die ein native of Wilkes County, der verstorbene Morton Reed, dem Museum vermacht hatte. Ausser diesem alles andere als informativen Hinweis gab es nichts über die Geschichte der Native Americans aus dieser Gegend, weder vor noch nach 1777. Ob sie überhaupt überlebt hatten?

Die nette Dame im Museum war stolz auf ihren hohen ausländischen Besuch und bat mich, meinen Namen im goldenen Buch einzutragen. Bitte auch mit Adresse und Land. Und ob West oder East Germany. So viel Respekt war ich in diesem Land gar nicht gewohnt.

Mike wollte mich am Rathausplatz abholen. Das Rathaus sah so ähnlich wie ein mittelalterliches Märchenschloss aus, mit Türmchen und Bögen.

Er hatte uns einen Termin in einer kleinen Bar am Rande der Stadt besorgt, die Barbesitzerin kannte er gut, Leona. Sie konnte sehr gut kochen, heute gab es ein hiesiges Spezialgericht. Irgendwas mit Mais. Mike ass gerne dort. Ein Mädchen kam dazu, eine Freundin von Leona. Oh, darf ich vorstellen, das ist Vivian. Vivian war eine Mischung aus Schwarzen und Weissen. Das war selten. Oh, meinte Leona, ich bin auch keine Weisse. Ja, stimmt, Mike lachte. Stimmt, du bist auch keine Weisse. Na, dann bin ich mal gespannt - was bist du denn?, fragte ich sie. Cherokee Indian, meinte sie stolz, und zwar gar nicht so wenig. Oh. Naja, die Mutter meines Vaters war Indianerin, und ich glaube, sogar reinrassig, und unter den Vorfahren meiner Mutter gab es auch noch Cherokees.

Am Abend lernte ich noch Freunde von Mike kennen, Steve und Eleanor Blackmon, sehr aufgeschlossene Leute, denen man überhaupt nicht anmerkte, dass sie kurz vor dem Ruhestand standen. Sie waren in allen möglichen Clubs und Kirchengruppen aktiv. Er hatte ein Bekleidungsgeschäft in der Innenstadt. Nach Feierabend gingen wir zu ihnen nach Hause, ein schönes historisches Holzgebäude in der Alexander Avenue. Steve gab mir einen ausrangierten Schlafsack von der Army, den er längst nicht mehr brauchte.

Eleanor meinte, als ich ihnen von Vivian und Leona erzählte, oh nein, sie sei auch keine reine Weisse. Ihre Ururgrossmutter sei Cherokee-Indianerin gewesen.

- Wenn ich mich in die Sonne lege, in Florida am Strand, brauch ich keine Sonnenschutzcreme. Ja, und ich werde trotzdem immer viel schneller braun als alle anderen! That's my Indian blood!

Viele Amerikaner stellten heute mühsame Nachforschungen über ihre Vorfahren an. Die US-amerikanische Bevölkerung hatte alles, was ein zufriedenes Volk brauchte. Geld, Freiheit, Waffen für jedermann. Nur eines nicht: Wurzeln. Viele suchten sie, in der Geschichte ihrer Ahnen. Der Film Roots war eine Ausnahme. Viele Schwarzen wussten nicht, aus welchen Ländern Afrikas ihre Ahnen verschleppt worden waren. Die Weissen kamen oft nicht viel weiter, wenn sie wissen wollten, in welcher Gegend Europas ihre Vorfahren genau gelebt hatten. Als Gewinner der Klassenlotterie fühlten sich immer die, die tatsächlich nachweisen konnten, dass sie indianisches Blut in ihren Adern hatten.

Und die Cherokee unterschieden sich deutlich von anderen Indianern. Diese Nation konnte um 1800 wahrhaftig nicht als unzivilisiert und wild bezeichnet werden. Sie hatten eine blühende Kultur und eine demokratische Struktur, die auf Ideen basierte, die den weissen Amerikanern viel mehr entgegenkamen als alles, was sie von Europa kannten. Das Land der Cherokee war sogar international anerkannt. In einer Sache hatten die Cherokee sich der weissen Zivilisation allerdings noch nicht angeglichen: die Cherokee kannten das Frauenwahlrecht.

Erst 1869 begann Wyoming als erster Bundesstaat der USA, zögerlich ein Frauenwahlrecht einzuführen. Einige andere Bundesstaaten kamen in den folgenden Jahrzehnten dazu. Als Emmeline Pankhurst und die Frauenbewegung Grossbritanniens in brutalen Strassenschlachten und mit Bombenanschlägen für das Frauenwahlrecht kämpften, das sie erst mit Ende des ersten Weltkriegs erhielten, war ihnen nicht bewusst, dass sie für ein demokratisches Ideal stritten, das bei den Cherokee schon hundert Jahre vorher eine Selbstverständlichkeit war. Landesweit durften die US-Frauen erst seit 1920 wählen, siebenundzwanzig Jahre nach Neuseeland und fünfzehn Jahre später als in Finnland.

In den nächsten Tagen vertrieb ich mir die Zeit in der Stadt und besuchte auch die öffentliche Bücherei. Und hier gab es tatsächlich ein paar Bücher über die Geschichter der Indianer. Auch einige, die von indianischen Autoren geschrieben waren. Was Eleanor gesagt hatte, stimmte.

Ein Cherokee, Sequoyah, erfand 1809 sogar eine eigene Schrift mit Symbolen für alle fünfundachzig Silben, die die Sprache der Cherokee kannte. Die zuerst noch misstrauischen Cherokee-Krieger akzeptierten die einfach zu lernende Schrift zwei Jahre später und innerhalb weniger Monate konnten fast alle Cherokee lesen und schreiben. Es erschienen sogar Zeitungen. Doch kurz danach wurde Gold in Georgia entdeckt, sämtliche Verträge mit den sechzehntausend Cherokee wurden für nichtig erklärt und das Volk wurde praktisch komplett enteignet.

Kein Staat kann eine eigene Kultur, Zivilisation und Fortschritt entfalten, solange Indianer in seinen Grenzen leben, hatte US-Präsident Andrew Jackson im Removal Act von 1830 erklärt. Fünf ganze Indianervölker von Mississippi bis Florida mussten verschwinden. Es folgten die Todesmärsche, eines der dunkelsten Kapitel nordamerikanischer Geschichte. Die Cherokee wehrten sich am längsten, bis 1838. Sie waren wie die meisten US-Amerikaner Christen, hatten Kirchen in ihren Dörfern. Es half ihnen nichts. Tausende von ihnen starben auf dem grausamen Weg nach Westen, dem Trail of Tears, bis sie Oklahoma erreichten.

Von alledem stand in der offiziellen Geschichte von Washington oder Wilkes County kein Wort. Doch immerhn, in der örtlichen Bücherei gab es Bücher darüber.

Vielleicht werden die Cherokee oder die Creek eines Tages wiederkommen und ihre Länder ganz einfach zurückkaufen. Im März 1987 war den Indianern vom Obersten US-Gericht das Recht zugesprochen worden, in ihren Reservaten Geldspielerei kommerziell zu betreiben.

Ich verdiente mir bei Steve und Eleanor ein paar Dollars im Garten und Steve staunte nicht schlecht, als er mich mitten beim Unkrautrupfen dabei erwischte, wie ich für Vollrath in Cismar ein paar Schnecken sammelte. Am nächsten Tag nahm mich Mike zu einer Sitzung des Rotary Club mit. Die High Society von Washington. Sehr ehrenvoll auch hier der Empfang des ausländischen Studenten, zu dem ich inzwischen avanciert war. Mike brachte es sogar fertig, einen Termin mit der örtlichen Zeitung abzumachen, deren Reporter mich mit Mike zusammen dann vor der Bibliothek fotografierte, interviewte und einen ganzen Artikel über den ungewöhnlichen Besuch schrieb. West German student visits Wilkes... Wie alle war er sehr beeindruckt von meinen ganzen Sprachen. Portugiesisch und Italienisch dichtete er mir bei der Gelegenheit gleich auch noch an - es gab hier sowieso niemanden, der das nachprüfen könnte. Obwohl, immerhin, Mike schaffte es sogar, mich einer Näherin am Ortsrand vorzustellen, die seit Jahrzehnten hier lebte und tatsächlich noch ein paar Worte Deutsch konnte.

Bei seiner Rede vor dem Rotary Club, wo er mich vorstellte, liess Mike dann auch einfliessen, dass ich für ein paar Wochen Arbeit suchte. Im Handumdrehen hatte ich Arbeit. Red Land Motel, am Ortsausgang von Washington. Und ein paar andere Gelegenheitsarbeiten bei verschiedenen Leuten in der Stadt.

Der Besitzer vom Red Land Motel war von Natur aus misstrauisch. Vor einem Pick-up auf dem Hof vor dem Motel befand sich eine Menge Schrott, Kies und Holzkram, vielleicht ein Kubikmeter. Er besprach kurz mit Richard, was es heute zu tun gab und was ich machen sollte, dann kam der Schwarze zu mir rüber, gab mir eine Schaufel in die Hand, meinte put that stuff in the truck und verzog sich. Ich war allein auf dem Hof, vor mir ein Berg trash. Ah, war wohl so abgesprochen, als Test ob ich auch ein fleissiger Arbeiter war. Also dann mal los. Endlich durfte ich mal richtig arbeiten.

Eine halbe Stunde später war der Müll im truck. Die Pick-ups wurden in den Südstaaten truck genannt. Der Besitzer kam an, lobte mich - I see you can work - und erklärte mir dann, welche Räume und Zäune alle neu gestrichen werden mussten. Für zwei Wochen hatte ich einen Job als Maler. Es war gar nicht so schlecht.

Morgens fuhr mich Mike ins Red Land Motel und setzte mich ab, auf dem Weg in seine Anwaltskanzlei. Mittags kochte die Haushälterin Essen, für Ken, Richard und mich. Ken war der Sohn des Motelbesitzers. Abends holte mich Mike dann wieder ab zur Callaway Plantation.

Nach dem ersten Arbeitstag im Red Land träumte ich von Viktoria. Oft waren es nur kurze Szenen. Das Gefühl ihrer Nähe, das am Morgen noch zu spüren war, konnte an ruhigen Vormittagen länger anhalten. Während des stundenlangen Streichens der Zimmerwände konnte ich meine Gedanken kreisen lassen. So fand ich mich bald den ganzen Tag in einer meditativen Traumwelt wieder.

Bei Vivian sollte ich für den Winter die Fenster mit durchsichtigen Plastikfolien abdecken. Für dreissig Dollar. Vivian wohnte alleine in einem alten Holzhaus im Süden der Stadt. Sie hatte Folien, Tacker und eine Leiter besorgt und ich tackerte zwei Tage lang die Fenster zu. Als ich fertig war, konnte ich noch bei ihr duschen. Sie hatte inzwischen die Küche gemacht. Dann zeigte sie mir ihr Schlafzimmer. Das hier - ist mein Schlafzimmer. Mit Doppelbett. Das ganz klar zu gross für sie war, ein altes Erbstück wohl. Sie lächelte. Wo ich heute nacht schlafen wollte, fragte sie. Bei Mike, wie immer. Es ginge auch hier, meinte sie. Verlegen lächelte ich sie an.

- Es ist wirklich sehr nett, dass du mir das anbietest. Aber ich möchte lieber doch wieder zu Mike.

- Nein, kein Problem. Ich fahr dich wieder zu Mike. Es war ja so ausgemacht.

- Das ist nett, danke.

Erst fuhr sie noch in die Waschanlage, ihren Jeep waschen. Auch das hätte sehr romantisch sein können. Aber ich wollte leider wirklich nicht bei ihr übernachten.

- Eine Frage noch. Warum nicht? Habe ich etwas falsch gemacht?

So, und jetzt aufgepasst. Sie hatte mit Sicherheit nicht nur die Befürchtung, sie hatte vielleicht etwas falsch gemacht. Ich war Ausländer, und als solcher hatte ich jetzt die einmalige Möglichkeit, etwas zu sagen, was Amerikaner jetzt wahrscheinlich nicht sagen würden.

Vivian war eine seltene Mischung zwischen Schwarzen und Weissen, und somit war sie weder Schwarze noch Weisse. Auch wenn es nach Überzeugung aller hier keine Rassenprobleme gab, und Schwarze und Weisse sich respektierten und sich, wie beispielsweise Rich und Ken im Red Land Motel, blendend verstanden - ihre Freundeskreise waren offenbar absolut strikt getrennt. Weisse gingen nicht in eine Kirche der Schwarzen. Sie konnten es tun, hatte mir Eleanor erklärt, mit der ich ausführlich darüber gesprochen hatte, und sie wurden dann auch gerne willkommen geheissen. Ungekehrt genauso. Aber in der Realität kam so etwas kaum vor. Manchmal, bei Beerdigungen wichtiger Persönlichkeiten. Die Mentalität von Schwarzen und Weissen unterschied sich, ihre Kirchen passten nicht zusammen. Das war eben so, das war schon immer so, und Georgia war stolz auf seine Diversität.

Es konnte nicht anders sein, dass sich ein Mädchen wie Vivian wie zwischen zwei Stühlen vorkommen und sich von Schwarzen wie Weissen sehr häufig ausgegrenzt und zurückgewiesen fühlen musste. Und dass daraus vielleicht auch eine Einsamkeit erwuchs. Und es konnte nicht anders sein, dass Mädchen wie sie grosse Probleme haben mussten, einen Freund zu finden, einfach deswegen, weil dieser sich dadurch von der Gemeinschaft der Schwarzen oder der Weissen, je nachdem, ebenfalls ausgrenzen würde.

Was sollte ich ihr jetzt sagen? Ich kannte sie nur flüchtig, hatte bei ihr die Fenster getackert und sie hatte mir angeboten, bei ihr im Bett zu übernachten. Es war keine Frage, dass ich ihr nicht die ganze Geschichte mit Viktoria erzählen konnte, dazu kannte ich sie zu wenig. Aber es reichte nicht, einfach zu sagen, nein, du hast nichts falsch gemacht. Ausserdem musste die Antwort kurz und klar sein.

- Ich habe eine Freundin in Germany.

- Ah.

- Ich möchte ihr treu sein. Wenn du einen Freund hättest und der weit weg wär, würdest du dich vielleicht auch freuen, wenn er so reagieren würde wie ich. Hätte ich keine Freundin, glaube ich nicht, dass ich heute bei Mike übernachten wollte. Ich möchte dir für dein Vertrauen trotzdem danken.

Sie lächelte ein wenig traurig und nickte verständnisvoll. Das war eine Ehre. Ich war sensibel genug gewesen.

Mike träumte davon, sich eines der schönen Gebäude im Südstaaten-Stil zu kaufen. Es gab richtig schöne Häuser hier, mit Türmchen und viel Grün. Aber er hatte noch nicht das Richtige gefunden, und so wohnte er lieber weiter im Wohnmobil neben der Callaway Plantation. Die alte Dame, die das dortige Museum betreute, fand es gut, dass nachts jemand dort war. Mit grossem schwarzen Hund. Der Schwarze Labrador-Hund mochte mich und begrüsste mich jeden Abend freudig.

Abends ging Mike manchmal zu einem Aussichtsgerüst auf der Callaway Plantation und sah sich den Sonnenuntergang an. Es konnte hier sehr romantisch sein. Die anderen black lab-Kumpels von Katie kamen an und spielten mit ihr. Sie waren sehr scheu und zeigten sich nie, aber wenn Mike sich auf dem Gerüst lange nicht bewegte, konnte er sie manchmal zu Gesicht bekommen.

Und die Kassette von Nockamixon in Pennsylvania hörte ich mir an. Vielleicht hatte die Kassette wirklich für mich dort gelegen. Christliche Gospel-Lieder, Hallelujah, preiset den Lord, von verschiedenen Gruppen, zusammengestellt von Michael & Stormie Omartian. Die Texte konnte ich kaum verstehen, aber die message kam auch so rüber. Rejoice hiess frohlocket. Ein Lied fand ich ganz schön. Mansion builder von der Gruppe 2nd Chapter of Acts.

Mansion hiess Villa. Für die Amerikaner war es erstrebenswert, in Villen zu leben. Bei den westlichen Völkern funktionierte es generell immer gut, möglichst von irdischen Reichtümern und Unsterblichkeit zu sprechen, wenn die christliche Botschaft vermittelt werden sollte.

Mansion builder

(2nd Chapter of Acts, 1978)

I've been told that there are those who learn how to fly

and I've been told that there are those who'll never die

and I've been told that there are stars that will never lose the shine

And that there is a morning star who knows my mind.

So why should I worry, why should I fret

'cause I've got a mansion builder who ain't through with me yet.

Why should I...

And I've been told that there's a crystal lake in the sky

and every tear from my eyes are saved when I cry

and I've been told there'll come a time when the sun recedes to shine

And that there is a morning star who knows my mind

So why should I...

Why should I...

Es war eines der wenigen Lieder, die vielleicht nicht ganz so aufdringlich missionarisch wirkten. Mike war arm dran, er verstand die Texte und konnte es gar nicht verstehen, dass ich mir diese Kassette die ganze Zeit anhörte. Es war wie im Rackersberg, als wir in Neustadt gewohnt hatten. Auch dort hatten wir immer dieselbe Kassette gehört.

Niedlich war eine Szene mit dem Hilfssheriff in der Stadt, den ich vom Rotary Club her kannte. Ich schlenderte über den Rathausplatz und er fragte mich, ob ich denn nun Arbeit gefunden habe. Eh, well, I am - ..., Washington is a very friendly town, with very kind people, meinte ich unsicher, und er verstand und lächelte. Als Ausländer durfte ich natürlich nicht arbeiten, aber hier in der Kleinstadt drückte auch der Hilfssheriff gerne mal ein Auge zu.

Am Ende hatte ich sogar genug Geld, um die gesammelten Schnecken nach Cismar zu schicken und mir im Supermarkt lauter Schoko-Honig-Corn-Pops und ähnliches Zeug fürs Frühstück zu kaufen. Junk food, meinte Mike zu mir. You are eating junk food.

Selber ernährten sie sich aber auch nicht viel gesünder. Mike nahm mich an einem Wochenende einmal mit zu einer Barbecue auf einem Grundstück ein paar Meilen weiter südlich von Washington, wo es dutzende verschiedener Dips und Sossen gab. Es lag in Taliaferro County. Als wir wieder heimfuhren, meinte Mike zu mir: Jetzt kannst du der Welt erzählen, dass du auch einmal in Taliaferro County gewesen bist.

Das schreibe ich nur hin, falls jemand tatsächlich auf die Idee kommen könnte, ich sei noch nie in Taliaferro County gewesen.

Nach vier Wochen - ich hatte inzwischen auch Athens kennengelernt, Mikes Universität besichtigt und wir hatten es mit Mike und seiner Freundin trotz enormer Anstrengungen nicht geschafft, in dieser Stadt jemanden zu finden, der Griechisch sprach - war Mike zu einer Hochzeit in Atlanta eingeladen. Für mich bedeutete das der Abschied von Washington, von Vivian und Leona, Eleanor und Steve Blackmon. Der mir am letzten Tag in seinem Bekleidungsgeschäft noch eine richtig gute Hose aussuchte. Now you've got some real good American pants.

Mike hatte mir eine ziemlich praktische Hose mit Seitentaschen mitgegeben, im grünen Tarnfarben-Military-Look. Für dreihundert Dollar hatte ich mir zum Schluss bei der Bank Visa-Reiseschecks gekauft. Damit käme ich, wenn ich so weitermachte, locker bis nach Südamerika.

In Atlanta holten wir erstmal einen Kumpel von Mike aus New York vom Flughafen ab, Billy Black. Er wohnte in Englewood Cliffs und gab mir am Ende lächelnd seine Adresse - falls du mal wieder in New York bist, damit du nicht im Central Park übernachten musst. Oder im Stadtpark von Hackensack. Englewood Cliffs war das Nachbarviertel von Hackensack. Er war fasziniert von meiner Geschichte.

Einen anderen nannten sie Beaver, er kam aus Montgomery, Alabama. Das war interessant. Ich will Richtung Westen, nach Texas und Mexico. Ja, kein Problem, ich kann dich morgen nach Alabama mitnehmen. Heute nacht schlafen wir hier in Atlanta im Motel. Morgen gehts dann weiter.

Wir fuhren hin und liessen unsere Sachen dort, dann ging es zur Hochzeit. Die Trauung fand in der Kirche statt. Eine katholische Kirche, wie sie mir erklärten. Was, seid ihr katholisch?, fragte ich. Nein, meinte Mike lachend, wir sind alles mögliche. Was bist du? Protestantisch, meinte ich, aber das reichte nicht, da musste noch lutheran hinzugefügt werden. Oh, das haben wir noch nicht, schon wieder was Neues, meinte Tim, der Bräutigam. Hier haben wir Methodisten, Baptisten, Katholiken, Presbyterianer, Billy Black ist Jude, die beiden hier auch, Church of Christ haben wir auch, der hier ist Zeuge Jehovas, wir sind hier wirklich gut gemischt.

Mike hatte zunächst gedacht, ach, das wird die nicht stören, wenn ich einen nicht eingeladenen Gast mit anschleppe. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Überraschungsgast unter den hundert Hochzeitsgästen der Star des Abends sein würde. Alle wollten mit dem Gast aus dem fremden Land fotografiert werden. Besonders mit meinen Fahnen.

Bei Rüdiger Nehberg hatte ich einmal gelesen, dass es beim Trampen hilfreich sein konnte, die Fahne des eigenen Landes hinten am Rucksack anzubringen. Ich hatte mir auf ein Stück Stoff die Fahnen aller Länder genäht, die ich bereits bereist hatte. Und das waren gar nicht so wenige, Europa war voll mit richtigen countries.

Patty, die Braut, hatte ein schönes Haus in Atlanta, zwar schön gross, aber in der Hochzeitsnacht durfte dort ausser ihnen niemand übernachten. Nein, grundsätzlich nicht, meinte das Brautpaar schmunzelnd. Zu gross war die Angst vor den miesen Streichen der ehemaligen Jurastudenten. Ich stellte mich mit ein paar farbigen Kugelschreibern vor das Haus und zeichnete für Patty und Tim in einer halben Stunde das Haus ab. Ich konnte kaum glauben, wie sehr sich die beiden über das Kunstwerk freuten.

22. November 1987

Wir schliefen uns erstmal aus und brachten dann Billy Black zum Flughafen. Der Flughafen von Atlanta wirkte ziemlich futuristisch, mit kostenlosem shuttle. Am Nachmittag fuhr ich dann mit Beaver nach sweet home Alabama.

Sweet home Alabama

Lynyrd Skynyrd, 1974

Sweet home Alabama Where the skies are so blue

Sweet Home Alabama Lord, I'm coming home to you

Sweet home Alabama Where the skies are so blue

- Oh Sweet home baby

Sweet home Alabama Lord I'm coming home to you

- And the governor's true

Sweet home Alabama

- Lordy

Lord I'm coming home to you

- Yea yea Montgomery's got the answer

Montgomery. Dort war Beaver zuhause und es gab am Abend sogar noch Hannah and her sisters im Fernsehen. USA 1985, mit Woody Allen. Ich genoss den netten Abend mit Beaver und war dankbar für die Nacht. Ab morgen würde es wieder losgehen.

23. November 1987

Beaver fuhr mich noch zur Selma Road und ich war wieder auf der Strasse. Aber nun war es leichter, mit Schlafsack und jeder Menge Essen von der Hochzeit, das noch eine Zeitlang hielt. Und diesen Schlafsack würde ich mir erstmal nicht klauen lassen. Ich trug ihn oben auf dem Rucksack, sodass er mir praktisch auf dem Hals lag, während ich wanderte. Ich musste erstmal üben, mich umzudrehen, wenn ein Auto kam, ohne dass der Schlafsack runterfiel. Eigentlich war es ein ziemlich schäbiges Teil, aus Stoff, und sperrig, aber er sollte mir die nächsten Jahre gute Dienste leisten.

Erstmal hielt einer an, obwohl ich gar nicht getrampt hatte, und fuhr mich bis zum Flughafen. Na, das ging ja gut los. OA-Tramp Flughafen schrieb ich in mein Tagebuch. OA = Ohne Antrampen. Ich hatte keine Karte von Alabama, nur den Strassenatlas, aber das war nicht schlimm. Bis zum Abend hatte ich es schon bis Meridian geschafft, und das lag in Mississippi. Wievielter Bundesstaat? Elfter. Irgendwo legte ich mich schlafen. Oh, wie war das angenehm, mit Schlafsack.

24. November 1987

Morgens ging ich wie immer früh los. Oh, die standen hier wohl nicht so früh auf. Lange wanderte ich an einer Strasse Richtung Nordosten herum. Ich hatte mir zwar eine Karte von Mississippi besorgt, gestern kurz vor der Grenze des Bundesstaates, aber sie war nicht so genau. Westlich von hier lag die Hauptstadt Jackson. Dahinter lagen Louisiana und Texas. Aber ich wollte über kleinere Landstrassen, und da gab es keine gute Verbindung nach Westen. Ich entschied mich daher, nach Nordwesten auszuweichen, und musste dazu erstmal den State Highway 19 finden. Wo war denn der jetzt? Natürlich war nichts ausgeschildert.

Eine Frau hielt neben mir. Ihr war klar, ich hatte mich verlaufen. Ja, meinte ich, ich wollte auf die neunzehn. Na da bist du ja ganz falsch hier. Sie nahm mich ein Stück mit und ich war endlich auf der Strasse, die ich haben wollte. Bald hielt ein weiteres Auto an und fuhr mich wieder zwei Meilen bis zu einer Abzweigung. Das passierte mir heute noch ein paarmal, das war völlig ungewöhnlich, die Leute hielten einfach an, fuhren eine kurze Strecke und setzten mich ein paar Meilen weiter wieder ab, in the middle of nowhere. Einmal kam ich sogar im fliegenden Wechsel weiter, als ich hinten auf einem pick-up truck sass, der Wagen anhielt und der hinter uns fahrende Wagen mich einfach übernahm. Immer häufiger wurde ich hier auch hinten auf den Pick-ups mitgenommen.

Hier erfuhr ich auch, dass Mississippi nicht nur der ärmste US-Bundesstaat war, sondern auch, dass er zu den Staaten gehörte, wo das Trampen erlaubt war. Ein Schwarzer erklärte mir, warum er mich mitnahm.

- Früher waren wir hier sehr viel ärmer gewesen und kaum einer von uns hatte ein Auto. Da mussten wir alle zusehn, dass wir rides bekamen. Und deshalb nehmen wir heute Anhalter mit. Viele von uns machen das so.

Ein anderer Fahrer sagte mir, ich solle nicht so laut rumerzählen, dass ich aus Deutschland kam. In dieser Gegend der Südstaaten hätten sie häufig was gegen Deutsche. Zweiter Weltkrieg und so. Aber dass ich Deutscher war, spielte beim Trampen nur selten eine Rolle. Die meisten dachten, ich wäre aus den Nordstaaten, Irland oder England. Viele tippten auf Irland, wegen meiner rötlichen Haare.

Neun Tramps an diesem Tag, zählte ich am Abend, das war noch mehr als in Virginia. Am Ende des Tages war ich bis hinter Kosciusko gekommen. Fast zweihundert Kilometer auf derart kleinen Strassen, das war auch eine Kunst.

25. November 1987

Diese Nacht hatte ich wieder einmal in einer Scheune übernachtet und wanderte am Morgen die leere Strasse entlang. Kein Auto weit und breit. Die Leute schienen hier wirklich später aufzustehen.

Über die weiten Hügel fuhr ein langsamer Güterzug. Erst hielt er sich weiter südlich im Tal, später würde er vor mir die Strasse kreuzen. Die Szene erinnerte an die Wildwest-Romantik von Filmen, die auf den Weiten des mittleren Westens spielten und wo irgendwelche Westernhelden auf die fahrenden Güterzüge der Pacific Railroad Company aufsprangen und sich hunderte von Meilen übers Land fahren liessen. Unrealistisch schien es nicht zu sein. Die Gleise der Bahn hatten keine Ähnlichkeit mit dem leistungsfähigen Schienennetz in Deutschland - sie erinnerten eher an die alten Gleise in Griechenland, wo die Züge auch nur im Schneckentempo vorankamen.

Auch dieser Zug, der langsam durch das Tal hochgekrochen kam, das offenbar kaum merklich anstieg, fuhr so langsam, dass die Idee, einfach aufzuspringen und sich mitnehmen zu lassen, nicht weit hergeholt war. Er erreichte die Strasse. Einen kurzen Moment überlegte ich, blieb stehen und sah mir das Schauspiel an. Aber Mississippi per Anhalter hatte gestern richtig Spass gemacht und wer konnte wissen, wo der Zug hinfuhr? Ich wollte nach Mexico und konnte es mir nicht leisten, irgendwo nach Michigan oder Ohio gefahren zu werden. Der Zug nahm langsam wieder an Geschwindigkeit zu und fuhr vorbei.

Und das allererste Auto, das an diesem Morgen diese Strasse entlangkam, machte seinem Bundesstaat alle Ehre und hielt tatsächlich an. Wo ich her sei, fragte der Fahrer. Oh, aus Europa, meinte ich, nicht aus den Nordstaaten. Und wo aus Europa? Ich wurde verlegen. Musste der sich auch so gut auskennen. You know where Belgium is? Oh ja, er wusste, wo Belgien lag.

- Ja, und von Belgien etwas weiter östlich, da ist meine Stadt, aus der ich komme.

- Ah, also aus Deutschland?

- Ja, genau, Deutschland...

- Oh, dann bist du also Deutscher, und von so weit her hier nach Mississippi gekommen. That's really far far away!

Zumindest dieser Fahrer hatte also nichts gegen die deutsche Tramper. Er fuhr mich nach Durant.

Bei solchen Geprächen lernte ich auch weniger angenehme Seiten der einheimischen Bevölkerung kennen. Beeindruckend einfühlsam auch der Fahrer, der meinte, er mochte die Deutschen besonders gerne - you killed the damned jews. Er hasste Juden. Grenzenloser Antisemitismus im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wie einem Baby versuchte ich ihm geduldig zu erklären, dass die Deutschen das zwar gemacht hatten, aber ihr gesamtes Land dafür zerstört worden war, alle Städte zerbombt, und dass, wenn man es genau betrachtet, es vielleicht besser gewesen wäre, wenn die Deutschen das sein gelassen hätten.

In kleinen Teilstrecken ging es weiter, Lexington, Tchula, State Highway 12, Belzoni. Langsam näherte ich mich dem Mississippi und musste mir eine Brücke aussuchen.

Ich war soweit ins Binnenland gekommen, dass ich nun auf der Höhe von Arkansas war, dem Bundesstaat nördlich von Louisiana. Die einzige Brücke, die in dieser Gegend über den Fluss führte, lag bei Greenville und führte nach Arkansas.

Hinter Belzoni näherte sich ein Auto mit Kennzeichen von Florida - wow, Fernverkehr, kombinierte ich sofort - und hielt! Der Fahrer kam direkt aus Miami, war tausendfünfhundert Kilometer unterwegs und fuhr - bis Lake Village, Arkansas, gleich hinter der Mississippi-Brücke. Na, immerhin hundert Kilometer.

Die Brücke über den Mississippi war beeindruckend. Noch nie hatte ich einen so breiten Fluss gesehen.

Arkansas. Ein Lkw nahm mich noch bis zum nächsten Dorf mit, Hamburg. Ich wollte Mike kurz anrufen und hier war eine Telefonzelle. Wo bist du?, fragte er. - In Hamburg! Er wusste, dass ich in Hamburg die letzten Wochen vor New York verbracht hatte, glaubte mir die Antwort sofort aufs Wort und reagierte ohne zu zögern mit der Frage which state?

Der nächste Tramp brachte mich ein paar Meilen weiter nach North Crossett. Wo lag das denn genau? Schon wieder hatte ich keine ordentliche Karte. Ich hatte allerdings nicht vor, ganz Arkansas bis Texas zu durchqueren, sondern musste jetzt bald mal eine der Strassen nach Süden nehmen, wenn ich vor Texas noch in Louisiana vorbeischauen wollte. Der Fahrer hatte gemeint, es sei ganz schön gefährlich, hier durch die Gegend zu trampen. Ich solle aufpassen. I hope you got a gun, man.

Über Bewaffnung zu sprechen war beim Trampen ebenso tabu wie über Geld, aber der Typ hatte es gut gemeint. Hm, sagte ich, und setzte mir einen Blick auf, als wäre ich John Wayne persönlich. Undurchdringlich, verschlagen, abgebrüht. Diesen Blick konnte ich mir ruhig angwöhnen. Mit gemischten Gefühlen ging ich noch vorsichtiger weiter als vorher.

Ich kam bis Crossett und es begann zu dämmern. Die Georgia-Pacific Railroad hatte hier ein kleines Bürohaus. Es fing an zu regnen und ich stellte mich unter. Zum gab es ein Dach. Denn jetzt fing es wirklich an zu regnen. Wolkenbruch war gar kein Ausdruck. Es war, als käme eine komplette Wasserwand einfach von Himmel runter. So starken Regen hatte ich noch nie erlebt. Die Gegend um den Mississippi war bekannt dafür, dass es hier richtig gut regnen konnte. Die Lampe vor dem Haus brannte die ganze Nacht. Egal, ich legte mich trotzdem hin und schlief bald ein.

Nicht ohne mir vorher noch die Karte genau eingeprägt zu haben, damit ich morgen wusste, wo ich hinwollte. Der nächste Fluss im Westen war der Ouachita River. Danach müsste ich nach El Dorado und von dort nach Süden, bis Junction City, Louisiana. Diese Strasse ging dann direkt nach Süden. Irgendwann würde ich mich dann wieder nach Westen wenden.

El Dorado. Kein Zweifel, hier waren wir nicht mehr in den Dixieland-Südstaaten. Hier westlich vom Mississippi begann der Westen der USA.

26. November 1987

Erst früh am Morgen hörte der Regen auf und ich war wieder unterwegs. Ein Wagen nahm mich bis zur Brücke des Ouachita River mit. Ich ging zu Fuss über die schöne Brücke. Eine eigenartige Metallkonstruktion, offenbar eine Hängebrücke, rot angestrichen. Die Strasse war nicht sehr befahren.

Hier im Westen musste ich die höheren Highway-Kategorien nehmen. US Highway 82 hatte ich gerade. Diese Strasse war weniger befahren als in Virginia die backroads der niedrigsten Kategorie, und die Entfernungen zwischen den Orten waren viel weiter. Ich ging trotzdem die Strasse entlang in die Wildnis, eine Art Damm zwischen Sumpfwäldern. Der Teerbelag war auch schon alt und es schien, als sei der Damm im Lauf der Zeit stellenweise ein bisschen eingesackt oder verrutscht.

Ein typischer amerikanischer Strassenschlitten aus den sechziger Jahren hielt an. Solche Autos waren hier häufig. Die Autos wirkten in den USA generell viel weniger modern als in Europa. Vier Leute im Wagen, eine ganze Familie. Zu dritt quetschten wir uns vorne hin. Jaja, das geht schon. Das war auch selten - normalerweise hielten Autos nur an, wenn der Fahrer alleine war. Dies war die lustige Ausnahme von der Regel. Lustig deshalb, weil ich jetzt erfuhr, warum die amerikanischen Strassenkreuzer Schlitten hiessen.

Die schnurgerade Strasse auf dem Damm senkte sich hin und wieder zur einen oder anderen Seite, und der Wagen machte das Spiel der Hügel und Wellen wie ein Schlitten mit. Es war auch nicht unangenehm, wie bei einem schaukelnden Schiff, sondern eben wie bei einem Schlitten, der bei einer langen Abfahrt mal nach links und mal nach rechts schlitterte. In Strong war die Fahrt zuende und ich war wieder auf der Strasse.

Der nächste Wagen, und weiter gings. Ich hatte dem Fahrer gesagt, dass ich nach Texas wollte - und wie immer hatte er nicht verraten, wohin die Reise ging. Es war normal, dass Fahrer fragten, wo man hinwollte, wenn sie für einen Tramper anhielten. Ich nannte dann ein möglichst schlüssig klingendes Ziel, das meine Richtung angab, in diesem Fall Texas, der Fahrer sagte okay und ich steig ein. Die Fahrer sagten in der Regel nicht, wo sie selber hinfuhren - und so war das Ziel der Fahrt oft eine Überraschung. Ich sass also wieder mal in einem Auto, von dem ich nicht wusste, wie weit es noch fuhr.

In El Dorado wurde es spannend. Würde er anhalten? Nein, er hielt nicht, und er fuhr auch nicht nach Junction City. Er fuhr durch El Dorado hindurch und geradeaus weiter nach Westen.

Ich zählte die Meilen und liess mich über den Planeten fahren. Der Fahrer fuhr immer weiter. El Dorado lag hinter mir, bald auch Magnolia, Lewisville und schliesslich auch die Brücke über den imposanten Red River. Somit kam ich überraschenderweise nicht nach Lousiana.

Sondern direkt nach Texas. Nach hundert Meilen hielt der Typ in Texarkana an und liess mich aussteigen, bevor er in die Stadt fuhr. So weit war ich in den USA noch nie per Anhalter mitgenommen worden. Auch den Red River hatte ich nun schon überquert. Nun war ich in Texas, nur noch ein paar Meilen von Oklahoma entfernt. Aber Oklahoma lag im Norden und ich wollte nach Mexico. Also ging ich die Strasse nach Süden entlang.

Mit dem nächsten Wagen kam ich sogar noch weiter mit als vorhin. Er fuhr strikt nach Süden, immer etwa zwanzig Meilen von der Grenze von Louisiana entfernt, über den Sabine River, fast dreihundert Kilometer bis nach San Augustine. Der Fahrer sagte mir den Namen des Sheriffs, falls ich den mal brauchen würde, wünschte mir Glück und verabschiedete sich.

Ja, nun war ich in Texas. Sheriffs waren dort wohl wichtiger als anderswo.

Auch in Texas war es erlaubt, per Anhalter zu fahren, wie er mir erklärt hatte. Es gab offenbar eine richtige Trampkultur hier. Die Leute trampten von town zu town, und am Abend fragten sie beim Sheriff, ob sie im örtlichen Gefängnis schlafen konnten. Mit Abendessen. Das ging allerdings pro Ort nur immer für eine Nacht. Am nächsten Morgen trampten sie dann weiter. Musste wohl mit irgendeinem Gesetz geregelt sein. Der unzweifelhafte Vorteil dieser Methode war, dass die outlaws bei dieser Art von Hotelservice nachts nicht auf dumme Gedanken kamen und der Sheriff persönlich alles unter Kontrolle hatte. Ein sehr praktisches Land.

In einem Laden an der Strasse musste ich mir erstmal eine Landkarte von Texas besorgen. Sie hatten zwei zur Auswahl. Na, welche war denn besser, fragte ich die Verkäuferin. Wusste sie nicht. Dürfte ich mir die mal anschauen? Nein. Oh, entschuldigen Sie, ich bin aus Germany und kenne mich hier nicht aus, ich bin heute das erste Mal in Texas, bin eben von Texarkana gekommen. Nein, wiederholte sie, in einem etwas weniger freundlichen und zum Ausgleich dafür etwas weniger missverständlichen Ton. Oh, hätte ich nicht sagen sollen, dass- Wollen Sie nun die Karte oder nicht? Ansonsten möchten wir Sie höflich bitten, den Laden zu verlassen. Und zwar sofort. Zwei Typen waren auch noch im Laden und wechselten ein paar Worte in breitestem texanischen Akzent. Ich verstand fast nichts. Der Name des Sheriffs fiel. Ich kaufte die Rand McNally-Karte und wenige Sekunden später war ich wieder auf der Strasse. Hä? Wo war ich denn hier gelandet?

Den Namen des Sheriffs brauchte ich nicht mehr, ich kam auch so aus San Augustine raus. Und zwar zu Fuss. Vielleicht war ja nicht ganz Texas so. Und nach ein paar Meilen kam ich sogar noch weiter, denn ein Wagen hielt an und fuhr mich eine Stunde weiter nach Süden bis Jasper.

Und auch hier lief ich wieder aus der Stadt raus, diesmal allerdings nicht nach Süden, sondern von hier ab wieder nach Westen. Ich musste nördlich an Houston vorbei. Dazu durfte ich nicht zu dicht an die Küste kommen.

Es wurde dunkel und ich war immer noch nicht aus Jasper herausgelaufen. Bevor mich jetzt noch jemand bei Dunkelheit auf der Strasse sah, zog ich es vor, bei einem der unbewohnten Gebäude im Industriegebiet zu übernachten. Aber alles war schwer umzäunt. Eine Anlage sah sehr ruhig und verlassen aus, und ausnahmsweise ohne fette Hinweise auf Alarmanlagen. Irgendwas mit funeral home stand irgendwo dran. Ich wusste gar nicht, was das hiess. Möbellager vielleicht. Vor acht dürfte morgen früh hier keiner sein. Ich ging hinter das Haus und legte mich unter ein Vordach auf den Boden in meinen Schlafsack.

Ganz schön müde war ich. Heute war ich so weit gekommen wie an keinem anderen Tag seit New York, hunderte von Kilometern.

27. November 1987

Wer fing denn so früh schon zu arbeiten an? Der schwarz gekleidete Herr am frühen Morgen staunte nicht schlecht, als er mit den Schlüsseln um das Haus ging und mich unter dem Vordach liegen sah. Verlegen setzte ich mich hin, begrüsste ihn und fragte, um ins Gespräch zu kommen, ob er etwas Wasser habe. Damit ich mein Gesicht waschen konnte. Oh ja, gerne, meinte er, schloss die Tür auf und bat mich herein. Nein, er war nicht vom Sicherheitsdienst, meinte er lächelnd. Fast schien er dankbar zu sein dafür, dass er einen Grund hatte, einmal lächeln zu dürfen. Und den hatte er tatsächlich.

Funeral home hiess Bestattungsinstitut. Ein nettes Frühstück zwischen den Särgen. Die hier auf dieser Seite waren noch leer.

Er teilte sein Frühstück mit mir. Das hatte ich gar nicht erwartet. Es sah fast so aus, als vermisste er manchmal jemanden, mit dem er sich einfach nur unterhalten konnte, wenn er hier arbeitete. Und es sah nicht danach aus, dass viele Leute hier auf diesem Grundstück übernachteten. Zumindest nicht solche, mit denen er sich dann noch unterhalten konnte, wenn er am Morgen zur Arbeit kam.

Vielleicht sollte man den texanischen Trampern vorschlagen, sie sollten in den funeral homes übernachten. Die waren vielleicht freundlicher.

Acht Meilen lief ich aus Jasper raus. Das Land war zwar nicht ganz so eintönig wie es im Westen von Texas sein musste, aber auch nicht mehr so abwechslungsreich wie in Virginia. Dann hielt ein kleiner VW-Bus an. Der Fahrer war nicht älter als ich und schien ganz locker drauf zu sein. Wo ich hinwollte. Oh, hab ich vergessen nachzuschauen, Moment... wo ist die Karte... hier, Livingston, Huntsville.

- Was, sag bloss du musst erst nachschaun, wo the fuck du hinwillst?!

Ich wurde fast rot, so peinlich war mir das. Vor dem Losgehen war es jeden Morgen die erste absolut notwendige Pflicht, auf der Karte nachzuschauen, welche Orte vor mir lagen. Das war noch wichtiger als Essen oder Trinken. Doch heute morgen hatte mich der Bestatter abgelenkt und ich hatte es glatt vergessen.

- Ja, ich geb ja zu, dass das peinlich ist, soll auch nicht wieder vorkommen, ich will jedenfalls nach Westen, bin auf dem Weg nach Mexico.

- Oh, Mexico. Das ist aber noch fuckin' weit.

- Ach, so weit ist das jetzt auch nicht mehr.

- Mexico? Nicht weit?! So where the fuck you comin' from right now?

- New York, New York.

Das hatte ich nämlich gelernt. Erst wurde der Ort genannt, dann der Bundesstaat. New York City bildete da keine Ausnahme.

- Hey man, you ain't tellin' me you comin' all the fuckin' way down from fuckin' New York, New York?

- All the way down.

Wenn ich auch keine Ahnung gehabt hatte, wo ich hinwollte, so wusste ich doch ziemlich genau, wo ich herkam.

- In fuckin' rides??!!

- Yes Sir. In sixty-nine fuckin' rides.

- Ooohh fuuck!!

- That's the way it is.

- Oh man. That's a long fuckin' way.

Aus diesem historischen Dialog war zu entnehmen, dass sich Texanisch vom Dixieland-Slang zumindest nicht dadurch unterschied, dass die Wörter fuck und fuckin' auch nur eine Spur seltener gebraucht wurden. Der Typ hiess Mike und wollte heute zunächst nach Colmesneil, ein paar Meilen weiter und abseits von der Strasse. Er meinte aber, morgen früh würde er mit seiner Familie nach Austin fahren, und wenn ich wollte, würde er mich mitnehmen. Ja, willst du? All right, antwortete ich, und er bog in die Strasse nach Colmesneil ein.

Mike hatte eine nette Familie. Mit Grosseltern und lauter Kindern, die mich freudig begrüssten. Alle ein bisschen schräg drauf, ein bisschen chaotisch, aber sehr nett und aufgeschlossen. Wir fuhren zurück nach Jasper und besuchten noch einen Kumpel von Mike, der irgendwo hinter lauter Wiesen und Weiden seine Holzhütte hatte. Es gab keine Strasse dorthin, Mike fuhr einfach quer über die Wiesen. Jetzt lernst du mal einen richtigen texanischen outlaw kennen.

Der outlaw war auch nett, sie rauchten Marihuana, natürlich selbst angebaut. Mike bewunderte mich, in neunundsechzig Tramps von New York. Es machte auch nichts, wenn ich kein Marihuana rauchte. Trotzdem war ich einer von Ihnen, einer von den ganz Harten, einer derer, die wussten, wie man die Wunder des Universums für weniger als dreissig Altair-Dollar pro Tag zu sehen bekam[9]. Die neunundsechzig Tramps machten auch auf den outlaw Eindruck, als Mike ihm davon erzählte.

- Here, this man is comin' all the long way down from fuckin' New York, New York in sixty-nine fuckin' rides!

- Sixty-nine fuckin' rides? That's cool. Man, that's fuckin' cool.

Welche Ehre, von einem richtigen texanischen outlaw als fuckin' cool bezeichnet zu werden. Ich erzählte die Story von San Augustine. Fanden sie unmöglich, aber Idioten gabs eben überall.

Zusammen mit ein paar Kindern und Mike übernachtete ich im Haus seiner Grosseltern in Jasper einfach im Doppelbett. Die Kinder sollten nicht ihren Müll auf den Boden werfen, meinte die Grossmutter, don't mess with Texas here.

In den Nordstaaten standen an den Strassen überall Schilder Don't litter, in den Südstaaten Don't trash. Hier in Texas stand stattdessen dran Don't mess with Texas. Ich hatte erst lächeln müssen, verscherzt es euch nicht mit Texas. Aber nein, to mess with Texas war im texanischen Englisch ganz regulär die Vokabel für wegwerfen.

28. November 1987

Über fünfhundert Kilometer waren es nach Austin. Die ganze Familie kam mit und die Stimmung im VW-Bus war blendend. Hinter Navasota gab es eine kleine Pause auf einem Rastplatz. Mike unterhielt sich mit uns und murkste gleichzeitig mit seinem Joint rum, den er sich gerade drehte. Es wurde nichts draus. Jedenfalls nichts, das irgendwie erkennen liesse, was es hätte werden sollen. Vorwurfsvoll blickte er auf sein Werk: What the fuck is this?

Sie fuhren nicht nach Austin rein, denn Mike wusste, da konnte ich heute abend nicht mehr rauslaufen. Sie steuerten die Grossstadt von Süden an und liessen mich an der Strasse nach Corpus Christi raus. Heute hatte ich wahrhaftig mein Soll erfüllt und brauchte nicht mehr zu trampen. Ein paar Meilen lief ich noch den highway entlang.

Es dämmerte schon, da hielt tatsächlich noch ein Wagen an, ein paar hundert Meter vor mir, er hatte mich an der vielbefahrenen Strasse entlangwandern sehen. Ich lief hin, damit er nicht zu lange warten musste, und als ich den Wagen fast erreicht hatte, legte der Typ den ersten Gang rein, fuhr davon und liess mich stehen. Oh, das war brenzlig. Texas. Es war das erste Mal, das mir das in den USA passiert war. Ich war froh, dass er davongefahren war.

Es gab Scherzkekse, die machten sich manchmal einen Gag draus, die Leute zum Wagen rennen zu lassen und im letzten Moment dann davonzubrausen. In Europa waren mir solche Erlebnisse erzählt worden. Na gut, mit ein bisschen Wohlwollen konnte man das noch als miesen Scherz auffassen. Mies, aber immerhin, man konnte ihnen den guten Willen unterstellen, sich um einen Gag wenigstens bemüht zu haben. Doch ich hatte den üblen Verdacht, dass der Fall hier anders lag. Denn der Typ war alleine im Wagen und ausserdem zu alt und sah auch zu fertig aus, als dass er sich damit hätte rausreden können, er habe sich um einen Gag bemüht.

Er hatte mich nur von hinten sehen können, und von hinten konnte ich mit meinen halblangen blonden Haaren durchaus wie eine Frau ausgesehen haben. Erst als ich mich genähert hatte, konnte er sehen, dass ich keine Frau war. Es war das erste Mal in den USA, dass ich wirklich vorgeführt bekam, dass es einen Unterschied ausmachte, welches Geschlecht ich hatte. Wie verdammt schwer musste es als Frau sein, solche Typen von anständigen Fahrern zu unterscheiden, die Anhalter unabhängig vom Geschlecht mitnahmen?

Für heute war erstmal Ruhe und ich legte mich irgendwo pennen. Ich musste noch vorsichtiger sein. Das war brenzlig gewesen eben.

Es gab übrigens genug Frauen, die das hinbekamen.

29. November 1987

Heute war Sonntag und nicht so viel los wie gestern abend. Erstmal lief ich ein paar Stunden die Strasse entlang weiter. Auch bei Mike hatte ich mir Brote gemacht, sodass ich noch genug zu Essen hatte. Ich trampte erstmal nicht. Stattdessen hielt ich mich an Rüdiger Nehberg und verliess ich mich darauf, dass irgendjemand die grosse deutsche Fahne sehen würde, die ich mir genäht und hinten am Rucksack angebracht hatte. Ich machte das mit der deutschen Fahne ja ungerne, aber in dieser Gegend schien es mir nötig.

Treffer versenkt! Erwin Saar, deutschstämmiger Texaner aus Austin, fuhr mit seiner Freundin die Strasse entlang, erkannte sofort die deutsche Fahne und hielt an. Und fuhr mich gleich lockere dreihundertfünfzig Kilometer weiter nach Süden, bis Sinton, kurz vor Corpus Christi. Vorbei an weiten Ebenen mit Wäldern von Ölbohrtürmen. Ein schönes Land war Texas wirklich nicht. Eher ein El Dorado für Ölmultis. Jetzt war es nicht mehr weit bis zur Grenze. Nochmal so ein ride und ich wäre in Mexico.

Die nächsten, die anhielten, waren Phil und Tiger, zwei nette Brüder aus Riviera. Sie fuhren an der Grossstadt Corpus Christi vorbei, worüber ich sehr froh war, denn Riviera lag südlich davon. Das war immerhin auch eine gute Stunde Fahrt. Sie setzten mich bei einer verlassenen Tankstelle ab und warnten mich eindringlich, jetzt bloss nicht zu Fuss weiterzugehen, wie hinter Sinton. Denn südlich von Riviera schloss sich eine hundert Kilometer lange schnurgerade Strecke durch eine wüstenartige Steppe an, ohne Tankstelle, ohne Wasser, mit nur zwei kleinen Orten unterwegs. Und US-Armeehubschrauber flogen über dem Gebiet auf der Suche nach illegalen Mexikanern. Ich stellte mich also hin und versuchte zu trampen.

Nach einer halben Stunde hielt ein grüner Wagen. Oh, es waren schon wieder Phil und Tiger. Sie waren auf die Idee gekommen, mich einfach für die Nacht zu sich nach Riviera einzuladen, und morgen früh könnte ich dann weiter. Es sei nicht ganz ungefährlich hier, und es war ihnen lieber, wenn ich bei ihnen schlief. Wirklich eine nette Idee. Es gab sogar Essen. Wir unterhielten uns noch lange, bevor ich mich hinlegte.

30. November 1987

Die beiden fuhren mich am Morgen wieder an die Strasse. Ich wollte trotzdem ein bisschen loslaufen. Na gut, meinten sie, aber nur bis Sarita, fünf oder sechs Meilen, nicht weiter. Na, mal sehn wie weit ich komme, meinte ich noch, verabschiedete mich von ihnen und ging los. Es war wenig Verkehr, aber wer hier langfuhr, der musste mindestens bis Raymondville fahren, der erste Ort des Ballungsgebietes an der mexikanischen Grenze.

Immerhin, eine Stunde kam ich noch zu Fuss weiter. Dann hielt ein Wagen an und nahm mich mit. Der Fahrer war Mexikaner. Viele sprachen hier Spanisch, erklärte er mir. Aber das sei einfach, das würde ich leicht lernen. Texas habe früher auch zu Mexico gehört. Es kam erst später zu den USA, erst 1845. Besonders die Gegend am Rio Grande hier habe mit den USA ziemlich wenig zu tun. Eigentlich bildete weniger der Rio Grande die Grenze zu Mexico, sondern vielmehr die ausgedehnte Steppe zwischen Riviera und Raymondville, durch die wir gerade fuhren.

Hinter Raymondville nahm mich ein Kanadier noch ein paar Meilen mit. Mich beunruhigte, dass ich jetzt plötzlich auf einer Interstate gelandet war, auf der Trampen wahrscheinlich verboten war. Ich hatte von Mike Horgan und seinen Rechtsanwalts-Kumpels aus Atlanta zwei Adressen von Anwälten in Weslaco und McAllen bekommen, die ich besuchen und grüssen sollte. McAllen lag weiter landeinwärts, vielleicht fünfzig Kilometer, Weslaco kam vorher. Dazu musste ich jetzt aber noch meilenweit nach Westen, und wie sollte ich das jetzt hier auf dieser Interstate? Etwas unschlüssig stand ich an der Autobahnzufahrt und traute mich nicht zu trampen. Ich sah mir einfach mal die Autos an. Manchmal konnte man anhand der Autos und ihrer Fahrer schon erkennen, wie die Menschen in einer Gegend drauf waren und ob sie einen überhaupt mitnehmen würden.

Und dann hielt eine junge Frau an. Oh, diesen Verdacht hatte ich fast schon gehabt. Diese Gegend schien wirklich freundlicher zu sein als der Rest von Texas. Und auch sicherer. Sie fuhr mich bis Weslaco, wo ich Mike Horgans Freund Joe Cardenas kurz besuchte und von wo ich kurz danach mit einem Pastor, der erst kurz noch bei sich zu Hause vorbeifuhr, bis nach McAllen mitgenommen wurde. Zufrieden stieg ich im Zentrum von McAllen aus und fragte mich nach der Adresse von Mikes Freund durch. Aha, noch ein paar Blocks weiter und dann nach Hochhaus.

Ich ging die Strasse entlang, vorbei an ein paar Parkplätzen. Ein roter Porsche parkte ein. Der junge Fahrer steig aus, nahm seine Luxus-Sonnenbrille ab und sprach mich an.

- Hey fellow, wo kommst du denn gerade hergelaufen? Jetzt sag nicht, aus Kanada!

- Nee, aus New York City!

Oh, das machte Eindruck. Nein, das hatte er in der Tat nicht erwartet. Wir kamen ins Gespräch und ich erzählte ihm, zu welchem Hochhaus ich wollte. Spontan bot er mir an, mich dahin zu fahren. Lupe Leal hiess er, lebte von kleinen Geschäften wie dem Bedrucken von T-Shirts und ähnlichen Sachen. Falls ich nicht wüsste, wo ich heute Nacht schlafen wollte, könnte ich zu ihm nach Hause kommen. Ich könnte auch gerne noch einen Tag hierbleiben, Mexico würde ja nicht weglaufen. Er gab mir seine Adresse und meinte, wenn er nicht da sei, solle ich den Leuten einfach sagen, ich hätte Lupe Leal getroffen, dann würden sie mich schon reinlassen.

Arturo Torres, Mikes Freund in McAllen, hatte eine ansehnliche Kanzlei im vornehmen Hochhaus und war ganz nett. Ich erzählte von der Hochzeit von Tim Herring in Atlanta, zu der Arturo leider nicht kommen hatte können, und von den anderen, die ich in Atlanta kennengelernt hatte. Der Anwalt war nett und zuvorkommend, und dennoch fühlte ich mich in der business-Atmosphäre des Hochhauses irgendwie nicht am rechten Platz.

Lupe Leals Adresse war zwar nicht zuhause, aber die Leute waren nett und liessen mich rein. Oh, aus New York getrampt, und Lupe hat dich einfach auf der Strasse angesprochen? Hey, echt cool Mann. Ja, Lupe ist so einer. Sieht aus wie ein neureicher Angeber mit Porsche und Sonnenbrille, ist er aber gar nicht.

Lupe Leal gehörte zu den Amerikanern, die davon träumten, eines Tages nach Germany zu kommen und mit Porsche hundertzwanzig miles per hour die Autobahn entlangzuheizen - stimmt es, dass es in Germany keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt? On the outobahn?

Ich verbrachte noch den ganzen nächsten Tag bei ihm und seinen Freunden. Drei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss eines Neubaus. Erstmal zeigte er seine neue Sonnenbrille herum und jeder musste sie testen.

Die meisten seiner Freunde unterhielten sich in Spanisch. Aus Höflichkeit sprachen sie beim Essen Englisch. Sie waren keine Mexikaner, sie waren Einheimische, von hier. Wie gesagt, Texas war früher mexikanisch gewesen. Der Fernseher lief die ganze Zeit, allerdings waren die meisten Sender hier spanischsprachig. Sie hörten sich an, was ich zu erzählen hatte, und hörten ein bisschen meine Ungewissheit heraus, was mich nun in Mexico erwarten würde. Da sollte ich mir keine Sorgen machen, meinte ein Mädchen, there are Lupe Leals everywhere in the world.

Ich packte meine Sachen für Mexico fertig und schickte die ganzen Landkarten, die ich inzwischen angesammelt hatte, an Mechthild und Gerwin nach Neustadt. Lupe gab mir eine seiner vielen Sonnenbrillen und suchte mir ein paar T-Shirts raus. Er riet mir, in Mexico erstmal zuzusehen, von der Grenze wegzukommen. Am besten mit dem Bus, das sei total billig. Reynosa kannte er, die Grenzstadt auf der anderen Seite, manchmal gingen sie zum Essen da rüber. Essen war dort billiger.

Ich machte einen Fehler und besorgte mir hier keine Karte von Mexico. Ich dachte, das könnte ich in Reynosa erledigen.

22

Feierabend in den Tropen - Veracruz

Gringo in Mexico

2. Dezember 1987

Lupe brachte mich zur Grenze nach Reynosa und wir verabschiedeten uns. Einen Walkman gab er mir noch mit. Brauchte ich doch gar nicht. Egal, trotzdem. Dann ging ich in das Grenzhäuschen.

Die US-Beamten fragten, ob ich ein Visum für Mexico hatte. Oh, nein, brauchte ich das? Aber natürlich! Wirklich? Wir glauben kaum, dass die dich so reinlassen. Und wo kriegte man das Visum? Na, in der Botschaft, in Dallas oder Houston oder wo. Mist, was sollte ich jetzt machen?

Ich hatte eine Idee. Ich fragte die Beamten, ob ich es einfach mal probieren könnte. Vielleicht gab es ja Transitvisa oder sowas, nach Guatemala. Ja, meinten sie, oder sie geben dir ein Tagesvisum, dann musst du heute Abend aber wieder zurück sein. Dann brauchst du von uns aber keinen Ausreisestempel. Ein Tagesvisum bekommst du auf jeden Fall.

Mit gemischten Gefühlen überquerte ich ohne Ausreisestempel die schmucklose Betonbrücke über den Rio Grande. In der Mitte des Flusses blieb ich nochmal stehen und blickte hinunter auf das schmutzige Wasser. Überall Müll. Und weiter, auf die mexikanische Seite. So, und jetzt aufgepasst. Mal sehn ob mein Spanisch ausreichte.

Es reichte nicht. Es heisst nicht buenas días, sondern buenos días, lautete die erste Antwort. Aber die Beamten sahen bald, dass ich kein Amerikaner war, sondern Deutscher, alemán, und fragten mich, was ich in Mexico wollte. Eigentlich wollte ich einreisen und ein paar Monate in Mexico bleiben, wenn das ginge. Aber die Amerikaner haben gesagt, das gehe nicht, weil ich kein Visum habe. - Ja, das ist richtig, das können wir nicht machen. Wir können dir höchstens ein Tagesvisum geben.

Nein, so einfach gab ich nicht auf. Noch ein paar Trumpfkarten wollte ich schon noch ausspielen. Als erstes meinte ich, wie sollte ich denn Spanisch lernen, wenn sie mich nur einen Tag einreisen lassen würden. Ich würde bestimmt ganz gut Spanisch lernen wollen. Schliesslich sprach ich schon vier andere Sprachen. So, welche denn? Alemán, inglés, francés und griego. Oh, er hatte tatsächlich keinen US-Amerikaner vor sich. Und ich bemühte mich nach Kräften. Das j wurde im Spanischen wie ch ausgesprochen. Das ch wie tsch. Immer wieder griff ich auf Französisch zurück und mogelte mich weiter von Satz zu Satz.

Ausserdem hatte ich noch den Zettel vom Reisebüro in Hamburg, Rückflug bereits gebucht von Argentinien, den ich nun herausholte. Leider war der in Englisch geschrieben. Der Beamte bat mich in sein Büro und bekam fast ein bisschen Respekt vor meinen weit gesteckten Reisezielen. Oh, Guatemala willst du hin, Panamá, Kolumbien, Argentinien. Der Zettel von team-reisen war klasse gemacht, mit Stempel und einer Unterschrift, die wirklich aussah wie eine typische Unterschrift eines hochrangigen lateinamerikanischen Militärs.

Eigentlich dürfte er mich nicht einreisen lassen, so ohne Visum. Obwohl, Moment, ich sei ja Deutscher, da könne er mir das Visum ausnahmsweise auch hier an der Grenze geben. Aber ich sollte es auf keinen Fall weitererzählen. Etwa fünf Dollar kostete es. Er nahm den Reisepass und sah ihn sich an. Warum ich keinen US-Ausreisestempel hatte. Ja, die hatten gemeint, den brauchte ich nicht. Ach so. Na, wenn die das sagen. Wie lange willst du in Mexico bleiben?

Ich hangelte mich von einer Frage zur anderen. Er sprach langsam und deutlich, und ich versuchte alles, was ich mit Spanisch und Französisch fertigbrachte. Ich wusste, auf Englisch durfte ich hier nur im Notfall ausweichen. Der Beamte war mir wohlgesonnen und honorierte wohlwollend jeden Versuch, auch nur annähernd spanisch klingende Antworten zu geben. Oder Gegenfragen zu stellen.

Cuanto tempo es posible?

Maximal möglich seien sechs Monate, nicht mehr. Wenn ich mehr wollte, müsste ich zur Botschaft gehen. Embajada, auf Englisch embassy. Oh, das sei nicht nötig, sechs Monate würden genügen, meinte ich hoffnungsvoll. Sechs Monate, für mich war das in diesem Moment ein halbes Leben.

Zwei Minuten später war ich aus dem Büro und ging stolz durch die Strassen von Reynosa. Ich hatte tatsächlich das Maximum von sechs Monaten bekommen. Ich war nicht nur in Mexico, sondern auch noch legal. Ich brauchte auch keine Angst vor den Kontrollen hinter Reynosa zu haben, die an den Strassen durchgeführt wurden.

Reynosa, Tamaulipas. Mexico war auch in Bundesstaaten eingeteilt, die auf den Autokennzeichen standen, und hier war ich in Tamaulipas. Es sah hier in der Tat anders aus als auf der texanischen Seite der Grenze. Überall Müll, keine Grünanlagen, staubige ungeteerte Strassen, Kinder in abgerissenen Klamotten, politische Graffitis auf heruntergekommenen Mauern, ständig kamen Leute auf mich zu und liessen mich nicht in Ruhe. Lupe hatte recht gehabt, bloss schnell weg hier. Wo die Bushaltestelle war, fragte ich welche, die sofort Geld für die Information haben wollten. Hm. Ich musste hier so schnell wie möglich weg. Ein Typ stand etwas weiter weg und war nicht aufdringlich. Ich bot ihm ein paar Centmünzen an, die ich noch hatte. Dafür brachte er mich zur Bushaltestelle und hielt mir die Meute vom Leib.

Bei der nächsten Gelegenheit sass ich im Bus nach Montemorelos. Montemorelos, das war weit genug weg, zweihundert Kilometer im Innenland. Die Buspreise waren wirklich unglaublich billig. Ich überlegte, ob ich noch eine Landkarte kaufen sollte, aber es war unmöglich, hier alleine durch die Strassen zu gehen, ohne eine Traube von zwanzig aufdringlichen Typen und Kids um sich zu haben. Also ohne Landkarte.

Ein Bus hatte immer den Vorteil, dass man damit schnell und sicher aus einer unfreundlichen Gegend raus kam. Es konnte aber auch ein Nachteil sein, dass man fast überhaupt nichts vom Land und seinen Leuten mitbekam.

Der Bus fuhr über ein weites Land. Schnurgerade zog sich die Strasse Kilometer für Kilometer über flache Hügel und weite Ebenen. Etwas war anders als in den USA. Irgendwas war wie in Europa, irgendwie fortschrittlicher.

Plötzlich wurde mir klar, was es war. Am Strassenrand waren Kilometerschilder angebracht. Ich hatte nicht nur Reynosa, sondern endlich auch das rückständige Land mit den Meilen hinter mir! Erstaunlich, wie einem einfache Kilometerschilder plötzlich ein Gefühl heimatlicher Vertrautheit geben konnten.

Immer wieder hatte es Anstrengungen gegeben, das metrische System in den USA einzuführen. Viele, mit denen ich gesprochen hatte, kannten die Zentimeter aus der Schule und konnten nicht verstehen, warum ihr Land nicht schon längst das metrische System eingeführt hatte. Wo es doch so viel einfacher war als die ewige Rechnerei mit den miles, inches, feet, acres, pints, gallons und was es nicht noch alles gab.

Am späten Nachmittag war ich in Montemorelos. Wie ich vermutet hatte, war ich die Hektik von Reynosa los. Ich wanderte langsam die Strasse nach Linares raus. Wurde auch Zeit, weil es schon dämmerte. Irgendwo legte ich mich hin und verbrachte die erste Nacht in Mexico.

Wo wollte ich eigentlich genau hin, mit meinen sechs Monaten Visum in Mexico? Ich entschied mich, zu Fuss weiterzugehen und zunächst ein wenig nach Süden zu driften, in Richtung Mexico City. Es war wirklich nicht gut, dass ich keine gute Landkarte hatte. Nuevo León hiess der Bundesstaat hier.

3. Dezember 1987

Ich ging an der Strasse entlang und ein Wagen hielt an. In Mexico war es nicht so ungewöhnlich wie in den USA, dass Leute auch manchmal zu Fuss gingen. Ungewöhnlich war es nur dann, wenn der Typ blonde Haare hatte und ein gringo war. Der Fahrer konnte Englisch, meinte aber gleich vorsorglich, dass er damit eine Ausnahme war in diesem Land. Und ich sei gut dran, auch gleich mal ein bisschen Spanisch zu lernen. Also los.

- ¿Como se llama?

- Moment- Como, das heisst wie-

- Sí, correcto-

- ...und dann se llama - was heisst das denn?

- Das heisst, wie heisst du.

- Aber das hiess doch como te llamas.

- Nein, Como se llama heisst das. Como se llama Usted. Como te llamas heisst das nur in Spanien. Das ist die Du-Form. Hier bei uns gibts die nicht. Wir sagen immer Usted. Also - ¿Como se llama?

- Wilfried.

- Ouil- Vil- Vilef-

Das war spassig. Mein urdeutscher Name hatte drei Konsonanten in der Mitte und er bemühte sich verzweifelt, das auszusprechen.

- Was heisst dein Name denn auf Spanisch?

- Wilfried kann man nicht auf Spanisch übersetzen.

- Hast du nicht noch einen zweiten Namen? Einen, den man zufällig auch aussprechen kann?

- Nein, tut mir leid-

- Sonst müssen wir dir einen erfinden. Ich sag dir gleich, die Mexikaner werden das nicht lange mitmachen. Hombre, du brauchst hier einen mexikanischen Namen.

- Oder doch, wart mal. In Französisch hiess ich immer François. In der Schule, in der achten Klasse. Kann man François auf Spanisch übersetzen? Francesco vielleicht?

- Nicht Francesco - Fransisco heisst das hier. Ja, der Name ist gut.

- Also dann heiss ich Francisco.

- Genau, Francisco. Pancho, nennen wir die hier. Wer Francisco heisst, hat immer den Spitznamen Pancho.

- Warum das denn?

- Weiss ich nicht, aber das ist so. Pancho. Wie Pancho Villa. Weisst du, wer Pancho Villa war?

- Selbstverständlich weiss ich wer Pancho Villa war. Pancho Villa. Der mexikanische Nationalheld. Aus Chihuahua.

- Oh, das weisst du. Das ist ja gut! ¡Muy bien!

Also nannte ich mich von diesem Moment an Francisco. Die Alternative bei meiner Art zu Reisen wäre gewesen, dass ich mich durchschnittlich zwei Stunden täglich damit hätte beschäftigen können, den Mexikanern deutsche Aussprache beizubringen, und da hatte ich doch Besseres zu tun.

Es war sehr wertvoll, dass er Englisch sprach und ich ihn gleich nach ein paar Vokabeln fragen konnte. Was hiess per Anhalter fahren auf Spanisch? Ir en raides, meinte er. Un raid war ein Tramp, ja, das mexikanische Spanisch hatte viele englische Einflüsse. Was hiess Auto? - Carro. Aha, von car, auch sehr einfach zu merken. Okay. Tamam.

- Was meintest du?

- Tamam, das heisst doch okay, oder?

- Ach so, ja, oh, das kannst du auch schon. Sehr schön!

- Das heisst oh nein, das war ja Türkisch, entschuldigung, ich hab die Sprache verwechselt. Tamam ist ja Türkisch.

- Nein, das war schon Spanisch, das sagen wir so, ta bien, all right, okay.

- Oh, das ist ja praktisch. Schade, dass ich nicht mehr Türkisch kann. Ach so, eine Frage hab ich noch: wie heisst das Land eigentlich? México oder Méjico?

- Méjico. Und wo kommst du gerade her?

- Von Reynosa.

- Nein, vorher.

- Von McAllen, Texas.

- Tejas heisst das.

Die Mexikaner kannten nichts. Wenn die Amerikaner nicht wussten, wie das x ausgesprochen wurde, war das ihre Sache. Hier hiess der US-Bundesstaat immer noch Techas und nicht Teksas. Genau wie vor 1836.

Die spanische Sprache schien stärker zu sein als die englische. Während das Strassenbild in Texas schon hunderte von Kilometern vor der Grenze praktisch zweisprachig war und Spanisch als die sympatischere Sprache galt, war auf den Strassen hinter der Grenze seit Reynosa schlagartig kein englisches Wort mehr zu lesen gewesen. Es war absolut erstaunlich. Nur wenige Meter hinter der US-Grenze war die Bedeutung der englischen Sprache weitaus geringer als irgendwo mitten in Deutschland.

Er fuhr bis Linares. Nun stand ich vor der Entscheidung. Sollte ich der Nationalstrasse 85 weiter nach Süden folgen, nach Ciudad Victoria und Mexico City? Oder nach Westen, in die Berge der Sierra Madre Oriental?

Wozu war ich eigentlich in Mexico? Schon seit Wochen hatte ich immer gesagt, ich trampe nach Mexico - und jetzt? Ich wusste gar nicht, warum ich hier war - aber sicherlich nicht, um immer nur an der Hauptstrasse entlangzutrampen, die von Monterrey kam und nach siebenhundert Kilometern schliesslich in Mexico City endete. Ich hatte sechs Monate Visum.

Wenn ich schonmal im Norden Mexicos war, sollte ich mir auch das Land ansehen. Ich entschied mich für die Berge und fand eine Strasse, die nach Westen abbog.

Das Land von Pancho Villa. Gut, dass ich das noch gewusst hatte. Pancho Villa aus Chihuahua, ein paar hundert Kilometer westlich von hier, der 1910 erfolgreich in der mexikanischen Revolution kämpfte. 1916 hatte er mit seinen Truppen Columbus in New Mexico angegriffen - zwar erfolglos und wenig durchdacht, aber immerhin, es war der einzige militärische Angriff auf das Kernland der USA im ganzen Jahrhundert.

Es folgten grossangelegte Feldzüge der US Army, die vergeblich versuchte, Villa irgendwo im Norden Mexicos tot oder lebendig zu fassen. Stattdessen gelang ihm mit zweitausend Leuten das Husarenstück, gefangene Kameraden aus dem Gefängnis der von neuntausend mexikanischen und zehntausend US-Soldaten bewachten Stadt Chihuahua zu befreien. Auch mit über hunderttausend gut ausgerüsteten Soldaten und modernen Waffen einschliesslich Flugzeugen schaffte es die US Army nicht, Villa auch nur nahe zu kommen - und musste ein Jahr später erfolglos den Rückzug aus Mexico antreten.

Wieder hielt ein Wagen an, mit drei Leuten drin. Kein Pick-up, sondern ein Pkw, aber das Auto war irgendwie nicht ganz in Ordnung. Sie fuhren erst ein Stück durch die Ebene, dann zog sich die Strasse ins Gebirge. Nach vierzig Kilometern gab der Wagen dann endgültig seinen Geist auf. Genau am Berghang. Sie mussten warten, herumstehen, einer fuhr mit einem entgegenkommenden Auto wieder zurück nach Linares und wollte Hilfe holen.

Ich ging einfach zu Fuss weiter. Mir fiel auf, dass die Autos hier so klein waren wie in Europa, nicht so dick wie in den USA. Es schien, als hätten sie in den USA zu viel Benzin und konnten beliebig schwere Autos fahren. In Texas kostete der Liter Benzin einundzwanzig Cent. Hier in Mexico fuhren viele VW-Käfer.

Der nächste Ort hiess Iturbide. Irgendwann bog die Strasse nach Süden und führte viele Kilometer über eine trockene und verstaubte Hochebene. Ein Wagen nahm mich bis zur Abzweigung Galeano mit, ein anderer bis Doctor Arroyo. Es war Abend geworden und der Fahrer, Señor Cruz, lud mich zu sich nach Hause ein. Ein Glück, auch er konnte Englisch. Mexico war sehr freundlich. Doctor Arroyo lag bereits auf der Höhe von Ciudad Victoria, aber ich hatte das Gefühl, ich hatte schon jetzt mehr gesehen als auf der Nationalstrasse 85.

4. Dezember 1987

Aus irgendeinem Grund entschied ich mich, von hier aus nach Südosten zu wandern. Die Felder waren vertrocknet, überall wuchsen Kakteen. Ein paar Leute begleiteten mich ein Stück und fragten mich, ob ich ein bestimmtes Tier kannte. Conejo. Mit Händen und Füssen schafften sie mir zu erklären, dass das Hase hiess. Nein, ich hatte hier keinen Dings gesehen - wie hiess das?

Es war unmöglich, ich vergass solche Wörter praktisch auf der Stelle wieder. Dann sagten sie mir es eben nochmal. Conejo. Die Tiernamen musste ich hier können. Burro hiess Esel, caballo Pferd. Aha, die Kavallerie, leicht zu merken. So, und was hiess jetzt nochmal Hase? Na gut, sie wiederholten es gerne auch noch ein drittes Mal.

Ich ging weiter an der Strasse. Conejo, conejo, conejo. Autos fuhren in dieser Gegend nur sehr wenige und die staubige Strasse war längst nicht mehr geteert. Die Sonnenbrille von Lupe Leal tat gute Dienste. Die Sonne stieg immer höher und brannte bald ungnädig auf den kargen, hellen Lehmboden und die staubige Piste.

Nach zwei Stunden traf ich zwei Feldarbeiter, die an der Strasse sassen und Pause machten. Sie freuten sich über die ungewöhnliche Abwechslung, boten mir ein paar tacos an und bemühten sich leidlich, sich mit mir zu unterhalten. Es durfte nicht wahr sein, ich hatte schon wieder vergessen, was Hase hiess! Verdammt, wenn sie mir jedes Wort fünfmal sagen mussten, bevor ich es mir merkte - ich würde ja Jahrhunderte brauchen bis ich Spanisch konnte!

Wenn ich die Wörter nicht wusste, nahm ich die französischen und sprach sie so aus, wie sie geschrieben wurden. Das klappte erstaunlich oft. Bei Hase natürlich nicht.

Nach vierundzwanzig Kilometern kam ein Wagen vorbei und fuhr mich ein Stück durch die Landschaft bis irgendwo an der Grenze zwischen Nuevo León und Tamaulipas. Die Gegend wurde immer trockener. Eine ganz schöne Wüste hier. Wenn hier überhaupt etwas wuchs, waren es Kakteen und Agaven. Es gab einen Western, der in so einer Landschaft spielte. Südwest nach Sonora, USA 1966, mit Marlon Bando. Sonora lag weiter im Westen, der Nachbarstaat von Arizona. Nächster Tramp, Las Antonias.

Hinter Las Antonias nahm mich schliesslich ein Lkw mit. Es war ein geschlossener Lastwagen, sie sassen zu dritt vorne, öffneten hinten die Plane und ich konnte in den Laderaum. Der war zunächst noch ziemlich leer. Dann fuhren sie los, Kilometer für Kilometer entlang der staubigen Piste nach Südosten. Am Anfang hatte ich die Plane noch offengelassen, damit ich die Landschaft sehen konnte. Ich bekam nur den Teil der Landschaft zu sehen, den wir hinter uns gebracht hatten. Karges, verdorrtes Land. Doch jedesmal, wenn der Wagen bremste oder durch ein Schlagloch fuhr, wehte mir eine volle Ladung Staub ins Gesicht.

Hin und wieder hielt der Lkw an und es gab eine Verschnaufpause. Die Bauern der Umgebung hatten Bündel von Fasern zusammengebunden, die nun auf einer Waage abgewogen wurden, woraufhin die Bauern ausbezahlt wurden. Der Lkw füllte sich im Lauf der Strecke immer weiter mit der Ernte. Ich verstand überhaupt nicht, was das bedeutete. Die Fasern sahen aus wie die Fasern der Maiskolben. Ich wusste nicht, dass es sich hier um Sisal handelte, dem Produkt einer extrem trockenheitsresistenten Agavenart, zu deren Hauptanbaugebieten diese Gegend gehörte.

Aber ich verstand zumindest soviel, dass die Bauern arm sein mussten und sich regelmässig beim Händler über den zu niedrigen Preis beschwerten. Dennoch gab es, um den Händler und den Fahrer bei Laune zu halten, in jedem Dorf einen kleinen Imbiss und Limonade zu trinken. Bei der staubigen Hitze war das auch dringend nötig. Irgendwann schloss ich die Plane, damit ich nicht noch mehr Staub abbekam, und sah die Landschaft nur noch durch ein paar Schlitze.

Am Ende war der Lkw so gut wie voll mit Sisalbüscheln und ich bestand fast nur noch aus Staub. Da ich keine Wahl hatte und die letzten Kilometer im fast vollen Lkw ganz hinten stehen oder auf den Sisalbüscheln sitzen musste, wurde ich bei jeden Schlagloch vollkommen durchgeschüttelt. Mit voller Kraft musste ich mich mit beiden Händen an den Stangen des Fahrgerüsts festhalten. Bald hatte ich an beiden Armen Muskelkater.

In Tula war die Fahrt endlich zuende. Normalerweise bedauerte ich es, wenn die Fahrt bei einem Tramp zuende war, doch diesmal war ich einfach nur froh, durchgehalten zu haben. Die drei Fahrer luden mich noch zu einem Abendessen ein.

Ganz wohl fühlte ich mich nicht dabei, auch wenn ich sicherlich am allerwenigsten für die Verhältnisse hier konnte. Der Händler hatte ein Monopol mit seinem Lkw. Und das war auch deutlich spürbar gewesen. Die Bauern waren von ihm abhängig. Ausbeutung hautnah. Ausbeutung der dritten Welt. Langsam torkelte ich aus Tula raus und legte mich irgendwo neben der Strasse nach Ocampo schlafen.

Mensch, war ich fertig. Für die nächste Zeit waren solche Härtetests erstmal gestrichen. Dann lieber zu Fuss. Alle Sitzmuskeln taten weh. Die Arme und Hände waren kaum noch zu gebrauchen. Ausserdem hatte ich inzwischen einen ziemlichen Sonnenbrand bekommen, bei den Wanderungen durch die pralle Sonne. Trotzdem war die harte Tour ein einmaliges Erlebnis gewesen - Mexico hautnah.

Unsicher fühlte ich mich hier. Ich wusste zwar, dass ich hierher gehörte. Mexico hatte vieles, was die USA nicht hatten. Kilometer statt Meilen, Menschen, die zu Fuss gingen und die ausserdem Wurzeln hatten, und zwar genau hier in diesem Land. Trotzdem verstand ich kaum ein Wort ihrer Sprache und von Tag zu Tag wünschte ich mir mehr, wieder durch ein Land zu reisen, wo ich wenigstens die Sprache verstand.

Das mit den Wurzeln und den Indianern hatte mir einer erklärt. Mexicos Indianer wurden nicht in unwirtliche Reservate eingesperrt, in denen es grundsätzlich kein fliessendes Wasser gab, sondern lebten genau dort, wo sie immer gelebt hatten. Gut, Cortés und eine Handvoll Spanier hatten 1519 das Aztekenreich erobert und in eine spanische Provinz verwandelt. Aber die Spanier hatten keine Frauen mitgebracht und sich auch später kaum in Nueva España - Neu-Spanien - angesiedelt. Die indianische Bevölkerungsstruktur blieb in weiten Teilen erhalten. Mexico war sogar stolz auf seine über dreihundert verschiedenen Indianersprachen, sie hatten auch überall ihre eigenen Schulen.

6. Dezember 1987

Und auch das Wetter blieb erhalten. Auch heute wurde es wieder heiss und wolkenlos. Ich ging über eine Ebene und auf einen lichten Wald zu. Schon von weitem sah ich zwei Leute, die auch schon so früh zu Fuss unterwegs waren. Irgendwann hatten sie mich eingeholt. Auch sie wollten nach Ocampo. Nein, einen Bus gab es nicht. Bus hiess auch carro hier. So gingen wir zusammen. Es tat gut, mit zwei Leuten zu Fuss eine Strecke zu wandern, ohne schief angesehen zu werden, weil man kein Auto hatte. Den ganzen Tag sollte hier heute kein Auto vorbeikommen.

Einen Vorteil hatten die beiden, den ich nicht hatte. Sie hatten die dunkle rötlich-braune Haut der Indianer. Dadurch bekamen sie keinen Sonnenbrand. Sie sprachen Spanisch und waren keine ganz reinrassigen Indianer, eher Mestizen, aber allzu viele Gene aus Südeuropa konnten sie nicht haben. Hin und wieder legten sie eine Pause ein und gaben mir tortillas und Apfelsinen ab, später auch Wasser. Ohne sie wäre ich wesentlich langsamer gegangen und hätte mehr Pausen gemacht. Aber Wasser hätte ich mir wirklich mehr mitnehmen müssen.

Einmal versuchten sie, im Wald Wasser zu finden. Sie kontrollierten ananasartige Gewächse, die als Halbparasiten auf Bäumen wuchsen. Ich kannte den Trick und wusste, dass sich darin manchmal Wasser sammelte. Aber wir hatten Pech, zu lange war es schon so trocken und heiss.

Fünf Stunden später und nach neununddreissig Kilometern waren wir in Ocampo. Sie waren hier zuhause und es gab erstmal ausgiebig Wasser und eine schöne Pause. Dann ging ich weiter. Nach ein paar weiteren Kilometern kam ein Auto vorbei und nahm mich nach Ciudad Mante mit.

Mante lag in der Küstenebene, die Sierra Madre Oriental hatte ich hinter mir. Auch aus dieser Stadt wanderte ich wieder raus, nach Osten, auf die Küste zu. Vielleicht würde ich in Tampico oder Veracruz Arbeit finden. Nach den heissen Tagen in der wüstenartigen Steppe von Nuevo León driftete ich förmlich auf die Küste zu. Der Golf von Mexico. Blaues, kühles Meer. Wie eine Fata Morgana in der Ferne. Nur noch hundert Kilometer.

Bis dahin musste ich mich allerdings noch mit Wasser eindecken. Eine frische Quelle hatte ich nicht gefunden. Ich ging immer weiter aus der Stadt raus, durch eine Art Armenviertel im Osten von Ciudad Mante, mit einfachen Behausungen der Landarbeiter. Es schlossen sich ein paar Felder an. Die Sonne stand schon tief. An der Strasse standen immer wieder einfache Hütten von Landarbeitern. So einfach konnte ich nicht mehr lange weitergehen, ich hatte kein Wasser. Gestern hatte ich das unterschätzt und am Ende hatten mir die beiden Einheimischen Wasser abgeben müssen. So ein Leichtsinn konnte gefährlich werden. Die Sonne brannte hier gnadenlos. Ob ich in einer der Hütten nach Wasser fragen sollte?

Aber es war auch gefährlich, in Mexico unabgekochtes Wasser zu trinken. Lupe Leal und andere hatten mich in Texas eindringlich davor gewarnt. Trotzdem, es half nichts. Schüchtern ging ich zu einer Hütte und fragte sie, ob sie Wasser hätten. Ja, hatten sie. Nein, keinen Brunnen. Das Wasser war in der Regentonne.

Na, was da wohl alles für Keime drin waren? Sie stand zwar im Schatten, aber tagsüber stieg auch hier die Temperatur auf weit über dreissig Grad. Die Einheimischen waren immun, aber ich konnte alles mögliche davon bekommen.

Bueno, es gab zwei Möglichkeiten. Entweder das Wasser war verseucht, oder eben nicht. Ohne Wasser ging es nicht mehr, ich war inzwischen fast vollkommen ausgedurstet - also entschied ich mich für das Risiko. Und dann aber gleich richtig. Wenn es verseucht war, dann machte es auch keinen Unterschied, ob ich viel oder wenig davon trank.

Zwei ganze Liter trank ich auf der Stelle aus, die Leute staunten wirklich nicht schlecht. Hätte nicht viel gefehlt und sie hätten begonnen, Wetten abzuschliessen. Ich liess meine Orangensaftflasche auffüllen und ging weiter. Die berühmte Flasche, die ich im Supermarkt von Bernardsville, New Jersey, von dem Polizisten spendiert bekommen hatte.

Es waren abgeerntete Zuckerrohrfelder. Als es dunkel wurde, ging ich einen kleinen Feldweg rein und baute mir eine Art Matratze aus den Ernterückständen. Endlich würde es kühler. Dafür gab es Moskitos. Ich hasste Moskitos. Am Ende gab es noch Malaria hier. Der Vorteil eines Sonnenbrandes war, ich spürte jede Mücke.

Das Wasser war sauber gewesen.

7. Dezember 1987

Ganz schön weit war ich gestern noch gekommen, wie ich am Morgen feststellte. Früh ging ich los. Die Strasse, die am Anfang noch geteert war, verwandelte sich wie erwartet bald wieder in eine staubige Piste. Ich lief dem Sonnenaufgang entgegen, die Kühle wich langsam der Wärme des Vormittags und bald darauf der sengenden Hitze am Mittag.

Zwanzig Kilometer hinter Mante, fünfundzwanzig, dreissig. Nach fünfunddreissig Kilometern hielt ein Auto an und nahm mich zwei Kilometer mit. Danach kam ich mit ein paar Arbeitern ins Gespräch. Hier waren wieder mehr Leute in den Feldern. Bald danach kam ich mit einem Pick-up bis González. Der Fahrer erzählte mir, in der Nähe von González lebten Deutsche. Die Feldarbeiter hatten mir das auch schon gesagt, als ich ihnen gesagt hatte, dass ich Deutscher war.

Die Mexikaner wussten, was Alemania war, weil sie es von den Fussball-Weltmeisterschaften her kannten. Ein Jahr vorher bei der WM in Mexico hatte Alemania gegen Argentinien sogar im Endspiel gestanden. Zwar 3:2 verloren, aber der Respekt war trotzdem überall zu spüren. Durch den Fussball waren die Mexikaner in der Geographie Europas viel sicherer als die US-Amerikaner.

Hinter González nahm mich ein Lkw-Fahrer mit. Auch er erzählte von der deutschen Kolonie und meinte, dass er auf seinem Weg dort vorbeifahren könnte. Na gut, warum nicht. Eigentlich wollte ich nach Manuel, aber er bestand fast darauf, dass ich meine Landsleute in der Kolonie besuchen sollte. Die schienen in dieser Gegend hohes Ansehen zu geniessen. Nicht nur wegen ihres Erfolges in der Fussballweltmeisterschaft.

Die Kolonie bestand aus vielleicht zwanzig Häusern, an einer Strasse aufgereiht in einer ziemlich unwirtlichen Gegend. Aber offensichtlich hatten sie es verstanden, das karge Land zu bewirtschaften. Bei einem Haus hielt er an, wechselte ein paar Worte mit dem Hausherrn und im nächsten Moment war ich ausgestiegen und befand mich mitten auf einem deutschen Bauernhof.

Sie luden mich zum Abendessen und für die Nacht ein. Es war eine christliche Mennoniten-Gemeinschaft, die immer wieder verfolgt worden war. Woher genau sie kamen, wussten sie nicht. Ihrer Sprache nach zu urteilen mussten sie ursprünglich aus Friesland gekommen sein. Ich verstand kaum ein Wort, wenn sie sich unterhielten, aber es hörte sich Friesisch, fast Holländisch an. Ein paar Jahrhunderte hatten sie in Russland gelebt, später auch in anderen osteuropäischen Ländern, danach in Kanada, wo es ihnen zu kalt war, bis sie schliesslich nach Mexico kamen. In der Schule lernten sie Hochdeutsch aus Büchern, aber es kam selten vor, dass sie sich mit jemandem aus Deutschland unterhalten konnten. Sie zeigten mir Schulbücher und fragten, wie bestimmte Wörter ausgesprochen wurden.

Ich konnte in der grossen Landmaschinenhalle schlafen. Dort war es kühl und es gab keine Moskitos.

8. Dezember 1987

Nur zwei Hofhunde. Und die hatten nichts Besseres zu tun, als die ganze Nacht durchzubellen. Ja, die Hunde lieben es zu bellen, meinte der Sohn des Hauses am Morgen. Herr Peters-Fröse fuhr am Morgen nach Manuel und nahm mich mit. Noch ein Tramp weiter und ich war am Río Tamesí.

Es war eine schöne und ruhige Gegend mit Bäumen, nicht mehr so trocken und karg wie die letzten Tage. Ich entschied mich, mich hier am Fluss einen Tag auszuruhen und einen zweiten Brief an das Forum in Neustadt zu schreiben. Sie sollten ja wissen, dass ich es nun bis Mexico geschafft hatte und weiter auf dem Weg war. Und auch an Mike Horgan schrieb ich eine Postkarte.

Ausserdem musste ich mir wieder mal überlegen, wo ich eigentlich hinwollte. Verschiedene Leute hatten mir abgeraten, an die Küste zu fahren, und so war ich langsam zu dem Schluss gekommen, dass Tampico am Golf von Mexico wohl doch nicht mein Weg war.

Es war manchmal gar nicht so einfach, herauszubekommen, wohin der Weg führte. Vielleicht nach Mexico City. Vielleicht würde ich in einem Armenviertel von Mexico City arbeiten. Als ich in der achten Klasse in Mainz in den letzten Erdkundestunden bei Herrn Quandt auf die grosse Wandkarte von Lateinamerika geschaut hatte, hatte dieser Gedanke in der Luft gelegen. Mexico City, die grösste Stadt der Welt. Über zwanzig Millionen Einwohner.

9. Dezember 1987

Zwei Tramps am Morgen und ich war in Ebano. Ebano war eine schöne kleine Stadt in meinem dritten mexikanischen Bundesstaat, San Luis Potosí. Erstmal musste ich das Postamt finden. Das war gar nicht so einfach. Die Briefmarken waren dafür umso schöner.

Wenn ich jetzt direkt nach Mexico City wollte, müsste ich mich nach Westen halten, wo ich bei Cuidad Valles wieder auf die Nationalstrasse 85 kommen würde. Aber da war noch eine Kleinigkeit, die ich nicht ignorieren konnte.

Die 85 würde nur noch durch die Bundesstaaten Hidalgo und Mexico führen. Wenige Kilometer südlich von hier begann jedoch noch ein anderer Bundesstaat. Der Bundesstaat Veracruz. Es gab einen Film, der in Veracruz spielte[10].

Veracruz, Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats, war die älteste Hafenstadt des Kontinents, schon Hernán Cortés landete dort 1519. Wie stände ich da, wenn ich jemandem mal meine Route zeigen würde, und ich wäre hier in Ebano gewesen, aber nie in Veracruz. Louisiana zu verpassen war nichts dagegen. Ich nahm die Strasse nach Süden. Panuco, Tempoal.

Veracruz war heute natürlich eine riesige Grossstadt, die ich tunlichst vermied. Seit Panuco war ich jedoch schon im Bundesstaat Veracruz, und für meine Zwecke reichte das auch. Seit heute konnte ich sagen, ich war schonmal in Veracruz gewesen - wenn auch nur im gleichnamigen Bundesstaat.

10. Dezember 1987

Es war ähnlich wie in Mississippi. Wenn ich aus einem Ort rauslief, nahm mich selten sofort jemand mit. Ich musste erst eine Zeitlang unterwegs sein, eine Strecke zurückgelegt haben, bis es Eindruck machte. Hatte ich mich dann dem nächsten Ort genähert, stieg die Wahrscheinlichkeit immer mehr, dass ein Auto anhielt und mich schliesslich bis dorthin mitnahm. Das passierte mir heute zweimal. Tantoyuca, San Sebastián.

Sehr weit kam ich heute mit dieser Methode allerdings nicht. Aber das wollte ich auch gar nicht. Die Landschaft wurde schöner, lieblicher, grüner, immer mehr Bäume, mehr Wald. Und die Luft war feuchter. Auch wenn es immer noch heiss war.

Vor San Sebastián nahm mich einer mit, der stolz darauf war, Sozialist zu sein. Gegen die Unterdrückung der dritten Welt. Die Mexikaner waren viel politischer als ihre nördlichen Nachbarn. Die Revolutionshelden, die den Grossgrundbesitzern ihre Haciendas genommen und das Land an die Bauern verteilt hatten, wurden hoch geehrt.

Dass die Revolutionshelden jedesmal, wenn sie gewonnen und die Regierung übernommen hatten, genauso korrupt wurden wie die Regierungen, die sie davongejagt hatten, wurde geflissentlich übersehen.

Südlich von San Sebastián kam ich am Nachmittag an einem kleinen Haus unter Bäumen vorbei und ein paar Leute riefen mich zu sich. Echt, das konnte doch nicht möglich sein, ein wahrhaftiger gringo. Los Ajos hiess der Ort. Sie hatten ihren Spass, es gab zu Essen und es war eine Selbstverständlichkeit, dass ich die Nacht hierbleiben konnte. In Mexico war es manchmal gar nicht so einfach, weiterzukommen. Überall wurde ich aufgehalten, jeder am Strassenrand wollte sich unbedingt mit dem gringo unterhalten und ihm tortillas oder tacos anbieten.

Der Vorteil davon war, dass ich in Mexico immer genug zu Essen bekam. Aus dem Radio kam mexikanische Musik. Ranchero nannten sie die Musikrichtung. Ob sie mir gefalle. Melancholische Lieder unglücklich verliebter mexikanischer Dorfbewohner... rancho hiess im mexikanischen Spanisch nicht Ranch, sondern Dorf. Im Radio kam grundsätzlich nur spanischsprachige Musik, das hatte ich schon lange beobachtet. Englischsprachige Lieder schienen verpönt und zumindest absolut unbeliebt zu sein.

11. Dezember 1987

Den Daumen hatte ich schon lange nicht mehr rausgehalten. Ich lief einfach nur an der Strasse entlang, und wer wollte, konnte mich mitnehmen. Wenn ich es forcieren wollte, mitgenommen zu werden, drehte ich mich um und sah die Fahrer an. Ein Lkw-Fahrer nahm mich bis Chicontepec mit. Irgendwie musste ich jetzt langsam wieder in die Berge der Sierra Madre Oriental kommen, wenn ich weiter nach Mexico City wollte.

Cuidad de México hiess das hier. Nein, eigentlich hiess es DeFe. Das kam von de efe, was D F hiess und die Abkürzung für Distrito Federal war. Der Name der Hauptstadt Mexicos war eigentlich DeFe. México war der Bundesstaat, der neben der Hauptstadt lag.

Mexico City war 1325 als Tenochtitlán gegründet worden. Von den Azteken, die sich selber Mexica nannten. Daher der Name des Landes.

Ich war in das Kerngebiet des einstigen Aztekenreiches gekommen, das sich vor 1520 über fast tausend Kilometer von hier bis Chiapas erstreckte. Ich folgte der Piste von Chicontepec nach Südwesten. Mal sehn wo ich hier hinkam.

Mexica stammte von Mexi, dem Spitznamen des legendären Aztekenchefs Huitzilopochtli, dessen Truppen erstmal gegen die seiner Schwester Coyolxuahqui gewonnen hatten, irgendwann nach 1100, und der ihnen dann vorgeschlagen hatte, sich lieber Mexica zu nennen.

Sonst hätten sich die Mexikaner bis heute Huitzilopochtlikaner nennen dürfen. Was für ein Glück, dass seine Schwester nicht gewonnen hatte, die keinen Spitznamen hatte.

Ein sechsjähriger Junge kam auf einem Pferd die Strasse entlang. An der Leine hatte er ein gesatteltes Maultier. Ich drehte mich um, hielt den Daumen raus und musste grinsen. Es war absolut cool. Als wäre er ein ganz normales Fahrzeug, hielt er an, stieg ab, nahm meinen Schlafsack, wartete bis ich auf dem braven Maultier sass, und gab mir meinen Schlafsack nach oben. Dann setzte er sich wieder auf sein Pferd und ritt langsam weiter. Das Maultier trottelte mit mir hinterher. Ich hätte keine Idee gehabt, wie ich ein Maultier hätte lenken sollen. Ich war sowieso noch nie auf einem Pferd gesessen.

Sechs Kilometer, dann musste er abbiegen. Er half mir wieder beim absteigen, verabschiedete sich professionell und wünschte mir noch gute Weiterreise. Völlig erstaunlich, wie selbtändig die Kinder hier waren.

Als Busse nahmen sie in dieser Gegend Pick-ups, die hinten überdacht waren und wo die Leute auf Holzbänken sassen. Genau so ein carro fuhr vorbei, sah mich an der staubigen Strasse entlangwandern und hielt an. Sie hatten wahrscheinlich noch nie einen gringo diese Strasse entlangwandern sehen, und mich mitzunehmen garantierte Spass und gute Laune.

Wo ich herkam, wo ich hinwollte. Nach Benito Juárez, meinte ich, das war nämlich der nächste Ort hier in den Bergen. Sehr gut, genau da fahren wir hin. Und von da? Weiss ich nicht, vielleicht nach DeFe, meinte ich. Oh, da bist du hier aber ganz falsch. Da müsstest du nach Tampico, nein, Zontecomatlán, nein, doch nicht, oder über Tuxpan. - Ach, geht es von hier gar nicht weiter nach Westen, nach Hidalgo? - Nein, geht es nicht, hier geht es nur noch in die Berge. Naja, auch egal. Endstation, erstmal alle aussteigen.

Und so war ich in Benito Juárez. Wo sollte ich denn jetzt hin? Ein Denkmal von Benito Juárez stand rum. Hatte auch schon eins in Chicontepec gestanden.

Benito Juárez.

Als Justizminister der mexikanischen Revolutionsregierung erlaubte er sich irgendwann nach 1855 frecherweise, die Privilegien der Kirche und der Militärs abzuschaffen. Die sich das nicht ohne weiteres gefallenliessen und die Franzosen, Engländer und Spanier zusammen ins Land holten, um wieder an die Macht zu kommen. Die Engländer und Spanier konnte Juárez noch herauskomplimentieren, aber die Franzosen unter Napoleon III kamen tatsächlich auf die abartige Idee, 1864 den Habsburger Ferdinand Maximilian von Österreich zum Kaiser von Mexico zu krönen. Vera Cruz spielte genau in dieser Zeit, 1866. Es war klar, dass jede Menge Banditen, Desperados und zweifelhafte Westernhelden aus dem Norden nach Mexico strömten, um von dem Kuchen, der bald aufgeschnitten werden sollte, ein möglichst grosses Stück abzubekommen.

Die Revolutionäre jagten die französischen Soldaten 1867 aus dem Land und wählten Juárez zum Präsidenten. 1871 wurde er nochmal gewählt, starb aber kurz danach. Einer der wenigen Helden Mexicos, die eines natürlichen Todes starben, ehe die Korruption sie einholen konnte.

Ein paar Schulkinder waren auch im carro gewesen und unterhielten sich über mich. Wenn ich auch nicht jedes einzelne Wort von dem verstand, was sie sich sagten, wurde vieles aus dem Zusammenhang klar und wenn ich selber was sagen wollte, kam ich mit meinem schlecht ausgesprochenem Französisch erstaunlich weit.

Was ich hier wollte, in dieser Gegend, fragten sie. Ich überlegte kurz und meinte dann frechweg, ich wollte hier Arbeit finden.

- Travaille.

- Hä? Trabajo heisst das.

- Trabajo. Genau. Yo busco trabajo.

Die Schulkinder sollten ja nicht den Eindruck haben, die gringos seien alle faul und würden nicht arbeiten. Denn einer der Jungen hatte gemeint, mit seinen Detailkenntnissen angeben zu müssen, als ihn ein anderer gefragt hatte, wovon die gringos wohl lebten. Ja, die hätten so viel Geld, hatte er geantwortet, dass sie überall herumtouren konnten und nicht zu arbeiten brauchten. Worauf der kleinere Junge dann gefragt hatte, warum dieser gringo dann kein carro habe und zu Fuss ginge. Mit der Frage, ob sie wüssten, wo ich hier Arbeit finden könnte, hatte ich der Diskussion eine ungewöhnliche Wende gegeben. Mit Folgen, die ich allerdings nicht vorhergesehen hatte.

Ich war ziemlich überrascht, als sie tatsächlich sagten, ja, sie wüssten, wo ich hier arbeiten könnte. Und sie waren sich ihrer Sache auch noch ziemlich sicher. Was für Arbeit?, fragte ich. Na, Arbeit eben, wir zeigen dir das. Du brauchst bloss mit uns mitzukommen.

- Bezahlt?

- Ja, natürlich bezahlt.

- Äh, ja, und ihr seid wirklich sicher? Ich mein, wir sind hier in Mexico...

Die Kinder waren alle total nett und hilfsbereit und nicht weniger gastfreundlich und selbständig als der Junge, der mich mit seinem Pferd mitgenommen hatte. Viele Kinder in Mexico hatten die unangenehme Angewohnheit, sofort beim Anblick eines fremden Weissen Hello! und How are you? zu rufen und den gringo mit US-amerikanisch klingendem spanischen Kauderwelsch zu nerven. Die hier waren anders.

Ein weiterer Junge kam hinzu. Er war etwas älter und wies die Gruppe von inzwischen sechs oder sieben Schülern darauf hin, sie sollten sich benehmen und nicht den gringo ärgern.

- Nein, wir ärgern den nicht! Wir wollen dem helfen.

- Wie das denn? Lasst ihn in Ruhe!

- Nein! Das ist ein armer gringo, der kein Geld hat und der Arbeit sucht. Aber wir wissen, wo er Arbeit finden kann. Bei uns im Dorf, du weisst doch.

- Ja, stimmt, im Dorf. Aber es gibt hier kein carro. Der kann doch nicht die ganze Strecke zu Fuss laufen.

- Doch, hat er doch selbst gesagt, der kann auch zu Fuss laufen. Laufen wir doch auch.

- Quatsch, die gringos haben alle Geld, der braucht hier doch nicht zu arbeiten, ihr spinnt doch.

- Doch, Mann, glaub das doch, der ist wirklich arm, hat er selbst gesagt! Es gibt auch arme gringos. Echt!

- Er würde das ja nicht sagen, wenn er nicht arm wäre.

Er liess sich überzeugen und sie entschieden sich loszugehen. Na gut, also los, vamos, alle zusammen die Strasse nach Süden raus. Zwei andere Schulkinder und ein Hund kamen auch noch mit. Die Stimmung hätte nicht besser sein können. Das hatten sie wirklich noch nicht erlebt, ein richtiger gringo zu Fuss auf der Strasse in ihr Dorf. Sie hatten ihren Spass. Ich auch. Hier war ich wohl in einer Gegend, die wirklich was taugte. Ich hörte ein bisschen zu, was sie sich sagten. Der ältere Schüler war immer noch skeptisch.

- Der kann doch kein Spanisch, wie will er denn mit denen arbeiten? Die gringos sprechen doch nur Englisch.

- Doch, der spricht Spanisch. Naja, nicht so gut vielleicht.

- Der spricht wirklich Spanisch. Pass auf, ich zeigs dir. ¿Hablas español?

- Sí, claro, hablo español.

- Oh, tatsächlich. Ihr habt recht, der spricht ja wirklich Spanisch. Verdammte Scheisse, der hat das alles verstanden...

- Fluch nicht so, das versteht der auch, und dann erzählt ers deiner Mutter!

- Oh, Entschuldigung, ich meine, ich hatte nicht...

Ich erklärte ihnen, dass ich aus Alemania kam, wo genausowenig inglés wie in Mexico gesprochen wurde.

- Welche Sprache sprecht ihr denn in Alemania?

- Alemán sprechen wir da. Das ist ganz anders als inglés.

- Anders als inglés? Wie klingt denn das? Sag mal was auf alemán. Mal sehn ob wir das verstehn.

- Ich komme aus Deutschland und suche hier Arbeit.

- Haha, ich versteh kein Wort.

- Hört sich komisch an.

- Klingt wie die aus Hueycoatitla.

- Nee, das klingt anders.

- Sag nochmal.

- Ich komme aus Deutschland und suche hier Arbeit.

- Und was heisst das?

- Vengo de Alemania y busco trabajo.

- Nee, das klingt wirklich anders. Und kannst du auch inglés?

- Ein bisschen. Und ihr?

- Äh, wir nicht - aber er.

- Nein, ich kann kein-

- Doch, du hast gesagt, ihr lernt das in der Schule.

- Ja, aber ich kann das nicht so gut.

- Warum denn nicht? Sag mal was.

- Hello. How are you?

- I am fine, thank you. Oh, gut! Du hast gut aufgepasst.

- Was heisst denn das? Was hat er gesagt?

- Hola, cómo estás.

- Und was hat der gringo geantwortet?

- Estoy bien, gracias.

- Cool, er hat das gesagt und der hat das verstanden. Wie eine Geheimsprache.

- Was ist denn Hueycoatitla? Oder wie das heisst.

- Das ist ein Dorf hier in der Nähe. Da sprechen sie mexikanisch.

- Mexikanisch, was meint ihr damit? Nahuatl?

- Ja, nahuatl, das ist ein Dialekt.

- Könnt ihr auch nahuatl?

- Nein, bei uns im Dorf kann das keiner. Nur die in Hueycoatitla können das.

- Ja, und die in Tlatlapongo auch. Die meisten zumindest.

- Was ist das?

- Auch ein Dorf, auch hier in der Nähe.

- Und wie heisst euer Dorf?

- El Paraje. Erst kommt El Paraje, und das nächste Dorf an der Strasse ist dann Tlatlapongo. Das ist aber noch weit.

- Und wo ist Hueycoatitla?

- Das ist woanders, hier hinter diesem Berg, ziemlich weit oben im Wald ist das. Da gibt es keine Strasse hin.

- Echt, keine Strasse? Haben die keine Autos?

- Nein, die haben keine Autos.

Die Kinder gingen jeden Morgen eine gute Stunde nach Benito Juárez in die Schule, und nachmittags eine weitere gute Stunde wieder zurück. Wir waren also nach einer Stunde in El Paraje, das aus vielleicht fünfzehn oder zwanzig Häusern bestand und ganz idyllisch zwischen den Bergen in der Nähe eines kleinen Flusses lag. Der ältere Junge ging zu einem kleinen Häuschen, vor dem zwei oder drei Männer standen. Einer davon war unzweifelhaft der Chef. Er war etwas vornehmer gekleidet und passte irgendwie nicht recht in diese Gegend von Landarbeitern. Er hiess Abrán. Ja, also, erzähls ihm selber, meinte der Schuljunge.

- Äh, also die Schulkinder haben mir erzählt hier gibts Arbeit und ich wollte, so für ne Woche, hier- äh- arbeiten, wenn ich- wenn ich was zu Essen bekomm... wenn das geht, meine ich nur...

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich hier, wo die letzte Teerstrasse Tagesfussmärsche entfernt war, für Geld arbeiten konnte. Na, mal sehn, was jetzt kam.

Arbeiten?? Abrán, el maestro, sah mich erst schief an, schien wirklich erstaunt, und meinte dann aber mit einem ziemlich komischen Lächeln auf den Lippen: Ja, klar gibts hier Arbeit. Ja. Und Essen gibts auch. Wenn du willst- ja, du kannst mit uns arbeiten.

Heute war Freitag. Der gringo sollte am Montag anfangen, und dann die ganze Woche bis Samstag arbeiten. Vorausgesetzt, er würde durchhalten. Abráns miesem Lächeln zufolge würde er das nicht. Aber irgendwie waren sie auch gespannt.

Lino war einer der Jungen, die herumstanden und sich die Szene angesehen hatten. Nachdem die Arbeitsfrage geklärt beziehungsweise auf Montag verschoben war, kam er an und meinte, ich solle zu ihm nach Hause kommen. Ich sah nochmal die Arbeiter an, die meinten, ja, ich solle mit dem achtjährigen Jungen mitgehen, der wäre okay. Abrán hatte einen gelben Pick-up und fuhr davon.

Linos Haus stand ein paar Meter von der Strasse entfernt. Seine Mutter war gerade dabei, in einer Steinvorrichtung Maismehl für tortillas zu mahlen. Er erklärte ihr, wer ich war, und ob ich bei ihm schlafen könnte. Eigentlich fragte er nicht direkt, er informierte seine Mutter eher darüber, dass ich jetzt bei ihm wohnen würde. Sie luden noch Nachbarn ein und es gab tortillas aus Maismehl mit schwarzen Bohnen und zur Feier des Tages sogar etwas Fleisch. Für die Kinder des Ortes war ich eine wahre Attraktion. Nein, bitte nicht so viel chili, musste ich überall immer betonen.

Samstag, 12. Dezember 1987

Die Kinder meinten, heute sei ein grosses Fest in Hueycoatitla und fragten mich, ob ich mitwollte. Aber klar. Es ging ziemlich weit den Berg hoch, über geheimnisvolle und versteckte Waldpfade, bis wir nach einem langen Fussmarsch in dem indianischen Dorf ankamen. Einmal die Woche war dort Markt, erklärten mir die Kinder, dann kamen alle Indianer aus der Umgebung und man konnte viele Sachen kaufen oder tauschen. Autos gab es keine, es gab ja auch keine Strasse dorthin, obwohl der Ort mit seinen dreissig oder vierzig Häusern ziemlich gross war.

Auf einem grossen Marktplatz unter hohen Schattenbäumen spielte eine indianische Musikkapelle und es wurde ausgelassen getanzt. Die Kids aus El Paraje standen allerdings mehr oder weniger teilnahmslos um den Platz herum und sahen zu. Vielleicht war ihnen die indianische Musik zu fremd. Erstaunlich war auch, dass die Indianer aus dem Dorf kaum von mir Notiz nahmen. Gäste waren offenbar immer willkommen, und ich war in ihren Augen vielleicht genauso fremd wie die Kinder aus El Paraje. Ich fragte die Kids nochmal, ob sie sicher waren, dass die Indianer wirklich nichts dagegen hatten, wenn wir hier einfach bei ihren Ritualen zuschauten. Nein, meinten sie, das sei schon okay. Es war wie eine Folkloredarbietung, nur echt. Dass es das immer noch gab.

Es gab auch eine Schule in Hueycoatitla, zweisprachig, Spanisch/Nahuatl. Aber mit den Schülern hatten die Kinder aus El Paraje offenbar kaum Kontakt. Hueycoatitla war sehr weit weg.

Mehr Kontakt hatten sie mit den Leuten aus Tlatlapongo, dem Nachbardorf fünf Kilometer weiter an der Strasse, wo wir am nächsten Tag hingingen. Die Kids zeigten mir ein bisschen die Gegend.

Schlafen. Zwei Wochen im Bett von Lino. Neben Lino. Drei Meter neben dem Bett des Jungen war noch ein Gockelhahn mit im Holzhaus - angebunden. Und der hatte ab drei Uhr morgens wirklich nichts Besseres zu tun, als alle halbe Stunde mindestens fünfmal zu krähen. Zusammen mit seinen ganzen anderen Kumpels, es gab dreissig oder vierzig von der Sorte im Dorf.

Ich musste an Kurt in Neustadt denken, der wahnsinnig geworden wäre. Bald erkannte ich jeden einzelnen Hahn an der Stimme. Nach ein paar Tagen schaffte ich es sogar, den Hahn in Linos Zimmer zu überhören und durchzuschlafen.

Montag, 14. Dezember 1987

Die neue Woche brach an. Lino stand um vier Uhr auf, um nach Benito Juárez in die Schule zu gehen. Ich musste um sieben Uhr zur Arbeit erscheinen. Und zwar pünktlich.

Und dann ging es los. Ich hatte keine Ahnung, was für Arbeit gemeint war. Die Kinder hatten versucht, es mir zu erklären, aber ich hatte kaum was davon verstanden und so liess ich mich überraschen.

Abrán und ein paar Helfer spannten mit ein paar Seilen eine Strecke auf einem Lehmberg ab, die dann in Abschnitte zu je fünf Metern eingeteilt wurde. Jeder Arbeiter bekam einen Abschnitt zugeteilt, und los gings.

Lección 1: Ziehen Sie einen Graben. Unbeirrt und kühn entschlossen. Wie es in einem von Matthias Clever & Smart-Heften formuliert worden war. Und viel geschickter als Fred Clever stellte ich mich anfangs auch nicht an. Mit Spitzhacke und Schaufel zu arbeiten, war gar nicht so einfach. Einen Meter tief, einen halben Meter breit.

Es handelte sich um Kanalisationsarbeiten der Regierung. El Paraje und Tlatlapongo sollten eine Kanalisation bekommen. Dazu mussten lange Gräben ausgehoben und Rohre verlegt werden. In Deutschland wurde diese Arbeit durch Maschinen erledigt, aber in Lateinamerika war es billiger, die Gräben von Hand ausheben zu lassen.

Lino hatte mir am Morgen Spitzhacke und Schaufel organisiert. Das Werkzeug mussten sich die Arbeiter selbst mitbringen. Nach einem halben Tag hatte ich die dicken Schwielen an den Händen. Hinterher wusste ich, dass man sich Tücher um die Hände wickeln konnte, um Blasen zu verhindern. Der Nachteil offener Blasen war, dass die sich hier in den feuchten Tropen leicht infizierten.

Aber man konnte ja auch einen ganzen Pritschenwagen voller Steine vom Fluss laden - und zweihundert Meter weiter wieder entladen. Das brachte Abwechslung. Für die Hände.

Man konnte sich auch den Rücken kaputtmachen. Mit Zementsäcke-Schleppen. Einer fünfzig Kilo. Zur Abwechslung. Oder die Wirbelsäule. Mit Wassereimer-Schleppen. Zwei zu je zwanzig Litern. Oder die Schultern. Mit Baumstämme-Tragen. Oder alles nacheinander. Montag bis Samstag sieben bis siebzehn Uhr, Samstag bis zwölf. Andere Probleme hatte ich nicht.

Lohn: achtzehntausend Pesos die Woche. Bekam jeder der zwanzig Arbeiter. Ein Liter Milch kostete dreihundert Pesos, ein Kilo Bohnen fünfhundert, ein Kilo Fleisch viertausend. Umgerechnet lag der Wochenlohn bei knapp neun Mark. Und auch noch steuerfrei...

Und die Sprache. Irgendwann hatten sie schon mitbekommen, dass der gringo es wohl nicht gewohnt war, so hart zu arbeiten. Einer kam auf die Idee, ich könnte die Steine, die in den Graben fielen, wenn sie ihn wieder mit Erde zuschaufelten, einzeln heraussammeln. Abrán hatte ihnen erklärt, dass auf keinen Fall Steine in der Nähe der verlegten Keramikrohre liegen durften, wegen der Gefahr der Beschädigung. Tomás sollte es mir erklären. Also los. Quien sabe si va a entender, begann er lächelnd seinen Vortrag... wer weiss, ob er das versteht. Also: das hier: sind Steine. Piedras. Aha, ich verstehe. Griechisch: pétra. Mein Gehirn nahm die griechischen Wörter und ersetzte sie durch spanische, ständig rutschte ich deswegen in die falsche Sprache. Es kam vor, dass ich den Leuten ganze Sätze auf Griechisch erzählte. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, den Leuten Griechisch beizubringen.

Einige Arbeiter waren aus Tlatlapongo und unterhielten sich untereinander auf Nahuatl. Sie brachten mir ein bisschen davon bei. Shukutl hiess Apfelsine, davon gabs hier im Überfluss, atl hiess Wasser, tlen Wort und ashnit lakake tlentatikichtó ich verstehe kein Wort. Es gab etliche Wörter, die Europa der Aztekensprache zu verdanken hatte. Coyotl hiess Hund, tomatl Tomate, awacatl Avocado. Auch Wörter wie Kakao (kakawa) und Schokolade (chokolatl) kamen aus dieser Sprache.

Ich schrieb den dritten Brief ans Forum. Feierabend in den Tropen. Veracruz.

Nach einer Woche Arbeit war ich erstmal urlaubsreif. Sie bewunderten, dass ich so gut durchgehalten hatte, aber noch eine Woche wollten sie meinen Händen nicht zumuten.

Ach, und das Essen. Jeden Abend in einem anderen Haus. Sie mussten sich vorher abgesprochen haben. Über die Hälfte der Familien hatten mich am Ende einmal zum Essen eingeladen. Das Essen in Mexico war wesentlich weniger abwechslungsreich als in Deutschland und ich verstand langsam, dass dies ein ganz grundlegendes Problem der Unterernährung in den ärmeren Ländern war.

Die Landbevölkerung wusste in weiten Gegenden nicht, dass es notwendig war, sich abwechslungsreich zu ernähren. In El Paraje gab es bei jeder Familie jeden Tag zu allen drei Mahlzeiten tortillas aus Mais, schwarze Bohnen und chili. Manchmal noch Kochbananen. Fleisch, carne, gab es nur selten.

Eine Familie hatte einen Truthahn geschlachtet. Guacolote auf Spanisch, guacolotl auf Nahuatl. Es war wirklich so, dass dabei mehr chili als Fleisch gegessen wurde, und ich verstand, warum der Name des berühmten Gerichts auch chili con carne lautete und nicht umgekehrt, Fleisch mit chili.

Die zweite Woche verging mit Faulenzen, Ausruhen, Spazierengehen, Fussballspielen. Ich hatte ein wenig Zeit, mir zu überlegen, wo ich danach hin sollte. Zunächst schien es, als sei hier die letzte Strasse zuende. Dann fragte ich die Leute, was el paraje eigentlich bedeutete. Die Herberge, erklärten sie mir. Früher lief hier die Strasse von Tampico nach DeFe lang, und hier habe eine Herberge gestanden, wo die Reisenden und Pferde sich ausruhen konnten. Aha, Pferdekutschen, verstehe, wir waren ja in Veracruz. Und was war aus der Strasse geworden?

Die Strasse gabs schon noch, in die Berge über Zontecomatlán, aber sie war nicht geteert und kaum noch befahren. Die Leute rieten mir ab, über Zonte zu fahren.

Sie wollten nicht, dass ich überhaupt fuhr. Am liebsten hätten sie es gesehen, wenn ich dort geblieben wäre. Ich war sehr unsicher. Dann ergab sich etwas, was ich ein Jahr später einmal aufschrieb, in einem Brief an Lina.

Brief 3 an Lina (August 1988)

Rolando, einer aus dem Dorf, fährt nach Mexico City und ist bereit, mich mitzunehmen. Weiss eine christliche Organisation, US-Amerikaner, arbeiten bei den Leuten in den ärmsten Vierteln. Sollte das mein Weg sein?

Wir sind in Chicontepec verabredet, fünfzehn Kilometer weiter, Rolando ist schon am Mittag hingefahren. Von da würde ein Bus um 20 Uhr abfahren und frühmorgens in Mexico City ankommen, vierhundertzwanzig Kilometer. Es ist Heiligabend (wird aber nicht so gefeiert wie in Deutschland). Eine Familie hat einen ihrer Truthähne zubereitet, und so lassen wir den vier-Uhr-Bus vorbeifahren. Um sechs soll noch ein Pritschenwagen durchkommen, sagen sie.

Scheint sich wohl zu verspäten der Wagen. Wird schon dunkel. Halb sieben, Mann, mach kein Scheiss.

"Nein, der kommt schon, keine Angst", meinen die anderen, die mit mir warten, um mich zu verabschieden.

Wie lange braucht so ein Wagen für die fünfzehn Kilometer? Eine Stunde?

"Ja, oder mehr." Fünfzehn Stundenkilometer bei dieser Strecke wär wohl ein bisschen schnell.

"Ein anderes Auto kommt nicht mehr vorbei?"

"Nee, morgen wieder."

Witzbolde. Der Bus nach Mexico fährt einmal die Woche und pünktlich 20.00 Uhr. Rolando will in drei Tagen wieder zurückkommen und nächste Woche nochmal hinfahren... oder übernächste Woche... und es wird immer später. Ist Mexico City doch nicht mein Weg? Das hängt jetzt von denen ab, die den Pritschenwagen steuern.

Natürlich von dem, der den Pritschenwagen-Fahrer steuert. Denn an diesem Heiligabend wird kein Auto mehr diese Strasse entlangkommen.

Also wieder zu Lino ins Bett. Blödes Gefühl, wenn man sich schon von den ganzen Leuten im Dorf verabschiedet hat. Das heisst, Lino ist noch nicht zurück, der kommt erst spät, ist noch bei seiner indianischen Musikgruppe.

Ja, wo gehts denn dann hin, wenn nicht nach Mexico City? Nach Guatemala und weiter nach Süden? Und dann? Seit drei Monaten bin ich nun mit dem Ziel Mexico City unterwegs, und jetzt auf einmal doch nicht? Oder doch noch? Warum kam das Auto nicht?

"Hallo Chef, wie gehts, Glückwunsch zum Geburtstag..."

Ich betete an diesem Abend, dass ich ratlos war und nicht mehr weiter wusste. Mexico City? Die einzige Alternative, die ich sah, war weiterzureisen nach Mittelamerika. Was hatte Gott mit mir vor? Ich bat ihn, mir zu zeigen, wo es hingehen sollte. "Ich mein, so wichtig ist es auch nicht, irgendwo wirds schon hingehen - aber vor zehn Jahren hast dus auch mal gebracht. Du kannst mir was von Guatemala zeigen, oder von Mexico City... dir fällt schon was ein. Irgendwas, was ich check. Dein Wille geschehe."

Mexico City... und wenn nicht, dann geht der Weg wohl weiter über Zontecomatlán. Den saublöden Gockelhahn, der ab halb drei alle vierzig Minuten fünfmal kräht, haben sie jetzt aus unserer Hütte genommen, das war keine schlechte Idee, der weckt mich nicht mehr. Landen wir noch? Ja, grad noch, ich bin am aufwachen, ich habe geträumt.

"Danke."

Halb vier, oder vier, schätze ich, Lino liegt neben mir und schläft. Also, Mexico City wars auf alle Fälle nicht.

Ich erinnerte mich an mehrere Traumsequenzen, in denen ich unterwegs war, im Zug und im Flugzeug, meist in verschiedenen Gegenden in Europa. Eine Szene beschrieb eine Landungsszene eines Flugzeugs auf einem Rollfeld mit einer kargen Graslandschaft, mit schnell vorüberziehenden einzelnen Bäumen und Büschen, ohne Häuser, in der Ferne vielleicht das Meer.

Es sah ganz daanch aus, als würde ich erstmal auf der Reise bleiben. Nicht nach DeFe, sondern eher nach Guatemala, Panamá. Vielleicht ja von da nach Südamerika.

El Paraje war insofern ein aussergewöhnlicher Ort, als dass die Leute nicht fragten, wann ich wieder gehen würde, und wohin. Im Gegenteil, schrieb ich im dritten Brief ans Forum.

Am liebsten hätten sies ja gesehn, dass der gringo hierbleibt und eine von den hiesigen Töchtern heiratet... buenas trabajadoras... gute Arbeiterinnen... etwas über das hiesige Frauen-Bild der Männer zu schreiben hebe ich mir für ein anderes Mal auf. Heute fällt mir nichts ein was fies genug wär.

Der spanischsprachigen Männer, hätte ich noch dazuschreiben können. Die Indianer aus Tlatlapongo hatten ein wesentlich besseres Benehmen und pfiffen den jungen Mädchen nicht nach. Wahrscheinlich wären sie auch nicht auf die Idee gekommen, im Fluss mit Dynamit zu fischen. Auch wenn die Kinder aus El Paraje uneingeschränkt nett waren, ich glaube, ich hätte mich hier nie richtig wohlgefühlt. In Tlatlapongo wäre das vielleicht anders gewesen.

Beeindruckend war das Dorffest zu Weihnachten. Als die ranchero-Musik lief, war die Tanzfläche vor dem Gemeindehaus sofort voll. Allerdings nicht von den schüchternen Jugendlichen, die sich zwar schick zurecht gemacht hatten, sich aber erst spät zu tanzen trauten. Im spanischsprachigen Mexico hatten die Geschlechter offenbar viel grössere Schwierigkeiten als bei den Indianern, aufeinander zuzugehen. Die Kinder kannten diese Hemmungen nicht und im Nu war die Tanzfläche voll. Und sie konnten echt gut tanzen.

Für ein paar Pesos kaufte mir einer der Jungen der Familie Flores-Sánchez den Walkman von Lupe Leal ab. Ich hatte ihn nie gebraucht. Ich liess ihm auch die Kassette von Nockamixon da. Inzwischen hatte ich herausbekommen, dass man auf der Strasse nach Zonte sehr wohl über Tlaxcala nach Puebla und Mexico City kam, und dass sie auch hin und wieder befahren war. Die Leute aus El Paraje waren wohl noch nie in Zontecomatlán in den höheren Bergen gewesen und es kursierten Gerüchte, dass dort alle bewaffnet seien und die Gegend unsicher war.

Panamá. Vielleicht dreitausend Kilometer waren das noch.

27. Dezember 1987

Ich nahm den einmal wöchentlich fahrenden Bus nach Zontecomatlán und lief von dort die Strasse nach Huayacocotla raus, bis mich ein Lkw mitnahm. Noch drei weitere Tramps und ich war auf der Bundesstrasse 130 im Bundesstaat Hidalgo, die von der Küste kam und immerhin nach DeFe führte. Ich entschloss mich, Mexicos Hauptstadt zu meiden und lieber durch Puebla zu fahren.

28. Dezember 1987

Einer aus Mexico City in einem leuchtend roten Lamborghini hielt an und nahm mich bis zur Abzweigung nach Zacatlán mit. Mexico war irgendwie eigenartig. Entweder es nahmen mich Lkws mit, Pick-ups oder andere Arbeiterautos, oder, wie hier, die ganz Reichen. Die Neureichen fuhren VW Käfer und nahmen Anhalter wohl grundsätzlich nicht mit. Das soziale Gefälle war in Mexico höher als in den Industrieländern des Nordens.

Zacatlán lag schon im Bundesstaat Puebla. Auch in Mexico sammelte ich Bundesstaaten. Zwischen den Orten wuchsen Kiefernwälder auf kargen Bergen. An der Strasse zwischen Zacatlán und Chignahuapan winkten mich ein paar Leute zu sich her, auf einer Art Grillplatz zwischen Kiefern, zu einer Pause mit vielen tortillas und tacos. Die Waldarbeiter waren nett und freuten sich über die Abwechslung. Nur leider hatte ich langsam ein Problem. Die tortillas.

Schon nach einer Woche hatte ich in El Paraje die schwarzen Bohnen nicht mehr vertragen, und hatte mich bald nur noch von tortillas ernährt. Und nun war ich soweit, dass ich auch die Mais-tortillas immer weniger vertrug. Das war sehr problematisch, weil zwei Drittel des Essens in allen Gegenden Mexicos aus diesen tortillas mit Bohnen bestand. Der Mais hatte in den subtropischen Ländern bestimmte Komponenten, Gerbstoffe oder sowas, die der Mais der gemässigten Klimazonen nicht hatte.

Fünfzehn Kilometer lief ich noch aus Chignahuapan raus. Ich erreichte die Bundesstaatsgrenze von Tlaxcala[11] nicht mehr, als ich mich vor ein paar grossen Bäumen in die Felder schlafen legte.

29. Dezember 1987

Früh am Morgen konnte ich schon meine erste Leistung feiern: zu Fuss überschritt ich feierlich die Grenze nach Tlaxcala.

Tlaxcala, das die Azteken nie unterwerfen konnten und das lange Zeit eine Insel in ihrem Machtbereich darstellte, spielte eine sehr unrühmliche Rolle in Mexicos Geschichte. Als Hernán Cortés 1519 in Veracruz landete und mit ein paar hundert berittenen Soldaten Richtung Tenochtitlán zog, waren es die Indianer aus Tlaxcala gewesen, die sich mit den Spaniern verbündeten und ihnen halfen, das sagenhafte Tenochtitlán und damit das Aztekenreich zu zerstören. Die Spanier dankten es ihnen dadurch, dass sie sie während ihrer gesamten über dreihundert Jahre dauernden Kolonialherrschaft steuerlich begünstigten.

Ich nahm den Bus nach Apizaco und suchte erstmal das Postamt, um den dritten Brief ans Forum abzuschicken. Dann entschied ich mich für den Bus nach Puebla. In Puebla war das VW-Werk, was die Deutschen in dieser Gegend sehr beliebt machte.

Puebla war wie erwartet keine attraktive Stadt. Ich blieb gleich im Busbahnhof, suchte mir auf einer Landkarte irgendeinen kleinen Ort an der Panamericana, Acatlán, und wartete eine Stunde auf den Bus. Als Ausländer in Menschenmengen mexikanischer Städte zu stehen, war nicht besonders spassig. Ich war froh, als der Bus endlich die Tür öffnete und ich einsteigen konnte. Von Acatlán lief ich noch ein paar Kilometer aus der Stadt raus.

Heute war ich zum ersten Mal auf der Carretera Panamericana, dem Pan American Highway, der langen Strasse von Alaska nach Feuerland.

30. Dezember 1987

Noch war es nicht heiss geworden, schon hielt ein Wagen an und fuhr mich die zweihundert Kilometer lange Strecke bis nach Oaxaca[12]. Wenige Orte befanden sich entlang der Strecke. Ich war beeindruckt, dass auch auf dem Pan American Highway bei Ortsdurchfahrten alle Autos nur mit dreissig fahren durften - und durch Bodenwellen, die hier topes hiessen, dazu ermutigt wurden. Es war bei manchen wirklich nicht empfehlenswert, schnell drüber zu fahren.

Oaxaca war schöner und sympatischer als Puebla, aber aus der dreihunderttausend-Einwohner-Stadt rauszulaufen war trotzdem kein Vergnügen. Ich entschied mich für die Strasse an die Pazifikküste. Wenn ich nach Guatemala wollte, war das ein Umweg. Der direkte Weg hätte von hier nach Südosten geführt, die Panamericana entlang nach Tehuantepec, aber der Umweg war heute mein Ziel. Mir war gesagt worden, an der Pazifikküste gab es Orte mit ausländischen Touristen. Zum ersten Mal hatte ich das Bedürfnis, ausländische Touristen kennenzulernen.

Wenn ich in den letzten Wochen eine andere Sprache als Spanisch gehört hatte, war es Nahuatl gewesen, und ich fühlte mich mit der Zeit ein wenig verloren. Ich mochte es überhaupt nicht gerne, wenn ich die Sprache eines Landes nicht oder nur kaum verstand. Acapulco war ein bekannter Badeort, das lag in Guerrero, also zu weit westlich von hier. Aber südlich von hier sollte es auch nette Orte mit Touristen geben, Puerto Angel zum Beispiel. So lief ich die Strasse nach Süden raus.

Es dauerte lange, bis ein Wagen anhielt und mich bis zur Abzweigung nach Sola de Vega mitnahm. Mit einem anderen Wagen kam ich bis Ocotlán. Die Dörfer an dieser Strasse lagen in fruchtbaren Tälern einer ansonsten kargen Gegend. In diesen Tälern war die Chance auf Moskitos hoch. Und dann nahm mich, obwohl es fast schon dunkel war, tatsächlich noch ein Lkw bis Ejutlá mit. Ich lief in den Vollmond hinein, die Strasse entlang nach Süden.

Ich hätte mich gleich hinter Ejutlá irgendwo hinpacken können, am nächsten Tag wäre ich bestimmt genauso schnell nach Puerto Angel weitergekommen. Doch dann war da der Mond über den Bergen am wolkenlosen Himmel. Ich lief einfach zehn Kilometer in den Mond. Immer weiter die Strasse entlang.

Ejutlá hatte wieder zu den Orten gehört, wo ich fünf Leuten fünfmal erklären durfte, warum ich keinen Alkohol trank und warum ich der Mexikanerin auf der Strasse nicht nachpfiff. Es war nicht nur die fremde spanische Sprache, die mich unsicher machte, es war auch die fremde Kultur, genauer, der völlig übertriebene Machismus der mexikanischen Landbevölkerung. Ausserdem hatte ich schon wieder den ganzen Tag kaum was zu Essen gehabt. Die tortillas vertrug ich immer weniger.

Aber dann war da der Mond, der mich einlud, zehn Kilometer an der Strasse entlangzulaufen. Es war irgendwie perfekt. Wie eine Entschädigung für die Strapazen.

31. Dezember 1987

Und weiter am Morgen. Ich lief vielleicht eine halbe Stunde, dann kam ein Auto. Ich drehte mich um und sie hielten an. Es war ein französisches Pärchen. Was für eine Wohltat! Endlich eine Sprache, die ich konnte und wo ich nicht nur ein Drittel verstand von dem, was sie sagten!

Sie fuhren an die Küste, nach Puerto Angel. Das war gar nicht so einfach, und sie seien auch gewarnt worden. Denn die Strasse, die in vielen Schleifen und Serpentinien die steilen Berge vor der Küste zu bewältigen hatte, war vor allem dann nicht einfach zu fahren, wenn die Sonne genau in Augenhöhe stand und bereits am frühen Morgen mit einer für europäische Augen ungewohnten Intensität vom Himmel brannte.

Wir kamen in Puerto Angel an, einem kleinen Badeort an der Pazifikküste. Irgendjemand nahm mich nach Zipolite mit, kleiner Geheimtip westlich von Puerto Angel, ruhiger und lockerer. Ein paar Tage später schrieb ich in einem Brief an Swantje meine Eindrücke dieser kleinen Pause, die ich mir nun gönnte. Swantje, mit der ich gerne nach Kreta gefahren wäre im Sommer. Aber sie hatte abgesagt, und so war ich mit Lina gefahren.

Zipolite habe ich als ein paar ruhige romantische Bars in Erinnerung, direkt vor dem Meer, dessen hohe Wellen auf den Strand aufliefen. Unter ein paar schattenspendenden Bäumen konnte man in Hängematten schlafen und sich romantische Urlaubsmusik anhören.

Sylvester wurde mit einem kleinen Bankett gefeiert, alle sassen an einem langen Tisch unter den Palmen. Ein nettes Pärchen aus Französisch-Kanada sass mir gegenüber. Ich war fasziniert von ihnen. Sicher waren sie schon zwanzig Jahre verheiratet, und nach etlichen Wochen in Mexico empfand ich es als wohltuend zu erleben, wie nett die beiden sich gegenseitig respektierten.

Es schien bekannt zu sein, dass die Frau hin und wieder mal mit anderen die Nacht verbrachte, und ihr Mann schien auch ein bisschen stolz darauf zu sein, wie beliebt seine Frau war. Ein Mexikaner hatte sich an diesem Abend neben sie gesetzt, und je mehr er getrunken hatte, desto direkter wurden seine Annäherungsversuche. Irgendwann kam der Moment, wo es der Kanadierin zu blöd wurde und sie ihm, da es anders wohl nicht möglich war, einfach direkt sagte, sie wolle nicht mit ihm ins Bett. Doch wie so viele Mexikaner ignorierte er einfach, was die Frau sagte. Bis ihr Mann schliesslich seine Stimme hob. Und zwar in Englisch. Bis dahin war alles in Französisch und Spanisch abgegangen. Doch manchmal war eine dritte Sprache ganz nützlich.

- Du siehst, sie will nicht. Wenn sie sagt, sie will nicht, dann will sie auch nicht. Ein anderes Mal vielleicht ja, aber heute nicht. Also lass sie in Ruhe. Es ist ihre Sache, warum sie nicht will. Und wenn du dich fragst, warum sie nicht will, dann mag es vielleicht daran liegen, dass eine Frau auch respektiert werden möchte.

Dann war Ruhe.

Ich bewunderte die Art des Kanadiers. Er hatte weder ihr das Gefühl gegeben, sie könne sich nicht selber wehren, noch hatte er es nötig gehabt, den Mexikaner durch eine abschätzige Bemerkung zu provozieren. Und obwohl er genau wusste, was Mexikaner von Ehemännern hielten, die nicht verhindern konnten, dass ihre Frauen fremdgingen, hatte er sich mit wenigen Worten jeden nötigen Respekt verschafft.

Später erzählte sie mir, er habe das schon öfter gemacht, und unter anderem liebe sie ihn dafür. Auch wenn sie manchmal gerne mit anderen schlafe, würde sie sich nie von ihm trennen.

Ich lag schon lange in der Hängematte, da tanzten immer noch einige bei ruhiger romantischer Musik irgendwelcher mexikanischer Schlagerlieder in den Morgen des neuen Jahres. Somos dos paredes que se esconden...

23

Von Chiapas bis Nicaragua -

Eintritt in die Länder Mittelamerikas

1. Januar 1988

Was sich mit dem neuen Jahr erstmal ändert, ist der Schreibstil. Bis hierhin hatte ich die Erinnerungen vor 2002 nie aufgeschrieben und das Tagebuch enthielt nicht mehr als ein paar Daten, Tramps und Orte. Das änderte sich bald. Oft setzte ich mich hin und schrieb Briefe, in denen ich meine Erlebnisse und Gedanken schilderte. Meist an die Leute vom Forum, machmal auch an Swantje oder Lina.

An DeFe war ich vorbei und es hatte sich herauskristallisiert, dass ich auf längere Zeit gesehen erstmal unterwegs sein würde, ohne festes Ziel. Argentinien, stand auf dem Zettel von team-reisen. Vielleicht sollte es ja Argentinien sein. Oder auch nicht. Wer konnte es wissen.

Als nächstes Etappenziel hatte ich mir Panamá vorgenommen. Nur von da käme ich zu Fuss nach Südamerika. Dieser Idee schien nichts entgegenzustehen.

Was nun begann, war eine Art Übergangsphase. Ich war in Mexico. Ich hatte eine Vorahnung gehabt, dass ich nach Mexico musste, und nun war ich in Mexico. Langsam gelang es mir besser, mich auf mich selber zu konzentrieren.

Der Traum mit der Antwort ja auf die Frage, ob ich Viktoria heiraten würde, war mir nach wie vor ein Rätsel, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mein Leben lang damit zubringen musste, mir darüber Gedanken zu machen. Was ich hatte, war eine Lebensgarantie. Gut. Vielleicht hatte ich aber noch eine andere Aufgabe auf diesem Planeten, als nur Viktoria zu heiraten. Vielleicht sollte ich noch ein paar andere Sachen dazulernen. Und vielleicht gabs davon ja bald was zu sehen.

Brief 2 an Swantje (Januar 1988)[13]

Nach vier Wochen Mexico war es mir ein bisschen langweilig geworden, durchs nur spanisch sprechende Land zu trampen, und bekam fast sogar Lust auf ein paar richtige Touristen. Also nix wie hin, der nächste Badeort an der Pazifikküste, und da sind sie schon.

Alles was du brauchst, sind vier Sprachen. Und ein bisschen Geld, obwohl: Mexico ist wirklich total billig. Ab und zu bringts das auch mal, andere Touristen kennenzulernen.

Gar nicht mal so viele US-Amerikaner, wie ich vermutet hatte, vielmehr Franzosen, Schweizer, Franco-Kanadier, Österreicher, Australier, Spanier und Deutsche halt auch.

Englisch zählt wenig. Obwohls die meisten Mexikaner in der Schule lernen. Du siehst kaum ein englisches Reklame- oder Hinweisschild im Touristenort. Zeigt natürlich etwas vom Verhältnis der Mexikaner zu ihren nördlichen Nachbarn. Bedient wirst du auch nur in Spanisch. Mir ist das sympatischer als in den griechischen Touristenorten, wo du dich mit dem Verkäufer auf Griechisch bemühst und der Kerl antwortet dir stur auf Englisch.

Was du bekommst, sind Informationen. Über Mexico, über Zentralamerika, übers Trampen, über Visa, was machen andere, wo ists schön, wo gibts Strassen, Busse, Boote.

Das muss jetzt nicht heissen, dass diese Informationen immer viel taugen. Aber manchmal überschneidet sichs. Dass Mexico City öde ist, erzählt dir jeder. Und nach Tikal im Norden Guatemalas musst du unbedingt hin. Spätestens wenn dir einer erzählt, alles was der Anhalter braucht, sei ein Handtuch, weisst du, dass du seinen Informationen guten Glauben schenken kannst. Weil er seinen Reiseführer gelesen hat... (den Reiseführer Per Anhalter durch die Galaxis).

Aber über Visa in Zentralamerika bin ich heute so schlau wie vorher.

"Nur El Salvador macht Probleme... dicken Antrag mit zwanzig Fragen, zwei Passfotos und so, in den anderen Ländern gehst du an die Grenze, zeigst den Pass vor und okay." -

"Die anderen Staaten? Da brauchste immer Visa, die kriegste aber an der Grenze." -

"Für El Salvador würde ich zur Botschaft in Guatemala City gehen." -

"Stimmts, dass man nach Honduras nicht reinkommt, wenn man DDR-Stempel im Pass hat?" -

Wie ist es denn in Belize?

"Belize? Hingehn an die Grenze, das sind alles Schwarze da, die ham doch keine Ahnung. Frag ihn, wo Deutschland ist! Frag ihn! - 'Germany?', die sprechen alle englisch, 'must be somewhere in Europe. All right. Go ahead.' - Aber was willst du in Belize? Da gibts doch rein gar nichts zu sehen. Keine Berge und nichts. Die klauen überall. Bloss schnell weiter nach Guatemala."

Ganz so einfach wie der Franco-Kanadier das beschreibt, scheint das mit der Grenze in Belize auch nicht zu sein.

"Über die Grenze kein Problem, aber die fragen dich, wieviel Dollar du hast, je nachdem geben sie dir Aufenthalt, paar Wochen." - sagen die Schweizer. Das Land sei flach, Belize City eine schöne kleine Hafenstadt mit lauter Holzhäusern. - Dänemark in der Karibik? Langsam interessierts mich wirklich.

Der Amerikaner aus Washington State, der mich vierhundertfünfzig Kilometer durch Yucatán auf dem Motorrad mitgenommen hat:

"Belize? Soll öde sein. Wüsste nicht, warum ich dahin soll." -

"Die ham das zweitgrösste Barrier-Riff der Welt." - ein mexikanischer Student - "Belize ist teuer. Und puro inglés."

"Belize - das ist Karibik. Die Leute, die Musik, das Leben, alles, eben Karibik." - ah, die Deutschen.

"Ihr wart da?"

"Ja, vor sechs Jahren. Du brauchst n Visum. Das musste dir in Mérida holen. Kost zehn Dollar."

Mérida ist eine Stadt im Norden Yucatáns, vierhundert Kilometer ab vom Weg. Seit neuestem gibts die Visa wohl auch in Chetumal, das liegt näher an der Grenze.

"Wieso n Visum?"

"Als Deutscher brauchst du n Visum. Belize war früher British-Honduras, ne Kolonie, und ist 1981 unabhängig geworden. Guatemala beansprucht das Gebiet für sich und erkennt den Staat nicht an. Deswegen gibts da n Grenzkrieg. Deutschland liefert Waffen an Guatemala."

Toll, und das müssen mir irgendwelche Touristen erklären. Da arbeite ich in Deutschland jahrelang in der Friedensbewegung mit, und hab von sowas keine Ahnung... trotzdem: ich liefere jedenfalls keine Waffen nach Guatemala. Die zehn Dollar können andere zahlen.

2. Januar 1988

Am Morgen trampte ich von Puerto Angel los. Ein paar Arbeiter im Pick-up hielten an und nahmen mich bis Pochutla mit, ein anderer bis zur Abzweigung Huatulco. Der nächste Wagen, der mich mitnahm, fuhr mich dann glatte vierhundert Kilometer über die Landenge von Tehuantepec nach Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt von Chiapas.

Die nur zweihundert Kilometer breite Landenge von Tehuantepec bildete die natürliche Grenze zwischen Nord- und Mittelamerika. Jetzt war ich also in Mittelamerika. Tuxtla Gutiérrez war keine sehr romantische Stadt und ich hatte keine Idee, wo ich schlafen sollte. Die Kriminalität sei sehr hoch, wurde mir gesagt. Bei einer Tankstelle waren sie nett und ich konnte die Nacht dort bleiben. Die Jugendlichen nervten zwar noch lange und wollten alles über die chamacas, die Mädchen, in Alemania wissen, aber im Grunde waren sie nett und liessen mich bald auch schlafen.

Am nächsten Tag kam ich nach San Cristóbal de las Casas. Diese Stadt war schöner. Wie eine alte Kolonialstadt zwischen grünen Bergen, mit kleinen Häusern im historischen Zentrum. Ich ging ein wenig durch die Gassen und fand eine Bäckerei mit Kuchen und Gebäck. Alles war so billig. Ich konnte mich nicht zurückhalten und kaufte mir zwei grosse Tüten mit allen möglichen Leckereien. Andere Läden hatten kaum auf, es war Sonntag. Dann setzte ich mich unter ein paar Bäume in die Nähe des grossen Denkmals von Fray Bartolomé de las Casas, nach dem die Stadt benannt war.

De las Casas, 1484-1566, war so etwas wie das schlechte Gewissen der katholischen Kirche, die immer ganz vorne gestanden hatte, wenn es darum ging, ganze Indianervölker zu versklaven und auszurotten. Oft hatten sie nur die Wahl gehabt, entweder sofort umgebracht zu werden oder sich taufen zu lassen und dann unter der harten Sklavenarbeit in irgendwelchen Bergwerken zu sterben. De las Casas war als Priester der katholischen Kirche in die Karibik geschickt worden, hatte auch erst Indianer in Cuba gefoltert und begann ab 1514, die unmenschliche Behandlung der Indianer anzuklagen. De las Casas fand in Spanien Gehör und erreichte einige Verbesserungen, unter anderem 1542 ein Verbot der Versklavung von Indianern. Sogar der Papst erkannte Indianer als menschliche Wesen mit Seelen an, deren Leben und Besitz zu schützen seien. 1544 wurde De las Casas Bischof von Chiapas, trat jedoch drei Jahre später resigniert von seinem Amt zurück, da die spanischen Priester nicht daran dachten, die Gesetze zum Schutz der Indianer einzuhalten.

Ironie des Schicksals - es war ausgerechnet De las Casas, der Beschützer der Indianer, der die Europäer auf die Idee brachte, für die harte Sklavenarbeit auf den Plantagen der neuen Welt besser Schwarzafrikaner statt der Indianer zu nehmen. Einer seiner wenigen Vorschläge, die leider konsequent befolgt wurden und hunderttausenden von Afrikanern schweres Leid brachten. Nachdem die indianische Bevölkerung der karibischen Inseln vollständig ausgerottet worden war.

Ich lief aus San Cristóbal de las Casas raus und wurde von einem lustigen Lkw mitgenommen, auf dessen flacher Ladefläche lauter Kinder sassen. Ein Familienausflug nach Grutas, einem beliebten Ausflugsziel an der Strasse nach Ocosingo und Palenque. Spielplätze, Turngeräte, Bäche und Wasserfälle unter hohen Schattenbäumen. Die Stimmung war nett und ich blieb noch ein bisschen bei den Kindern, bis ich mich am Abend schliesslich auf den Weg Richtung Palenque machte.

Die Gegend, in die ich nun kam, war anders als die, die ich bislang kennengelernt hatte. Die Indianer dieser Gegend, die Nachfahren der Mayas, waren nicht nur kleiner als die Azteken, sondern auch wesentlich schüchterner und teilweise sogar richtig verängstigt, wenn ich einfach nur an der Strasse entlangging. Es musste hier in Chiapas massive Probleme geben, die mit einer Unterdrückung der Indianer zu tun haben mussten. Von gravierenden Menschenrechtsverletzungen zu Lasten der Indianer und paramilitärischen Guerillas hatte ich bislang nur aus dem angrenzenden Guatemala gehört. Aber offensichtlich stimmte auch im mexikanischen Chiapas etwas ganz und gar nicht.

Ich wusste nicht, was ich von der Gegend halten sollte, ob sie gefährlich war oder nicht. Die wenigen Autos, die die Strasse nach Ocosingo und Palenque entlanggefahren waren, machten keinen so freundlichen Eindruck wie im Hochland von Mexico. Ich lief in die Nacht. Kilometer für Kilometer lief ich die Teerstrasse entlang, durch den Wald. Irgendjemand würde schon noch anhalten.

Es war absolut riskant, was ich da machte. Wieder kam ein Auto. Ich konnte nichts sehen ausser den Lichtern, aber es war nicht zu überhören, es war ein VW Käfer. Ich drehte mich zwar um, doch ich rechnete nicht ernsthaft damit, dass er anhielt. Obwohl fast ein Drittel aller mexikanischen Autos VW Käfer waren, war unter meinen über vierzig Tramps noch nicht ein einziger VW Käfer dabei gewesen. Der Käfer war hier in Mexico das Auto der Neureichen, hatte mir einer der Touristen in Puerto Angel erklärt, das Auto derer, die auch in Deutschland grundsätzlich nie Anhalter mitnahmen. Etwa wie der BMW in Deutschland. Ob mir noch nie aufgefallen sei, dass in Deutschland BMWs grundsätzlich nicht anhielten. Stimmte, er hatte Recht, musste ich nach einigem Nachdenken zugeben.

Der VW fuhr langsamer und hielt an. Verunsichert ging ich hin. Der Fahrer war allein. Also zum Glück nicht drei bewaffnete Halbstarke, die den Wagen gerade geklaut hatten. Ob ich mitfahren möchte. Tja, so war das mit den Vorurteilen.

Pablo, stellte er sich vor. Er war auf dem Weg nach Hause und wohnte in López Mateo, ein paar Kilometer weiter. Und es sei sehr gefährlich hier in der Nacht. Ich sollte lieber bei ihm im Haus übernachten. Wenn es mich nicht störte, dass nachher noch ein paar Leute zu einer fiesta kämen. Nein, das störte mich nicht. Erstmal gab es Abendessen. Es wurde ein netter Abend.

Am nächsten Tag nahm ich den Somex nach Ocosingo. Somex hiess Bus in dieser Gegend. Eine Abkürzung, Sociedad Mexicana de irgendwas. Die spanische Sprache hatte kein überregionales Wort für Bus. Pablo hatte gesagt, ich sollte ihm zuliebe wenigstens bis Ocosingo den Somex nehmen.

In Ocosingo ging ich zum Postamt, wo ich zwei Briefe abschickte, einen davon an Steve und Eleanor Blackmon in Georgia. Dann lief ich aus Ocosingo wieder raus, Richtung Palenque. Palenque war eine alte Ruinenstadt der Mayas. Wenn ich schon mal hier sei, hatten mir die Touristen gesagt, sollte ich doch wenigstens Palenque besuchen.

Die Landschaft hinter Ocosingo war zeitweise offener, nicht mehr ganz so viel Wald. Auf einmal hielt ein Auto an. Nanu, die kannte ich doch. Es waren die Franzosen, die mich nach Puerto Angel mitgenommen hatten! Sie hatten mich wiedererkannt.

Sie fuhren nach Palenque und besuchten selbstverständlich auch Agua Azul, das auf dem Weg lag. Agua Azul, blaues Wasser, war ein Naturerlebnis brodelnder Wassermassen, die sich in vielen Stufen und tosenden Wasserfällen in tiefblaue Seen nach unten stürzten. Die türkise Farbe hatte das Wasser von bestimmten Kupfersalzen.

Die Armut der einheimischen Bevölkerung war in dieser Gegend nicht schlimmer als in den anderen Gegenden Mexicos auch, doch sie wurde angesichts der vielen Touristen viel offensiver zur Schau getragen. Kinder spannten Seile quer über die Strasse, zwangen Autos zum Anhalten und verlangten Geld. Das aggressive Betteln der einheimischen Bevölkerung warf ein düsteres Bild auf die Regierung eines reichen Landes mit achtzig Millionen Einwohnern, deren Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft offenbar wesentlich wohlhabender waren als ihre Kollegen in europäischen Ländern. Nicht das Land war arm. Es wäre keine Schwierigkeit, mit den Einnahmen aus dem Tourismus, die Chiapas hatte, den indianischen Kindern zu einer Schulbildung zu verhelfen, die sie in die Lage versetzen würde, die Probleme der Armut aus eigener Kraft zu lösen.

Misol-Ha war die nächste Sehenswürdigkeit, doch die Franzosen hatten bald auch keine Lust mehr, überall angebettelt zu werden. Palenque war nicht ganz so schlimm. In Palenque gab es einen kleinen Campingplatz, Maya Bell, auf dem ich ein paar Tage blieb. Irgendwo gab es ein paar Hängematten.

Hohe Luftfeuchtigkeit bei tropischer Hitze. Ich besuchte die Ruinen, deren Eingang ein paar Kilometer entfernt lag. Riesige Steintempel und Pyramiden.

Gegründet am 11. März 431, war Palenque eine bedeutende Stadt bis etwa 800. Danach ging sie unter. Warum? Überbevölkerung und massive Umweltprobleme wurden als Ursachen diskutiert. Der Urwald überwucherte die Paläste und Pyramiden, bis heute wurde nur ein kleiner Teil freigelegt. Die spanischen Eroberer hatten Palenque nie entdeckt.

Abends war alles voll mit Glühwürmchen, die durch die Gebüsche flogen und in allen möglichen Frequenzen blinkten. Auf einer Blume sah ich es ebenfalls blinken, allerdings stationär, das Tier flog nicht weg. Ich ging hin und entdeckte eine Spinne. Sie lockte mit dem Licht Leuchtkäfer an.

Nach drei Tagen machte ich mich auf den Weg nach Zentralamerika. Andere Maya-Stätten besuchte ich nicht. Palenque war auf dem Weg gelegen. Aber ich war nicht in diesem Land, um die Sehenswürdigkeiten von Palenque, Tikal, Uxmal[14] und Chichén Itzá in einem dreiwöchigen Urlaub abzugrasen, sondern ich war auf einem Weg, der überall anders hinführen würde, nur nicht zurück.

7. Januar 1988

Nach Belize wollte ich vor allem deshalb, weil ich mich im spanischsprachigen Lateinamerika immer noch unsicher fühlte. Tramp 124 Abzweigung Zapata, schrieb ich gewissenhaft in mein Tagebuch.

Abzweigung Zapata. Es gab einen Film über Zapata[15], daher wusste ich, wer er war.

Emiliano Zapata, 1879-1919, kämpfte in der mexikanischen Revolution 1910-1917 vor allem gegen die Enteignung der mexikanischen Landbevölkerung durch Grossgrundbesitzer. Seine Armee umfasste zeitweise fünfundzwanzigtausend Soldaten, die den Reichen ihren Besitz nahmen und ihn an die Armen verteilten. Ihm und Pancho Villa gelang es sogar kurzfristig, Mexico City einzunehmen und eine Revolutionsregierung einzusetzen.

Vielleicht hätten sie Zapata 1919 doch nicht ermorden sollen. Die Geschichte seiner Bewegung, der zapatistas, war damit jedenfalls noch lange nicht zuende, erst recht nicht in Chiapas. Auch nicht 1934, mit der Gründung der PRI, der Partei der Institutionalisierten Revolution. Chiapas war der ärmste Bundesstaat Mexicos.

Ein weiteres Auto nahm mich in den Bundesstaat Tabasco bis zur Abzweigung Escárcega mit - und damit war ich auf der langen Strasse quer durch die Halbinsel Yucatán. Und hier hielt der amerikanische Motorradfahrer aus Washington State an. Ich hatte das gar nicht erwartet. Zum Glück hatte ich noch die Sonnenbrille von Lupe Leal. Ich sollte sie aufsetzen, meinte er, als ich mich hinter ihn setzte.

- Sonst kann dir hier was in die Augen fliegen. And this is not so funny...

Unglaublich, wie schnell so ein Motorrad fahren konnte. Die Strasse war gut ausgebaut, schnurgerade und wenig befahren. Es war mein schnellster Tramp auf diesem Kontinent. Über vierhundert Kilometer quer durch die ganze Halbinsel Yucatán in weniger als drei Stunden. Und dazwischen hatte er noch an einer Bude Pause gemacht.

An der Abzweigung nach Belize setzte er mich ab. Er selber fuhr nach Chetumal. Als er abfuhr, merkte ich leider zu spät, dass ich in der Gepäckbox meine weisse Orangensaftflasche aus Bernardsville, New Jersey vergessen hatte.

Ein Lkw nahm mich bis zur Grenze mit. Die Grenze von Belize. Jetzt wurde es wieder spannend. Ich war Deutscher, und Deutschland lieferte Waffen an Guatemala. Die fehlenden Informationen hatte ich mir inzwischen besorgt.

Brief Forum 4 (Januar 1988)

Guatemala hat 1981 das Fehlen der britischen Truppen während des Falkland-Krieges gleich ausgenutzt, um in Belize einzumarschieren. Als erstes waren die Indianerdörfer im Süden dran, die abgebrannt wurden. Die Briten sind dann aber schnell wiedergekommen.

Aber ich hatte natürlich trotzdem keine Lust, zehn US-Dollar für ein Visum in Belize hinzublättern, und bin so an die Grenze.

Abends, acht Uhr, also schon dunkel. An der mexikanischen Seite räumen sie mir wenig Chancen ein, in Belize so durchzukommen. Sie geben mir nicht mal einen Ausreisestempel.

"Aber bitte, du kannst es ja versuchen, muchacho."

Rüdiger Nehberg schreibt in einem seiner Bücher, dass man als Tramper an manchen Orten besser wegkommt, wenn man die Fahne seines Heimatlandes zeigt. Andere basteln sich einen überdimensionalen Daumen oder lassen den Kopf eines Teddybären aus dem Rucksack schauen. Ich habe auf ein Stück Stoff die Fahnen aller Länder, in denen ich bis jetzt gewesen bin, genäht, von Österreich bis Mexico fünfzehn Stück, und es gibt immer wieder Situationen, wos Spass bringt, das Ding aus der Tasche zu holen und damit aufzuschocken.

Ich gehe also zum Schalter im kleinen Grenzhäuschen von Santa Elena, Belize, es sind nur drei Leute im Dienst, lege Rucksack und Schlafsack in die Ecke, hole die Fahnen heraus und sage zum officer:

"Before I show you my passport, I show you this. I'm a traveller. And these are all the countries I've been travelling to."

Langsam und mit sichtlichem Unbehagen hole ich dann meinen deutschen Reisepass raus, erzähle ihm von meiner Meinung zu deutschen Waffenlieferungen nach Guatemala und von der Friedensbewegung, wo die Leute gegen die Waffenlieferungen an fremde Länder kämpfen.

"Well, wie lange willst du denn in Belize bleiben?"

"Naja, halt durch nach Guatemala, aber das Land wollt ich mir schon ein bisschen ansehen..."

"Das Maximum, das ich dir geben kann, sind sieben Tage. Aber du kannst nach Chetumal zur Botschaft gehen und dir ein Visum holen, dann kann ich dir drei Wochen oder mehr geben."

Belize ist ein kleines Land, und sieben Tage sind ein gutes Geschäft.

Von der Friedensbewegung und den hunderttausenden von Demonstranten in den Städten Europas hatte er schon was gehört. Es hatte Eindruck gemacht, als ich gesagt hatte, ich sei in Brüssel, Bonn und Hamburg dabei gewesen.

Brief 2 an Swantje (Januar 1988)

Also in Belize, ein kleines Land an der Karibik, mit vielleicht einer Viertel Million Einwohner. Die erste Nacht in Corozal, der Wärter des Bus-Terminals lässt mich in einem der geparkten Busse schlafen.

Trampen geht gut. Bin in einem Tag über mehrere hundert Kilometer nach Punta Gorda, der südlichsten Ortschaft Belizes, gekommen, und werde am Dienstag das Boot nach Puerto Barrios, Guatemala nehmen.

Belize - folgende Informationen waren für den Müll:

Das Land hat keine Berge. - Gibts schon, im Süden.

Überall wird geklaut. - Ist wie anderswo auch.

Die Leute wissen nicht viel von Europa. - Auch hier haken sie öfter nach, aus welchem Deutschland du kommst - Ost oder West.

Und klar gibt es hier was zu sehen, es kommt nur auf deine Augen an.

Ich sitze hier unter einer der vielen Kokospalmen am Meer und beobachte schon die ganze Zeit den kleinen Graureiher, wie er im ruhigen Wasser herumwatet und ab und zu ein paar Fische fängt. Eben ist noch eine Art Weissreiher dazugekommen. In den Bergen gibts Jaguare. Im Wald.

Und immer noch ein Hauch von Kolonialismus. Britische Militärpräsenz. Obwohl - so britisch ist Belize auch nicht. Die (sehr wenigen) Strassenschilder sind zweisprachig, Englisch - Spanisch. Im Norden sprechen die meisten Spanisch. Die Indianer sprechen Maya, oder Quiché. Die Schwarzen auch Garífuna.

Teuer ists wohl tatsächlich. Hotel zwanzig Mark die Nacht. Aber warum, das ist mir schon in der ersten Nacht klargeworden: hier gibts mehr Mücken als Sandkörner am Strand. So hinlegen ist von daher einfach nicht möglich. Ich bin froh, dass mir die Leute hier ein leeres Haus zum Übernachten gezeigt haben.

Swantje, das Bild müsstest du sehen. Ich sitze an der Karibik, vor mir noch paar Palmen, und hinter dem Meer die Berge von Zentralamerika.

Ich ging nach Punta Gorda, kaufte Briefmarken und gab den Brief ab. Sehr schöne Briefmarken, mit Fischen aus dem Riff. Ich gab den Brief an einem Kiosk ab. Erst Jahre später erfuhr ich, der zweite Brief an Swantje ist nie angekommen.

Was blieb, war die Abschrift auf den Seiten 34 und 35 in meinem kleinen Tagebuch. Es hatte hundertneunundachtzig Seiten. Inzwischen schrieb ich so klein, dass in eine sieben Millimeter hohe Zeile dreieinhalb Zeilen passten. Noch später würde ich es auf vier Zeilen bringen.

Es gab einen kleinen Landungssteg in Punta Gorda, wo das Boot aus Puerto Barrios, Guatemala festmachte. Am Steg befand sich ein Schild.

Welcome to Belize. Community of Punta Gorda. Spoken languages: English, Spanisch, Maya, Quiché, Garifuna.

Erst dachte ich, Garifuna sei auch eine Indianersprache. Aber nein, es war die Sprache der Schwarzen.

Es gab noch eine Sprache. Nepali. Die britische Militärpräsenz trat hier in Form indischer Gurkhas in Erscheinung, die plötzlich zu viert in ihrem Jeep ankamen, als ich in Cattle Landing unter den Palmen an der Küste den zweiten Brief an Swantje schrieb. Sie stellten den Jeep ab, stiegen aus und gingen zu einer Art Grillplatz, ein paar Meter von der ruhigen Küste. Dann machten sie Feuer, holten einen grossen Topf raus, schlachteten Hühnchen und begannen, sie zu zerteilen. Einer kam zu mir rüber und lud mich ein.

Gurkhas waren sie, britische Eliteeinheiten aus Indien, erklärten sie mir, und wie alle Inder mochten sie es gerne scharf. Sie zerteilten die Hühnchen einfach in Würfel, mit Macheten, und warfen sie in den Topf. Aber sie wussten, dass die Weissen nicht so scharf essen konnten, und gaben chili und tabasco nicht direkt in den Kochtopf. Und die anderen indischen Gewürze, ja, meinten sie, chili und tabasco seien ihnen nicht scharf genug. Yes, we like it hot...

Cattle Landing war ein kleiner Ort etwas nördlich von Punta Gorda, wo mich eine Familie angesprochen und mir ein leerstehendes Haus zum Übernachten gezeigt hatte. Das mit den Moskitos hielt sich in Grenzen. Sie luden mich auch zum Essen ein und ich war unendlich erleichtert, dass die tortillas hier aus Weizenmehl und nicht aus Mais zubereitet wurden. Mansell Pratt, der Vater der Familie, unterhielt sich lange mit mir, interessierte sich dafür, wie es in anderen Ländern war. Er hatte einen kleinen Posten in der Gemeindeverwaltung.

Ich war zwar froh, dass in Belize Englisch gesprochen wurde, aber Englisch war nicht gleich Englisch. Er bemühte sich, deutlich zu sprechen, aber der karibische Akzent war gar nicht einfach zu verstehen. Irgendwann entdeckten wir, es ging besser, wenn wir auf Spanisch auswichen. Von diesem Tag an hatte ich nicht mehr das Gefühl, ich konnte kein Spanisch. Ich konnte besser Spanisch als ich geglaubt hatte.

Er wusste viel von anderen Ländern. Auch dass die Häuser in anderen Ländern nicht wie hier oder in Belize City auf Holzpfählen gebaut waren. Es konnte wohl ziemlich gut regnen hier, sein Haus stand ziemlich hoch über dem Boden und war nur mit einer Leiter zu erreichen. Ich war erstaunt, wie viele Details er aus dem Leben von US-Amerikanern oder Europäern wusste. Dann zeigte er mir einige Zeitschriften, die er regelmässig las. Watchtower und Awake. Er war Zeuge Jehovas.

Brief Forum 4 (Januar 1988)

Fünf Tage später sitze ich im Boot von Punta Gorda nach Puerto Barrios, Guatemala - die nächste Grenze.

Ein Quetzal für Zoll (etwa eine Mark) - gut, einen Belize-Dollar habe ich noch. Zwei Holländer und ein Kanadier stehen vor mir in der Schlange, als wir die Reisepässe zurückkriegen. Zehn Quetzal.

Kleine Diskussion, dann zahlen die Holländer. Der Kanadier sagt, er käme jetzt das vierte Mal nach Guatemala, aber es seien immer nur zwei bis drei Quetzal gewesen, niemals zehn. Gut, zwei Quetzal. Er hat Dollar.

"Oder zwei Dollar."

"Was!?"

Schliesslich zahlt er seinen letzten Quetzal und einen Dollar.

Ich. Verdammt, ich kann doch nicht immer Eintritt in die Länder zahlen.

"Ich hab in Mexico für achtzehntausend Pesos die Woche gearbeitet", erzähle ich, "das sind acht Quetzal."

"Acht Quetzal die Woche? Das ist wenig."

"Das ist sehr wenig. Muss ich jetzt zwei Quetzal zahlen?"

"Geh durch. Nos entendemos - wir verstehen uns. Hier ist dein Pass."

Respekt. Vielmehr brauch ich nicht zu schreiben.

Landet man nachts in einer Stadt wie Puerto Barrios, gibt es immer das Bus-Terminal, wo man übernachten kann. Einer, der mit US-amerikanischem Pass mit dem Boot rübergekommen ist, aber in Guatemala wohnt, erzählt mir ein bisschen über das Land. Tenor: nix los ausser paar Touristenorte, die Leute sind schlecht drauf, misstrauisch, und als Anhalter kommst du nicht weg.

Vielleicht sollte ich noch dazuschreiben, dass ich nebenbei auch schon ziemlich abgerissen ausgesehen haben musste. Im Gegensatz zu den anderen Touristen. Als Rucksack hatte ich nach wie vor den Erbsensack, den ich auf der Strasse in New Jersey gefunden hatte, und an den ich mir irgendwelche Träger aus Stoff befestigt hatte. Der ziemlich schmutzige Schlafsack sah eher aus wie eine braune Wolldecke und wirkte völlig unprofessionell. Jacke und Hose waren inzwischen voller neuer Flicken, die ich mir in Zipolite und Maya Bell auf die Löcher genäht hatte, und die Wüstenschuhe waren auch kurz davor, auseinanderzufallen. Eigentlich sollte man an einer Grenze nicht so auflaufen, aber hier in Puerto Barrios hatte ich mir dadurch das Eintrittsgeld gespart.

Für die nächste Grenze nahm ich mir vor, mir wenigstens kurz vorher meine saubersten und ordentlichen Klamotten anzuziehen. Darunter Steve Blackmons real good American pants. Wozu hatte ich die denn? Und auch noch ordentlich gefaltet.

Es war schon Abend, denn die romantische Bootsfahrt durch das karibische Meer mit freundlicher Delfinbegleitung hatte ganz schön lange gedauert. Und ich hatte schon wieder einen Sonnenbrand.

Im Bus-Terminal übernachteten noch andere. Es gab viele Obdachlose hier. Ein älterer Herr, der sich neben mich legte, wies mich darauf hin, ich sollte meine Schuhe neben den Kopf legen. Wieso, fragte ich ihn, werden die geklaut? So kaputt wie sie aussahen. Doch, Schuhe würden sehr leicht geklaut. Siempre ponga cuidado con sus zapatos, mahnte er mich noch einmal, pass immer auf deine Schuhe auf.

Auch an der Strasse von Puerto Barrios nach Guatemala City lagerten wie in Chiapas in regelmässigen Abständen Einheimische, vor allem Kinder, die die vorbeifahrenden Autos anhielten und bettelten. Genauer, es war noch schlimmer als in Chiapas. Vor allem, weil die bettelnden Kinder überhaupt nicht richtig organisiert waren. Während man in Chiapas den Eindruck bekommen musste, die gezeigte Armut war auch zu einem guten Teil Show und die Kinder hatten feste Reviere, wurde in Guatemala der Schwerpunkt auf das absolute Chaos gelegt, in dem dieses Land stecken musste. Es gab auch keine von einer zentralen Behörde organisierten Ortsschilder.

Doch warum war es in Belize anders? Belize war noch kleiner, hatte noch weniger Resourcen, noch weniger touristisch interessante Orte, und dennoch gab es dort weder diese offenbare Armut, noch bürgerkriegsähnliche Zustände, noch eine Vertreibung von Indianern von ihrem Land.

Aber es gab Zeugen Jehovas. Vielleicht war das ein Schlüssel zum Unterschied. In Chiapas wurden Indianer schon von ihrem Land vertrieben, wenn sie nur den katholischen Festen fernblieben. Es war unglaublich. Schon Bartolomé de las Casas hatte in Chiapas seinen Job hingeschmissen. 1547. Vielleicht hatte er geahnt, dass er in diesem Land auch in vierhundertfünfzig Jahren nichts würde ändern können. Aber auch rein gar nichts.

Ich hatte Glück, dass ich mit dem nächsten Tramp zweihundert Kilometer weiter ins Innenland kam, nach Esquipulas kurz vor der Grenze von Honduras. Und dann nahm mich ein Truck, ein richtiger Sattelschlepper bis zur Grenze bei Agua Caliente mit. Mein erster Truck-Tramp auf diesem Kontinent. Ausgerechnet in Guatemala. Ich ging zum Grenzhäuschen. Und wieder wurde es spannend.

Brief Forum 4 (Januar 1988)

Wieder der Kanadier von Puerto Barrios in der Schlange. Er ist mit dem Bus gekommen und war wohl genauso schnell wie ich. Ihn wollen sie nicht nach Honduras reinlassen, weil er einen Stempel von Indien im Pass hat! Honduras schickt alles zurück, was irgendwie mit kommunistisch aussehenden Ländern zu tun hat. GL. Und mein Pass ist voll mit Stempeln von Mexico, Jugoslawien und Bulgarien... (ich rede jetzt nicht von den zweiunddreissig DDR-Stempeln!).

Griechisch kann er wohl nicht lesen und deutet auf einen der Stempel aus Griechenland:

"Was ist das?"

"¡Grecia! - ¡Pura Grecia!" - Alles Griechenland!

Was will ich in Honduras, will er wissen. Ein bisschen das Land anschauen und weiter nach Nicaragua.

"Vier Tage."

Ey, ich bin zu Fuss. Das ist zu wenig.

Nix, vier Tage. Auch der Beamte am Schalter nebenan kann ihn nicht umstimmen. Kostet fünf Lempira (etwa fünf Mark). Der Kanadier ist nochmal dran und beschwert sich, weil er extra bei der honduranischen Botschaft in Guatemala City war und die ihm ein Visum für Honduras ausgestellt haben, weil Indien nicht kommunistisch sei.

Nein, Indien ist kommunistisch, das steht hier auf der Liste und du kommst hier nicht rein. Auch nicht mit Visum von der Botschaft, kann ja jeder kommen. Der Kanadier resigniert, geht zurück zu den Stufen, vielleicht wird der Beamte ja mal abgelöst. Ich werde mich hüten, mit diesem Beamten weiter über meine vier Tage zu diskutieren, und zahle die fünf Lempira.

Vier Tage für sechshundert Kilometer Honduras - aber wenigstens bin ich über die Grenze. Und los.

In Honduras gab es praktisch nur eine einzige Strasse, die das Land von Guatemala im Westen nach Nicaragua im Osten durchquerte und wo ich eine Chance hatte, in vier Tagen durchzukommen. Zunächst musste ich im Westen an Nueva Ocotepeque und Santa Rosa de Copán vorbei, wo noch Mayas wohnten, am nächsten Tag dann nach San Pedro Sula, das fast an der Karibikküste lag. Von dort führte die Strasse wieder ins Hochland, vorbei an Ananasplantagen, bis ich am Abend in Tegucigalpa war. Tegus wurde die honduranische Hauptstadt hier genannt. Sie war gross, aber vergleichsweise ruhig.

Die Militärs vor dem Parlamentsgebäude waren freundlich, unterhielten sich noch ein bisschen mit mir und liessen mich gerne auf einer der Bänke schlafen. Während sie aufpassten, dass niemand das Parlamentsgebäude klaute. Okay, weiter im Brief.

Honduras. Das Land und die Leute sind besser als seine Grenzbeamten. Leute laden mich ein, geben mir zu essen, oder sogar Geld fürn Bus, Trampen geht gut. Besonders im Süden und Westen des Landes.

In Tegucigalpa gehe ich, weil ich noch ein wenig Zeit übrig habe, zur Botschaft von Nicaragua; mal sehen, ob die mir eine Arbeitserlaubnis für Nicaragua geben. Ein kleines Gebäude, ein Kassenschalter. Ich erzähl der Frau dahinter, dass ich in Deutschland für die Freiheit Nicaraguas mitgekämpft habe und dass es viel Solidarität mit Nicaragua in Deutschland gibt. - "Fünfundzwanzig US-Dollar und drei Passfotos." Was?

Ich sage, das ist viel, ich will ja in Nicaragua arbeiten. Sie fragt, ob ich irgendein bestimmtes documento aus Deutschland habe. Sorry, tut mir leid, sowas habe ich nicht. Ich verstehe auch nicht ganz, was sie meint, sie geht auf fünfundachtzig Dollar rauf, soviel kann ich nicht bezahlen... also gibts keine Arbeitserlaubnis für Nicaragua.

Ich gehe wieder raus, ohne verstanden zu haben, warum sie auf einmal so komisch war. Wenn einer da arbeiten will, für geringen Lohn oder nur für Essen, warum lassen sie einen denn nicht? Da arbeiten doch viele in der Solidaritätsbewegung. Oder seh ich aus wie der typische contra[16]? Vielleicht kommen da ja alle Nase lang die Europäer an und wollen da arbeiten.

Auf alle Fälle setzte sie voraus, dass, wer sich mit ihr unterhält, mindestens perfekt Spanisch können muss. Ja genau, das wirds gewesen sein, das hat sie bestimmt gestört, mein schlechtes Spanisch. Hat sie ja irgendwo auch recht, so gut ist es ja wirklich nicht. Also gut, sie hat recht, ich nehme mir vor, das zu ändern. Ich frage einen auf der Strasse nach dem Weg Richtung Danlí und lasse mir gleich im Anschluss sämtliche grammatischen Regeln aus dem Satz erklären...

Was das ganze wirklich sollte, versteh ich erst an der Grenze.

Tegucigalpa war eine Millionenstadt und ich nahm den Stadtbus bis zur Endstation, bevor ich nach Danlí und weiter an die Grenze trampte.

Grenze Nicaraguas in den Bergen, hinter Danlí, der Ort heisst Las Manos, grosse Plakatwände: "¡Bienvenidos! Nicaragua - tierra de hombres libres[17]." Wenig los an der Grenze. Es regnet. Erst werde ich freudig begrüsst von den Leuten, einer spielt Gitarre, Freiheitslieder, aber dann kommt der Beamte und gibt mir meinen Pass zurück:

"Du hast ja gar kein Visum, so kommst du hier nicht rein."

"Was, brauch ich n Visum??"

Jetzt komm ich erst mit. Auf Diskussionen lassen sie sich nicht ein, ich soll zurück nach Tegucigalpa zur Botschaft und mir dort das Visum holen. Es regnet.

Ich hatte nicht gewusst, dass ich für die Einreise auf jeden Fall ein Visum brauche, unabhängig davon, ob ich dort arbeiten will oder nicht. An der Grenze hier in Las Manos wollen sie mir dieses Visum nicht geben.

"Nach Tegucigalpa?", frage ich ihn nochmal, mit Blick auf das Wetter.

"Ja, nach Tegucigalpa."

Gut, also zurück.

Die Frau in der Botschaft war also deswegen so komisch, weil sie am längeren Hebel sass. Nur hatte ich das nicht geahnt. Im Prinzip war sie genauso drauf wie der honduranische Grenztyp von der Grenze zu Guatemala. Bei dem hatte ich mich wohl gehütet, weiterzudiskutieren, als ich merkte, dass ich nicht mehr als vier Tage rausholen würde. Es läuft so, dass je länger du mit solchen Leuten diskutierst, desto teurer wird es.

Ich kann nichts machen. Ich muss zurück, im Regen. Der honduranische Beamte übermalt mit Tipp-Ex den Ausreisestempel. Jetzt habe ich noch einen Tag, um nach Tegucigalpa zurückzufahren, zur Botschaft zu gehen, mir das Visum zu holen, und dann nochmal nach Las Manos zu fahren. Man kommt sich ja vor wie ein Depp.

Für mich ganz schön deprimiernd.

Ein bisschen komisch ist das Leben ja schon. Wo komme ich her? Berliner Hausbesetzerbewegung, grüner Protest, Friedensbewegung... Jahrelang kämpft man mit für Nicaragua, ein "Land von freien Menschen", und an der Grenze schicken sie dich einfach zurück. Im Regen.

Was mache ich? Gehe ich zurück nach Tegucigalpa? Ich latsche die Strasse zurück, im Regen. Sie meinten, ich soll auf den Bus warten. Nee, danke, ich geh zu Fuss. Der Bus fährt vorbei. Ich geh weiter, im Regen.

In Jugoslawien zeigst du den Pass vor, Stempel rein, und durch bist du, normalerweise kucken sie nicht mal in dein Gepäck. Den Gag hätten sie ja nicht mal in Bulgarien gebracht, mich von der Grenze weg zurück nach Belgrad zur Botschaft zu schicken. Okay, kostet halt fünfzig Mark, wenn du kein Visum hast, aber du kommst jederzeit über die Grenze.

Nee, Junge, nicht nach Tegucigalpa. Zu den contras, oder zu den Miskito-Indianern, aber nicht nach Tegucigalpa. Okay - ich könnte es heute nacht noch schaffen bis Tegus, morgen früh zur Botschaft, mit ein bisschen Glück würden sie auch mit dem Preis wieder etwas runtergehen. Vorausgesetzt den Fall, dass die Botschaft Samstag morgens überhaupt auf hat. Und am Nachmittag könnte es nochmal mit dem Trampen zur Grenze klappen. Wenn nicht, müsste ich bis Montag warten und würde damit das Visum für Honduras überziehen, was auch etwa fünfzig Dollar pro Tag kommen kann... nö, Nicaragua, so nicht. Ich bin doch nicht dene ihr Depp.

Ein anderer Bus hält an, wohl aus Mitleid, eine Stunde bin ich im Regen gelatscht, und nimmt mich mit bis Danlí. Von dort gibt es zwei Strassen: eine nach Tegucigalpa, und eine nach Norden durch die Berge... nee, Junge, nicht nach Tegucigalpa.

Nein, der Bus fuhr nur bis El Paraíso, und von dort bin ich nach Danlí getrampt. Ich hatte keine ordentliche Karte von Honduras, aber ich wusste, von hier gab es eine Strasse durch das Departamento Olancho nach Norden an die Karibikküste, nach Trujillo. Und was es auch gab, waren Hinweisschilder und Ortsschilder. Etwas besser als Guatemala schien Honduras organisiert zu sein. Die zentrale Behörde, die für die Ortsschilder zuständig war, hiess Pepsi-Cola.

Nicaragua hatte eigentlich eine stolze jüngere Geschichte, und hätte die Mätzchen an der Grenze mit teuren Visa für Europäer gar nicht nötig gehabt. Nachdem das Land jahrzehntelang als Spielball der US-Politik gedient hatte und der Diktator Somoza Medien, Alkoholkonsum, Prostitution, Spielcasinos, dreissig Prozent des bebaubaren Bodens, über eine Milliarde Dollar und eigentlich das ganze Land in seinem persönlichen Besitz gehabt hatte, gelang es der Linksguerilla FSLN[18] im Juli 1979, die Hauptstadt Managua einzunehmen, Somoza nach Florida zu schicken und eine zunächst noch gemässigte linke Regierung einzusetzen, die sich bemühte, nicht den Eindruck eines dogmatischen Sozialismus aufkommen zu klassen. Umfassende Landreformen, erfolgreiche Alphabetisierungskampagnen und Fortschritte im Gesundheitswesen kennzeichneten die ersten Regierungsjahre.

Die USA reagierten sehr ungehalten auf die Ideen der Sandinisten, Mais für die Bevölkerung anstelle von Export-Kaffee anzubauen. Als Nicaragua an dem Punkt war, sich selbst zu ernähren, war das Land nicht mehr von US-Weizenimporten abhängig. Immer ungenierter unterstützte US-Präsident Reagan bewaffnete Gruppen, die von den Sandinisten über die Grenzen nach Honduras und Costa Rica abgedrängt wurden. Es waren die contras - Gegner - völlig unterschiedliche Gruppen, deren einzige Gemeinsamkeit darin lag, dass sie gegen die Sandinisten waren. Und von den USA gut bezahlt wurden. Teilweise waren es ehemalige Somoza-Soldaten, teilweise Exilkubaner.

Reagan bekam nicht nur von der UNO, sondern 1985 auch vom eigenen Parlament jegliche Unterstützung für seine Politik entzogen und finanzierte die contras derzeit eigenmächtig und illegal, wie sich hinterher herausstellte, mit ebenso illegalen Waffenlieferungen an den Iran. Und die contras leiteten sich das Geld bald nur noch gegenseitig weiter und griffen die Sandinisten nur noch hin und wieder an, als wirkungsvoll inszenierte Quasi-Showeinlagen, um dem grossen Cowboy zu zeigen, wie toll sie weiterhin kämpften und wie sinnvoll weitere Zahlungen waren.

Weniger am Geld interessiert waren die Mískito-Indianer, die ebenfalls gegen die Sandinisten kämften, aber nichts mit den contras zu tun haben wollten.

Es war bekannt, dass die contras und die Mískito-Indianer in dem Gebiet waren, das nördlich von hier angrenzte. Beide waren mit den Sandinisten im Krieg. Die Mískitos nicht mehr, die hatten gerade Frieden geschlossen. Nach einem Krieg, den sie gewonnen hatten.

Ausnahmsweise hatten Indianer auch mal einen Krieg gewonnen. Denn irgendwann hatten die Sandinisten feststellen müssen, dass sie an zwei Fronten kämpften, und mit einem der beiden Gegner Frieden schliessen mussten. Und das waren die Mískitos.

Ein Lkw nahm mich bis zu einem Ort mit, der San Diego hiess. Schon nach wenigen Metern war die Strasse nicht mehr geteert. Bei San Diego war eine Art Bushaltestelle. Es hatte aufgehört zu regnen, war längst Abend geworden und ich betrachtete den Sternenhimmel. Wo war Norden? Es war nicht gut, dass ich die Sterne nicht kannte. Ich versuchte mir, die Lage einiger markanter Sterne einzuprägen. Automatisch formte ich Sternbilder. Ich kannte nur den grossen Wagen, doch den sah ich hier nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie die anderen Sternbilder aus den Lehrbüchern aussahen. Hier war ich auf mich allein gestellt. Wenn ich mit diesen Sternen etwas anfangen wollte, musste ich mir eben meine eigenen Sternbilder definieren. Ein Sternbild sah aus wie ein Stuhl. Kurts Regiestuhl, nannte ich es[19].

Wie immer wachte ich nachts mehrmals auf, wenn ich mich umdrehte. Nun sah ich den Grossen Wagen. Die hinteren beiden Sterne fünfmal verlängern und ich fand endlich den Polarstern. Dann versuchte ich, bei Kurts Regiestuhl die Nordung herauszufinden. So konnte ich den Norden auch dann bestimmen, wenn der Grosse Wagen nicht sichtbar war.

Der nächste Ort sollte Juticalpa heissen. Die Hauptstadt von Olancho. Zuerst hiess es, es gab keine Strasse und ausserdem sei alles voll mit contras. Aber die Leute hatten keine Ahnung und über viele Fahrwege kam ich immer weiter in ein Innenland, in dem ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo ich überhaupt war. Auch Pepsi-Cola hatte hier längst das Handtuch geworfen und die Orte waren meist gar nicht mehr beschildert. Ich zählte nur noch, wieviele Pick-ups oder Lkws mich mitnahmen. Wohin genau sie mich jeweils fuhren, konnte ich nicht mehr dokumentieren.

Ich lief ziellos irgendeinen Fahrweg entlang, von dem ich glaubte, er könnte in Richtung Juticalpa führen. Wieder kam ein Wagen von hinten und ich hielt den Daumen raus. Zu spät sah ich, was für ein Auto es war. Mir rutschte das Herz in die Hose. Militärs.

Ich hatte den Daumen herausgehalten, jetzt durfte ich mich nicht verdächtig machen und den Daumen wieder zurückziehen. Der Pick-up hielt an. Nein, meinten die drei Soldaten lachend, sie seien keine contras, die seien weiter hinten in den Bergen. Sie waren von der honduranischen Armee. Ausserdem hatten sie gute Laune und nahmen mich mit. Nach Juticalpa? Ja, meinte ich, und erzählte ihnen auch, dass die Leute überall erzählten, da gebe es keine Strasse hin. Die Leute hätten keine Ahnung, meinten sie, natürlich gebe es eine Strasse, die sei nur nicht so einfach zu finden. Ein Stück nahmen sie mich mit und erklärten mir, wie ich von dort weiter kam.

Hin und wieder kontrollierten mich Militärs. Papiere, hiess es dann, ich zeigte Pass und Visumszettel vor, und alles war in Ordnung. War es auch, denn noch hatte ich die vier Tage Visum in Honduras nicht überzogen.

Vier Lkw-Tramps und drei Pkw-Tramps bis Juticalpa, notierte ich am Abend in meinem Tagebuch. In Juticalpa meinten sie, es sei gefährlich, draussen zu schlafen. Das brauchten sie aber nicht dazuzusagen. Die Leute waren alle bewaffnet. Irgendwo fand sich eine Familie, bei der ich schlafen konnte. Hier ist es zu gefährlich, wir können dich hier nicht draussen übernachten lassen. Bei uns bist du sicher.

Am Morgen ging es weiter. Ich lief die Strasse entlang, die nach Catacamas und Dulce Nombre de Culmí führte. Von dort würde es allerdings keine Verbindung mehr an die Karibikküste geben. Wenn ich an die Karibik wollte, müsse ich über San Esteban nach Trujillo oder Limón. Also nahm ich nach ein paar Kilometern die Abzweigung nach San Esteban. Kaffee wurde hier angebaut und es gab immer wieder welche, die in Pick-ups oder Lkws auf die Felder fuhren. Etwas stimmte hier wirklich nicht. Die Männer waren alle gut sichtbar bewaffnet.

Am späten Nachmittag kam schliesslich ein Bus vorbei. Genauer, ein umgebauter Lkw, hinten eine Überdachung und lauter Holzbänke, schön bunt angemalt. Der Fahrer, ein Schwarzer, sah mich an der Strasse entlanglaufen und hielt an. Nein, danke, ich konnte auch nach San Esteban laufen, meinte ich. Komm, steig ein, meinten die Leute, das sei noch über zehn Kilometer bis dahin. Es gab eine kurze Diskussion. Von wo ich gelaufen kam, wollten sie wissen. Ich sagte ihnen die Stelle, wo mich der letzte Wagen abgesetzt hatte, vor drei Stunden. Der Schwarze lachte voller Respekt und meinte, ich solle ruhig einsteigen - ¡Ya ha pagado! - du hast schon bezahlt!

Die Leute hatten gute Laune, fragten, wo ich herkam und amüsierten sich prächtig. Irgendjemand hatte noch Reis und Bohnen in Bananenblättern für mich. Hier war ich übrigens kein gringo, anders als in Mexico, weil ich Deutscher war und Europäer waren hier grundsätzlich keine gringos.

Der Bus hielt in San Esteban. Hier war heute Endstation. Bei irgendjemandem konnte ich wieder übernachten. Der Busfahrer stieg auch aus und rechnete mit dem Personal der kleinen Bus-Station seine Einnahmen ab, bevor er wieder los fuhr. Die Busfahrer waren hier quasi-selbstständig, mussten aber Teile der Einnahmen an die Zentrale abführen.

Ich erfuhr noch ein wenig über Honduras. Honduras sei besser als die Vereinigten Staaten, meinte einer der Jungen, die sich noch ein wenig mit mir unterhielten. Aha, endlich mal einer mit einer gesunden Einstellung. Warum?, fragte ich. Ja, es sei bekannt, dass in den Vereinigten Staaten die Indianer ungerecht behandelt würden und die Schwarzen nicht dieselben Chancen hätten wie die Weissen. Hier sei das anders. Schau, dieser Busfahrer zum Beispiel. Busfahrer sind hier ziemlich reiche Leute, die es zu was gebracht haben. Wir bewundern Leute, die fleissig sind und Erfolg haben. Dabei spielt es für uns keine Rolle, ob er Schwarzer oder Mestize oder sonstwas ist. Wir sind alle Honduraner, und bei uns wird jeder nur nach seinem Erfolg beurteilt.

Dieses kleine Land hatte ganz offensichtlich keine Rassenprobleme. Der Mestize war stolz auf sein Land, und in seinen Worten klang ziemlich gut durch, dass er es auch wirklich sein konnte. Es war ein sehr angenehmes Gefühl, als Weisser durch so ein Land zu reisen.

18. Januar 1988

Hinter San Esteban führte die Strasse weiter durch Berge, an deren Hängen Kaffee angebaut wurde. Ab jetzt durfte keine Militärkontrolle mehr kommen, denn ab heute war ich illegal. Die vier Tage waren um.

Nach ein paar Tramps kam ich schliesslich aus den Bergen in die Küstenebene und ein Lkw-Fahrer fuhr mich in einen Ort, der Francia hiess. Frankreich. Die Hautfarbe der Bevölkerung wurde dunkler. Von hier kamen also die Schwarzen. In Francia war ich gelandet, weil der Fahrer mich dazu überredet hatte. Hier sei es schöner als in Trujillo, hatte er gemeint, und ich hatte mir gedacht, na wenn er das sagte, dass würde es wohl stimmen. Manchmal war es interessant, von anderen Leuten zu erfahren, wo der Weg hinführte.

Trujillo war eine Hafenstadt westlich von hier, aber ich hatte die Befürchtung, dass dort die Sache mit dem Visum eher auffliegen dürfte als wenn ich etwas weiter östlich von Trujillo an die Küste kam, nach Limón. Limón hiess Zitrone. Zitronen mochte ich. Er war ein einfacher Lkw-Fahrer. Wer konnte es wissen, sagte ich mir, wo Gott nicht überall seine Leute hatte. So kam ich nach Francia.

Erstmal musste ich meine Schuhe reparieren. Ich fragte nach einem Schuster, aber es gab keinen. Na gut, vielleicht gab es irgendwo Nägel und ausrangierte Autoreifen. Ja, gab es. Auch einen Hammer. Ich bastelte mir etwas zurecht, war mit dem Ergebnis aber nicht sehr zufrieden. Na gut, für die nächsten paar Kilometer sollte es halten. Das Problem hatte ich nicht gelöst. Ich brauchte neue Schuhe.

Indem ich nach Francia getrampt war, hatte sich die Frage, ob ich nicht doch noch nach Trujillo wollte, schon perfekt erledigt. Denn die einzige Strasse von hier führte nach Limón. Bis dahin waren es noch zwanzig Kilometer. Es gab eine schlechte Strasse, die bei Regen nicht befahrbar war. Die Leute wollten mir abraten. Aber das war in allen Gegenden so.

Mal sehn wie weit die Wüstenschuhe hielten. Ich ging los. Die Schuhe hielten keine drei Kilometer, bis sich andeutete, dass sie bald wieder Probleme machen würden. Die Strasse über die sumpfige Küstenebene war wirklich schlecht und ein Pick-up, der mich mitgenommen hatte, blieb fast im Schlamm stecken. Sie fuhren bis zu einer Hütte, wo sie Pause machten und mir ein Bier ausgeben wollten. Da ich keinen Alkohol trank, fragte ich sie, ob sie noch was anderes hätten. Pepsi, meinten sie. Hm, Cola mochte ich auch nicht. In Honduras gab es ein bestimmtes Brausegetränk, das gar nicht so schlecht war, aber das hatten sie nicht. So, sagte ich mir, jetzt reichts aber langsam.

Wie war ich denn überhaupt drauf? Die Leute meinten es gut, und es war ihnen hoch anzurechnen, dass sie es okay fanden, dass ich kein Bier mochte. Und nicht wie die Mexikaner stundenlang rumdiskutierten. Obwohl ich alemán war und sie noch vor wenigen Minuten überzeugt waren, alle Deutschen würden tagtäglich Bier wie andere Leute Wasser in sich reinschütten. Und jetzt boten sie mir Pepsi an, weil sie nichts anderes hatten, und mir fällt nichts Blöderes ein als zu sagen, nein, Cola mag ich auch nicht.

Ich nahm noch eine zweite Flasche Cola und bedankte mich bei ihnen für die Erfrischung. Manche Sachen musste einem offenbar das Leben selber beibringen.

Dann ging ich weiter nach Limón, wo ich nach ein paar Stunden ankam. Und hier endete auch die letzte Strasse. Ich ging die letzte Strasse bis zu ihrem Ende, sie führte zu einem Strand, und ging wieder zurück ins Dorf.

Weiter Brief Forum 4.

Hier wohnen Schwarze. Sie haben eine ganz interessante Geschichte: die Garífuna stammen alle von den Leuten eines Sklavenschiffes ab, das im achtzehnten Jahrhundert vor der Karibikinsel St. Vincent bruchgelandet ist. Es gab wohl ein Gesetz, dass die Überlebenden von bruchgelandeten Sklavenschiffen frei waren, und so siedelten sie sich dort an. Zunächst. Als sie erfuhren, dass den Engländern solche Gesetze doch nicht ganz so heilig waren, haben sie sich zusammengetan und die Mosquitoküste von Honduras besiedelt. Diese Leute sind stolz darauf, nie Sklaven gewesen zu sein. Sie sprechen Garífuna, eine Sprache, die sich ihren Angaben nach aus Englisch, Spanisch, Französisch und verschiedenen Indianersprachen zusammensetzt (paar afrikanische Elemente werden aber auch drin sein).

Es waren zwei spanische Sklavenschiffe aus Afrika gewesen, 1655 vor St. Vincent bei Grenada gestrandet. Die Afrikaner nahmen die Sprache der damals dort noch lebenden Indianer an (Igñeri), 1797 Flucht vor den Engländern an die honduranische Küste und vorgelagerte Inseln.

Garífuna hörte sich wie eine afrikanische Mischung aus Englisch und Französisch an. Duna hiess Wasser, zum Rechnen nahmen sie die französischen Zahlen.

Es gebe einen gringo aus den USA hier, erzählten sie mir, Mitch. Sie zeigten mir sein Haus. Heute war er nicht da. Sie boten mir eine überdachte Ecke an. Später kamen noch einige und unterhielten sich mit mir. Mitch würde morgen kommen.

19. Januar 1988

Kam er auch. Mitch war wohl derjenige hier am Ort, zu dem alle Fremden gebracht wurden, sie sich hierhin verirrt hatten. Aber allzu viele waren das wohl nicht. Er meinte, ich habe Glück, ihn anzutreffen, weil er eigentlich verreisen wollte, und gab mir den Schlüssel zu einer kleinen Holzhütte, wo ich schlafen konnte.

Wir unterhielten uns noch ein wenig. Mitch war sehr beliebt im Dorf. Er arbeitete für irgendeine Organisation, war viel unterwegs und ich blieb bald allein, ein paar Tage in Limón. Es war einmalig. Ich hatte ein Haus, ein richtiges Holzbett zum Schlafen; niemand fragte, was ich machte. Hin und wieder kamen ein paar Kinder, die spielen wollten oder den Rasen geschickt mit einer Machete mähten.

Vor den Mädchen hatte Mitch mich gewarnt. Er selber war sehr vorsichtig. Ein Mädchen fragte einfach direkt, ob ich sie heiraten wollte. Eine andere Karibikschönheit dachte, sie wäre vielleicht erfolgreicher, wenn sie mir damit nicht sofort käme, sondern mich zunächst einmal zu ihrer Familie zum Essen einladen würde. Ich wollte es nicht sofort abschlagen, schliesslich hatte ich noch die überaus netten Familien in El Paraje in Erinnerung, die es alle als Ehre empfunden hatten, wenn ich ihre Einladung angenommen hatte.

Die hier waren etwas direkter. Das Essen war nicht fertig, als ich zu ihrem Haus kam. Sie stellte mich ihrer Mutter und ihren Schwestern vor. Ich unterhielt mich mit ihrer Mutter und fragte sie, wie sie das Essen zubereitete. Yuca[20] schälen. Ob ich ihr helfen könnte. Jaja, okay, ich sah es ja ein, Männer schälten hier nicht yuca, aber solche Dinger hatte ich in Mexico auch gebracht, und machistischer als in Mexico konnte es hier auch nicht zugehen. In Deutschland sei es üblich, dass die Männer im Haushalt- okay, genug gelabert, meinte die junge Lady, und jetzt zum Thema.

Zehn Minuten später war das Thema Heiraten dann wieder erledigt und ich war froh, wieder in meiner Hütte zu sein. Mitch hatte recht gehabt, sie konnten ein wenig unfreundlich werden, wenn man sie völlig grundlos einfach nicht heiraten wollte.

Irgendwann kamen die Gedanken. Ich ernährte mich von Apfelsinen und Kokosnüssen vom Strand und schrieb den vierten Brief ans Forum. Deutlich klang die Aussichtslosigkeit heraus, die mich in diesen Tagen umgab. Als ich diesen Brief schrieb, wusste ich noch nicht, wo ich als nächstes hinwollte.

Was ich hier mache, hab ich eigentlich immer noch nicht richtig mitgekriegt. Die letzte Strasse ist hier zuende. Sechs Stunden Fussmarsch nach Osten liegt Iriona. Im Landesinneren gibts Milliarden von Mücken. Hier fängt die Mosquitia an, die wird zu recht so heissen.

Die fehlende Aussicht und das überzogene Visum, irgendwie quält das. Die Strasse zurück, die ich hergekommen bin, das mach ich nicht. Die Leute in den Bergen waren voll mies drauf, die hier in Limón bestätigen das. Nada más adiós y adelante - nur tschüss und nix wie weiter. Mala gente - unfreundliche Gegend... und gefährlich. Du merkst es an der Art, wie sie bewaffnet sind, dass da etwas nicht stimmt. Natürlich, es gibt auch freundliche Leute, aber auch nur tagsüber. Lieber fünfhundert Kilometer Umweg, über San Pedro Sula, als da nochmal durch.

Ja, wohin morgen? In Limón kann ich nicht bleiben, nur ausruhen. Mit dem Boot nach Costa Rica? Aber es fährt keins. Zurück nach Tegucigalpa, über San Pedro Sula? Es ist gar nicht so ungefährlich, mit einem überzogenen Transitvisum in Mittelamerika erwischt zu werden. Und wer weiss, was sie an der Grenze sagen.

Aber ich wollte es ja so. Gejagt vom Hunger, von Moskitos, illegal im fremden Land, immer weiter, und nicht wissen wohin. Was für ein Leben. Irgendwann wird es dann vor mir stehen, das Leben, und sagen:

"Okay, Willi, zehn Pluspunkte für schlechte Ausführung, aber hundert Miese für die richtige Wahl."

Brief 2 an Lina (Februar 1988) (die ab jetzt folgenden kursiven Absätze)

Irgendwie habe ich die Tage darauf das Gefühl, in eine Sackgasse gelaufen zu sein. Nach zwei Tagen bin ich kurz davor, mir ein kleines Boot zu kaufen und einfach auf blauen Dunst aufs Meer zu fahren. Mitch sagt, ich könne eventuell auf einer der vorgelagerten Inseln Arbeit finden...

Oder sollte ich wieder denselben Weg zurück?

An der Strasse nach Francia, die nur in der Trockenzeit gerade noch befahrbar war, lagen sich in einem Graben drei ausrangierte grössere Boote. Vielleicht zehn Meter lang. Ich erkundigte mich, was sie kosten würden. Der Besitzer dachte wohl, er würde das Geschäft seines Lebens machen, und verlangte einen ziemlich hohen Preis. Ich weiss nicht mehr, tausend Dollar vielleicht oder sowas. Ich meinte, fünfhundert, aber er liess nicht mit sich handeln. Andere sagten mir, der Preis sei vollkommen überzogen.

Mitch fand die Idee wahnwitzig. Ich hatte keine Erfahrung, keine Navigationskenntnisse, wusste doch gar nicht, wie so ein Boot gesteuert würde. Ich wusste auch nicht, wo ich hinsollte. Aber Tatsache war, ich war an die Küste gekommen. Und ich hatte eine Lebensgarantie. Manchmal war sowas ganz schön nützlich. Lag es da nicht nahe zu vermuten, dass der Weg auf das Meer führte? Wozu kam ich sonst von Olancho an die Küste?

Ich entschied mich, wie ich es schon öfter getan hatte in solchen Situationen, Gott die Entscheidung selbst zu überlassen. Zur Abwechslung wählte ich mal eine andere Methode als einen Traum.

Mein Haus stand vor einer Wiese, hinter der sich ein paar Dünen mit Kokospalmen befanden, dahinter kam der breite Sandstrand und dann die Karibik. Morgens, wenn es noch kühl war, ging ich baden. Im Wechsel der Gezeiten kam das Meer bis kurz vor die Dünen und zog sich dann wieder etwa zwanzig oder dreissig Meter zurück.

Kam das Meer vor, nahm es alle Fussspuren mit. Zog es sich zurück, waren bald wieder neue zu sehen, viele Leute gingen diesen Strand entlang. Es war ein reger Verkehr.

Ich zog im Sand mit dem Fuss eine Linie von den Dünen bis zum Wasser. Kurze Zeit später kam ich wieder und die Linie war von vielen Fussspuren unterbrochen. Das machte ich mehrmals. Ich stellte fest, jedesmal waren Leute über die Linie gegangen. An diesem Strand gingen wirklich viele Leute entlang, lange hielt die Linie nie.

Am nächsten Morgen zog ich eine neue Linie und stellte die Frage. Wenn ich nicht aufs Meer sollte, dann sollte diese Linie einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang nicht von Fusspuren unterbrochen oder berührt werden. Das würde bedeuten, es würden entweder keine Leute am Strand entlanggehen, oder die Leute würden weiter unten am Wasser langgehen, sodass ihre Spuren mit der Flut verwischt würden.

Ich ging zurück in den Ort und sah mich ein bisschen um. Es konnte auch sein, dass mein Weg doch nicht das Meer war. Wenn, dann müsste jetzt eine vollkommen eindeutige Antwort kommen. Es war aber sehr unwahrscheinlich, dass die Linie morgen früh nicht unterbrochen wäre.

Es ist der vierte Tag, ich habe von irgendwoher eine Karte, in der wenige Orte eingetragen sind. Der nächste Ort am Strand Richtung Osten heisst Iriona. Die Leute am Verwaltungshaus.

"Nach Iriona willst du?"

"Naja, mal sehn, ich weiss noch nicht... wie ist denn der Weg?"

"Iriona? Sechs Stunden Fussmarsch am Strand, immer geradeaus. Zuerst kommt Punta Piedra, dann Cosuna, Sangrelaya... nee, Sirivoya kommt noch davor, und La Punta, und dann Iriona."

Einer ist Fischer und kennt sich noch ein bisschen weiter aus:

"Iriona, und dann Tocamacho, Bataya, Palacios, Plaplaya... Ibans...", ich schreibe so schnell wie möglich im Heft mit, er kommt bis zur Grenze Nicaragua, immerhin fast dreihundert Kilometer.

Zu meiner Überraschung rückt einer von den anderen schliesslich damit raus, dass ich auch auf die Karte drinnen im Verwaltungshaus schauen könnte.

"Karte?"

Aber was für eine. Mit allen Flüssen, Höhenlinien, Dörfern, Pfaden - perfekt.

Seit Texas hatte ich keine so gute Karte mehr gesehen. Ich war wirklich überrascht. Es widersprach sich mit meiner Theorie, mein Weg würde sehr wahrscheinlich über das Meer führen.

Als ich ins Bett ging, stellte ich fest, dass Mäuse im Holzhaus waren und ein Loch in meine Jacke gefressen hatten. Mist, nun konnte ich die schon wieder nähen. Aber nicht mehr jetzt, es war schon dunkel. Ich hatte immer noch den Panzer der kleinen Schildkröte aus Virginia in einer der vorderen Taschen gehabt, und die bescheuerten Mäuse hatten sich unbedingt durchknabbern müssen.

Bevor ich die Jacke am nächsten Morgen nähte, ging ich voller Spannung zum Strand. Ich ging über die Dünen, vorbei an den Kokospalmen, und kam an den Strand. Dort sah ich meine Linie. So wie ich sie vierundzwanzig Stunden vorher gezogen hatte.

Ohne eine einzige Unterbrechung. Keine Fussspur hatte sie berührt.

Ich ging zurück ins Dorf, zu der Karte im Verwaltungshaus.

Zwei Tage und ich habe sie abgepaust. Die ganze Gegend südwestlich von Limón bis zur Grenze Nicaragua.

Jetzt ists klar, wos hingeht. Eine Karte ist immer die Voraussetzung. La Mosquitia - das Land, in dem die Mískito-Indianer wohnen.

Eine Frau sagt mir noch, dass die Leute in Punta Piedra nicht so gut drauf seien, in Sirivoya seis besser. Solche Informationen sind immer Gold wert. Sie sagt, vier Stunden bis Iriona.

Ich ging nochmal zum Strand und zog nochmal eine Linie. So unwahrscheinlich es schien - es konnten den ganzen Tag nur ganz wenige Leute am Strand entlanggelaufen sein, oder sie waren weiter vorne am Wasser gegangen, wo die Flut die Linie verwischt hatte. Ich testete mit der neuen Linie, ob es stimmte, dass es wirklich unwahrscheinlich war, dass niemand über die Linie lief.

Doch schon kurze Zeit später waren wieder welche über die Linie gelaufen. Auch oben, nahe der Dünen. Ich hatte eine eindeutige Antwort bekommen. Jetzt wusste ich, ich musste zu den Mískito-Indianern.

Nächsten Morgen gehts los. Früh um sechs. Zwei Fischer sind gerade bei ihrem Boot am Strand und sagen, sie wollen warten, bis sich das Meer etwas legt, und um sieben dann nach Iriona abfahren. Ich könne mit, wenn ich will. Ja, okay, ich warte solange am Boot.

Noch einmal sah ich, dass meine Linie vom Vortag wieder von Fussspuren unterbrochen worden war. Ich wartete auf die beiden Fischer. Die Antwort auf die Frage, ob ich mit einem Boot auf das karibische Meer fahren würde, war nein gewesen. Oder ob sich das auch auf den kleinen Fischerboot-Tramp nach Iriona bezog?

Die Sonne steigt. Um neun sind sie noch nicht wieder zurück, jetzt gehe ich zu Fuss los. Ein langer Weg am Karibikstrand.

24

Du siehst im Dunst die zwei Palmen -

Ein langer Weg am Karibikstrand

[pic]

Ein langer Weg am Karibikstrand. Foto von einer Postkarte, 1990.

Der Sand ist schön fest und ich sinke nicht ein. Trotz Rucksack und Schlafsack komme ich gut vorwärts. Eine Zeitlang verfolgt mich ein Schwarzer auf seinem Pferd, schliesslich hat er mich eingeholt und wir unterhalten uns ein wenig auf Spanisch.

Ein bisschen misstrauisch bleibe ich. Seine zweite Frage nach "Woher kommst du" war gewesen, ob ich wie andere gringos für eine christliche Organisation arbeite, eine Frage, die mir hier öfters begegnet. Nein - also nur Tourist am Karibikstrand.

"Aus Deutschland kommst du, dort gibts doch Dollars, stimmts, du musst bestimmt jede Menge Knete haben."

Nö, ich hab kein Geld, bin per Anhalter hierhergekommen, das ist nicht teuer.

"Und wo isst du?"

"Naja, was mir die Leute so geben, heute habe ich noch nichts gegessen."

Die Unterhaltungen mit solchen Leuten sind eine hohe Kunst, jedes einzelne Wort will gut, aber nicht lange überlegt sein.

"Wo willst du hin?"

In solchen Situationen nur das nächste Tagesziel angeben - "Iriona."

"Hm. Die Leute in der Gegend sind arm und können dir nichts geben, du wirst dir dein Essen kaufen müssen."

Ein Stück Weg laufen wir nebeneinander her, er auf seinem Pferd, ohne Gepäck, ich zu Fuss, mit Rucksack und Schlafsack. Den Schlafsack trage ich dabei im Nacken, er hält zwar, wird aber mit der Zeit schwer. Nein, er bietet mir nicht an, den Schlafsack abzunehmen.

Wir nähern uns der Stelle, wo ein Berg ins Meer reinragt und keinen Platz mehr für einen Sandstrand lässt. Ja, das haben sie mir gesagt, dass der Weg einmal kurz in den Berg reingeht, um dann über zig Kilometer aber nur noch dem Strand zu folgen.

"Dahinten geht der Weg in den Berg rein, das ist ein bisschen gefährlich und schwer zu finden", bricht er das Schweigen, "wenn du willst, kann ich dich da durchführen, wenn du, du verstehst, mir ein bisschen was gibst."

Jetzt fängts an, kritisch zu werden.

"Hombre, ich hab doch auch kein Geld, ich hab heute noch nicht mal was gegessen, ich werde den Weg alleine finden müssen."

"Hm."

Lange überlegt er nicht, trabt los, sieht zu, dass er Abstand kriegt. Ach ja, er darf mir ja keine Spuren zum Nachfolgen anbieten. Also reitet er ein bisschen zu den Sanddünen, ha, weiter ins Land gehts nicht, weil da alles unter Wasser ist, das ist ja auch der Grund, warum es hier so viele Mücken gibt. Er bemüht sich redlich, möglichst unauffällig den Einstieg in den Berg zu nehmen.

Aber es spielt ja auch schon alles gegen ihn. Hab ich ihn schon die ganze Zeit vor mir, muss der Sand auch noch so flach sein, dass man so weit sieht. Und überall ist nur Sand, wo will er da keine Spuren hinterlassen. - Okay, es ist der gute Wille, der zählt, denke ich mir, ich kann es ja mal honorieren und gehe ein bisschen auf die Sanddünen zu. Versuche, eine halbe Stunde Zeit zu verlieren. Wenn er sich irgendwo im Berg versteckt hält, wartet er nicht lange, er will ja auch wohin.

Man braucht leider wirklich nicht der perfekte Beduine zu sein, um die Fuss- und Pferdespuren im Sand lesen zu können, die allesamt auf den Einstieg in den Hügel zulaufen. Es folgt ein kleiner Steinpfad durch den Wald, vielleicht vierzig Meter, und oben bin ich auf einem super-instandgehaltenen Pfad, der parallel zur Küste verläuft. Und die Pferdespuren meines Vorgängers wieder vor mir - alles unter Kontrolle. So gehe ich eine Stunde durch den Wald, der Schatten tut gut.

Ein Reiter kommt mir entgegen und begrüsst mich freudig. Was, nach Iriona willst du? Ich komme gerade von daher, bin schon viereinhalb Stunden unterwegs. Der Weg? - Dahinten gehts runter, und dann immer nur am Strand lang. Alles Gute auf dem Weg, verabschiedet er sich. Ein freundlicher Mensch.

Mittag ist es geworden, drei Stunden laufe ich schon, und er kommt viereinhalb Stunden mit dem Pferd... wenn ich heute überhaupt nochmal in Iriona ankomm, bin ich gut. Ich erreiche den Strand, und dann immer gradeaus.

Und ich laufe am Strand. Alle halbe Stunde fliessen die dicken Bäche ins Meer, meist ist das Wasser kniehoch, ausserdem ziemlich rot-braun-dunkel, weiss der Geier warum. Ich laufe barfuss und in kurzen Hosen - nee, in Unterhosen: zum einen spült mir ständig das Meer um die Füsse, zum anderen fliessen ständig die Bäche ins Meer.

Vorteil: Das Meer kühlt gut. Nachteil: Am nächsten Tag habe ich den dicken Sonnenbrand an den Beinen. Einer von den Zuflüssen reicht mir beim Durchqueren bis an die Hüften, ich muss aufpassen, dass ich das Gleichgewicht nicht verlier, mit meinem ganzen Gepäck.

Weiter oben ist der Sand lockerer, da kann ich nicht gehen, die Füsse sinken im Sand ein, und ausserdem wird der trockene Sand sehr heiss. Aber das Meer zieht sich jetzt etwas zurück und hinterlässt unten feuchten, gut gepackten, soliden Sand zum Laufen.

Und ich laufe. Was für ein Bild. Über mir die Sonne, links das Meer, die weite Dünung, vor mir der lange Sandstrand und rechts die Kokospalmen auf den Dünen. Das ist die Karibik, so sieht sie tatsächlich aus, andere hängen sie sich als Wandtapete in die Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad.

Kann ich es geniessen? Ich laufe und laufe. Viel Zeit zum Träumen. Am Nachmittag erreiche ich Punta Piedra. Ayó und weiter gehe ich am Strand. Ayó ist Garífuna und heisst tschüss. Richtig dunkel schwarz sind sie hier, die Leute, in Limón waren sie ja noch ein bisschen spanisch vermischt.

Zwei Frauen laufen vor mir her. Ich muss schon ein bisschen exotisch aussehen, die helle Hautfarbe, und viel grösser als sie bin ich auch. Mutter und Tochter. Sie haben jede einen schweren Sack zu tragen, mit Yuca-Wurzeln, über dem Kopf auf dem Rücken. Ab und zu legen sie einen kurzen Sprint ein, vielleicht haben sie Angst, sie sind etwas langsamer als ich. Als ich sie dann doch eingeholt habe, fassen sie sich aber ein Herz - und fragen, ob sie mir tragen helfen dürfen, den Schlafsack. So schwer ist der auch nicht, ich nehme ihr Angebot dankend an. Sie machen es gerne, besonders wo ich ihnen erzähle, dass ich aus Limón gelaufen komme.

Bis hinter Cosuna. Sie wechseln sich im Tragen ab. Hinter Cosuna kommen zwei andere Frauen entgegen, sie nehmen ihnen die Säcke ab, und zu fünft geht es noch etwas weiter am Strand. Casave[21] geben sie mir ab, als sie hören, dass ich noch nichts gegessen habe. Casave wird aus Yuca hergestellt und sieht so ähnlich wie so Art Crunchy-Knäckebrot aus. Es ist das tägliche Brot der Garífuna. Zwischen Cosuna und Sirivoya sind sie zuhause.

Am späten Nachmittag komme ich nach Sirivoya, ich bin fertig und setze mich zu einigen älteren Leuten auf die Dünen unter die Palmen. Ein paar Boote kommen gerade vom Fischen heim, es ist viel los am Strand. Bei drei alten Frauen komme ich unter. Es sind zwei kleine Häuser: ein Wohnhaus, wo sie schlafen, und ein Haus als Küche, dort kann ich schlafen. Sie geben mir ein wenig zu essen, viel haben sie nicht, und am Morgen Kaffee, bevor ich losgeh. Ich gebe ihnen eine Kokosnuss, die ich seit Belize im Rucksack trage... ein bisschen komisch, was ich manchmal so mach, weil sich die hier doch überall am Strand finden... aber wegwerfen wollte ich sie auch nicht und nun bin ich froh, dass ich sie los bin, und die Frauen haben sich gefreut über die Geste.

Nächster Tag. An La Punta vorbei, Sangrelaya, Iriona erreiche ich am Vormittag, neuneinhalb Stunden von Limón. Hier leben jetzt weniger Leute. Bis Tocamacho seiens nochmal sechs Stunden. Es ist heiss, ich habe leichten Rückenwind und somit überhaupt keine Luftkühlung. Das Meer ist etwas ruhiger als gestern. Einen Wanderer hole ich ein, weil ich nicht wie er die lange Hose ausziehe, um durch einen Fluss zu waten. Mit nasser langer Hose gehe ich weiter, das ist dann die Wasserkühlung.

Er geht denselben Weg. Ein bisschen misstrauisch bleibe ich, bis er mir anbietet, den Schlafsack zu tragen. Eine halbe Stunde vor Tocamacho setzen wir zum ersten mal in einem Kanu über einen Fluss, und ich weiss nicht, liegt es am heissen Wetter, liegt es am etwas tieferen Sand, oder liegt es an der Geschwindigkeit, die wir gehen - als wir um eins in Tocamacho ankommen, bin ich total fertig, und setze mich, nachdem wir in einem Haus Wasser bekommen haben, unter ein paar Palmen am Strand. Er kennt das Dorf auch nicht und geht seines Weges.

Tocamacho. Ich packe mich aufs Gras. Schlafsack als Kissen, ruh mich aus und versuche, den Augenblick zu geniessen. Karibikküste, Schatten, das Meer rauschen hören.

Doch, sie gefällt mir, die Art, wie die Orte hier angelegt sind. Das Meer, der Sandstrand, zwanzig Meter weiter ein paar Dünen, mit Gras und Kokospalmen und gleich dahinter die kleinen Häuser des Ortes, deren Dächer meist alle aus Palmwedeln gemacht sind. Wellblech ist selten. Und es ist Leben in den Häusern. Die Schweine, die Hunde, die Hühner, die Frauen am Arbeiten und nicht zuletzt die Kinder, die überall herumwuseln.

Die Minuten verstreichen. Dass ich Gesprächsthema bin, merke ich schon bald, und schliesslich kommt eine Frau zu mir und bringt mir ein gutes Stück casave, das ich mir gierig reinziehe, hab ja seit heute früh nichts mehr gegessen. Sie merken, dass ich wohl Hunger habe - eine andere Frau bringt mir einen gebratenen Fisch, oh, ist das wertvoll, ich esse die Gräten fast mit auf, und Wasser bekomme ich auch. Die Kinder tummeln sich auf dem umgestülpten Einbaum gegenüber herum, ich lehne mich zurück; für einen Moment könnte ich den Eindruck haben, ich wäre irgendwo an einer Küste in Afrika.

Oft sind sie nicht, solche Augenblicke, und wie schnell sind sie vorbei.

Zum dritten Mal kommt jetzt der ziemlich dunkel dreinblickende Typ, der mir bis jetzt grad nochmal buenos días gegönnt hat. Diesmal bringt er noch einen Kumpel an, den war er wohl suchen gegangen, mit Radiorecorder. Kumpel scheucht die Kinder vom Einbaum, neben den ich mich hingelegt habe, und fängt an, auf Englisch aufzuschocken.

"Hey, what-matter, man? All right man? Want some music?"

Ouh nein, keine Frage, er hat sein Englisch auf den honduranischen Karibikinseln gelernt, dort sprechen sie Englisch, aber was für eins. Er versucht mir zu sagen, dass er mir etwas Musik vorspielt und ich ihn dafür bezahlen soll. Eine Kassette legt er ein, gar nicht mal die typische Musik von hier, aber schon fangen die Kinder an, im Rhythmus zu tanzen. Schon die kleinsten. Afrika.

Ich sag, zum Bezahlen hab ich kein Geld. Etwas vortanzen soll ich, erklärt er, aber in so schlecht verständlichem Englisch, dass ich ihn frage, ob er nicht auch Spanisch spricht. Ist ihm wohl gar nicht recht, dann kann er ja nicht mehr mit seiner Fremdsprache aufschocken. Er bleibt bei seinem Englisch, ich check nicht, was er sagt, er wird laut, ich erklär ihm auf Spanisch, dass ich kein Englisch sprech, weil ich aus Deutschland komm. Er soll Spanisch sprechen und ich werde ihn verstehn.

"Deutschland?"

"Ja, das ist in Europa, das ist ein Land indem kein Englisch..." - oh nein, er weiss nicht mal, wo Europa liegt, er glaubt mir das mit dem Europa nicht, schreit mich an, fällt irgendwann wieder ins Garífuna zurück, scheint mir wohl irgendwelche Vorwürfe zu machen, dass die gringos alle so reich seien und er nicht, ich soll bezahlen, er jagt die Kinder weg, oder vortanzen. Sein nicht-englischsprachiger Freund macht keine Anstalten, ihn zu beruhigen. Er checkt einfach nicht, dass ich sein Englisch nicht versteh. Ouh Mann, ich sag ihm zwei Sätze auf Deutsch und frag ihn, ob er meine Sprache versteht.

Nee, aber jetzt kommt ihm das Ganze dann doch verdächtig vor, er steht auf, spricht nun Spanisch, wird aber kein bisschen leiser. Europa - das ist doch kein Land. Er will meine Papiere sehn, ja, er sei hier die Polizei, er will sofort meine Papiere sehn. Junge, ich will mich hier ausruhn. Nix - Papiere. Also Schluss mit der Ruhe, auf den Rucksack setzen.

"Ja, klar hab ich Papiere, Herr Polizeichef, die sind hier drin, aber ich komm aus Sirivoya hierhergelaufen, am Strand, ich bin total fertig und will mich ausruhn." -

Nix, er sei hier die Autorität, er will meine Papiere sehn, auf der Stelle.

Jetzt gehts los. Scheiss-Situation. Wie kommt man jetzt da wieder raus? Eins ist klar: ich muss hier weg, so schnell wie möglich.

"Hombre, das hier: sind meine Füsse. Mit denen komme ich hier an. Sirivoya - Tocamacho. Ich bin sechs Stunden gelaufen. Ja, bin ich denn hier nicht willkommen, dass ich mich noch nicht mal unter die Palmen legen kann und mich ausruhn? Bin ich nicht willkommen in Tocamacho, dass man mir noch nicht mal eine Stunde Ruhe gönnt?" -

Zieht noch nicht.

"Ich bin fertig, ich will mich ausruhen, auf dem Schlafsack, und dann weiter nach Bataya gehn."

Zieht auch noch nicht.

"Ich will mich hier hinlegen und schlafen."

Das zieht.

Ja- leg dich hier hin und schlaf. Leg dich hin und mach die Augen zu. Okay, jetzt weiss ich woher der Wind genau weht. "Mach die Augen zu und schlaf". Er bleibt sitzen, jagt die Kinder nochmal weg, und wartet ab, paar Sekunden.

Ich lehne mich wieder zurück.

Nicht lange, dann legt der andere wieder eine Kassette ein, und Kumpel Polizeichef versucht mir nun, was vorzutanzen. Betrunken ist er wohl nicht, vielleicht irgendeine andere Droge. Aber jetzt ist es an mir, die Sind-wir-nicht-alle-Brüder-Tour anzustimmen, auf sowas fahren Betrunkene doch auch immer ab.

Sowas anzufangen, ist nicht unbedingt schwer, denn bei seinem Geisteszustand wird er dich nicht fragen, warum du auf einmal damit anfängst, völlig ohne Bezug zu irgendwas, was vorher lief. Ich steh quicklebendig auf, geh auf ihn zu, nehme ein paar Musiktakte von eben mit, klopfe ihm auf die Schulter, seinem Kumpel auch, "seht ihr, wir sind doch alle Brüder, ja genau, wir sind alle Brüder... ", nehme kurz eins von den Kindern auf den Arm, stelle es auf den Einbaum, die beiden klopfen mir auch auf die Schulter, "ja, wir sind alle Brüder", umarmen sich sogar gegenseitig, fahren voll drauf ab...

"...alle Brüder, seht ihr, ich muss doch nach Bataya", Rucksack auf, "wir sind alle Brüder", er hilft mir sogar beim Schlafsack - kurz umdrehn, ein tiefer Blick in die Augen der Frauen, die dem Geschehen zugesehen haben, ich glaube, sie haben verstanden, und ab am langen Strand, Richtung Bataya. Den Typen bin ich los, aber ich bleibe der Gejagte.

Papiere sehn. Das kann fei ins Auge gehn, laufe ich in diesem Land doch schon bald zwei Wochen mit einem Vier-Tage-Visum rum, erwischen lassen darf ich mich nicht, die reagieren empfindlich, das weiss ich.

Also weiter am Strand. Adrenalin, das hält jetzt erstmal für einen halben Tag vor. Ich treffe immer weniger Leute, laufe teils für Stunden am einsamen Karibikstrand, ohne einem Menschen zu begegnen. Der Rückenwind ist ein bisschen stärker geworden, aber kühlen will er nicht so richtig. In Plaplaya sollen die letzten Garífuna wohnen, ich könnte es bis zum Abend noch schaffen, und von da ab nur noch Indianer.

Bataya lasse ich auch rechts liegen, bis ich zum Río Tinto komme. Der Fluss ist vielleicht hundert Meter breit. Also wieder warten bis ein Kanu ankommt. Es ist schon Spätnachmittag, und das Kanu bringt mich ein kleines bisschen flussaufwärts, nach Palacios. Hier gibt es gringos, unter anderem einen Arzt, sie zeigen mir sein Haus. Wies der Zufall will, waren wir uns ein paar Stunden zuvor am Strand begegnet, er war nicht allein, und wir haben uns eine Zeitlang erst auf Spanisch unterhalten.

Am Abend kommt er dann wieder nach Hause, er ist ganz nett, ich habe ein wenig Vertrauen zu ihm und sage ihm auf seine Frage auch ganz frei, dass ich keine Probleme mit Visum habe - nur ohne. Vielleicht weiss er ein bisschen Bescheid.

"Hombre, du hast Probleme, weisst du das... die werden dir mindestens eine Geldstrafe aufdrücken, wenn nicht noch mehr. Lass dich bloss nicht erwischen damit." - Ich sehe ja wohl tatsächlich nicht so gut aus damit.

Im Krankenhaus sind noch ein paar Betten frei, ein Zimmer schliesst er mir auf, aber einschlafen kann ich nicht.

Mir geht wohl viel zu viel im Kopf herum. Morgen früh geht ein Boot nach Río Plátano, ein paar Leute vom Ärztekollegium fahren, er will mich um fünf wecken. Hell wird es in diesen Breiten immer um sechs... okay, jetzt vielleicht zehn nach sechs, aber den Unterschied in der Tageslänge zwischen Sommer und Winter gibt es hier nicht mehr. Die Schwarzen sagen, von Río Plátano an sprechen sie nur noch Mískito; Spanisch würden nur noch einige in den grossen Orten verstehen. Einer aus Sirivoya letzte Nacht hatte mir gesagt, der Strand ginge ziemlich lange durch, zweihundertfünfzig Kilometer bis zum Río Coco, das ist die Grenze zu Nicaragua, und da gibts sogar n Grenzübergang, da kann man weiter.

Was die Leute in Deutschland wohl machen? Jetzt dürften sie im Forum wohl grad meinen dritten Brief, aus Mexico, bekommen haben, gibts das Forum überhaupt noch? Ja, doch, Eckhart und Thomas sind ja bis Mitte Mai da angestellt. Ob sie wohl in den Güterbahnhof umgezogen sind? Norbert müsste aus Spanien zurück sein, und ob Lina wohl - tong! Klack! Tock tock tock!! Hä?

"Francisco, bist du noch wach?"

"Jaja -"

"Diese Leute hier wollen sich mit dir unterhalten, also zieh deine Hose an und komm her."

Au weia. Jetzt aber.

Sie sind zu dritt, ein Schwarzer in Zivil, zwei Militärs mit dicken Maschinengewehren im Anschlag. Ruhig bleiben. Don't Panic - steht in grossen freundlichen Buchstaben auf dem Einband des Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis... also ruhig bleiben, cool bleiben, und reden. Aber nach allen Regeln der Kunst.

Erstmal begrüssen. "Hermanos -", Brüder, im ersten Moment denke ich noch, es sei der schwarze Typ aus Tocamacho, ist er aber nicht. Zum Glück. Die beiden Militärs sind Mestizen.

Sie sagen mir natürlich nicht, warum sie mich aus dem Bett holen (bloss nicht fragen!). Wie ich hierherkomm und was ich hier mache. Die ganze Geschichte seit Limón. Und bestes Spanisch, das unterscheidet: die meisten gringos aus den USA zeichnen sich dadurch aus, dass sie auch nach langer Zeit im Land kaum ein Wort Spanisch sprechen, und wenn, dann nur mit starkem Akzent. Mitch, der Amerikaner aus Limón, zum Beispiel, lebt dort nun schon seit drei Jahren, und die Kinder meinten zu mir, dass ich mit meinen zwei Monaten Spanisch-Amerika wesentlich besser Spanisch spreche als er. Und Garífuna sprach er auch nicht.

Zwei Tage Strand. Wo ich geschlafen hab, wo ich gewesen bin und wo nicht, nicht dass sie s wissen wollen, aber man kanns ja mal erzählen, wo nette Leute wohnen... was ich vorhab (über Peru nach Argentinien, das macht auch Eindruck), und dann, goldener Zug:

"Sicherlich wollen Sie meine Papiere sehn, damit alles in Ordnung ist." Bei den Militärs muss immer alles seine Ordnung haben.

"Ja, zeig mal her."

Selbstverständlich nicht nur Reisepass und Visum, nein, alles was wir an documentos dahaben, die sind alle wichtig, für die Ordnung... der Zettel vom Reisebüro in Hamburg, wo draufsteht, dass ich von USA nach Argentinien unterwegs sei, ein paar Heftchen von verschiedenen Kirchen in deutsch und englisch, mein Tagebuch ("ich bin dabei, ein Buch über Amerika zu schreiben"), alle Papiere sind wichtig... ich habe sogar das Glück, dass einer der Militärs Englisch kann, er kann sogar übersetzen. Meine Landkarten von Südamerika auch zeigen, man muss alles zeigen, und klar macht das Eindruck.

Reisepass. Nee, nicht nur "hier isser", was wollen die mit einem deutschen Reisepass. Aufschlagen, das ist der Nachname, das ist der Vorname, in dieser Stadt bin ich geboren, dies ist die Stadt, in der ich wohne in Deutschland, Brüder, und dies ist der Stempel dieser Stadt. Und die Jungs sind erstmal zufrieden. Ihnen muss ich ja nicht erzählen, dass man ein Visum braucht und dass der Zettel erst auf Seite 17 eingetackert ist.

"Okay, hier wirst du nicht schlafen, hier im Krankenhaus nicht, pack deine Sachen zusammen, du kommst mit und morgen werden wir dann weitersehn."

"Morgen? Hm - da ist eine Sache. Morgen früh um fünf fahren die vom Ärztekollegium mit dem Boot nach Río Plátano, die wollen mich mitnehmen, um fünf, das wär gut, wenn ich das Boot kriegen könnte." - Hoher Einsatz verdoppelt die Gewinnchancen.

"Ja, wenn wir einige Sachen besprochen haben werden, morgen früh, das geht schon."

"Um fünf ?"

"Ja, na, so um sieben oder acht." - Schliesslich erklärt ihnen der Arzt auch nochmal, dass sie um fünf ablegen wollen.

"Jaja, wir werden sehn."

Der Schwarze will partout meinen Rucksack und Schlafsack tragen, ist mir recht, ich hab das Zeug heute schon genug geschleppt. Er geht neben mir her, einen Pfad über eine Wiese, die beiden Bullen gehen hinter uns, mit den Maschinengewehren. Ich drehe mich mal unauffällig um - tatsächlich, im Anschlag. Die haben Schiss, das ist gefährlich. Ich hab keinen Check, was die überhaupt wollen, aber ich weiss, dass ich illegal hier bin.

Zu einem kleinen Haus, dort wartet ihr Chef, auch keine fünfundzwanzig Jahre. Jung sind sie, die Militärs. Tja, es hilft nichts, nochmal das Ganze. Was solls, müde bin ich jetzt sowieso nicht, und langsam machts mir sogar ein bisschen Spass, die vollzulabern. Wieder die ganzen documentos, aber erstmal die Jacke ablegen, hierhin legen, nein, dorthin legen, nein, doch hierhin. Hosentaschen ausleeren, Sachen auf den Tisch. Paar Lempira, nicht mehr als zehn Mark, ich soll sie in das Taschentuch einwickeln. Warum nicht in - swutsch! - diese Plastiktüte - nein, ins Taschentuch, und zubinden, damit du morgen alles wiederbekommst und nichts fehlt. Damit alles in Ordnung ist. Hier in der Hängematte wirst du diese Nacht schlafen. - Ich kann auch am Boden schlafen, im Schlafsack. - Ja, okay, das geht auch. - Nee, hier wird er nicht schlafen, nee, im anderen Haus. Anscheinend wissen sie selber nicht, was sie wollen.

Was hab ich sonst noch in den Hosentaschen - Taschenmesser, Bonbonpapier, paar mexikanische Münzen. Soll ich die Jackentaschen auch ausleeren? Ha, das hab ich mal in Berlin-Schönefeld im Flughafen machen dürfen, der Kerl hat nicht schlecht gestaunt, als ich vom Nähzeug und den Wäscheklammern bis zum Edding-Stift und OP-Stofftuch alle neunzehn Jackentaschen ausgeleert hab, der ganze Kleinkram wiegt mindestens anderthalb Kilo... nein, Jackentaschen nicht ausleeren.

Papiere. Den Reisepass kuckt er sich genauer an. Sieht schon ganz schön bunt aus, mit den ganzen Visumstempeln, und hinter dem (vierfarbigen) USA-Stempel dann der gelbe Visums-Zettel von Honduras. Den studiert er genau.

Irgendwie scheint er zu riechen, dass da der Wurm drinsteckt. Junge, das kriegst du nie raus. Aber die Spannung steht mir ins Gesicht geschrieben. Im Kerzenlicht zeige ich den anderen die ganzen Klamotten aus dem Rucksack, eher um mich abzulenken, und er studiert den Visumszettel. Mit Taschenlampe. Fünf lange Minuten. Junge, das kriegst du nie raus.

Wie soll er auch, wenn von den sechsundzwanzig Kästchen und Feldern ein kleiner Vermerk auf die Aufenthaltslänge hinweist, kommentarlos ist Días ("Tage") aufgedruckt, und die blaue 04 davor ist nur eine von neun Ziffernfolgen mit den verschiedensten Bedeutungen. Und vor allzu langer Zeit scheinen weder er noch der Grenztyp, der den Schein ausgestellt hat, Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Und Rechnen genauso: mein Alter auf dem Zettel ist auch falsch.

Nein - so kriegt er das nie raus. Was ihn schon besser anspricht, sind die paar Dollars, die mit im Brustbeutel sind. Ob er einen haben kann.

"Warum nicht. Du siehst, ich hab ja nicht viel, aber einen Dollar kannst du schon haben.", findet er gut.

Die anderen müssen ihm erklären, wieviel ein Dollar wert ist. Das ist selten, dass einer noch nie Dollar gesehn hat.

Sowieso erstaunlich diese Gegend. Auf dem Schwarzmarkt in den Städten ist der Dollar etwa 2,40 Lempira wert, der offizielle Tauschkurs ist 1:2, aber hier in der Gegend bekommst du für einen Dollar nur 1,50 Lempira. Witz.

Sie unterhalten sich noch über die Dollars und ich überlege langsam, wie ich es anstelle, dass er mich wieder loshaben will und mich freilässt... nicht dass er auf einmal Gefallen an der Idee findet, sich mit mir noch lange weiter zu unterhalten... und zu meiner Überraschung kommt es schneller als ich denke.

"Tja, das wars dann, Hombre, pack die Sachen wieder ein, ja, alles in den Rucksack. Genau, alles in den Rucksack. Weisst du schon, wo du heute nacht schläfst?" - Hä? Äh, also - aber keinen Augenblick zögern, so schnell wie möglich blubber ich los.

"Ja, der amerikanische Arzt hat mir vorgeschlagen in einem der Zimmer im Krankenhaus zu schlafen einige sind frei im Hotel will ich nicht schlafen weil ich nicht soviel Geld zum Bezahlen hab aber der Arzt sagt ich kann im Krankenhaus schlafen kein Problem."

Hat er nicht gecheckt, sehr gut, weiter so.

"Also es ist so: der Arzt der Amerikaner hat gesagt es wäre kein Problem im Krankenhaus zu schlafen, im Krankenhaus, in dem Krankenhaus, da isn Zimmer frei da ist ein Bett da kann ich drin schlafen auch, im Krankenhaus da wo der Arzt, also dann schlaf ich auch im Krankenhaus kein Problem. - Kann ich jetzt gehn?"

"Ja, also dann -"

"Ja, danke nochmal, tschüss, und gute Nacht, hermanos."

Als Peter und ich nach dreieinhalb Stunden Polizeiwache in Mainz endlich im Zug nach Koblenz sassen, muss ich genauso ein Gesicht gemacht haben wie jetzt, wo ich alleine, mit Rucksack und Schlafsack, über diese Wiese gehe. Bullen sind doch alle gleich...

Das Raumschiff rauschte durch die Nacht.

Der Arzt staunt nicht schlecht, als ich ihn wieder aus dem Bett hole und ihn bitte, nochmal das Krankenhaus aufzuschliessen. Bei der Gelegenheit erfahre ich von einem anderen Honduraner, mit dem ich mich noch lang in der Nacht unterhalte, was der Grund des nächtlichen Besuchs gewesen sein könnte: in Bataya scheint ein Engländer Remmi-Demmi gemacht und sich mit den autoridades angelegt zu haben, und die hier dachten jetzt wohl, ich wär sein Kumpel. Etwas weiter flussaufwärts solls ne Menge Goldschürfer-gringos geben, Tourismus gibts hier nicht.

Wäre wohl am besten, mich in den folgenden grösseren Orten freiwillig den Militärs vorzustellen... allein durch die Gegend gelaufen zu kommen sei doch immer etwas verdächtig, meint Dr. Hesmith. Es sei sehr wahrscheinlich, dass ich in der Gegend, wo ich hinwollte, noch öfter kontrolliert würde.

Am nächsten Morgen tuckere ich im Boot, halb sieben, langsam an Plaplaya vorbei, durch die Ibans-Lagune, nicht ganz bis Río Plátano, sondern bis kurz davor, irgendeine Siedlung, und ich laufe wieder am Strand entlang. Das ist witzig: auf einmal bin ich aus Afrika raus und bei Indianern in Amerika, gar nicht weit von der Stelle, wo Kolumbus das amerikanische Festland "entdeckt" haben soll[22]. Reinrassige Indianer sind es hier aber auch nicht, recht vermischt mit den Schwarzen, ausserdem soll es ein Mischgebiet von drei verschiedenen Indianerstämmen sein[23]. Ich weiss nicht, welcher Witzbold es gewesen ist, der mir gesagt hat, bis Río Plátano seiens anderthalb Stunden, nee, auch nicht mit starkem Rückenwind.

Zwei kommen mir entgegen.

"Hey, hombre, aus Cocowila ?!" - Ein Ortsschild war nicht dran, aber das wirds wohl gewesen sein.

"Hast guten Weg gemacht, du musst da um - halb acht losgegangen sein."

"Ja, kommt gut hin. Die haben mir gesagt, es seien eine bis anderthalb Stunden bis Río Plátano."

"Nee, nee, das ist mehr als ne Stunde, wer hat dir denn das erzählt, mit deinem Gepäck läufst du dreieinhalb. Du nimmst nicht das carro? Die gringos nehmen immer das carro."

"¿Carro? Gibts da n carro?"

"Ja, die ham da n carro, da fahrn sie immer zwischen Cocowila und Río Plátano hin und her, kostet vielleicht ein Lempira, nicht mehr."

Könnte sich um einen umgebauten Lkw, einen Jeep oder einen Pick-up handeln.

"Ich mag aber gerne zu Fuss gehen."

"Ja, das finden wir gut, wir gehen ja auch zu Fuss.", freut er sich.

"Wie weit isn das jetzt noch bis Río Plátano?"

"Río Plátano. Das kommt - du siehst dahinten im Dunst die zwei auffälligen Kokospalmen? Da fangen die ersten Häuser an, und der Fluss kommt dann auch gleich."

"Na, dann lauf ich ja dann nicht mehr weit."

"Nee, weit läufst du nicht mehr..." - Adiós, que le vaya bien, alles Gute auf dem Weg.

Der Wind ist ein bisschen stärker geworden, und das Meer wird auch wieder rauher. Ja, logo, sobalds irgendwo n Auto gibt, haben die Kerle keine Ahnung mehr, wie weit die Strecken zu Fuss sind. Aber das ist schon selten, dass ich die gesagte Zeit verdreifachen muss, um auf die wirkliche Laufzeit zu kommen, normalerweise muss ich immer die Hälfte dazuaddieren. Die Leute, die selber laufen, wissen die Zeiten genauer. Nur einmal vor Tocamacho haben sie mir einmal zwei Stunden zuviel vorausgesagt, aber normalerweise werden die Entfernungen von der Bevölkerung unterschätzt. Nur dieser Indianer von eben...

... hey, was war denn das? "Du siehst dahinten die zwei Kokospalmen -", das war nicht die Art, wie mir seit den USA der Weg beschrieben wird. Normalerweise sagen sie dir in dieser Situation, "ja, das ist nicht mehr weit, nach Cocowila ist es weit, aber Río Plátano ist nah, immer am Strand lang", und bei den Zeitangaben rechnet nie jemand mein Gepäck mit ein. Nur seine Zeitangabe war mit Gepäck, und stimmte genau.

"Du siehst im Dunst die zwei Palmen" - oh, das war eine andere Qualität, das war ein Indianer, der ein anderes Verhältnis zu seiner Umgebung hatte. Okay, es gehört nicht viel dazu, am Karibikstrand den Weg zu beschreiben, aber hat er nicht schon allein mit seinen zwei Palmen gezeigt, dass er einen Blick für seinen Weg hat? Ich habe ihn nur gefragt, wie weit es noch ist, und er bietet mir seine zwei Palmen an. Die fallen auch nur von weiter weg auf, kommt man näher ran, gehen sie unter im Wald der anderen Palmen auf den Dünen.

Es sind die Kleinigkeiten, die mir auffallen, je länger ich darüber nachdenke. Dann fand er es gut, dass ich zu Fuss geh. Egal wohin ich komme, ob in den USA oder in Lateinamerika: keiner versteht es, dass ich nichts dagegen hab, auch mal eine Strecke zu Fuss zu gehen. Besonders, wo es Busse gibt, checkt es kein Mensch, warum du nicht den Bus nehmen willst. Zu Fuss gehen wird von den Leuten wirklich als die hinterletzte Möglichkeit empfunden, von einem Ort zum anderen zu kommen. Wer zu Fuss gehen muss, ist schon wirklich arm dran. In den Bergen: ich frage nach dem Weg aus dem Dorf, und sie beschreiben mir genau den Weg zur Bushaltestelle. Fahr doch in die und die Stadt und nimm das Passagierboot, warum nimmst du nicht das Flugzeug, wenn du nach Peru willst.

"Wir gehen ja auch zu Fuss", meinte er, so ein Gedanke begegnet mir selten. Und so beschränken sich die Wegbeschreibungen der Leute auch meist auf die Wörter "noch weit" oder "nah", abschätzen wie lange du läufst kann niemand, der Weg scheint der Feind der Leute zu sein. Doch, das war was ganz anderes, dieser Indianer hat ein gutes Verhältnis zu seinem Weg gehabt, das ist ganz was seltenes.

Ich sinnierte noch ein wenig drüber nach und kam zu der überraschenden Erkenntnis, dass ich eine solche Situation das letzte Mal im Januar 1987 erlebt hatte.

Peter von der Südküste, Österreicher, Einsiedler in der abgelegenen Tripití-Schlucht in Kreta. Er hatte Edgar und mir zunächst spontan geraten umzukehren, dann aber gesehen, dass ich doch einige Erfahrung in Kretas Bergen hatte und uns dann eine Wegbeschreibung gegeben, wie sie in Europa wohl nur ein Österreicher bringen könnte. Er hatte unser Gepäck gesehen und richtig abgeschätzt, bis zu welcher Schlucht wir an diesem Tag noch kommen würden. Er kannte den Weg, und der Weg war sein Freund.

Genauso wie die zwei Kokospalmen die Freunde des Indianers sind.

Ein Junge bringt mich im Einbaum über den Río Plátano. Es hat eine Art Restaurant hier im Ort, wo ich Essen bekomme, und bald finde ich mich an einer tienda wieder (Laden mit Tresen), mal sehn, ob mir die Leute ein bisschen Mískito beibringen können.

"Mískito, ist das schwer?", frage ich.

"Nein, Mískito ist keine so schwere Sprache. Es gibt andere Indianersprachen hier in der Gegend, die sind schwer, aber Mískito soll recht einfach zu lernen sein."

Der Verkäufer selbst spricht sehr wenig Mískito, seine Frau auch nicht so gut, einige Kinder drumrum wissen mehr. Okay, was Gescheites wird das jetzt wohl nicht werden, aber für diesen Zweck gibt es ja die "Rüdi-Liste", hundert Vokabeln, die wichtigsten, die Rüdiger Nehberg in solchen Situationen vorschlägt.

Die Leute. Es ist eine bunte Mischung aus Mestizen, Schwarzen, Mulatten, verschiedenen Indianern und Kreolen (Mischung zwischen Schwarzen und Indianern). Gut. Die Wörter wie Sonne, Frau, Fisch, klein und schlafen kriegen sie vereint noch gut raus, bei links und rechts haben sie schon Schwierigkeiten, und dann die Zahlen. Die Kinder kommen bis vier, immer wieder kommen Leute vorbei und werden auch gefragt. Einer weiss, was fünf heisst; einer kommt bis sieben, und schliesslich sind wir bei zehn, das heisst matawhal sip. Einen Älteren rufen sie herbei. Die Zahlen ab elf zu fragen, gebe ich auf, aber vielleicht weiss er, was zwanzig heisst.

"Wir gebrauchen die nicht, wir nehmen immer die spanischen Zahlen, weil die einfacher sind. Für zwanzig müssten wir in Mískito viermal hintereinander sagen matawhal sip", machts vor und klatscht dabei im Takt in die Hände, "und für die grösseren Zahlen würde sich der Aufwand nicht mehr lohnen."

Ich habe später noch andere Versionen gehört, was zwanzig heissen könnte...

Ein Kreole kommt zum zweiten Mal vorbei, scheint das aber wohl verdächtig zu finden, dass ich die Wörter wissen will. Zwei schwierigere Wörter weiss er, und dann, am Wort für "Gegenteil", entzündet sich eine Diskussion, warum ich denn gerade hier diese Sprache lernen will.

"Wenn du Mískito lernen willst, kannst du in die Hauptstadt nach Tegucigalpa gehen, und einen sieben-Tage-Kursus nehmen am öffentlichen Institut für..."

"Aber er will sich doch hier mit den Leuten unterhalten", meint der Verkäufer der tienda, "vielleicht sprechen da, wo er hinwill, einige kein Spanisch, da können wir ihm doch einige Wörter sagen, meinst du nicht?"

"Hm."

Na, ganz überzeugt ist er nicht, aber schliesslich sagt er, nun aber die Sicherheit eines Lehrers ausstrahlend, bevor er abgeht, das Wort, rangtara, aha, sagen die anderen, und ich schreibe es auf. Es war falsch.

Der Wind ist jetzt ganz schön stark geworden und hat nach Norden gedreht, und ich laufe wieder am Strand. Der nächste Ort soll Tusi Cocal sein. Zwei, drei Wörter sind schon hängengeblieben, aber bis ich Mískito kann, wirds wohl noch eine Weile dauern...

Die Fischer bei der Mündung der Brus-Lagune haben es gar nicht so leicht, den Einbaum gegen den vom Meer wehenden Nordwest-Wind zu halten, als sie mit mir ans andere Ufer paddeln, damit ich weiter nach Tusi Cocal gehen kann.

Und weiter, eine halbe Stunde, und noch eine halbe Stunde... ganz schön weit ist das. Ich habe keine Uhr, muss mich immer nach der Sonne orientieren.

Es ist eine einzige Sanddüne, nicht breiter als fünfzig Meter, die jetzt über etliche Kilometer das karibische Meer von der Brus-Lagune (Brackwasser) abgrenzt. Ein wenig Gebüsch und natürlich lauter Kokospalmen wachsen darauf. Ich laufe aber weiterhin unten am Karibik-Sandstrand, also auf der Windseite.

Ob das Meer wohl auch mal rüberschwappt? Nein, bestimmt nicht, Sturmflut gibt hier wohl nicht. In den Lagunen wie der von Ibans oder Brus gibt es Brackwasserfische, die sind recht beliebt, werden sogar ausgeführt, nach Guatemala und Mexico, in Salz konserviert. Die Leute, die an den Lagunen wohnen, sind anscheinend etwas wohlhabender als die Garífuna, die davor wohnten. Junge, das ist ganz schön weit, dieses Tusi Cocal.

Ich muss mir mal endlich was überlegen, weil das blöde Visum abgelaufen ist. So ein Müll. Aber irgendwas fällt mir da schon noch ein... wär ja gelacht. Mal sehen, wie gehe ich das Problem am besten an... also vier Tage Visum, das sind genau vier Tage Visum... Visumszettel... gelb... gelber Visumszettel... warum ausgerechnet gelb... wie die Raumschiffe von der Vogonen-Flotte... Kommandant Prostetnic Vogon Jeltz[24]... mist, ich komm nicht weiter, ich hab mich in meine Gedanken verrannt.

Teufel, muss das so weit sein. Die Wellen des Meeres sind ganz schön gross geworden, kommen weit vor auf den Sand, und der Sturm kommt immer mehr von Norden, also genau vom Meer. Allzu lange dauerts wohl nicht mehr bis zur Dämmerung, oder besser, bis zum Licht-Ausgehen, hier ist ja nicht viel mit Dämmerung. Fünf Minuten dauert das hier, und dann ist es dunkel.

Von Norden kommen Wolken. Ich gehe immer weiter. Der Schlafsack liegt schon völlig schief zwischen Nacken und Rucksack, und wird zum Grossteil nur vom Wind gehalten. Der pfeift ganz schön durch die Palmen. So, bald wird jetzt das Licht ausgehn, noch zehn Minuten... nur noch fünf Minuten...

Tusi Cocal!

Geschafft, gerade noch bei Tag, das ist gut! Ich gehe zum ersten Haus, es sind Mestizen, sie sprechen Spanisch, ich bekomme ein wenig zu essen, überall Sand, und natürlich haben sie einen Platz für mich für die Nacht. Heute eine Nacht bei Sandsturm.

Auch am nächsten Morgen bekomme ich Frühstück, und ich teste mal an, wie das Wetter werden könnte. Heute bewölkt, etwas kälter, aber der Wind hat kein bisschen nachgelassen.

"Du willst los, bei diesem Wetter?"

"Ja, oder meint ihr, es wird regnen?"

"Regnen - wird das wohl nicht. Der Wind trägt nicht viel Wasser."

Sechs Stunden, heute wohl sieben, meint er, bis Barra Patuca, Mündungsort des wohl grössten Flusses von Zentralamerika.

Vierter Tag am Strand. Ich werde neun Stunden laufen. Einmal begegne ich zwei Leuten, und dann allein. Kurze Hose und barfuss. Die Sonne scheint eh nicht, es ist eher kühl. Nicht in Schuhen, wie gestern, oder in Socken, wie vorgestern (wegen der Sonnenbrand-Gefahr auf den Füssen), heute geht es barfuss.

Aufgewühltes Meer, weite Dünung. Nach ein paar Stunden habe ich am Vormittag die Brus-Lagune hinter mir, jetzt ist wieder dieses undefinierbare Sumpf- oder Grasland hinter den Dünen, mit den Moskitos. Die nächste Lagune ist erst wieder die von Caratasca, die kommt aber erst weit hinter Barra Patuca.

Von Barra Patuca wirds wohl ne Verbindung ins Land geben, flussaufwärts, da gibts bestimmt Boote. In Barra Patuca werde ich aber erstmal zu den Militärs gehen und mich vorstellen. Doch, das werde ich machen; das mit dem Visum werden die wohl auch nicht checken. Wenn die fragen, was die 04 días zu bedeuten haben auf dem Schein, kann ich ihnen ja irgendwas erzählen... ach stimmt ja, ich muss mir ja nochmal was überlegen.

Verdammt, laufen die Wellen jetzt weit aus. Je weiter ich mich der Mündung des grossen Flusses nähere, desto mehr Ziviliationsmüll, Äste und Baumstämme liegen am Strand, und wenn das Meer soweit raufkommt und mir um die Füsse spült, habe ich ziemlich viel Zeugs in der Gischt. Ab und zu nimmt das Meer ein paar Äste mit zu sich rein. Da steckt ganz schön Kraft dahinter.

Einmal pass ich nicht voll auf, das Meer kommt wieder vor, und da haut es mir auch schon zwei dicke Knüppel auf die vordere Sehne vom linken Fuss. Ah!! - Anhalten, hin zur Düne gehn, hinsetzen, untersuchen. Zum Glück nichts kaputt. Ouh, mann, das ist fei scheissgefährlich! Ich bin allein, und bei dem Wetter (einige Regenschauer kommen jetzt auch runter) kann ich lange warten, bis da einer vorbeikommt. Weiter oben auf dem Sand kann ich nicht gehen, da sinke ich zu sehr ein, vorwärts komme ich nur auf dem nassen Sand vorne an der Brandung. Also voll aufpassen, wenn die Welle kommt, und nicht einfach weitertrotteln.

Sonst ist es ja gar nicht so mies, das Meer: hat es vorgestern noch gut gekühlt in der Hitze, gibt es bei dem kühlen, stürmischen Wetter heute sogar ein bisschen Wärme an die Beine. Und von den fünfunddreissig Mückenstichen aus Limón spüre ich auch schon lange nichts mehr.

Die Wellen sind jetzt riesig gross geworden, laufen immer weiter zurück, und kommen auch immer weiter vor, bis fast zu den Dünen. Gestern waren es zwei bis drei weisse Wellenkämme hintereinander, die dem Strand entgegenrauschten, am späten Nachmittag auch mal vier. Heute überschlagen sie sich schon weit draussen im Meer, ich zähle fünf, sechs, manchmal sogar sieben Wellenkämme da draussen. Auch der Abstand zwischen zwei Wellen ist jetzt bald eine halbe Minute lang und beträgt bestimmt über hundert Meter. Aber nicht alle Wellen sind gleich gross und kommen bis ganz zu mir hoch, wo ich laufe. So bekomme ich wieder Zeit, mich in meine Gedanken mit dem Visum zu vertiefen, bis die nächste grössere Welle kommt.

Fälschen!

Ich Depp, warum bin ich da nicht früher draufgekommen?! Wenn ich irgendwo Blaupapier auftreiben könnte, dürfte es doch keine Schwierigkeit sein, aus den 04 Tagen 104 oder 164 zu machen - fünfeinhalb Monate. Oder 04 Monate, die Tage einfach durchstreichen. Genau, und schon haben wir keine Probleme mehr in Honduras. Ha, und die Jungs in Nicaragua bekommen ein documento, dass ich hier für die "Solidaritätsgruppe Nicaragua libre" arbeite, mit Siegel und Unterschrift, genau, mehr als von der Grenze zurückschicken, weil ich kein Visum aus Tegucigalpa habe, können die mich auch nicht. Echt, auf die einfachsten Sachen kommt man nicht. Für sowas hab ich doch ne Hand, und Unterschriften imitieren lernt man in der Schule.

Einige Kilometer vor dem Leuchtturm entfernt sich die Küstenlinie immer weiter von den Dünen. Zwischen dem Ufer und den Kokospalmen schiebt sich eine immer breiter werdende Sandbank. Ich folge der Küstenlinie, gehe weiter direkt am Wasser, und komme langsam auf den Leuchtturm zu. Als ich den vielleicht zehn Meter hohen, rot-weissen Leuchtturm erreiche, fällt mir auf, dass der Leuchtturmsockel bei Hochwasser offensichtlich bis zu einem Meter überspült wird. Dann müsste der Leuchtturm ja bei Hochwasser ganz im Wasser stehen. Ich gehe weiter, wieder auf die grüne Dünenlinie zu, erreiche die irgendwann, aber es ist kein schöner Sandstrand mehr da, sondern das Meer brandet hier direkt gegen die Büsche am Ufer.

Ich gehe hin und schaue mir das an. Lauter Treibholz im stürmisch aufgewühlten Wasser, es ist zwar meist nur knietief, aber die Wellenbewegung ist unberechenbar, da durchzugehen wäre lebensgefährlich.

"He, hallo, was machst du denn hier!?" - sage ich zu der Kuh mit den langen Hörnern, die kurz aus dem Busch herausschaut, mich mustert, und wieder im Busch verschwindet. Spricht wohl kein Deutsch...

Durch den Busch sind offensichtlich keine Wege, nur paar blöde Kuhpfade. Ich geh lieber nicht in den Busch, wer weiss, ob die Rinder mit den grossen Hörnern wirklich alle weiblich sind. Und genau jetzt mache ich einen Fehler.

Wieder zurück zum Leuchtturm gehen, ich muss zurück zum Leuchtturm, also nochmal auf die Sandbank vor. Es muss der falsche Weg gewesen sein, ich muss wieder zurück und den richtigen Weg suchen. Der muss vielleicht schon drei oder vier Kilometer vor dem Leuchtturm, wo der Strand langsam in die Sandbank überging, abgezweigt haben. Irgendwo dort muss es wohl auch einen anderen Weg nach Barra Patuca gegeben haben.

Ich merke, dass es nicht nur ein paar hundert Meter waren, die ich eben gegangen war, vom Leuchtturm zu den Büschen, sondern zwei oder drei Kilometer. Das hatte ich gar nicht registriert. Ich mache ein paarmal einen Punkt in einiger Entfernung aus, schätze wieweit der Weg ist, gehe hin, und merke, dass ich die Entfernungen hier ganz gewaltig unterschätze.

Das Meer scheint irgendwie langsam zu steigen. Hoffentlich nicht zu schnell. Die Sandbank liegt nicht ganz trocken, hin und wieder sind grössere Pfützen oder Lagunen dazwischen. Diese Sandbank-Lagunen zwischen der Küste und der Leuchtturm-Sandbank waren aber eben bestimmt noch nicht so tief unter Wasser, das weiss ich noch genau. Hey, das muss um zehn Zentimeter gestiegen sein in den paar Minuten! - Paar Minuten? Waren es wirklich nur ein paar Minuten? Wie lange habe ich an den Büschen gestanden? Wann kam die Kuh? Es muss weit über zwanzig Minuten gewesen sein.

Nein, warte mal, es sind auch mehr als zehn Zentimeter. Diese dicken Knochen waren eben noch bestimmt zehn Zentimeter über dem Wasserspiegel. Und jetzt steht hier das Wasser einen halben Finger hoch. Soll ich zurück zu den Kühen? Nein, ich muss zum Leuchtturm, sonst finde ich meinen Weg nicht mehr, den ich hergekommen bin!

Scheisse, das Wasser steigt tatsächlich immer weiter! Ich renne zum Leuchtturm, renne die Sandbänke entlang, renne platschend durch das knöcheltiefe Wasser. Barfuss geht das aber ganz gut. Die Leuchtturm-Sandbank ist noch nicht unter Wasser. Es fehlt noch ein halber Meter.

Ausser Atem, aber ich habe den Leuchtturm erreicht! Von wo bin ich vorhin hierhergekommen, ah, genau, von hier, da sind meine Fussspuren, also am besten gleich weiter, den Weg zurück, oder? - Nein, stopp, vorsichtig sein, keine Panik, erst den Leuchtturm genau untersuchen. Muschelbesatz bis einen Meter über dem Sockel. Dickes, rot-weiss angemaltes Eisengerüst. Wenn mich die Flut hier erwischen würde, könnte ich, wenn ich gut bin, mich da oben vielleicht auf ein paar Querstangen setzen. Aber es gibt leider keine Stangen, an denen ich raufklettern könnte. Ich glaube, dieser Leuchtturm taugt nicht, um sich zu retten, erst recht hat er keine Schlafmöglichkeit. Halt, warte, noch nicht weiter.

Jetzt muss ich noch zum Sandbank-Strand gehen da vorne, wo ich vorhin war und mir die Muscheln und den ganzen Zivilisationsmüll angeschaut hab, um da nachzusehen, wie hoch der aktuelle Wasserstand ist. Mann, das sind auch wieder über fünfhundert Meter dahin. Mist, meine Rechnung mit den drei bis vier Kilometern, wo der Strand in die Sandbank überging, haut nicht mehr hin. Das müssen etwa sieben bis acht Kilometer oder mehr gewesen sein, wenn das hier schon fünfhundert Meter sind. Ich renne über die Sandbank, zähle dabei die Schritte, messe einmal ab, wie lang ein Schritt ist, renne weiter, verjage dabei die Vögel, die zwischen dem ganzen Schutt, Muscheln und vertrockneten Algen hier ihre Würmer aus dem Sand holen und die Fliegen fangen. Tut mir leid, Vögel, soll nicht wieder vorkommen. Ich erreiche das Wasser, es ist vielleicht fünfzehn bis zwanzig Zentimeter höher als vorhin.

Ich gehe zurück, Richtung Leuchtturm, und rechne aus, dass das vor etwas über einer Stunde gewesen sein muss. Fünfzehn Zentimeter in einer Stunde. Ausserdem lerne ich endlich, die Entfernungen richtig zu schätzen hier, es waren tatsächlich etwa vierhundertfünfzig Meter.

Aber da, was ist das? Fussspuren! Das sind nicht meine, diese sind kleiner, von einer Frau oder einem grösseren Kind. Und da, von einem kleineren Kind eine. Die waren zu zweit. Es war eine Frau, die Spur ist vergleichsweise tiefer, die beiden hatten nicht das gleiche Gewicht. Ich muss sie verfolgen. Sie scheinen Strandgut gesucht zu haben, die Spuren gehen kreuz und quer. Bei der Schrittlänge gingen die höchstens vier Stundenkilometer. Hier, endlich eine Spur auf Feinsand: Es sind keine Regentropfen auf den Spuren. Da es vor drei Stunden aufgehört hat zu regnen, muss die Spur jünger sein. Die müssen eine Stunde vor mir dagewesen sein. Es muss einen direkten Weg zur Küste geben, nicht den Weg entlang, den ich gekommen bin, sonst hätte ich die irgendwie mal sehen müssen. Die müssen von hier direkt zur Küste gegangen sein.

Bloss wo lang genau? Zwischen hier und der Küste sind es über drei Kilometer und alles ist voll mit irgendwelchen riesigen Wasserpfützen, durch die kein Kind kommt. Es muss einen Weg geben. Selbst wenn das Wasser in drei Stunden drei mal fünfzehn Zentimeter gleich fünfundvierzig Zentimeter gestiegen ist, es muss einen Weg geben, den ein Kind, das einen Meter kleiner ist als ich, vor drei Stunden noch passieren konnte. Die wussten ja, dass das Meer kommen würde.

Es ist jetzt etwa früher Nachmittag, Sonne ist keine da, der Sturm wird auch immer stärker. Soll ich den bekannten Weg zurückgehen? Sieben bis acht Kilometer, das wäre etwa eine Stunde, das Wasser wäre nachher sechzig Zentimeter höher als vorhin. Soweit ich mich erinnere, waren da vorhin sogar schon einige wenige Stellen, die knöcheltief unter Wasser waren. Zwei oder drei waren das. Mindestens zwei. Wenn ich einen neuen Weg finde, von hier direkt zur Küste, könnte ich in einer halben Stunde da sein, wenn alles gut geht. Beides ist gleich gefährlich. Ich wage das zweite.

Wo würde ich von hier direkt zur Küste gehen? Dahinten, zwischen diese zwei Lagunen dahinten durch, anders geht es nicht. Ich renne hin, zähle dabei vierhundert Meter, und finde tatsächlich die Spuren! Ich hatte recht, die sind da zurückgegangen.

Sie verlieren sich aber bald wieder, weil das Wasser jetzt überall steigt, und in wenigen Minuten wird die Leuchtturm-Sandbank endgültig von der Küste abgeschnitten sein. Da hinten, wo der Busch ist, muss die Küste sein! Das sind weniger als zweitausend Meter. Ich muss so schnell wie möglich zur Küste, ans Land, egal wohin.

Diese Sandbänke hier sind zum Glück nicht sehr tief, ich kann durchwaten. Einige Stellen sind auch noch gar nicht unter Wasser, andere werden gerade überspült. Überall kommt jetzt das Wasser hoch, bilden sich Seen. Aber ich komme voran. Langsam, weil ich nicht direkt gehen kann, weil ich mir in diesen Seen nicht die tiefsten Stellen aussuchen darf. Weil es gefährlich ist, weil der Sand da oft nicht fest ist und ich einmal knietief darin einsinke. Nur noch achthundert Meter, noch sechshundert Meter... wieder muss ich um einen See herumgehn. Aber jetzt hat er verloren, es war der letzte dicke See, danach kommen noch paar Pfützen, danach ist es trocken, weil das Wasser bis hierhin noch nicht gekommen ist. Ich erreiche den Busch, püh, atme auf, das war knapp.

Hallo Kühe, wie gehts euch; schön, euch hier zu sehen. "Naxá, nachkismá...", als erstes hole ich meine Notizen aus Río Plátano heraus und begrüsse die Tiere, wie es sich hier gehört, auf Mískito. Und stelle fest, es sind ganz liebe Kühe. Wo Kühe sind, sind auch Kuhpfade.

Da sich auch die hiesigen Kühe freundlicherweise an die international geltenden Kuh-Infrastruktur-Regeln halten, finde ich schliesslich den Hauptpfad, und wenig später komme ich nach Barra Patuca, dort, wo ich wegen des Sturms vier Tage verbringen werde, ich gehe etwas durch den Ort. Ein bisschen stolz, aber ganz schön fertig.

Barra Patuca. Wirklich ein Unterschied zu den Orten vorher. Die Holzhäuser bauen sie hier auf Pfählen, die meisten mit Wellblechdächern. Vor einem Haus sprechen zwei mich an, auf Spanisch, was ich suche und so.

"Ich - suche - äh - einen Ort -"

"Einen Ort zum bleiben, zum schlafen, für die Nacht? Du bist neu hier?"

"Jäh-... äh, ja."

"In diesem Haus kannst du schlafen, wenn du willst, andere schlafen hier auch, wenn sie auf der Durchreise sind."

Ja, so ne Art Pension gibts in den Orten immer, in der Regel sind die recht teuer, so zwanzig Mark oder was, ich sag, dass ich nicht soviel Geld habe. Er überlegt nicht lange:

"Auch wenn du nicht bezahlen kannst, kannst du hier schlafen. Wir schlafen hier auch."

Wo ich hinwill, wie ich hier hergekommen bin.

"Oh, der Pfad führt schon weit vorher vom Strand ab", sagt eine junge Frau, die den Weg kennt, als sie hört, dass ich über den Leuchtturm gekommen bin, "da hast du bestimmt anderthalb Stunden verloren."

Sie lädt mich spontan zum Abendessen in ihr Haus ein. Ich bin überrascht von der Selbstverständlichkeit dabei, denn das wäre bei den Mestizen oder in Mexico undenkbar, von der Geschlechterrolle her. Reis gibt es, und gebratene süsse Bananen, dazu ein bisschen Schweinefleisch, von den kleinen Schweinen wohl, die überall herumlaufen. Ich komme ins überlegen... - zu was für einer Rasse gehören eigentlich die Menschen hier?

Indianer sind es ja irgendwie nicht, die sind heller, haben glattes schwarzes Haar, mit som chinesischen Einschlag im Gesicht. Afrikanische Schwarze und deren Mischungen haben aber krause Haare, die haben die hier auch nicht... viele haben hier braune Haare, und die Gesichter von Europäern, von Griechen vielleicht... nur die Hautfarbe ist sehr dunkel... Einer, der mich einlädt, heisst Isidro Trapp, hat also einen deutschen Nachnamen. Sehr verdächtig. Aber woher, weiss er auch nicht. Ach was, das sind hier wahrscheinlich einfach nur Menschen, Menschen sehen halt so aus.

Sie selber unterhalten sich in Mískito, also in einer Indianersprache. Mískitu heisst "Fischer", erklären sie mir. Das klingt logisch: den Fischen ist es ja auch egal, welcher Rasse die Leute angehören, Hauptsache, sie können fischen.

Also gut, ich muss es akzeptieren, auch wenn ich sie mir anders vorgestellt habe: es sind Mískito-Indianer.

Mískito ist also eine Sache, die zwischen Fischen und Menschen abgeht, da werden die unwichtigen Fragen, die zwischen den verschiedenen Menschen untereinander abgehn, notfalls vernachlässigt.

Offensichtlich auch die Geschlechterrollen unter den Menschen; wahrscheinlich haben die Mískitos die Erfahrung gemacht, dass das die Fische auch nicht im geringsten interessiert, wer hier wen in wessen Haus einlädt.

Ich besuche die einzige Ausländerin, die am Ort lebt: im centre salud die Krankenschwester kommt aus Japan, ist seit fast einem Jahr hier und hat noch 2 Monate. Es muss schön sein, in dieser netten Gegend Krankenschwester zu sein. Sie macht einen sehr ausgeglichenen Eindruck. Manchmal sei es ein bisschen langweilig, aber die Leute sind nett, meint sie.

Doch, hier bin ich woanders hingekommen. Sie fragen mich gar nicht, ob ich vielleicht Hunger habe, sie geben mir einfach zu essen. Und abseits von Touristenorten ist es immer erfrischend zu hören, wenn sie "Frankreich" oder "Holland" schätzen, wo ich vielleicht herkomme, oder wenigstens "Kanada": sie belohnen damit mein Spanisch, sie hören raus, dass ich offenbar kein US-gringo bin. In den meisten Gegenden Lateinamerikas bin ich mit meiner weissen Hautfarbe automatisch der gringo aus den Estados Unidos, und genauso ist die Japanerin überall die Chinesin, auch wenn sie allen Leuten dreimal erklärt, Japan sei was anderes als China.

Sie bemühen sich um mich: einer geht mit mir zur comandancia - das sind die Militärs. Ihr Chef ist auch Mískito-Indianer, zu tun haben sie hier wohl auch nicht viel. Natürlich checkt auch er das mit dem Visum nicht, vorerst werde ich da mal noch nichts dran rumfälschen. Es kommt hier mehr darauf an, einen überzeugenden Eindruck zu machen, die Papiere seien in Ordnung.

Aber wer jetzt denkt, ich bin froh, dass er das mit dem Visum nicht gecheckt hat, tschüss, und geh erleichtert raus, die haben wieder mal ihre Lektion nicht gelernt.

"Ich will weiter flussaufwärts, nach Wampusirpi und Wampú, und dann nach Auasbila über die Berge, und da haben sie mir in Limón gesagt, als ich mich dort vorgestellt habe, dass sie mir hier in Barra Patuca ein documento ausschreiben sollen, dass ich mich hier vorgestellt habe, dass ich da und da hinwill... dass alles seine Ordnung hat..."

Nickt er, ja, das macht er schon, hat ja eine wichtige Aufgabe hier. Ich schreibe ihm noch Name und Vorname vor, und er schreibt ganz schön lange an den sieben Zeilen rum.

Alles, was rauszuholen geht. Doch, das war keine schlechte Idee von mir. Wenn sie irgendwo pampig werden wegen dem Visum, kann ich immer sagen, dass ich das nicht gewusst hätte, und dass die Militärs in den Krisenregionen, bei denen ich mich immer brav vorgestellt hätte, immer gesagt hätten, dass alles in Ordnung sei.

"So, diesen Zettel zeigst du vor, du musst dich in Wampusirpi auch bei der comandancia vorstellen. Und wenn du weiter willst, sollen sie dir auch so einen Zettel ausschreiben."

Stempel haben sie leider nicht, und n paar Rechtschreibfehler sind auch drin. Es war wohl der Satz, "Ich schreibe ein Buch über die Mískito-Indianer", der ihn überzeugt hat.

Die Mískitos stammten wohl ursprünglich von südamerikanischen Chibcha-Stämmen ab und vermischten sich in Mittelamerika mit dortigen Indianern, Europäern und Westafrikanern, die um 1641 vor den Riffen Nicaraguas (Cayos Mosquitos) gestrandet waren und von den Indianern verschleppt wurden. Spaniern und Engländern war es nie gelungen, die Mosquitia zu unterwerfen.

Wampusirpi lag etwa hundert Kilometer im Landesinneren. Wie ich auf die Idee kam, den Militärs in Barra Patuca zu erzählen, dass ich ausgerechnet nach Wampusirpi wollte, weiss ich nicht mehr. Irgendwelche Leute in Barra Patuca mussten mir gesagt haben, der Weg an der Küste entlang sei nicht mehr so reizvoll und ich sollte lieber ins Innenland. Wampusirpi war in der Karte eingetragen, die ich mir in Limón abgepaust hatte. Oder es hatte sich einfach so ergeben auf der comandancia, dass sie mir den Satz, ich würde ein Buch über die Mískito-Indianer schreiben, durch ihre Fragen mehr oder weniger in den Mund gelegt hatten. Tatsache war, ich hatte gesagt, ich wollte ein Buch schreiben und deswegen ins Landesinnere.

Ausserdem war ich illegal in Honduras und konnte nicht mehr legal ausreisen. In Limón hatten sie gesagt, es gebe einen Grenzübergang am honduranischen Ende des Strandes, an der Mündung des Río Coco. Das bedeutete, es würde dort Grenzbeamte geben, und spätestens die würden sich mit gelben Visumszetteln auskennen und sehen, dass ich mein Visum überzogen hatte. Und nach Nicaragua käme ich ohne Visum von der Botschaft erst recht nicht rein. Es lag näher, irgendwo im kaum bewohnten Inneren des Landes illegal über die Grenze nach Nicaragua zu kommen. Der einzige Ort im Landesinneren, der am Río Coco lag und in den Karten eingetragen war, hiess Auasbila.

Nicht zuletzt hatte ich auf den Sandbänken am Leuchtturm einen gehörigen Respekt vor der Karibikküste bekommen. Und es war tatsächlich so, dass der Strand am anderen Ufer der Mündung des Patuca zwar weitergegangen wäre, aber bis zum nächsten kleinen Ort an der Caratasca-Lagune wäre es nun eine unglaublich lange Strecke von fünfzig Kilometern gewesen.

Die Leute in Barra Patuca waren alle sehr hilfsbereit und es ergab sich fast von alleine, dass sie mich auf den Weg ins Landesinnere brachten. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich brauchte nur zuzusehen, wohin mich mein Weg führte. Barra Patuca war einer der vertrauenswürdigsten und nettesten Orte, die ich auf meinen Reisen überhaupt kennengelernt hatte.

25

Und nachts hämmern die Spechte -

Bei den Mískito-Indianern in Honduras

Tuktuk nennen sie die langen Einbäume mit Motorantrieb, die vor allem Reis, Benzin und andere Waren auf dem Fluss transportieren. Alle warten den Sturm ab, aber am vierten Tag fährt ein Konvoi flussaufwärts, und Passagiere nehmen sie natürlich auch mit. Drei Tage und zwei Nächte sitze ich nun auf den Benzintonnen, jetzt fahrn wir übern Fluss, in die Mosquitia. Ab und zu Regen, da deckt man sich mit einer grossen Plastikplane zu, und sobald es dunkel wird, kommen in der Mosquitia die Mücken.

Nachts legen sie irgendwo am Flussufer an, und natürlich ist es möglich, auf einer Reihe liegender Benzinfässer zu schlafen. Ich wickel mich so dicht wie möglich in die Plastikplane ein, bleibe trocken, krieg fast keine Luft mehr, und erlebe ein Wunder der Natur: es ist zwar möglich, das Ding luftdicht zu kriegen, es ist aber nicht möglich, das Ding insektendicht zu kriegen. Alle zwei Minuten eine neue Mücke. Die zancudos, das sind die Malaria-Kandidaten. Ich hasse sie. Wie kommen die da bloss rein? Bestimmt mehr als dreissig zerklatsche ich blind in der Nacht, ich schlafe erst sehr spät ein. Am Morgen, wo es hell wird, wollen sie wieder raus, aber sie finden nicht raus aus der Plane, und ich nehme gnadenlos Rache. Jetzt wollen sie raus, aber jetzt ist es zu spät.

Ich komme in Wampusirpi an, bis dorthin fahren die tuktuks, es regnet in Strömen, aber diese miesen zancudos gibts in Wampusirpi zum Glück nicht.

Eines der ersten Wörter der Mískito-Sprache, die ich nachgeschlagen hatte, als sie in der Nähe von Auas angehalten und bei einem Bambus-Haus auf Pfählen Pause gemacht hatten, war yapaya. Schlafen. Infinitiv. Yapisna, ich schlafe. Oder wir schlafen. Die Mískitos kannten grundsätzlich keinen Plural. Und keine Geschlechter. Kein Wunder, dass die Sprache einfach war.

Brief Forum 5 (Februar 1988)

Dafür plaga, die verbreiten zwar keine Malaria, sind aber etwas direkter im Nehmen, und nach ein paar Tagen werde ich erstmal nicht mehr barfuss über die Pfade gehen: ganz kleine Fliege, setzt sich auf die Haut, beisst n Loch rein, wie Vampir, schlabbert drin rum und hinterlässt einfach ne offene Wunde. Hier in den Tropen infizierst du dich auch, wenn du nicht kratzt.

Sie verweisen mich an Elena, die zeigt mir, wo ich wohnen kann. Sie ist von Santiagos Familie, wohl eine von den Reicheren im Ort, sie stellen Käse her und haben nebenan ein Lagerhaus, das leer steht. Warum sie die Häuser auf Pfählen bauen, frage ich, aber keiner weiss es genau. Gewohnheit.

Wie in Barra Patuca begleitet mich auch hier einer zur comandancia - ich muss mich ja wieder bei den Militärs vorstellen und zeigen, dass mit meinen documentos alles in Ordnung ist. Das mit den vier Tagen Visum erkennen auch die nicht. Ich sag, dass ich vielleicht zwei oder drei Monate hier in der Gegend bleiben will, ja, meint er, ist okay. Dazu erzähl ich ihm noch, ich will ein bisschen stromaufwärts und von den Mískito-Indianern lernen, wie man Einbäume herstellt. Ernst hab ich das zu diesem Zeitpunkt nicht gemeint, aber irgendeine ausgefallene Geschichte musste ich ihnen ja erzählen. Zu meiner Überraschung meint er glatt, das ginge, ich soll im Ort mal nachfragen. Ey, das wär ja gut.

Wampusirpi.

"Buenos días, äh, sprechen Sie Spanisch?"

"Ja -"

Will wissen, was die von der Küste wollen, die sprechen hier doch auch alle Spanisch.

"Ich komme aus Deutschland, hab nicht viel Geld und suche hier Arbeit, ob es wohl möglich ist, mit einigen Leuten von hier in den Wald zu gehen und Einbäume zu hacken? Gibt es hier jemanden, der Einbäume macht?"

"Einbäume willst du hacken, kannst du das denn?"

"Naja, nicht so gut, glaub ich, ich wills halt hier lernen, deshalb bin ich hierhergekommen."

"Ja, ich kenn jemand, der Einbäume macht, Eliezar Zelaya, mein Onkel. Ich weiss, dass er demnächst loswill und Einbäume hacken, gehen wir halt mal hin und fragen ihn."

Zufällig das Haus neben Elena. Ganz schön steile Treppe nach oben ins Haus, einige Frauen sind da, und er: ich schätz ihn auf fünfzig oder sechzig, gezeichnetes Gesicht, lockige, schon bisschen graue Haare, ein alter Grieche, würde ich sagen, wenn er nicht die dunkle Hautfarbe der Mískitos hätte.

"Also, das ist er, erklärs ihm halt."

Okay - ich sprudel nochmal los, kein Geld, suche Arbeit, Einbäume hacken, kann ich zwar nicht so gut, würde ich gerne hier lernen... meine Story wird immer ausgefeilter, diesmal noch mit der Version, dass ich nach Deutschland zurückkehren will und dann dort den Leuten beibringen will, wie Einbäume gehackt werden..., "weil in Deutschland die Leute nicht wissen, wie man das macht, - äh...", der Mann reagiert kaum und ich schaue fragend den Jüngeren an, "spricht er überhaupt Spanisch?"

"Ein wenig... er verstehts, wenn du langsam redest... sprechen kann er nicht so gut."

Dideldi, also nochmal das Ganze. Im folgenden gibt es dann auch eine Unterhaltung mit Simultanübersetzung, Spanisch-Mískito. Ob es in Deutschland Bäume gibt, will er wissen, und Flüsse, und Meer... und vor allem, warum es da keine Einbäume gibt. Geld könne er mir nicht zahlen. Ach, was ist schon Geld, ich will ja was lernen, es reicht wenn Essen da ist, nix weiter. Wenige Worte fallen zwischen den beiden.

"Also, er sagt, dass er in den Berg will mit einigen Leuten, und Einbäume hacken. Wenn du willst, könntest du mit ihm mitkommen, aber er wird schon sehr bald aufbrechen, so in ein-zwei Tagen, ich weiss nicht, ob es dir so früh schon passt."

"Ich könnte eigentlich jederzeit los - wie lange will er denn im Berg bleiben?"

"Hm, naja, ich denke, schon ne ziemlich lange Zeit."

"Mehrere Monate?"

"Ja, so zwei, na, drei Monate schon."

Und er machts, und morgen oder übermorgen solls losgehn! Stark! Das gibts doch wohl nicht!

Halt, nee nee, nicht zu früh freuen. Wo ist da der Haken, ich kenn das doch, bei sowas gibts doch immer einen Haken. Ich suche jetzt den Haken. Mal nachdenken.

Eben. Gesagt haben sie zwar ja, aber irgendwie klang der Tonfall in der Stimme nicht ganz so überzeugend. Vor allem, was ihre Zeitplanung anging. Überhaupt hörte es sich nicht gerade so an, als wäre die Sache perfekt durchgeplant. Chaoten sind es aber auch nicht, dagegen spricht sein würdiges Alter. Vor allem aber sind es hier alles nette Leute, das ist nicht schwierig, das rauszuhören. Sogar die Militärs hier.

Was ich befürchte, scheint wohl einzutreten. Am nächsten Tag kann er noch nicht los, weil er noch keinen Proviant gekauft hat: er muss sich den Vorrat an Reis, Bohnen, Fett, Salz, Zucker, Kaffee und so erst zusammenstellen. Und am Tag darauf hat er zwar Provision gekauft, aber der Reis muss erst noch gestampft werden, und bei dem Regen geht das nicht.

Ich pendel in der Zeit immer zwischen seinem und Santiagos Haus hin und her, bekomme mal hier und mal dort Essen, und auch an den folgenden Tagen kann er erst "morgen oder übermorgen" los: erst fehlt Salz, dann hat der Fluss Hochwasser, sein Kumpel ist krank, morgen ist Sonntag...

Gut, dann halt morgen oder übermorgen. Die Frauen bringen mir in der Zeit ein bisschen Mískito bei. Das heisst, zum Grossteil bringe ich mir das natürlich selber bei. Es ist jetzt meine sechste Sprache, und langsam durchcheck ich das System dahinter. Was ist Sprache? Das Gerüst einer Sprache besteht hauptsächlich aus ziemlich vielen Vokabeln, die du dir alle reinziehn kannst, dann aus konjugierten Verben und ner Art, wie die Sätze zusammengebaut sind, hier: Subjekt - Objekt - Verb. Und weil ich die Leute ja nicht einfach fragen kann, "wie sindn die grammatischen Regeln?", muss ich das schon selber rauskriegen.

Äusserst geschickt habe ich mir deshalb ein paar Grammatik-Testsätze zusammengestellt, die sie mir einfach vom Spanischen ins Mískito zu übersetzen brauchen. Das grobe System durchsteig ich ziemlich schnell, Mískito ist tatsächlich eine einfache Sprache. Alle Wörter werden immer auf der ersten Silbe betont, egal wie lang sie sind. Solche Regeln gefallen mir.

Bestraft wirst du nur bei der dummen Geschichte mit den Possesivpronomen, also wenn du sagen willst: dies ist mein Gegenstand. Wie das geht, hab ich bis heute nicht raus. Im Gespräch fällt sowas nie.

Nach ein paar Tagen krieg ich schon ein bisschen mit, worums geht, wenn sie was sagen. Besonders, wenn die Frauen sich im Haus unterhalten, versteh ich bald schon ne ganze Menge.

Viel ist was anderes. Spanisch geht aber inzwischen ganz passabel, zumindest, wenn es um die alltäglichen Sachen geht.

Einer aus Spanien lebt am Ort, Don Ignacio, er arbeitet für die UNO-Unterorganisation Acnur[25] und betreut die nicaraguanischen Flüchtlinge, die hier im Lager ausserhalb des Ortes wohnen.

"Doch, du sprichst doch ganz gut Spanisch", meint er, obwohl sein europäisches Spanisch schon ein wenig anders klingt. Aber auf Französisch auszuweichen, wir probieren es einmal aus, lohnt sich nicht mehr.

Es gibt sogar Unterschiede zwischen honduranischem und mexikanischem Spanisch, die Lateinamerikaner hören das aus dem Tonfall raus. Mir fällts halt auf, wenn sie hier oder da mal ne andere Vokabel nehmen.

"Im Mískito gibt das grössere Unterschiede zwischen den Regionen", erklären mir die Frauen, "wenn du dich in Nicaragua mit Mískitos unterhalten wirst, werden die deutlich raushören, wo du die Sprache gelernt hast."

Das spricht dafür, dass es zwischen den einzelnen Siedlungsgebieten der Mískitos wohl nicht allzuviele Verkehrsverbindungen gibt, wenn sich da Dialekte rausbilden. Vielleicht liegt es daran, dass die Flüsse immer nur in eine Richtung fliessen, zum karibischen Meer, und das sind eben die Hauptverkehrwege.

"Tja, es gibt hier zur Zeit nicht genug Salz, er kann noch nicht los und Einbäume hacken. Was er machen wird, ist, dass er eine Woche flussaufwärts fährt und ein paar Bäume aussucht. Dann will er wiederkommen und dann endgültig zum Arbeiten rauffahren." - Sowas musste ja kommen.

"Hm, ich hätte schon Lust, eine Woche einfach mit raufzufahren, ich mein, wenn er genug Essen hat natürlich nur -"

"Ja, genug Essen hat er, nur viel machen wird er halt nicht."

"Würde das gehen, dass ich dann einfach so mitkommen kann?"

"Naja, wenn du willst, das geht schon, nur: gutes Essen gibt es nicht. Nur Reis, yuca, sixa und Fisch."

Sixa sind leicht süsse Bananen mit gelbem Fruchtfleisch. Wenn sie reif oder etwas überreif sind oder wenn sie gebraten werden, wird die Schale schwarz. Sixa ist das Wort für "schwarz".

Yuca ist Maniok, sieht wie ne kinderarmdicke Löwenzahnwurzel aus und schmeckt gekocht wie bisschen fade Kartoffeln. Ich vertrag das Essen hier sehr gut, im Gegensatz zu den Maisgerichten in Mexico.

"Morgen oder übermorgen geht es los." - Jaja.

Das Grundnahrungmittel der Mískito-Indianer ist Reis. Ich glaube, ich hätte mich schon gewundert, wenn ich das vorher irgendwo gelesen hätte. In Mexico ist das Hauptnahrungsmittel seit Jahrtausenden überall Mais, dort gibts praktisch jeden Tag tortillas. In Belize machen sie alles aus Kokosnüssen. Das tägliche Brot der Garífuna ist casave (die Maniok-Pflanze kommt auch aus Amerika, vermutlich sogar von hier), das sind also alles heimische Pflanzen, und ausgerechnet bei den Indianern im abgelegensten Gebiet, in der Mosquitia, gibts jeden Tag Reis, eine asiatische Pflanze.

Die Kinder in der Mosquitia sind aber, das fällt mir auch auf, viel besser ernährt als die der Garífuna. Die aufgeblähten Wasserbäuche (Bilder wie aus dem Sahel) haben die Indianer-Kinder hier nicht.[26]

Morgen oder übermorgen. Weil es wieder soviel regnet. Die Regenzeit endet etwa im Januar, bis April geht dann die Trockenzeit. Aber diesmal regnet es länger als sonst, es ist ja schon Februar.

Dann hat er kein Fett, er muss sich noch Fett kaufen. Das Fett beziehen sie aus der Seifenfabrik von La Ceiba, abgepackt in handlichen Stücken.

Auf den Reis-Säcken steht, Import aus USA, gestellt by the people of the Unites States, für die Flüchtlinge. Es steht extra drauf, dass dieser Reis nicht zum Verkauf bestimmt ist. Ich weiss nicht, ob der hier gehandelte Reis tatsächlich aus den USA kommt, oder ob sie nur die Säcke recyclen, denn angebaut wird er hier auch.

Bin ich froh, als ich nach nur zehn Tagen warten im Kanu flussaufwärts sitze. Wir sind also zu dritt: vorne Eliezar, den sie Indio nennen, in der Mitte ich, und hinten Primo, ein jüngerer Indianer. Die beiden stehen im Einbaum, vorne und hinten, und stemmen nun mit fünf Meter langen Holzstangen das Boot gegen die Strömung des Flusses. Das ganze wird auf Spanisch palancar genannt, die deutsche Vokabel dafür weiss ich nicht. Ich sage "staken" dazu[27].

Der Einbaum ist recht klein, vielleicht fünf Meter lang und einen halben Meter breit. Es ist ein Fluss-Einbaum, ein duri, auf Mískito, und auf Spanisch pipante. Es gibt Fluss-Einbäume und Meeres-Einbäume, die unterscheiden sich. Ich bin Einbaumfahren nicht gewohnt und habe am Anfang ganz schön Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Dieses palancar geht nicht besonders schnell, aber sie kommen vorwärts damit, und das Wetter hält sich auch. Der Fluss ist unterschiedlich breit, an einigen Stellen mehrere hundert Meter, aber wo er schneller fliesst, verengt er sich. Das Kanu wird natürlich nur am Ufer entlang geführt, nicht in der Mitte des Stromes.

An einer Kiesbank halten sie an, Indio hat im Fluss ein totes Krokodil entdeckt, erschossen, etwa sechs Jahre alt. Er untersucht es, misst es ab, der Panzer ist noch gut.

"Hier gibt es viele, überall kommen die vor. Von allein können die nicht sterben. Sechs Fuss - das ist klein.", meint er, schärft mein Taschenmesser und nimmt dem Reptil vorsichtig den Panzer ab.

"Zum verkaufen, gell?"

"Ja, in Barra Patuca, einige gringos aus den USA kaufen die."

"Wieviel ist so eins wert?"

"Etwa dreissig Pesos -", dieses verschmitzte Lächeln hat er öfter drauf.

Mit Pesos meinte er die honduranische Währung, Lempira, also zwanzig Mark. Dann wirds in die USA geschmuggelt, zu Krokodilledertaschen verarbeitet und dann an Leute verkauft, die etwas mehr als fünfzehn Dollar dafür zahlen können...

Wir essen derweil Mittag. Reis, yuca und Bohnen. Gasolina - Benzin, meinte Primo zu mir, als er beim Ablegen noch die Schüssel mit den Bohnen ins Kanu gelegt hatte. Moderne japanische Benzinmotoren können sich hier die wenigsten leisten, die Kanus der ärmeren Leute fahren mit Muskelantrieb. Am Anfang denke ich noch, es ist für sie Arbeit, mich hier durch die Gegend zu fahren. Ich biete Primo an, ihn mal abzulösen.

"Ich weiss nicht", meint er gleichgültig.

Ich bewundere die Selbstverständlichkeit und die Ausdauer, mit der sie das Boot das Flussufer entlangstemmen. Für sie muss das aber auch selbstverständlich sein, anders kommst du nicht vorwärts hier, das war schon immer so. Auf den Pfaden durch den Wald, das geht viel langsamer.

Keine Miene verziehen sie, als es am Nachmittag voll anfängt, runterzuschütten. Eine Stunde? Anerthalb? Sie staken durch den Regen. Keine Chance, dass es mal aufhört. Ich sitze im T-Shirt und langer nasser Hose auf drei quergelegten Holzstöcken im Boot, nur die Sachen werden nicht nass: die sind mit Plastikplane abgedeckt. Der Regen hört nicht auf. Hin und wieder sind Siedlungen am Fluss.

"Aquí vamos a quedar porque hay mal tiempo." - hier werden wir übernachten, weil es schlechtes Wetter hat. Bei seiner Tochter. Ein wenig musste ich lächeln, als Indio mir auf Spanisch "erklärte", dass das Wetter schlecht sei. Am Feuer des Herdes kann ich mich und alle meine Sachen trocknen. Sie hören Radio.

Weiter oben am Fluss soll es wieder hergehn, nachdem es eine ganze Zeit ruhig gewesen sei: die contras haben wohl wieder eine Geldspritze aus den USA bekommen und müssen zeigen, dass sie in diesem Fall auch wirklich für Freiheit und Demokratie kämpfen können. Abwechselnd wird jetzt "Voz de Nicaragua" oder "Radio Sandino" (die sandinistischen Regierungssender) und "Radio Liberación" (der Contrasender) gehört, um an Informationen zu kommen, wo nun genau die Kampfgebiete sind.

Spanisch. Aber bei der Tonqualität bekomm ich auch nur bruchteilweise mit, was los ist. Ausserdem erzählen sie nicht direkt, dass und wo gekämpft wird, höchstens indirekt. Nicaragua spricht nur von laufenden Friedensverhandlungen, die in Guatemala City stattfinden. Ausserdem ist das Land damit beschäftigt, den Leuten beizubringen, wie neue Córdobas gegen alte eingetauscht werden: Nicaragua streicht wieder mal drei Nullen seiner Währung weg, das passiert zur Zeit wohl immer am Anfang der Trockenzeit... "Todos a cambiar... ¡Córdobas Nuevos - estos sí valen![28]" . Montag bis Mittwoch richten sie sogar einen eigenen Radiosender dafür ein, der sendet auch nachts durch.

Und die allgemeine Wehrpflicht haben sie eingeführt[29]. Dies schnappt der Contrasender auf und spricht vom servicio obligatório de la muerte, von der "Pflicht zum Todesdienst", Wortlaut: "Gegen diesen Schlag der Sandinisten auf Freiheit und Leben der nicaraguanischen Jugend kennen wir nur ein Mittel: den bewaffneten Kampf!". Ich traue ihnen zugegeben auch wirklich nicht zu, dass ihnen was besseres einfallen könnte, besonders nachdem sie "berichtet" haben, dass die Jungs nach zum Teil nur vier Stunden Ausbildung in die Kampfgebiete geschickt würden... die brauchbarsten Informationen scheint dann auch "Radio Impacta", der Sender von Costa Rica, zu bringen. Der ist nur leider noch schwerer zu verstehen, nachts geht er besser rein.

"Du bist Deutscher, kein US-gringo, dir werden sie wohl nichts tun, und uns auch nicht, also fahren wir weiter.", am nächsten Tag ist das Wetter wieder etwas besser.

Wir kommen bis Krausirpi, kommen dort auch bei einer Familie unter, hier sprechen jetzt weniger Leute Spanisch. Einen Tag warten wir schlechtes Wetter und schlechten Fluss ab, und am übernächsten Tag geht es dann endgültig ins Unbekannte, il - "Berg" und "Wald" sind im Mískito dasselbe Wort.

Weiter stromaufwärts "stabilisiert" sich das Wetter zunehmend, und bald haben wir ein tropisches Tagesklima. Morgens noch etwas Nebel, der verzieht sich, manchmal kommt noch ne schwere Wolke, aber dann gibts erstmal schönen Sonnenschein, wo du froh bist, wenn ab und zu mal eine Wolke vor die senkrecht stehende Sonne kommt. Nachmittags passiert das öfter, dann kommt schon mal ein Regenguss mit, zwischen etwa halb fünf bis halb sechs kanns durchregnen, und gegen Abend verziehen sich die Regenwolken dann wieder. Nachts kommt manchmal auch noch was runter, aber nur gerade soviel, dass du nicht im Freien schlafen kannst. Eine Plastikplane über einen Querstock dient als Dach, ab jetzt übernachten wir immer auf den Kiesbänken.

Zwei Tage später passieren wir das vorerst letzte Dorf am Fluss. Hier leben keine Mískitos, sondern Mestizen, den Unterschied sieht man auch, an den Häusern. Noch etwas weiter, und dann beginnen die beiden, nach Yulu-Bäumen[30] Ausschau zu halten. Jeden Yulu-Baum können sie aber nicht nehmen, sie müssen prüfen, ob das Holz auch gut ist und keinen Pilz enthält. Diese Einbäume sind am Boden an der dicksten Stelle vielleicht zehn Zentimeter stark , dann natürlich ständig im Wasser und müssen ne ganz schön lange Zeit halten. Die Bäume, die sie finden, enthalten aber alle diesen Pilz, und so geht es noch ein paar Tage weiter flussaufwärts.

Nachmittags halten sie an und fangen Fische. Als Köder dienen Regenwürmer oder kleinere Fische, oder sie haben vorher vor einer Kiesbank mit der Hand geschickt ein paar der flinken kleinen Krebse gefangen. Flusskrebse gibts genug im Patuca. Einmal beobachte ich, wie er sie erlegt: wenn es dunkel ist, mit Taschenlampe, oder Feuerholz, im seichten Wasser. Und Machete... Ganz schön gross die Viecher, einer und ich bin satt, und schmecken total lecker.

Immer öfter halten sie jetzt an, schlagen sich mit Machete einen Weg durch den Dschungel, auf der Suche nach einem guten Baum, und ich bleibe beim Boot. Oder sie bauen das Zelt erst gar nicht ab, dann bleibe ich den Tag über da und soll denen, die vorbeikommen, erzählen, dass ich dabei sei, die Gegend auf der Suche nach Gold auszukundschaften. Das wär nicht unlogisch: der Flusssand ist voll mit lauter kleinen Blattgoldpartikeln, die glänzen in der Sonne, sieht ganz lustig aus. Der Fluss ist hier vielleicht noch dreissig oder vierzig Meter breit, und wenn am Tag zwei Einbäume und ein tuktuk vorbeikommen, ist das viel Verkehr. Ruhe? Von wegen.

"Dann gibts immer eine Runde

- tropische Insektenkunde."

Die Stechmücken kommen ja erst, wenns dunkel wird, aber hier oben im Urwald sind das zum Glück nicht so viele. Tagsüber habe ich das kleine Vampirzeugs, diese miesen plaga, das sind die schlimmsten. Den Biss spürst du meistens, wie von einer Bremse. Wenn sie nur von Menschen leben würden, wären sie bestimmt bald allesamt totgeklatscht. Das bringt denen nichts, Menschen zu beissen, aber sie tuns immer wieder.

Dann sind da die ganz kleinen Fliegen, die nerven, wenn sie dir dauernd um den Kopf rumfliegen. Diese ganz kleinen Fliegen tun alleine nichts, aber wenn du irgendwo so einen (mini-) Biss von der plaga hast, hast du sofort auch ein halbes Dutzend dieser kleinen Fliegen dran, die drin rumschlabbern und verhindern, dass die Wunde zuheilt.

Eine Art Bremsen gibt das auch, die sind selten, aber ein paarmal am Tag besucht uns auch mal eine. In Belize nannten sie die doctor-fly, etwa so gross wie Wespen, etwas lauter im Flug, haben aber vom Aussehen her eine ganz starre, militärische Art drauf. Wenn sie dich einmal gefunden hat, lässt sie nicht locker, bis du sie zerklatscht hast. Du beschäftigst dich dann drei Minuten mit nichts anderem als mit diesem Vieh, und irgendwann hast dus. Eigentlich schade, denn es sind wirklich schöne Tiere, der Körper ist meist grün, und ganz grosse, grün-blau-violett schimmernde Facettenaugen haben sie. Erfolgreich gebissen hat mich noch nie eine, die kann gar nicht so beissen, dass es Menschen nicht merken.

Aber Freunde gibts auch. Manchmal schwirren einige Libellen um mich herum, die fangen sehr geschickt das kleine Fliegenzeug weg, und die etwas grösseren plaga trauen sich dann gar nicht mehr in meine Gegend. Sowieso die Libellen. Ich habs gern, wenn sie sich mal auf meine Hose setzen. Wirklich nette, freundliche Partner. Die summen und fiepen auch nicht, klappern höchstens ein bisschen mit den Flügeln. Schöne Tiere, es gibt welche in den leuchtendsten Farben, ich zähle mindestens zwanzig verschiedene Arten. Artenreichtum im tropischen Urwald. Natürlich auch die Schmetterlinge und die Käfer, Blattheuschrecken, immer wieder schönere, buntere, oder perfekt angepasste. Wer will die zählen.

Es geht wieder weiter. Wenn sie am Ufer entlangstaken, haben sie manchmal steinigen Untergrund, dann gehts am besten, manchmal ist er schlammig, das geht schwerer, da sinken die Stangen ein. Ab und zu, besonders wenn der Wald bis ganz an den Fluss geht, so wie jetzt, ragt alles mögliche Gebüsch ins Wasser am Ufer, oder ganze Bäume sind der Länge nach über das Flussufer gefallen, alles übereinander, dünne Äste, dicke Äste, wieso sitzt da jetzt ne Katze drauf, Baumstämme, grosse Wurzeln, und da können sie sich dann mit den Stangen an den Ästen abstossen, das geht auch ganz gut. Wir kommen etwa mit guter Schrittgeschwindigkeit voran... was war das eben, ne Katze?, das geht doch gar nicht hier... He, warte, halt mal an - nochmal zurück.

Was ist jetzt das? Die sitzt da auf dem Baumstamm über dem Flussufer, wir treiben in etwa fünf Meter Entfernung nochmal langsam dran vorbei. Gross wie eine Katze, Schnurrhaare wie eine Katze, Wuschelschwanz wie eine Wuschelkatze, Ohren wie eine Breit-Ohren-Katze, aber ganz schön fett für eine Katze, und der Kopf ist etwas grösser. Und hat hellgraues, zart geflecktes Fell... gut, die Angaben reichen, vorläufige Diagnose: ein junger Jaguar. Ein Baby, paar Wochen alt, ohne Mutter.

Wir fahren nochmal dran vorbei, er haut nicht ab. Wohl bisschen verstört, der Kleine. Sein eines Auge ist kaputt, fangen lässt er sich leicht, sonst ist er aber gesund. Limi auf Mískito, auf Spanisch heisst er tigre. Was machen wir jetzt? Wenn er keine Mutter mehr hat, kommt er so nicht durch, er ist zu klein. Die beiden Indianer:

"Weisst du was, den nehmen wir mit, für die Kinder, was meinst du, wie die kucken werden. Wenn man ihn richtig erzieht, bleibt er auch zahm."

"Hm. Mitnehmen. Und was sollen wir ihm zum Essen geben?"

"Fisch?"

"Na, dann können wir ja jetzt für vier Leute angeln...", Lachen.

Tigre in den Sack, und weiter zu viert. He, die haben sich ja eben auf Mískito unterhalten, die beiden, das war ja gar kein Spanisch, und ich habe das verstanden.

Aber Pech, sie finden keinen guten Baum, überall enthalten sie diesen Pilz.

"Wenn wir in den nächsten zwei Tagen auch nichts finden, fahren wir zurück nach Wampusirpi."

Ratlosigkeit. Immer häufiger fällt der Ausdruck nu apu, "ich weiss nicht", wenn sie sich unterhalten. Schon am nächsten Tag wollen sie nicht mehr noch weiter flussaufwärts und kehren wieder langsam um.

Abends auf der Kiesbank liegt wenig Feuerholz. Also geht einer der beiden ein Stück hinter, wo mehr liegt, und kommt zurück mit einer ein Meter dreissig langen, grünen Echse, ein träges Tier, wie so n Leguan, die haut auch nicht ab.[31]

"Futter für tigre!", als lebender Vorrat, sozusagen. Es reicht, der lebenden Echse ein schweres Stück Holz auf den Schwanz zu legen. Scheint die nicht gross zu stören.

Aber der kleine Jaguar will noch nichts fressen, keinen Reis, keine Bananen, keine yuca, keine ein Meter dreissig langen grünen Echsen, auch keinen Fisch, nur ein bisschen Wasser trinkt er.

Ja, die Tierwelt ist hier wesentlich reicher als in Europa. Auch die vielen Arten von Eidechsen, im Fluss gibts schwere Schildkröten, die Spuren von Krokodilen am Flussufer, der Tag ist voll mit Vogelstimmen, hunderte von Arten in den Bäumen, die wenigsten bekomme ich zu Gesicht. Nur wenn sich der Reiher einen Fisch aus dem Fluss fängt oder die Papageien sich mal in einen lichten Baum am Ufer gegenüber setzen.

Und nachts hämmern sie Spechte.

Aber mit Ausdauer. Dann wirds erst richtig laut, hier an dieser Hauptverkehrsverbindung. Da brüllen und keuchen die Affen, zirpen die Insekten, quaken und pfeifen die Frösche und Kröten, und am meisten Lärm machen die Spechte... bis ich kaum noch die Mücken hör, wenn sie dicht an meinem Ohr vorbeifliegen. Nächtliche Ruhe scheinen die beiden Indianer auch nicht gewohnt zu sein: kommt oft vor, dass sie mit laufendem Radio einschlafen. Das gibt mir dann immer den letzten Rest: nun höre ich die Stechmücken gar nicht mehr.

Gegen die muss ich mir schon einiges einfallen lassen. Lange Haare sind gut zum Verjagen und schützen den Hals. Die lange Hose möglichst auch im Schlafsack anbehalten, aber bei den Temperaturen schon weniger angenehm ist der warme Pullover. Wenns schlimm wird, nehme ich das Handtuch über den Hals, in Mexico hab ich auch schonmal (im Freien) mit Stoffsack über dem Kopf geschlafen. Vorteil eines Sonnenbrandes im Gesicht: du spürst jede Mücke, die sich auf deine Haut setzt.

Endlich finden sie einen tauglichen yulu-Baum, etwa drei- oder vierhundert Meter weit vom Fluss weg, mitten im Urwald. Sie bauen ein Gerüst um die Pfahlwurzel, und mit der Axt fällen sie an einem halben Tag den vier Fuss starken Waldriesen um. Das kracht und staubt ganz schön, als er mit Getöse runtergepest kommt, bergabwärts, er reisst die Kronen einiger anderer Bäume gleich mit um, mehr als zehn Meter schleudert es ihn von der Wurzel ab. Sie untersuchen ihn nach Pilzen, und - er ist gut. Sie haben Glück gehabt. Der Baum wird so liegengelassen, wie er hingefallen ist, und sie müssen die Gerüste zum Arbeiten aussen stabil drum herumbauen.

Also noch nicht zurück nach Wampusirpi... Camp auf der nächsten Kiesbank. Wieder eine von den Nächten mit Pullover. Tigre plagen die Insekten nicht, der ist im Sack. Mit einem Strick anbinden wollen sie ihn nicht, könnte er vielleicht durchbeissen. Eigentlich wollte ich heute abend wieder ein bisschen die Sterne beobachten, aber es ziehen lauter Wolken vorbei und dann bringts das nicht, also leg ich mich hin. Indio ist wohl ganz schön fertig vom arbeiten und hat sich auch schon hingelegt, Primo erlegt noch ein paar Flusskrebse für morgen früh.

"Limi kaíkri!! Limi balan !" - hä, was?

Ich bin noch nicht ganz eingeschlafen, da kommt Primo ganz aufgeregt zum Zelt, "¡Vine tigre!", er hat die Jaguarmutter gesehen. Wir sind sofort hoch. Wo ist der Sack mit dem Jungen - hier, da ist der Sack, ja, der Sack ist noch da, aber keine Spur von Tigerchen. Gut zugebunden wie letzte Nacht hatten sie ihn auch nicht, nur drei schwere Steine draufgelegt. Die liegen jetzt daneben.

Tigergeschichten. Da muss die Jaguarmutter in der Zeit tatsächlich angekommen sein und ihr Junges befreit haben, und wir haben nichts gehört. Indio lag keine zwei Meter daneben. Klar ham wir nix gehört - er musste ja wieder "Voz de Nicaragua" bis spät in die Nacht laufenlassen, ja, okay, ich sag ja nichts, manchmal senden sie ja auch in Mískito.

"Die ist fei verdammt gefährlich, die Mutter, wenn sie Junge hat", erklärt er, "bist du allein und nur mit Machete bewaffnet, hast du null Chance."

Klar, wenn die ihr Leben für ihr Junges einsetzt, Prost Mahlzeit. Dann gehts rund. Dann musst du schon viele Clever & Smarts gelesen haben, um dir vorstellen zu können, wie du dann aussiehst.

Wir hatten Glück, dass sie es so leicht befreien konnte, und sozusagen nicht auf unsere Hilfe angewiesen war, was auch immer sie sich darunter vorgestellt hätte... mit den drei Steinen muss sie sehr vorsichtig umgegangen sein.

"Ja, von Natur aus haben sie auch Angst und kommen nicht zum Zelt."

Also weg Tigerchen. Am Morgen können wir es auch deutlich an den Stellen, wo Sand ist, sehen: dicke, fette Jaguartatzen...

"Das wirst du können müssen, wenn wir wieder hierher zurückkommen", meint Primo zu mir, als es mir dann am letzten Tag auch mal gelungen ist, mit der Leine in der Hand ein paar Fische zu fangen. Langsam geht es jetzt wieder zurück, sie können ja noch nicht anfangen zu arbeiten, weil sie nicht genug Vorrat dabeihaben. Der Baum sei gut, sie freuen sich immer wieder darüber. Sie können daraus ein dreieinhalb bis vier Fuss breites bílamanka hacken, ein Meeres-Einbaum, auf Spanisch sagen sie cayuco. So eins, neu, ist hier etwa soviel wert wie in Deutschland ein guter Gebrauchtwagen. Sie freuen sich immer wieder darüber.

Als ich nach zwei Wochen nach Wampusirpi zurückkam, lagerten die Briefe, die ich Mechthild und Lina geschrieben hatte, immer noch im Laden. Ich gab sie Don Ignacio mit, der wie alle Ausländer in egal welcher abgelegenen Region in Honduras alle vier Wochen nach Tegus fliegen musste, um sein Visum zu verlängern. In Wampusirpi gab es zwar keine Strassen, aber einen Flugplatz mit regelmässigem Flugverkehr. Das Indianerdorf gehörte zu den Orten auf der Welt, wo die ersten Räder, die die Kinder sahen, sich unter Flugzeugen befanden.

Ich wusste nicht, ob es ein Naturpark war, aber ich konnte mir gut vorstellen, es musste unter Artenschutzaspekten ziemlich fragwürdig sein, was Indio und Primo machten. Auch ohne zu wissen, dass Swietenia macrophylla auf der Liste geschützter Pflanzenarten ganz oben stand. Andererseits - sie waren Indianer, sie hatten weder ein Motorboot noch eine Motorsäge, und seit Jahrhunderten bauten sie mit traditionellen Methoden ihre Einbäume aus diesem Holz. Und sie fällten die Bäume nicht wahllos, denn sie schonten diejenigen, die den Pilz hatten und bewirkten so, dass die Art sich weiter fortpflanzen konnte. Ebenso okay war es, wenn Naturvölker wie die Inuit geschützte Robben oder Wale jagten. Nur der industrielle Raubbau gefährdete die Arten, und genau das war es, wovor die Industriegesellschaft sie schützen sollte. Die Indianer hatten mit Sicherheit noch keine einzige Baumart ausgerottet.

Ich setzte von meinem Gefühl her die Grenze dort, wo die Indianer auf Produkte der Industriegesellschaft zurückgriffen. Und das taten Primo und Indio nicht. Ihre Äxte hätten sie auch aus Stein fertigen können.

Brief Forum 6 (März 1988)

Ich komm nach zwei Wochen also wieder zurück nach Wampusirpi, und Cristela, die Freundin von Faustino, ist immer noch hochschwanger. Indio bietet mir ein Holzbett in seinem Haus an, wo ich schlafen kann. Mir war es am Ende ja bei Elena ein bisschen unwohl geworden: den ganzen Tag hing ich nur bei Indio rum, und grad zum Schlafen kam ich zu Santiagos Haus.

Auch Indios Holzhaus steht auf Pfählen, es hat ein Naturdach aus Palmwedeln. Die Treppe führt hoch zu einem Flur, wo der Esstisch steht, und links und rechts ist eine Tür. Auf der linken Seite ist die Küche, auf der rechten der Wohntrakt mit einem grösseren Zentralraum, wo mein Holzbett steht und paar Hängematten hängen, und vier kleine Zimmer gehen von diesem Zentralraum ab.

Nächsten Montag solls weitergehen. Okay -. diese Sprache verstehe ich bereits... Eines morgens zwei Wochen später wird mich Faustino wecken, ich soll aufstehn, heute gehts ab in die Berge. Bis dahin kann ich mir noch ein bisschen die Sterne anschauen.

Oder den Abwasch machen. Eine von den kleinen Mädchen lacht, vielleicht weil ich so gross bin und die Spüle so niedrig, aber die anderen sagen nichts, bei sich sagen sie ja auch nichts, der Abwasch ist halt da und irgendjemand macht ihn halt.

Testmethode, wie sind die Völker drauf. Machst du (männlich) den Abwasch, werden sie sich vielleicht freuen, dass du ihnen die Arbeit abnimmst. Hier ist es so, oder in Deutschland auch. Oder, wie in der Türkei oder in Mexico, sie versuchen, dich mit aller Kraft daran zu hindern, weniger, weil du Gast im Haus bist, nein, der Abwasch, das ist Frauensache. Frauen die Arbeit abzunehmen, das wäre mal das Richtige für Mexico.

Manchmal ist es ganz spassig, die Leute auf ein paar abwegige Gedanken zu bringen. In Mexico interessieren sie sich immer für das fortschrittliche europäische Land, aus dem ich komme. Gut, erzählen wir ihnen mal was von Alemania.

El Paraje, Veracruz: Norma ist achtzehn, und den ganzen Tag ist sie im Haus dabei. Einen Sonntag hat sie auch nicht. Ich frage, ob ich ihr bei der Wäsche helfen kann.

"Nein, nein, das geht nicht."

"In Deutschland helfen die Männer den Frauen bei der Arbeit im Haus.", meine ich zu ihr.

Ob sie das beeindruckt, zeigt sie mir nicht. Am nächsten Tag kriege ich zufällig mit, wie sie s ihrer Mutter erzählt.

Die Söhne Mexicos tun den ganzen Tag, wenn keine Schule ist, buchstäblich nichts. Rumhängen, mal den Hund ärgern, oder ihre Schwester, die das Haus ausfegt, baden im Fluss, Fussballspielen, unter der Veranda sitzen und den Mädchen auf dem Weg nachpfeifen (das darf aber nur, wer älter als drei Jahre ist), oder sich auf der Bank vor dem Haus mit dem gringo zu unterhalten. Norma kommt mit Wasser vom Fluss.

"Wie schaffen die das, über die weite Strecke den zwanzig-Liter-Wassereimer auf dem Kopf zu tragen, ohne dass was verschüttet?", frage ich die Witzbolde.

"Weiss nicht, wie die das machen."

"Könnt ihr das nicht?"

"Nein", er lächelt bei dem Gedanken daran, "nein, wir können das nicht."

"Und wieso können die das?"

"Son mujeres: tienen la cabeza plana." - das sind doch Frauen, die haben eben einen platten Kopf.

Es müssten sich mal ein paar gringos in eurem Dorf ein Haus kaufen, eine Zeitlang bei euch wohnen, und dann müssten immer die Männer zum Wasserholen an den Fluss gehen. Was meinst du, wie schnell sich das hier ändern würde, mit den platten Köpfen. Ich würde dir das richtig gönnen. Manchmal fehlt mir ja wirklich der Respekt vor den Traditionen der Völker...

Auch in Wampusirpi wird das Wasser nach dieser Methode von Frauen geholt, von der Quelle. Vor allem für den Abwasch und zum Kochen. Ich frag, ob sie mir zeigen wollen, wie das geht.

Hier erklären sie es mir gerne. Sie selber machen es immer mit zwanzig Litern, davon verschwappt ein bisschen, also gut, neunzehn. Eine, die ist zierlicher gebaut, nimmt nicht ganz so viel Wasser rein, und nimmt den Eimer nicht direkt auf den Kopf, sondern legt ein Tuch dazwischen. Ein Tuch habe ich auch, sie zeigt mir, wie es gefaltet wird, wie der Eimer auf den Kopf gehoben wird, und vor allem, wie er wieder abgenommen wird. Das ist das schwierigste, da müssen sie mir die erste Woche immer bei helfen. Das mit den zwanzig Litern lasse ich ganz schnell sein, ich bin froh, wenn ich mit zehn Litern am Haus ankomme. Ich nehme mir vor, das zu trainieren, jeden Tag mindestens zweimal, und nach zwei Wochen habe ich mich auf zwölf Liter gesteigert. Es ist ganz interessant zu beobachten, was da alles für Muskulatur trainiert wird. Ich bin stolz darauf, etwas zu können, was die Söhne Mexicos nicht können.

"Bis sie zehn Jahre alt sind, lernen die Jungen das hier auch", meint Elena zu mir, "Ganz so schlimm, wie du es mir von Mexico erzählst, ist es hier nicht. Aber trotzdem - hier gibt es auch viel machismo."

Machismo, das war ihr Wort gewesen. In Mexico habe ich es nicht gehört.

Von Natur aus scheinen die Mískitos wie viele andere Indianer eine ziemlich weitgehende Gleichberechtigung draufzuhaben. Wenn sich das langsam ändert, dürfte das auf den schlechten Einfluss der Mestizen zurückzuführen sein, also letzten Endes der Spanier. Nicht aus dem Fernsehen, das gibt es hier zum Glück noch nicht.

Allein, indem sie die spanische Sprache lernen, müssen sie lernen, ständig und in allen Situationen die Menschen nach den Geschlechtern zu unterscheiden. Spanisch ist etwa so sexistisch wie deutsch. Im Mískito gibt es gar keine geschlechtsbezogenen Pronomen wie "er/sie" (in anderen Indianersprachen auch nicht), die müssen das ganz kompliziert ausdrücken, wenn sie irgendwas nur weiblich oder nur männlich haben wollen.

Manchmal hat der Unterschied zwischen Mestizen und Indianern interessante Seiten. Ignacio und ich sind nicht die einzigen Europäer am Patuca. Sie erzählen mir von Bettina, weil die auch aus Deutschland ist, und in einem der Orte viel weiter oben am Patuca arbeitet, bei den Sumu-Indianern.

"Was für Arbeit?"

"Weiss nicht." -

"Weiss ich auch nicht genau, was die hier macht." -

"Nein, wissen wir nicht, die arbeitet halt hier." -

"Doch, die stellt doch irgendwelche Kunstgegenstände aus Ton her und verkauft die nach Tegucigalpa weiter."

Später habe ich erfahren, dass Bettina sich Gelder über ein deutsches Entwicklungshilfe-Projekt organisiert hat und seit ein paar Jahren mit den Sumus arbeitet.

Ein Mestize würde nur sagen, die wohnt hier, er würde für eine Frau ungerne das Wort "arbeiten" verwenden. In vielen Gegenden der Welt ist es einfach nicht denkbar, dass eine Frau ihr Land verlässt, weil sie irgendwo anders arbeiten will. Hier scheint es selbstverständlich zu sein.

Eine Frau, die auf eigenen Beinen steht, vor gar nicht so langer Zeit war das in Mitteleuropa noch etwas wahnsinnig Ungewöhnliches oder zumindest ultra-Fortschrittliches. Toleriert allenfalls in den Grossstädten.

Ein bisschen unsicher wirken die Mädchen, die ohne T-Shirt im Fluss baden, als wir an ihnen vorbeistaken, sie gehen vorsichtshalber bis zum Hals ins Wasser. Wir sind fremd, und sie wissen nicht, was wir für Benehmen draufhaben. War es früher anders hier, oder sind die älteren Frauen von Haus aus mutiger?

Bestimmt fünfzig oder fünfundfünfzig war die Frau, sie haben sich mit ihr, langsam vorbeistakend (sie stand bis zum Bauch im Wasser) ein bisschen unterhalten. Indio kannte sie wohl. Vielleicht war sie die Bürgermeisterin. Sie dachte gar nicht daran, ihre Brust zu verdecken. Genauso, wenn sie ihre Kinder stillen: Brust raus, Schreihals ran, Ruhe. In Mexico hatten sie da ne komplizierte Konstruktion aus Tüchern, oder sie mussten ins Haus gehen, auf keinen Fall durfte einer der Männer das sehen. Von den Mískito-Indianern werden die Frauen nicht ihrer Brüste wegen diskriminiert. Sie steht im Wasser, und sie spricht mit Würde: mit der ganzen Würde einer Frau.

Vielleicht sollte ich noch die Szene von der Quelle erwähnen. Als ich zum ersten Mal mit dem Eimer losgegangen war, Wasser zu holen und an der Quelle ankam, wo vielleicht zehn oder zwölf Mädchen darauf warteten, bis sie an der Reihe waren, sahen sie mich erschrocken an und zogen sofort ihre T-Shirts wieder an. Erstaunt sahen sie mich an und wollten offenbar wissen, was ich vorhatte. Wasser holen, was sollte ich denn sonst hier wollen? In Mexico wäre für die Mädchen jetzt eine Welt zusammengebrochen, doch hier war die Sache ziemlich schnell klar, auch wenn einige kleinere Mädchen noch ein bisschen kicherten.

Sofort, als sie begriffen hatten, dass ich selbst Wasser holen und nicht nur einer von ihnen den Eimer bringen wollte, hatten sie Platz gemacht und die Quelle geräumt. Hm, kompliziert. Ich wollte nicht bevorzugt werden und wollte mich einfach nur hinten anstellen, wie alle anderen auch. Doch ihnen das klarzumachen war gar nicht so einfach.

Ich hatte gesehen, wer gerade beim Wasser füllen war, und deutete dem Mädchen an, dass sie ihren Eimer wieder unter die Quelle stellen sollte. Nein, ich sollte zuerst. Nein, entgegnete ich, sie sollte zuerst, sie war doch dran. Wir einigten und schliesslich auf einen Kompromiss. Sie füllte ihren Eimer. Aber sie wollten auch nicht, dass ich mich ganz hinten anstellte. Na gut, fürs erste war das schonmal ein Erfolg.

Ich war auch ein wenig auf sie angewiesen, weil ich es alleine nicht geschafft hätte, den schweren Eimer auf den Kopf zu heben, und ich sie um Hilfe bitten musste. Ohne zu zögern halfen sie mir dabei und zeigten mir die Tricks.

Als ich am nächste Tag wieder kam, reagierten sie ähnlich, waren aber nicht mehr ganz so scheu. Mit Ausnahme einiger, die das erste Mal nicht dabeigewesen waren und über deren verdutzte Gesichter die anderen nun mit mir zusammen lächeln konnten. Sie wussten, dass ich mich hinten anstellen und nicht bevorzugt werden wollte, was sie auch einigermassen akzeptierten. Meist waren nur zwei oder drei Mädchen in der Warteschlange, die anderen waren vor allem deswegen an der Quelle, um sich zu treffen und zu unterhalten. Doch ich wollte noch mehr als nur mich ganz normal hinten anstellen. Denn da war noch die Sache mit den T-Shirts. Und das war noch ein wenig komplizierter.

Ich selbst musste immer ein T-Shirt anziehen, weil ich sonst in diesen Breiten sofort einen schweren Sonnenbrand bekommen hätte. Ich war inzwischen zwar schon ziemlich gut gebräunt, trotzdem konnte ich mich nie lange unter der tropischen Mittagssonne aufhalten.

Wieder kam ich also zur Quelle und die Mädchen zogen umgehend ihre T-Shirts an. Ich hielt an und sah ihnen dabei zu. Mit einem fragenden Blick, warum sie das machten. Wobei allen vollkommen klar war, warum sie das machten. Ich störte sie ja. Normalerweise hätte ich anstandshalber weggesehen. Doch genau diese Anstandsregeln, wonach ich grosszügig wegzusehen und sie ihre T-Shirts anzuziehen hatten, wollte ich jetzt durchbrechen. Sie sollten nicht nur sehen, dass ich sie ansah, sondern auch, dass ich nachdachte.

Die Quelle war ein Ort, wo die Mädchen ungestört unter sich waren. Einige unter ihnen fühlten sich ohne T-Shirt eben wohler und hatten es daher ausgezogen. Wäre aus irgendeinem Grund ein Mískito aus dem Dorf vorbeigekommen, hätten sie nicht zu ihren T-Shirts gegriffen. Aber ich war fremd und sie waren unsicher. Mestizen hatten ein schlechtes Benehmen, würden mindestens auf ihre Brüste starren oder sogar einen blöden Kommentar loslassen, das schienen sie genauso gut zu wissen wie ich. Doch ich musste in ihren Augen ein míriki und kein Mestize sein, und ich konnte jetzt damit arbeiten, dass mírikis mit Sicherheit keinen so schlechten Ruf hatten.

Sie hatten irritiert registriert, dass ich sie beobachtet hatte. Dann stellte ich meinen Eimer ab, zog mein eigenes T-Shirt aus, sah genau die Mädchen, die ihr T-Shirt angezogen hatten, noch einmal an, nahm meinen Eimer und ging zur Wasserstelle.

Und tatsächlich, die Mädchen hatten die Geste verstanden. Männer und Frauen waren bei den Mískitos gleichberechtigt. Ich war stolz auf mich, ich hatte etwas richtig gemacht.

Ich merkte aber auch, dass ich allein durch mein Erscheinen riskierte, dass einige schüchterne Mädchen sich von vornherein nicht mehr trauten, ihr T-Shirt auszuziehen, wenn sie sich hier an der Quelle trafen. Deshalb erklärte ich denen, die weniger schüchtern waren und mir beim Eimer hochheben halfen, dass ich mit meiner hellen Haut einen Sonnenbrand bekommen würde und ich deshalb, anders als sie, nicht ohne T-Shirt herumlaufen konnte. Anders als sie, wie ich noch einmal betonte. Und auch das kam an.

Abend in Wampusirpi. Ich komme gerade vom Scheisshaus[32] und geselle mich zu den Leuten, die vor Indios Haus stehen. Hitzige Diskussion. Um was es geht, krieg ich wieder mal nicht mit. Die Frauen besonders aufgeregt. Irgendwie scheint es wieder um Sándino zu gehen. Marguerita erklärts mir dann.

"¡Vienen Sándino! Die Sandinisten kommen! Hier, nach Wampusirpi, viele, Militärs, Guerilleros, wir müssen schnell flüchten, mit dem Boot da unten, unsere Sachen packen und ab!"

"Hä? Wieso hierher? Was wollen die denn in Wampusirpi?"

Einige hundert Flüchtlinge leben im Lager am Ort, das wäre natürlich ein Angriffsziel für Nicaraguas Regierungs-Guerilleros. Ach was, das ist doch Quatsch.

"Es ist natürlich deine Sache, ob du hierbleibst oder nicht, also wir fahren ab... und an deiner Stelle würde ich auch schnell weg hier. Du siehst aus wie ein US-gringo, die erschiessen dich und fragen nicht lange, ob du aus Deutschland kommst."

Ein Scherz ist das Ganze nicht, das wäre nicht ihre Art.

"Wann wolltn ihr weg? Jetzt gleich?"

"Ja, packen und los."

Was wollen die denn hier? Das haut doch nicht hin. Bin ich jetzt total vertrottelt? Das wirft doch alles übern Haufen, was ich bisher über diese Sandinisten... also noch mal von vorne, im Zeitraffer, viel Zeit ist nicht.

1. Bis 1979 hatten sie Somoza, den grossen Diktator. Nachdem sie ihn rausgeschmissen hatten, nach dem grossen Erdbeben, hat sich die sandinistische Regierung in Nicaragua etabliert.

2. Die Somoza-Fans (und hinterher auch andere) gingen nicht in den Untergrund, sondern über die Grenzen, nach Costa Rica, und die meisten nach Honduras. Und weil jetzt die schlimmen Sandinisten einigermassen erfolgreich gegen die wirtschaftliche Abhängigkeit des Drei-Millionen-Volkes von den USA regieren, bekommen die contras vom grossen Cowboy Reagan aus Washington Geld und Waffen, um das Land wieder aus den bösen Händen zu befreien.

3. Die meisten contras (FDN) kämpfen in den Bergen, Department Olancho. Hier bei uns in der Gegend (Department Gracias a Dios) gibt es zwar Flüchtlinge, aber keine bewaffneten contras.

4. Auf dem Einband des Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis stehen in grossen freundlichen Buchstaben die Worte Keine Panik.

"Zu Fuss kommen die? Wie weit sind die denn schon? Das ist doch hier über hundert Kilometer von der Grenze, dazwischen ist der Urwald. Das dauert doch lange, bis die hier sind, mindestens zwei-drei Tage, wenn die die Wege auch alle kennen."

"Nein, bis Mocorón kommen die ganz schnell. Der Urwald danach, das ist nicht soviel, die sind schnell hier, ein Tag, nicht mehr, wir müssen weg."

"Aber die können doch nicht einfach hier einmarschieren, Honduras hat doch auch Militär."

"Schon, aber du siehst ja: vier Leute hier am Ort."

"Wo habt ihr denn die Information her? Über den Funk von Don Ignacio?"

Hätt ich vielleicht auch früher fragen können.

"Sagen doch alle hier, siehst du das nicht?" -

"Woher? He, wer hat denn das gesagt, dass die Sandinisten kommen?" -

"Weiss nicht, wer das gesagt hat." -

"Nee, nicht über den Funk von Don Ignacio." -

"Nee, sie hams im Radio durchgesagt."

Hm. Vielleicht "Sunny Radio" aus Puerto Lempira, dem Hauptort vom Department Gracias a Dios, liegt an der Caratasca-Lagune. Der einzige Sender in der honduranischen Mosquitia, Privatradio mit entsprechendem Niveau, lo mejor en onda corta. In Spanisch und Mískito, abends auch in Sumu, und manchmal versuchen sie sich auch in Englisch. Sendet vormittags und abends, "das Beste auf der Kurzwelle". Macht aber nicht gerade den Eindruck, als hätten sie ein landesweites Netz an Redakteuren.

Oder "Radio Sandino"? "Hallo Jungs, adelante! Heute gehts nach Honduras, über die und die Strecke, die und die Orte! Und wenn die USA nicht bald mit ihren Waffenlieferungen an die contras aufhören, marschieren wir gleich durch... Mexico hat uns schon freien Durchzug zugesagt!" - Lass den Quatsch.

"Teym bálisa, ísparakung brísna[33]...", meint eine Frau.

"Mensch, die haben Maschinengewehre, mit der Machete richten wir da doch nichts aus!", ein anderer.

"Wir müssen weg", meint Marguerita, "wenn die hier um den Ort kämpfen, schiessen die rücksichtslos auf alles, was sich bewegt!"

"Das gibt hier keine Kämpfe", ein Optimist.

"Meinst du. Ja, unsere werden sich wohl gleich ergeben, aber ich denke, die vom Flüchtlingslager werden sich mit allen Kräften verteidigen. Ich hab gehört, die wollen bleiben." - Andere sagen das auch, dass die vom Lager bleiben wollen.

Endlich, einer, Véltran, weiss wo sie s herhaben.

"Also, es ist so. Das honduranische Militär ist in Alarmbereitschaft versetzt worden, weil die Sandinisten an der Grenze aufmarschieren. Es besteht quasi Mobilmachung. Ich glaube auch, die hier werden sich ergeben. Nur eben die vom Lager... aber trotzdem, warum sollten die hier bei uns im Ort kämpfen?"

"Mensch, siehst du nicht, die Sándinos", meint die Freundin von Marguerita, schon allein der Begriff löst hier wohl schon Panik aus, "wir müssen los! Packen und los. Sofort. Also ich bin dafür, dass wir losfahren. Du doch auch. Du auch. Und du auch, oder?"

Einen hohen Respekt vor eurem praktischen Verständnis von direkter Demokratie... aber trotzdem, ich weiss nicht so recht.

"Wo wollt ihr denn hin?" - Ja, wohin.

"Nach Belize -", meint einer.

"Hombre, vor fünf Wochen war ich in Belize, wisst ihr wie weit das ist, und mit dem duri kommt ihr doch nicht übers Meer." - oh, das hat wohl Eindruck gemacht, und sie hören mir zu - "Ausserdem ist da auch Krieg, die ham n Grenzkrieg mit Guatemala, die werden euch willkommen heissen."

"Was schlägst du denn vor?"

"Vielleicht geht mal einer zur comandancia, die wissen doch bestimmt mehr." - Okay, Véltran und zwei andere gehen hin.

Ob ich nicht Angst vor den Sandinisten hätte. Scheint wohl das Werk der Flüchtlinge hier am Ort zu sein, die den Leuten nicht gerade das beste Bild von den Sandinos übermitteln. Die haben die Sandinisten nur von ihrer schlimmsten Seite kennengelernt. Sie erzählen von den abgebrannten Häusern und dass ihnen die Haustiere getötet wurden... obwohl es ein Programm zur freiwilligen Wiedereinbürgerung gibt, trauen sich die meisten noch nicht zurück, "die werden mich ermorden, wenn ich zurückgehe.".

Véltran und die anderen kommen zurück. Er hat mit den Militärs gesprochen, erklärt alles, alle hören zu, bis er fertig ist, und die Leute sind beruhigt. Ein Wort von den autoridades ist halt schon immer was wert. Auch die Frauen sind beruhigt. - Und auf Spanisch?

"Ach so! Also, es ist so. Folgendes: sie sind in Bereitschaft versetzt worden, weil die Gefahr besteht, dass die Sandinisten über die Grenze kommen."

"Wo, wissen sie nicht?"

"Nein, das wissen sie nicht, es besteht nur genereller Alarmzustand."

"Und was sollen wir machen?"

"Gut, also sie sagen, dass wir die Ruhe bewahren und heute abend zeitig im Haus sein sollen."

Diese Militärs sind manchmal gar nicht so schlecht.

Genereller Alarmzustand, das verlesen sie schon mal in Sunny Radio. Später wird klar, dass es ein rein politischer Schachzug war: die honduranischen Militärs sehens halt nicht so gerne, wenn die Sandinisten über die Grenze kommen und Stellungen der contras in den Bergen angreifen.

Ich fühl mich ja öfters genervt, wenn sie sich bis spät in die Nacht unterhalten, aber diemal ist es mitten in der Nacht. Irgendetwas haben diese Sonntage an sich... erst spät merke ich, was wirklich los ist: bei Cristela ist es soweit. Die Wehen haben eingesetzt. In ihrem Zimmer geht es wohl nicht so gut, also richten die Frauen in meinem Raum etwas her, mit Tüchern haben sie schnell einen eigenen Raum abgespannt, alles bei Kerzenlicht. Strom gibt es hier nicht. Auf dem Boden wollen sie das machen. Mein Holzbett ist auch nicht so gut zum Kinder kriegen.

Aber die Geburt scheint komplizierter zu sein, sie sind irgendwie unruhig. Die Grossmutter und noch eine andere Frau mit wohl etwas mehr Erfahrung werden herbeigeholt, warten... um zwei oder drei Uhr nachts... ich schlafe wieder ein.

Als ich wieder aufwache, ist mehr Hektik im Raum. Sie sind mit Cristela wieder in ihr Zimmer gegangen, auf dem Boden dahinten, das war vielleicht doch nicht so gut. Nicht wegen mir, das hat sie nicht gestört.

Hier werden die Kinder nicht bei Neonlicht im sterilen Krankenhausbett geboren, Arzt, Hebamme, alle anderen raus, hier geschieht das bei der Familie im Haus. Okay, die Kinder schlafen gerade, die sind jetzt nicht dabei.

Der Ausdruck saura[34] fällt, es scheint tatsächlich nicht so gut zu gehen. Faustino und fünf oder sechs Frauen sind in Cristelas Zimmer, alle schwätzen aufgeregt durcheinander, jetzt wirds wohl spannend.

"Schnell, eine Hühnerfeder, schnell!" - Faustinos Mutter pest runter in den Hof, reisst dem nächstbesten schlafenden Huhn eine Feder aus und kommt Sekunden später wieder rauf. Einen Augenblick ist Ruhe. Zwei.

Die Grossmutter gibt ab und zu ein paar Anweisungen, aber die Ruhe wird bleiben. Und Freude wird nicht einkehren.

Schwere Gesichter am Morgen. Cristela hat Zwillinge geboren, aber im siebten Monat, und die können in der Regel nicht überleben. Sie stellen einen Tisch im grossen Raum auf, dort legen sie sie drauf, gewaschen und in weisse Tücher gewickelt. Mit Kerzen, die Grossmutter wacht daneben.

Cristela bleibt auch nicht im Bett liegen, wie in Europa in den Krankenhäusern, sie ist ja nicht krank, hat es ganz gut überstanden.

Für drei Tage kommen jetzt alle möglichen Leute aus dem Dorf, um die beiden anzusehen. Ein bisschen ein komisches Gefühl ist es ja schon, zusammen mit den beiden Toten in einem Raum zu schlafen, aber die gehören ja auch dazu.

Véltran scheint auch irgendwie zur Familie zu gehören, er zuckt mit den Schultern, als er die beiden gesehen hat, und wirft mir einen Blick zu, als wollte er sagen, "Was solls, das Leben geht weiter". Hätte auch durchaus heissen können: "Tja, Letalfaktor".

Und das Leben geht weiter. Drei Tage später bringt auch Cristela wieder ein Lächeln über ihre Lippen.

Ja, Kinder gibt es viele in Honduras.

"Jede Frau möchte hier möglichst fünfzehn bis zwanzig Kinder in ihrem Leben bekommen", meint Seberino zu mir[35].

"In Deutschland haben die Leute nicht so viele Kinder, eins oder zwei, nicht mehr, drei ist schon viel."

"Wieso, wird das von der Regierung verboten?"

"Nein nein, im Gegenteil...", ich erzähl ihm von Kindergeld, das wär was Feines hier, "weisst du, das geht aber nur, wenn nicht alle Leute fünfzehn bis zwanzig Kinder haben möchten, das ist der Trick dabei..."

Mariposa wurde von einer Schlange ins Ohr gebissen. Mariposa ist der Köter aus Indios Haus. Einer von denen, die so dumm sind, dass sie sogar die Kühe und die Pferde anbellen, die immer irgendwo im Dorf rumtrotteln. Mariposa[36] geht mir bis zum Knie und hat helles, ockerfarbenes Fell.

Sie waren mit den Hunden nur kurz ans andere Ufer gefahren, die Köter freuen sich halt auch mal, wenn sie mal woanders hinkommen... und am Ufer haben sie beim Aussteigen wohl nicht richtig aufgepasst, sind ins Gras gesprungen und haben die Schlange nicht gesehen. Oder sie haben die Schlange erst noch dick angebellt, das sähe ihnen ähnlich. Jedenfalls war die Schlange erstmal erfolgreicher als die Hunde. Frontera[37], den Nachbarhund, hat sie auch gebissen.

Schlange heisst pyuta auf Mískito. Die Leute sagen, wenn eine Schlange einen Menschen beisst, wird er in jedem Fall sterben. Ich frage sie, was für eine Schlange es denn war. Als die giftigste Schlange der Welt wird hier in der Gegend die barba amarilla[38] bezeichnet, eine kleine Art, die es in den Llanos gibt, dem Grasland mit vereinzelten hohen Kiefern, offenbar nicht im Urwald. Die soll giftiger sein als die Schwarze Mamba.[39]

Die Schlange, die die Hunde gebissen hat, war gross, sie haben sie mit Machete getötet. Sie denken, je grösser die Schlange ist, desto giftiger ist sie. Ich habe den Verdacht, sie haben von Schlangen genausoviel Ahnung wie die Leute in Island oder die Eskimos. Sie kennen die einzelnen Schlangenarten gar nicht.

Für Mariposa sieht es schlimm aus, der Hund blutet ganz stark aus dem Ohr, seinen Kumpel Frontera hat die Schlange wohl nicht richtig erwischt. Ich sehe mir Mariposa näher an. Ausgerechnet ins Ohr musste sie ihn beissen, genau an der Wurzel vom Ohr, da hat er ja keine Chance, man kann ihm ja nicht den Kopf abbinden.

Sie wissen ein Heilmittel, entweder es ist Einbildung, oder es hilft vielleicht bei Menschen manchmal. Ich bin skeptisch, denn wie können sie ein generelles Mittel gegen Schlangengift kennen, wenn sie nicht einmal die einzelnen Schlangenarten auseinanderhalten können? Vielleicht hilft es ja gegen das Gift einer ganz bestimmten Art, vielleicht einer häufigen. Sie zerkochen irgendein Gewächs, und weil er das freiwillig nie schlappern wird, müssen sie s ihm mit Gewalt eintrichtern.

Das ist eine Gaudi, sie schaffen es auch zu dritt nicht, die Hündin Mariposa wehrt sich nach Kräften, und erfogreich. Ich kann ja die miesen Köter nicht ab, aber zusehen, wie die drei mit Mariposa umgehen, kann ich auch nicht. Sie kucken mich ein bisschen ratlos an.

"Witin díras -", er/sie trinkt nicht. Weiss ich vielleicht ein Mittel? Nein, von Hunden hab ich doch auch keine Ahnung. Ich weiss nur, dass sie nerven, wenn man abends mit Rucksack an einer Strasse langlatscht und von einem Köterrevier ins andere kommt. Und dass ich nicht schlafen kann, wenn zwei oder drei Sauhunde die Nacht durchbellen.

Sie rasieren Mariposa die Wunden sauber - eine Wunde am Kopf sieht nicht so schlimm aus, aber die aus dem Ohr blutet immer noch. Sie füllen die grüne Pampe, für die Hündin muss es ekelhaft riechen, in eine Flasche, wollen ihr das Maul aufreissen und das Zeug gluckgluckgluck in den Hund reinkippen. Na, wenn das mal was wird.

Wird es aber nicht. Sie schaffen es nicht, ihn festzuhalten. Dieser Hund hat es anscheinend überhaupt nicht gerne, wenn ihm die Kehle zugedrückt wird... Wenn er das Zeug aber nicht trinkt, wird er in jedem Fall sterben, sagen sie.

Also gut, Köter, wolln mir mal nicht so sein, die Grüne Mumpitz wars ja nicht, vielleicht besteht ja noch ne Überlebenschance. Ausgerechnet im Umgang mit ihren Haustieren kennen sie sich kein bisschen aus. Erstmal die Beine zusammenbinden, mit Stricken, die hab ich im Rucksack. Aber eine Idee, wie man einen halben Liter grünen Pflanzensaft in einen Hund reinkippt, habe ich leider auch nicht. Immerhin kann er sich jetzt nicht mehr mit den Füssen wehren, und zu viert schaffen wir es in einer halben Stunde auch einigermassen gut, den Pflanzensaft grösstenteils auf dem Boden zu vergiessen. Bis das Schauspiel jetzt vorbei ist, habe ich noch ein wenig Zeit, etwas über das Verhältnis der Leute hier zum besten Freund des Menschen zu erzählen.

Der beste Freund des Menschen... In El Paraje, Mexico meinten sie zu mir, sie hätten die Hunde bis vor kurzem noch gegessen. Tja, in Lateinamerika haben die Hunde eine andere Funktion als in Berlin-Reinickendorf. Hier als Verwerter von Essensresten und um Besuch anzukündigen, durch lebhaftes Bellen.

In Elenas Haus, der kleine Knirps, selber an Volumen nicht grösser als der grosse schwarze Hund, der in der Küche steht, nimmt Anlauf und tritt dem Hund voll in die Eier. Das Tier heult auf und verzieht sich jaulend unter den Tisch. Der Kleine kann den Hund irgendwie nicht ab und trietzt ihn, wo er ihn trifft.

"Pass auf, der is fei stärker als du", sage ich auf Deutsch zu ihm, aber ich weiss, wenn er das verstehen würde, würde er mich nur auslachen. So lernen die Kinder hier, mit Hunden umzugehen.

Mit Haustieren allgemein übrigens, manchmal zum Staunen.

"Huh!", macht die kleine Dreijährige auf der Wiese, und die im Vergleich riesige Kuh mit den riesengrossen Hörnern macht einen Bogen um die Kleine, als wärs ein Löwe. Auch vor den Hunden haben die Kühe Angst und weichen schnell zurück, wenn sie angebellt werden. Die Hunde wiederum haben Angst vor der Glucke mit ihren Küken und machen um sie einen ganz grossen Bogen.

Im Dorf laufen immer die Hühner, die kleinen Schweine und die Hunde frei herum, und manchmal kommen die Kühe auch vorbei. Für die kleinen Kinder ist es gefährlich, wenn plötzlich die Pferde angerannt kommen, da sind wohl schon mal Unfälle passiert. "Aras aula!", rufen dann die Mütter, die Pferde kommen, und sofort haben die kleinen Kinder vollzählig zuhause zu erscheinen. Aber die Kühe mit den grossen Hörnern haben sie gut erzogen. Im Haus von Humberto haben sie einen grünen Papagei, der läuft da frei rum, kann nicht fliegen

.

So, endlich geschafft, die Flasche ist leer und das Ergebnis ist, wir sind genauso fertig wie der Hund. Ovita ist eine von den Erdbewohnerinnen mit Digitaluhren[40] - Mariposas Puls ist achtundneunzig, hm, was haben Hunde für einen Puls? Frontera hat achtzig... etwas später hat Mariposa auch zweiundachtzig... also ich weiss ja nicht, ich räume ihr mehr Chancen ein als die Leute.

Nächster Morgen, erste Frage von Seberino an seine Mutter, die früher aufsteht:

"Ist der Hund schon tot?"

"Ja. Ja, ich glaube -" - Hat sie s nur geschätzt oder hat sie den Hund nur schlafen sehen? Kurze Zeit später seh ich ihn jedenfalls noch relativ munter herumlaufen.

Aber ich sehe, was los ist: er blutet immer noch aus der Wunde am Ohr. Verdammt, das Gift dieser Schlange hat also bewirkt, das der Blutgerinnungsprozess gestört wurde. Wenn das Blut nicht gerinnt, wird er verbluten, das ist klar. Er muss die ganze Nacht geblutet haben, es ist auch zu sehen, unter dem Haus, wo er geschlafen hat. Was würde denn da helfen... ? Ich versuche krampfhaft, die Sache mit der Blutgerinnung aus der Schule mir ins Gedächtnis zurückzuholen... wie war das jetzt nochmal... Fibrin und Fibrinogen gibt Fibrose... oder wars anders?

"Für jedes Gift gibt es ein Gegengift.", meine ich zu Seberino, aber er versteht nicht, was ich damit meine. Für ihn stirbt der Hund, weil die Schlange böse ist, und nicht, weil das Gift der Schlange irgendeine spezifische Wirkung hat. In der Klinik haben sie gar kein Mittel gegen Schlangengift, höchstens in Auas, aber das ist ein paar Tagesreisen flussabwärts.

Fibrinogen und Fibrin gibt Fibrose... Fibrinose.. nein, das waren zwei Komponenten dabei... mist, ich kriegs nicht mehr hin. Wie kriegt man Blut zum Gerinnen? Sie rühren nochmal das Heilmittel an, der Hund wehrt sich schon wesentlich weniger, er ist halt auch schon ziemlich fertig. Aber bis zum Abend blutet er weiter aus dem Ohr, tropf, tropf, tropf, die Wunde will einfach nicht schliessen. Das Heilmittel hilft da auch nichts. Es ist kein gutes Gefühl, das mitansehen zu müssen, noch läuft er rum, aber schon total schlapp, er reagiert kaum noch, wenn Frontera und der schwarze Köter zum Pferde-Anbellen loslegen.

Nächster Morgen.

"Ist der Hund schon tot?"

"Nein, da, da ist er, der lebt noch."

Da läuft er immer noch rum. Wieviel Blut hat denn so ein Köter? Der muss doch schon mindestens zwei oder drei Liter verloren haben! Mal hingehn und ihn anschauen... - hey! Megamächtig, das Blut ist geronnen, die Wunde am Ohr ist dicht! Na, Hund, da hast du ja Glück gehabt.

Trotzdem, Mariposa ist total fertig, hat seit Tagen nichts gegessen, kann irgendwann auch nicht mehr aufstehen. Viel Blut zum Verlieren hätte dieses Tier ja nun wirklich nicht mehr gehabt. Die Wunde darf auf keinen Fall wieder aufgehn, sonst wird er wohl keine zwei Tage mehr Zeit haben, die Wunde zu verschliessen. Meine Befürchtung ist, dass bei der Tageshitze der Blutdruck steigen könnte. Mariposa liegt vor dem Haus, wo tagsüber Kakao und Reis in der Sonne getrocknet werden. Wir tragen ihn besser unter die Veranda des anderen Hauses, da ist immer Schatten.

"Geht nicht zum Hund.", sage ich zu den Kindern, die danebenstehen. Er braucht jetzt Ruhe, Kühle und Essen. Warte mal, Hämoglobin hat im Kern vier Eisen-Atome... also muss er Eisen kriegen. Gut, rostige Nägel liegen hier genug rum. So, und was noch? Mal ins Haus gehn und im Buch Donde no hay doctor, dem Medizinbuch für die ländlichen Gegenden Mexicos, nachlesen, im Kapitel über Anämie... oder über Mittel gegen Schlangenbisse.

Donde no hay doctor[41]. Erste Hilfe und einfache medizinische Anwendungen in sehr leicht verständlicher Sprache, von einem amerikanischen Arzt für die ländliche Bevölkerung in den mexikanischen Bundesstaaten Sinaloa und Durango geschrieben.

Informativer als alles andere, was sonst an Medizinbüchern auf dem Markt war, häufiger gelesen als die Bibel und in über zwanzig Sprachen übersetzt, war Donde no hay doctor vielleicht das erfolgreichste Buch des ganzen Subkontinents. Was für den Tramper der Reiseführer Per Anhalter durch die Galaxis war, war dieses Buch für die Landbevölkerung Mexicos und Mittelamerikas. In vielen Häusern war dieses Buch das einzige, was die Menschen an Literatur besassen. So auch bei Indio.

Von den verschiedenen Tropenkrankheiten bis hin zu Knochenbrüchen, von falscher Ernährung bis hin zu Problemen bei Hausgeburten behandelte das Buch alle in den ländlichen Gebieten der Tropen und Subtropen vorkommenden medizinischen Fragen. Auch Massnahmen zur Vorbeugung von Krankheiten. Die Mískitos schienen ihre Plumpsklos genau nach der Anleitung in diesem Buch gebaut zu haben.

Nebenbei stand auch drin, dass in den tropischen Ländern Babies nicht gewickelt werden und lieber nackt herumlaufen sollten. Auch daran hielten sich die Mískitos. Obwohl, damit waren wohl eher die Mestizen angesprochen, die öfter irgendwelche in den Tropen völlig unangebrachten spanischen Traditionen übernahmen.

Ich nahm einen A5-Zettel und schrieb mir in superkleiner Schrift und Abkürzungen alles ab. Vierundvierzig Kapitel auf einem kleinen Zettel. Ausprägung und Symptome von Krankheiten, Behandlung, Dosierung von Antibiotika, Verabreichung von Spritzen, Komplikationen bei einer Geburt. Das Buch war wirklich nicht schlecht geschrieben. Das Kapitel über Geburt fing mit den Worten an, dass die Frau genau wie jedes andere weibliche Säugetier von Natur aus in der Lage ist, völlig allein und ohne jede Hilfe ein Kind zur Welt zu bringen. Mit einem Unterton, dass genau das in den meisten Fällen in Sinaloa und Durango auch besser wäre, als oberschlaue Dorf-Hebammen hinzuzuziehen.

Und die Ursachen der Krankheiten. Oft genug stand in einfachen Worten nur da: Ursache: schlechte Ernährung.

Und in einem der Kapitel stand auch genau erklärt, wie sich eine Giftschlange von einer ungiftigen Art unterschied. Naja, zumindest bei den Arten von Sinaloa und Durango. Im trockenen Norden Mexicos. Von einem Schlagenmittel für Hunde stand allerdings überhaupt nichts drin. Mittel gegen Anämie: bessere Ernährung.

Indio, Faustino und Seberino kommen an und wollen ihm das Mittel nochmal geben. Was? Nein, jetzt ist doch schon - ich mein, die Wirkung des Gifts hat doch schon - mist, wie sag ich ihnen das denn jetzt?

"Nein, nicht das Mittel geben, er wird nicht sterben, sieh ihn doch an, jetzt ist es schon gut."

"Doch, er wird sterben, wir müssen es unbedingt nochmal mit dem Mittel versuchen."

"Zuviel Medizin ist auch nicht gut, das ist dann wieder giftig. Das steht hier in dem Buch drin." - Mensch, Seberino ist doch kein Arzt.

Indio ist auch dafür: "Besser wir geben ihm das Mittel nochmal."

"Nein, ich denke, die Medizin braucht er jetzt nicht mehr, die Wunde darf nur nicht wieder aufgehn. Heute braucht er gutes Futter." - Er überlegt kurz, Futter war wohl ne Idee.

"Erst geb ich ihm das Mittel, und dann kriegt er gutes Essen.", hat er sich entschieden.

Na gut, was solls, zu dritt sind wir also wieder mit dem Mittel dabei, der schlappe Hund wehrt sich noch weniger als gestern, er weiss halt auch schon, um was es wieder mal geht.

"Und dann kriegt der Hund gutes Essen." Was kriegen wir? - Reis, Bohnen und gekochte Bananen. Und was ist gutes Hundefutter? - Reis, Bohnen und gekochte Bananen... Witin plun píras - er/sie isst nicht.

"Das ist schlechtes Essen für den Hund", meine ich zu ihnen, "der Hund braucht Eiweiss, Proteine, dieses Essen nützt ihm nichts."

Ein bisschen komisch muss es sich für sie schon anhören... Fleisch, Fisch oder Eier für den Hund. Sie beobachten zwar, dass die Hunde das gerne essen, aber sowas ist teuer. Ich gehe zu Santiagos Haus, vielleicht schaffe ich es, ein wenig Milch zu organisieren. Ich muss es nur geschickt anstellen.

"Eine Schlange? Oh, der arme Hund."

"Ich glaube, er kanns überleben. Ich weiss eine Medizin, die wird aus Milch hergestellt, ich bräuchte dazu nur einen Becher Milch."

"Hundemedizin aus Milch herstellen? Kannst du das denn? Hilft das auch?"

"Ich habe die Schlange selber nicht gesehn, aber ich weiss, dass es so eine Medizin gibt. Ich will es mal damit versuchen."

"Milch. Wir haben aber nur abgekochte... -"

"Die hilft auch."

Einen Becher Milch gibt sie mir. Wohl weniger wegen dem Hund, sondern weil ich es bin, der sie darum bittet.

Lohn der Arbeit: der dumme Köter trinkt auch nicht. Blöder Hund. Jetzt kann er warten, bis er Schlappi kriegt.

Dabei habe ich mich extra angestrengt und das Ende eines Rinderröhrenknochens mit einer Machete bearbeitet und mit drei rostigen Nägeln die ganze Suppe durchgerührt, und die Kinder haben ganz interessiert zugeschaut und es überall im Dorf rumerzählt.

Etwas später komme ich vom Baden vom Fluss, Faustino ist beim Hund.

"Na, schon verreckt?", frage ich.

"Nein, aber er hat die Milch getrunken."

"Hey, hat er?!"

Jetzt ist er übern Berg! Er kommt wieder zu Kräften, kann bald schon wieder laufen. Mittags wollen sie ihm das Pflanzenzeug nochmal geben, aber er lässt sich nicht mehr fangen. Ich glaube kaum, dass ihm das Mittel irgendwie geholfen hat, der Köter hat sich in der Zeit seine Abwehrstoffe oder sein Fibrinzeugs wohl selber hergestellt. Am Abend sucht er sich sein Essen wie gewohnt von unter dem Haus: Reis, Bohnen, yuca und gekochte Bananen...

Am nächsten Morgen ist alles gepackt und es geht ab in die Berge. Diesmal sind wir mehr Leute. Indio und Primo von der ersten Tour, dann einer um die fünfundzwanzig, Flüchtling aus Nicaragua, dort leben ja auch Mískito-Indianer, bei mir heisst er Nic, der Name passt zu ihm.

Der Sumu-Indianer, ein Freund, auch so alt wie Nic, steigt in Pimienta zu, zusammen mit der Köchin, mit ihrem vier Monate alten Baby. Und auf gehts.

Und Köter. Der ist wohl auch noch nie Einbaum gefahren. Sechsmal wird er bei der Hinfahrt ins Wasser fliegen und wir müssen ihn jedesmal wieder herausfischen wie einen nassen Waschlappen, hinterher hat er die dicke Erkältung.

Sie staken zu dritt. Der Einbaum ist vielleicht sieben Meter lang, und wenn sie zu dritt staken, stehen sie alle drei vorne. Sie müssen ein wenig geschickt mit ihren fünf Meter langen Holzstangen umgehen, wenn sie sich nicht in die Quere kommen wollen. Das kriegen sie aber schnell raus.

Nic scheint eher in der spanischen Sprache zuhause zu sein, obwohl sie sich untereinander ausschliesslich auf Mískito unterhalten. Aber nicht nur Nic, sondern auch die Frau unterhält sich mit mir auf Spanisch. Aber das machen sie wohl nicht so gerne, besonders Primo und Indio nicht, sodass wir uns zunehmend mehr auf Mískito unterhalten.

Der Sumu spricht kein Spanisch, nur Sumu und Mískito, dazu ein wenig Englisch, in der Schule hat ers wohl nicht gelernt. Er versteht es am wenigsten, wenn ich abends mit meinem selbstgebastelten Holz-Messstab ein wenig die Sterne und Planeten betrachte. Den anderen ists wohl egal, ausser Primo, der fragt sich auch, was das für einen Sinn haben soll.

Essen. Die Frau kocht zwar, aber die Rollenverteilung ist hier wie gesagt nicht so streng wie in Mexico. Auch mir gibt sie schonmal das Geschirr in die Hand: hier, hast du die Seife, wasch mal ab. Fische und Flusskrebse fangen kann sie auch, genausogut wie die anderen.

Fische fangen ist der Job der Mískitos, da sind sie in ihrem Element. Nicht mit Schleppnetz, auch nicht mit Dynamit, wie es die Mestizen in Mexico machen. Die hier können fischen. Mit der Angelsehne in der Hand, mit Spiess, Speer, Machete oder mit Pfeil und Bogen. Wenn wir den Fluss entlangfahren, sehen wir oft Leute, die am Flussufer stehen, mit Speer oder mit Pfeil und Bogen, und das Wasser fixieren.

Wir kommen an der Kiesbank an, wo sie den yulu-Baum gefällt haben, schlagen das Lager auf, die Frau bleibt tagsüber am Lager, und wir gehen zum Baum. Indio hat abgesteckt, wie lang das cayuco werden soll, etwa acht Meter, und zunächst wird die ganze oben liegende Hälfte des Baumstammes weggehackt, mit den Äxten. Das geht recht schnell, nach ein paar Tagen sind wir damit fertig. Die Holzstücke, die dabei durch die Gegend fliegen, sind oft mehrere Kilo schwer. Ich kann es wie erwartet nicht so gut, und im Gegensatz zu mir werden die vier auch immer schneller und immer besser. Ich bin zwar ähnlich ausdauernd wie sie, aber es haut mit der Technik am Ende nicht so hin, sie schaffen einfach mehr.

Ich frage sie, wie alt der Baum gewesen sein mag. Sie müssen extra Indio fragen.

"So fünfundvierzig Jahre.", meint er, nach einigem Abwägen. Ich komme beim Zählen auf einhundertvierundvierzig Jahresringe, die Methode mit den Jahresringen kennen sie natürlich auch nicht. Da es hier eine Trocken- und eine Regenzeit gibt, müssten das also 144 Jahre sein. Das wäre alt, für den Urwald.

Nein, sie denken nicht in Zahlen und Jahren, wie in Europa. Bis vier nehmen sie ihre Zahlen in Mískito (vier heisst einfach zwei-zwei), ab fünf die spanischen, ab hundert auch die englischen. Die Garífuna taten gut daran, ihre Zahlen nicht aus dem Mískito, sondern aus dem Französischen zu entlehnen. Wenn sie "zwanzig" sagen wollen, müssen sie auf die Weise nicht sechzehn Silben aussprechen, wie im Mískito, sondern nur eine einzige: vingt.

Was sie beeindruckt, ist, dass ich ihnen im Wald eine Sonnenuhr bastel. Das geht ganz einfach, wo die Sonne mittags fast senkrecht steht, und ich kann ihnen immer fast auf die Minute genau die Uhrzeit sagen. Zum Mittagessen gehen wir immer zur Kiesbank.

Den Indianern scheinen auch die Namen der Leute nicht so bedeutend zu sein wie uns. Die Frauen im Haus gebrauchen die Namen häufiger, aber hier reden sie sich einfach mit "Freund" an, "der Sumu", "der Andere". Primo heisst auch nicht Primo, sondern Indio nennt ihn nur so, weil er sein Neffe oder sowas ist, primo ist das spanische Wort dafür. Mich nennen sie mit Vorliebe weykna píhini - "weisser Mann". Weil ich so eine weisse Hautfarbe habe.

Sie nennen mich hier nicht gringo, das haben sie mir erklärt, das wäre falsch, weil ich Deutscher sei und gringo nur für US-Amerikaner verwendet würde. Offensichtlich auch für schwarze US-Amerikaner. In Mexico haben sie mir erklärt, dass gringo "Weisser" heissen würde und dass das für mich genau richtig sei. In einem alten spanischem Wörterbuch stand, dass gringo von griego = "griechisch" käme, schon in Spanien verwendet worden sei und ursprünglich eine allgemeine Bedeutung für "fremde Person" gehabt hätte.

Wenn mich die kleinen Mädchen in Wampusirpi ärgern wollen, nennen sie mich míriki, das heisst gringo auf Mískito. Aber sie wissen genau, dass sie mich ärgern damit, deshalb machen sie das auch nur, weil ich zwar Weisser bin, aber kein míriki, kein Amerikaner.

Das Land hier hat ein vorbildliches Verhältnis zur Haut- und Haarfarbe der Menschen. In Rassen unterscheiden sie sich schon, warum sollten sie das nicht, nur wird hier niemand diskriminiert. In Limón an der Karibikküste ging es einmal darum.

"Wir sind Mestizen, wir kommen aus den Bergen, nicht wie ihr von der Küste, wisst ihr, wir denken halt in dieser Beziehung anders als ihr", meinte der Mestize zu den schwarzen Garífuna, es ging um Musik, "unsere Vorfahren sind Spanier und Indianer gewesen."

"Ja, du hast vielleicht recht, unsere Vorfahren kamen aus Afrika, da denken wir wohl anders."

Einem aus Barra Patuca habe ich erzählt, dass da, wo ich herkomme, fast nur Weisse wohnen.

"Nein, hier ist alles bunt durcheinander, wir wollen uns gründlich vermischen, möglichst ein bisschen von allem im Blut haben."

Als wir den Fluss rauffuhren, nahmen sie einen mit, per Anhalter sozusagen. Er stand einfach an einer Kiesbank, nahm seine Stange und stakte zwei Stunden lang mit. Mit Indio unterhielt er sich auf Mískito. Im anderen Einbaum kam ein Kumpel entgegen, hatte dunkle Haut und krause Haare, sie riefen sich ein paar Sätze zu, auf Spanisch. Warum auf Spanisch? Vielleicht war er von den Schwarzen an der Küste.

"Ist er Garífuna?", fragte ich ihn.

"Nein, der ist Mískito." - Er dachte ein wenig nach über meine Frage, und meinte dann lächelnd: "Sí, tal vez tiene un poquito." - ja, der hat wohl was davon im Blut...

Vielleicht lächeln sie dabei über den Hintergedanken, wer da wohl mit wem geschlafen haben wird, über die Generationen hinweg. Eine junge Frau in Indios Haus sah auch sehr afrikanisch aus und meinte zu mir, lächelnd, sie sei eine Garífuna, aus Belize. Es war die Frau von Faustino, mit dem sie ein Baby hatte. Warum war sie denn Garífuna?

"Sprichst du Garífuna?"

"Nein, ich spreche nur Mískito."

"Und seit wann bist du hier in der Mosquitia?"

"Seit ich klein war."

"Und deine Eltern, bei dir zuhause, haben die Garífuna gesprochen?"

"Nein, die sprechen auch nur Mískito, und Spanisch. Die sprechen kein Garífuna."

"Und deine Grosseltern?"

"Das weiss ich nicht mehr, was die gesprochen haben... ich glaube, die kamen aus Belize. Ich bin Garífuna aus Belize."

"Wenn du kein Garífuna sprichst, dann bist du doch Mískito."

"Das ist doch egal, welche Sprache du sprichst, das hat doch nichts mit der Rasse zu tun. Du sprichst ja auch Mískito und bist kein Indianer."

"Ja, aber ich spreche auch die Sprache von Weissen, und meine Eltern sprechen die auch, aber du sprichst nicht die Sprache der Schwarzen."

"Nein, das geht anders. Ich bin viel grösser als die Mískitos, du siehst doch, ich bin grösser als Faustino, und der ist ein Mann, und die Männer sind doch meistens grösser als die Frauen.

"Cristela ist auch grösser als Faustino und Indio."

"Aber die Garífunas sind viel grösser als die Mískitos. Ich bin doch fast so gross wie du. Die Weissen sind auch grösser als die Mískitos. Jedenfalls du und Bettina und Don Ignacio und die gringos von den Flugzeugen." Sie war etwa ein Meter fünfundsiebzig, zehn Zentimeter kleiner als ich. Fast alle Indianer waren kleiner als sie.

"Oder du bist Kreolin, das ist die Mischung zwischen Indianern und Garífuna."

"Wie, die heissen Kreolen?"

"Ja, Kreolen, die Mischung zwischen Schwarzen und Indianern."

"Trotzdem bin ich Garífuna, ich weiss doch, dass ich Schwarze bin, und ausserdem bin ich stolz dadrauf. Das muss falsch sein, wenn du sagst, dass ich keine Schwarze bin. Ich bin eine Garífuna aus Belize."

"Na gut, du bist keine Kreolin, dann ist der chíquito meinetwegen Kreole, und du bist Garífuna..." - Chíquito[42] nennen sie hier die Babies.

"Ja, ich bin Garífuna, aber der chiquito, der ist Mískito, das sieht doch jeder... wart mal, du hast recht, der ist ja gar kein Mískito, weil ich ja Garífuna bin. Ach, dann ist der chíquito also Kreole?"

"Ja, genau!" Sie muss lachen, ich muss auch lachen, wir müssen beide lachen.

Im Radio bekommen wir täglich mit, was in Nicaragua läuft. Beziehungsweise in Honduras Grenzgebieten in den Bergen etwas weiter oben, etwa ein oder zwei Tagesreisen weiter flussaufwärts. Die Befürchtung der honduranischen Militärs von vor einer Woche scheint wohl begründet gewesen zu sein: sie sprechen von achtzig Sandinisten, die über die Grenze nach Honduras gekommen sind, um ein bisschen Rabatz bei den contras zu machen. Tagsüber kann man auch immer wieder einige Flugzeuge kreisen hören.

"Das sind nicht die hondureños, das sind die Sandinisten, die suchen die Gegend nach contra-Stellungen ab, lass dich am besten nicht sehen, wenn eins kommt", meint Nic, der sich wohl seine Hängematte von denen organisiert hat.

Der Weg in die Berge nach Nicaragua sei ein kleines bisschen weiter flussaufwärts. Einige, die auf einer anderen Kiesbank gezeltet haben, zum Fischen waren sie hier, fahren wieder runter, weil es ihnen zu gefährlich wird. Wir bleiben.

Primo und der Sumu sind auch aus Nicaragua. Nic ist vor fast zehn Jahren geflohen, mit seinem Vater. Er erzählt von seiner Mutter und seinen Brüdern, die dageblieben sind. Auch der Sumu, der vor fünf Jahren weg ist, hat seine Familie dort, und manchmal blickt er nachdenklich und etwas traurig auf die Berge im Süden, "Dort drüben hinter diesen Bergen sind meine Leute", sagt er mir einmal.

Die Sumu-Indianer wohnen wie die Mískitos auch in Honduras und in Nicaragua, also beiderseits der Grenze. Als die Staatsgrenzen Mittelamerikas erfunden wurden, wurden die Indianer nicht gefragt. Allerdings hat sich früher auch kein Mensch drum gekümmert, was die Indianer von der Grenze am "Río Coco" hielten, dem Fluss, der bei den Indianern "Wangkí" heisst. Vor der Revolution war die Grenze grün.

"Ja, wir Mískitos mögen die Sandinisten nicht", meint Nic, "nosotros somos contras." - wir sind contras. Ich will ihn mal mit ein paar naiven Fragen aus der Reserve locken. Wir wollen ja was lernen, über dieses Land

"Warum mögt ihr die Sandinisten nicht? Weil das Spanier sind?"

Nic: "Nein, weil das Kommunisten sind, die werden von den Russen unterstützt, und von den Kubanern, den Bulgaren, eben von Kommunisten."

Primo, auch auf Spanisch: "Kommunisten! Die sind schlecht."

"Was machen die?"

Nochmal Primo, wenns ihm zu dumm wird auf Mískito, mit der perfekten Antwort: "Cómunista, saura!"

Das Wort saura hat mindestens fünfzig verschiedene Bedeutungen. Überhaupt hat die Indianersprache weniger Vokabeln als europäische Sprachen, viele Wörter haben mehrere, ähnliche Bedeutungen. So haben sie hier zum Beispiel für Sonne, Tag, Wärme und heiss ein und denselben Begriff: lapta. Der Begriff saura bedeutet "schlecht, böse, gefährlich, giftig, unreif, faul, verboten, ungezogen, hässlich, nutzlos, untauglich, ungünstig, doof, überflüssig, durcheinander, verrückt, unlogisch, wertlos, ungerecht, mies, öde, gemein, fies, hinterhältig, unausstehlich", und in diesem Fall wohl einfach "von Natur aus schlecht, das sprichwörtliche Allerletzte".

Dem kleinen Kind bekommt die Hitze wohl nicht so gut. So fährt die Köchin nach einer Woche mit einem tuktuk wieder zurück. Ihr selber gings am Ende auch nicht mehr so gut.

Als nächstes ist wohl der Hund dran, er frisst kaum noch was von seinem Reis mit Bohnen, grad mal die Fischgräten. Tagsüber ist mit ihm sowieso nichts anzufangen, abends klaut er sich manchmal unauffällig ein paar Bananen, die sie einfach ins Schilf gelegt haben. Und die wir uns ausserdem mit den Eidechsen teilen dürfen, die sich fleissig bedienen. Bis jetzt war die Köchin immer auf der Kiesbank geblieben, tagsüber, während wir am Baum waren.

"Jetzt ist die Köchin weg, jetzt musst du auf die Sachen aufpassen." Tut uns ja leid.

Ach, Leute, ihr wisst ja gar nicht, dass mir das Spass macht. Hab ich meine Ruhe, den ganzen Tag ungestört an einem Fluss im Urwald, kann mich im Fischen üben, oder im Einbaumpaddeln. Oder Bambuskörbe flechten, Bananen schälen, Fische ausnehmen... ständig schneide ich mir irgendwo in die Finger, meine Hände sehen fast schon genauso aus wie meine Wüstenschuhe.

Ich soll mir neue Schuhe kaufen, meinen sie zu mir, sie selber laufen immer in Gummistiefeln rum. Naja, aufpassen, sie könnten irgendwo kaputtgehen, brauche ich bei meinen Wüstenschuhen (aus Stoff waren die einmal gewesen, wie billige Turnschuhe) wirklich nicht mehr.

Vorgestern gabs Papagei, auf Mískito guára. Einer von den ganz grossen, rot-blau-gelben, die längste Schwanzfeder misst knapp sechzig Zentimeter. Sie haben ihn von einigen Leuten, die den Fluss raufkamen, getauscht. Oder besser gekauft, Währung in der Wildnis: Zigaretten. Papagei schmeckt ganz lecker, bisschen ähnlich wie Geflügel, aber mehr wild. Hartnäckig wollen sie wissen, warum in Deutschland die Leute keine Papageien essen. Sie wissen, dass die lebenden Tiere für zweihundert Dollar nach Europa gehen. Die wissen wohl nicht, was gut ist.

Interessant ist auch, was wir hier alles für Säugetiere essen. Affe schmeckt ein bisschen arg streng nach Affe, für mich ein eher unangenehmer Geschmack. Aber wir können ja nicht den ganzen Fluss leerfischen.

Bei dem ibíhina weiss ich dann beim besten Willen nicht die deutsche Bezeichnung. Sieht aus wie eine Mischung zwischen Hase und Schwein, der Sumu hat ihn mit Machete erlegt, nachdem er ihn aus dem Wald zum Fluss gejagt hatte. Ibíhina hat gutes, zartes Fleisch.[43]

Und auf einmal ist der Hund hellwach! Seinen Reis frisst er immer noch nicht. Ich glaube, er tut langsam gut daran, sich mit den Fischgräten und Schildkröteninnereien zu begnügen. Ganz so mager wie am Anfang ist er nicht mehr. Am Anfang hätte er sich ja sein Fell auch noch sparen und sein Skelett mit Stricks zusammenbinden können.

Die Schildkröten fängt der Sumu mit Taucherbrille, die haben wir öfter mal zum Essen. Sind auch ganz lecker, nur an denen ist halt ein bisschen wenig dran. Die Eier von den Schildkröten können sie an trockenen, warmen sandigen Böschungen am Flussufer finden, wenn sie den Sand mit einem Stab abtasten. Schmecken genauso wie Hühnereier.

Ich versuchte weiter, mit der Angelleine in der Hand Fische zu fangen, aber bald hatte ich den Fluss leergefischt und fing nur noch sehr kleine Fische, mit Bohnen. Und irgendwann waren auch die dezimiert. Ich konnte mit dem Einbaum zwar an andere Stellen paddeln, aber ich durfte mich nicht zu weit von der Kiesbank entfernen. Am Anfang paddelte ich noch sehr unsicher. Bald hatte ich mehr Übung. Später übte ich auch palancar, staken, mit einer langen Stange. Auch das bekam ich nach einiger Zeit hin.

Tagsüber hatte ich jede Menge Zeit auf der Kiesbank. Nur die Sterne konnte ich tagsüber nicht beobachten, nur abends, aber dann kamen die anderen und ich war nicht mehr alleine.

Der Messstab, um den es gleich geht, war aus Bambusholz, sah so ähnlich aus wie ein Sextant und diente dazu, die Entfernungen zwischen den Sternen in Grad zu bestimmen. Damit erstellte ich mir im Lauf der Zeit eine immer vollständigere Sternenkarte. Ich wollte ja immer rauskriegen können, wo Norden war. Auch wenn nur ein paar Sterne zwischen den Wolken zu sehen waren. Es gab immer wieder Momente, wo mir deutlich wurde, dass ich Europäer war.

Hab ich Trottel doch wieder meinen Messstab für die Sterne verlegt, grade eben hatte ich ihn doch noch. Ich habe ja einen Verdacht, und dieser Verdacht erhärtet sich, als am Morgen plötzlich auch der zweite Stab, den ich mir schnell provisorisch gemacht habe, auch weg ist. Dann eben nicht. Ein bisschen komisch sind sie ja schon. Mich interessiert jetzt, warum.

Der Sumu: "Was suchst du?"

"Ach, diesen Stab für die Sterne."

"Oh, ist der weg, wo hast du ihn denn zuletzt liegen lassen?"

"Ist ja egal, morgen werde ich ihn finden." Hm, vielleicht tue ich ihnen ja Unrecht und ich habe ihn aufs Dach gelegt...

"Du musst ihn nicht suchen", Primo, "hier, mach mal den Reis sauber, das ist gescheiter."

Also war es wohl eine Einzelaktion von Primo, auf sowas kommt der Sumu nicht. Primo tuschelt dem Sumu etwas zu, und auf einmal findet der Sumu Gefallen an der Idee. Noch tagelang fängt er immer wieder damit an, "Wo ist denn der Sternstab? Wo ist er denn?"

Primo: "Warum studierst du die Sterne, das bringt doch nichts."

"Wieso, das ist doch ganz interessant, es gibt Sterne und Planeten, du kriegst nachts die Uhrzeit raus, und wo Norden ist, das kann doch mal ganz nützlich sein."

"Nein, das ist nicht gut, was du machst. Die Sterne sind schlecht, die Planeten auch, saura."

"Warum sind die Planeten schlecht?" -

Warum soll gerade so ein absolut unbedeutender kleiner blaugrüner Planet irgendwo in einem völlig aus der Mode gekommenen Ausläufer des westlichen Spiralarms der Galaxis[44] der einzig gute unter den ganzen Sternen und Planeten sein?

"Die Planeten sind schlecht, da gibt es Kommunisten, Russen, die sind schlecht, ja, check mal was, cómunista, saura."

"Da lebt keiner auf den Planeten, auch keine Kommunisten. Aber dein Radio ist schlecht, da senden die Sandinisten, Voz de Nicaragua, das ist kommunistisch, saura." - Gerade hat ers wieder laufen.

"Das Radio ist nicht schlecht, das Radio ist gut."

"Aber Voz de Nicaragua ist schlecht."

"Voz de Nicaragua ist gut."

"Aber das ist doch sandinistisch!"

"Voz de Nicaragua ist gut."

Wer die versteht. Komischer Krieg. Voz de Nicaragua sendet mehr Musik als der Contrasender.

"Und deine Sonnenuhr ist auch schlecht, der Holzstock gehört ins Feuer." Ha, das hat sie wohl beeindruckt, dass ich ihnen so genau die Uhrzeit sagen konnte. Vielleicht vermutet Primo irgendeinen Zauber dahinter.

"Wenn die Sonnenuhr schlecht ist, dann ist deine Armbanduhr auch schlecht, die gehört auch ins Feuer", die anderen lachen.

"Die Armbanduhr ist nicht schlecht, die kam zweihundert Lempira, die gehört nicht ins Feuer..."

Es gibt ja einige Spezialisten, die sich sehr schlecht nur in jemand reinversetzen können, der die Sprache erst lernen muss. Primo ist einer von ihnen. Er ist zweisprachig aufgewachsen, hat aber offenbar keine Ahnung davon, wie es ist, eine Fremdsprache zu lernen. Er versteht es noch nicht einmal, einen Satz auf Mískito langsam zu wiederholen.

Mit dem Sumu kann ich mich besser unterhalten, obwohl der kein Spanisch spricht. Er versteht es, Sachen zu umschreiben. Oft geht es im Gespräch ja um irgendwelche Tiere, und Primo ist immer völlig hilflos, wenn ich auch das spanische Wort dafür nicht weiss. Nur dem Sumu fällt es sofort ein, das Quaken eines Frosches zu imitieren (übrigens perfekt) oder einen Affen nachzumachen.

Mit Nic klappts am besten. Wenn ichs auf Mískito nicht verstanden habe, dann auf Spanisch. Er kann auch gut einzelne Wörter erklären, scheint auch sonst irgendwie einen besseren Durchblick zu haben. Es sei der Konflikt zwischen den beiden Grossmächten, der den Krieg in seinem Land verursache. Er findet es genauso witzig wie ich, sich einen Gag aus den Parolen von Radio Sandino zu machen, die sie täglich jede volle Stunde bringen. Córdobas nuevos, ¡éstos sí valen! Wenn wir das paarmal am Tag wiederholen, wird es irgendwann witzig, weil es klar ist, dass die Inflation unverändert ist und die neuen Córdobas genauso wenig Wert sind wie die alten.

Als dreitausendzweihundert US-Soldaten ins Grenzgebiet geflogen werden (Jamastrán-Tal, westlich von hier, genau da bin ich im Januar durchgekommen), sendet Nicaragua Durchhalteparolen für die Bevölkerung - "Por una paz digna. ¡Patria libre o morir!" - Freies Vaterland oder Sterben.

"Wir wollen alles tun, was möglich ist, um den Frieden zu erhalten...", ... Freiheit... Souveränität... Nein, die Gefahr, dass ein Krieg ausbricht, besteht hier nicht. Hier ist Krieg, und das ist seine Sprache.

Aber Nic hat sich an den Krieg gewöhnt, er ist ja schon fast damit aufgewachsen. Arg fremd fühlt er sich hier in der honduranischen Mosquitia auch nicht, das ist wohl der Vorteil dabei, wenn die Indianer nicht gefragt werden, wenn in Mittelamerika die Grenzen erfunden werden. Jedes System hat auch seine Vorteile... Schnell ein kleines Liebeslied hinterher[45] - Nic singt gern einmal ein Lied beim Staken. "Nosotros mískitos somos contras" - wir Mískitos sind contras - so ist das halt, so ist das Leben. Nic bringts trotzdem Spass.

Indio ist mir von den vieren noch am dunkelsten geblieben, obwohl ich nun schon seit zwei Monaten sein Gast bin. Er spricht wenig, manchmal nur das Nötigste, schaut aber oft nachdenklich in die Gegend. Er kann stundenlang aus einem Fenster schauen. Indio teilt das Essen aus. Und Kaffee mag er. Wenn die anderen ihre Witze machen, lacht er nur manchmal auch mit. Bei ihm ist es oft schwer, und auf irgendeine Weise auch immer völlig unwichtig, herauszufinden, ob er etwas falsch verstanden hat oder nur so tut.

Einmal lacht er aus vollem Halse los: als er beim Aufgiessen vergessen hat, den Kaffeesatz in den Filter zu tun. Der Hund hatte ihn irritiert, der aus der Tasse mit dem Zucker geschlabbert hatte.

Wenn er der Älteste ist, heisst das nicht, dass er weniger flink Flusskrebse fangen kann als die anderen, und auch nicht, dass er weniger hart cayuco-hacken kann: er sucht sich von Anfang an das schwerste Stück des Baumes aus - und kommt fast doppelt so schnell vorwärts wie jeder der drei anderen. Und dabei fühlt er sich noch ein bisschen schwach, er ist ein bisschen krank, das Aspirin-Zeug will auch nicht helfen.

Nach drei Wochen war das cayuco fertig. Jetzt schlugen sie mit Machete einen Weg durch den Wald, den Berg runter an den Fluss, und transportierten das schwere Boot, auf Baumstämmen rollend, zum Wasser. Am nächsten Tag packten wir alle Sachen rein, hängten den anderen Einbaum hinten dran und fuhren flussabwärts.

Flussabwärts natürlich in der Mitte des Stromes, wo es am schnellsten ging. Etwa einen halben Tag, dann liessen wir das cayuco auf einer Kiesbank, bei einem, der die Feinarbeiten vornehmen würde. Alle Kanten herausschleifen, imprägnieren und so.

Nic, Primo und der Sumu verabschiedeten sich in Pimienta, der Hund war hier auch wieder zuhause und schliesslich fand ich mich mit Indio allein, im kleinen Einbaum, den Patuca heruntertreibend.

Indio ist eingeschlafen, in der Mitte, ich sitze hinten. Ich sehe, wo der Fluss in die Kurve geht, kommt das Boot immer mehr ans Ufer, immer dichter ran, mist, das ist gefährlich, wir werden gleich... ich nehme schnell das nächstbeste Paddel - und merke, oh, es ist ja gar keine Gefahr, ich kann das ja, es sind ja nur ein paar wenige Schläge, und wir sind wieder in der Strommitte.

Fast hatte ichs vergessen: ich hatte ja das Einbaumfahren gelernt.

Sie hatten noch einen zweiten yulu-Baum gefunden, einen etwas kleineren, und ihn auch gefällt. Aber da in der heiligen Woche vor Ostern bei den Mískitos nicht gearbeitet wurde, sollte der erst nächste Woche drankommen.

Indio bekam Probleme, weil sich herumgesprochen hatte, dass er yulu-Bäume im Naturschutzgebiet gefällt hatte. Von hohen Strafen war die Rede. Alle waren der Meinung, es werde alles nicht so heiss gegessen, wie es gekocht werde, aber dennoch würde Indio seine cayucos nicht so einfach loswerden.

Einen ganzen Monat blieb ich noch in Wampusirpi. Don Ignacio bewunderte langsam meinen Mut, mich überhaupt nicht um mein Visum zu kümmern. Anders als alle anderen Ausländer, die alle vier Wochen nach Tegus mussten, oder anderen zumindest ihre Pässe zur Visums-Verlängerung mitgaben.

Bettina kam einmal in Wampusirpi vorbei, machte ein paar Tage Rast und die Leute strömten sofort aus, mich zu suchen und mich mit ihr bekannt zu machen. Komisches Gefühl, die deutsche Sprache, nach so langer Zeit. Sie hatte auch schon von mir gehört, von so vielen Leuten, die auch erzählt hatten, dass ich Mískito sprach. Bettina pendelte immer zwischen Mexico City und Honduras hin und her, arbeitete mit den Sumus, irgendwelche Entwicklungsprojekte.

Wampusirpi war gar nicht so klein wie der Name vermuten liess[46], hatte vielleicht tausend Einwohner, mit den Flüchtlingen, die nebenan im Lager wohnten. Der Ort war ursprünglich eine Neugründung von Indianern aus Wampú gewesen. Die Schule war allerdings in Spanisch[47].

Ich schwamm viel im Fluss in diesen Wochen, übte Tauchen. Jeden Morgen ging ich zum Ufer, immer zur selben Stelle. Ich tauchte dort, wo die Strömung so schnell war, dass ich im trüben Wasser immer auf derselben Stelle blieb, wenn ich gegen die Strömung tauchte. Jeden Tag einen Tauchzug mehr. Am Ende waren es dreiunddreissig. Ich hatte keine Ahnung, dass ich damit schon fast siebzig Meter weit tauchen konnte.

Oder ich spielte mit den Leuten auf dem Dorfplatz Volleyball. Das hatte ich mir vorgenommen, nicht zuletzt weil die Militärs von der comandancia auch mitspielten und es immer gut war, sie zu kennen und mit ihnen ein freundschaftliches Verhältnis zu pflegen.

Es gab eine delikate Szene vor Elenas Lagerhaus, in dem an einem Abend ein Dorffest mit Musik und Tanz stattfand. Viele Leute standen herum, manche waren ziemlich betrunken. Unter anderem auch einer der Militärs, der mir gegenüber immer besonders misstrauisch gewesen war und den ich gemieden hatte. Ich wusste nicht, was er gegen mich hatte, aber ich hatte das Gefühl, vielleicht ahnte er, dass mit meinen Papieren etwas nicht stimmte. Auch beim Volleyballspielen war es mir nie gelungen, sein Misstrauen zu überwinden. Nun stand er mit seinem Maschinengewehr in der Menge der Leute und sah mich. Er ging auf mich zu, wie in einem schlechten Film, entsicherte die Waffe und richtete sie auf mich. Die Leute, die um uns herum standen, sahen auf einmal, wie ernst die Situation war und gingen vorsichtig auseinander. Immer mehr Leuten stockte der Atem, als sie sich umdrehten und es sahen.

Rüdiger Nehberg hatte in seinen Survival-Büchern viel über Militärs geschrieben. Was waren es für Menschen, die in den Folterknästen der Erde Menschen quälten und umbrachten? Es gab zwei Sorten von Militärs, hatte er geschrieben. Mit den einen konnte man reden, mit den anderen nicht. Dieser hier gehörte zur zweiten Sorte. Ausserdem war er betrunken. Es würde nicht nur dann schiessen, wenn ich ihn provozieren würde. Er könnte auch schiessen, wenn ich Angst zeigen oder hastig abhauen würde.

Noch nie hatte jemand so bedrohlich eine Waffe auf mich gerichtet. In Palacios hatten die beiden Militärs zwar auch ihre Maschinengewehre auf mich gerichtet, als sie mich am Abend aus dem Krankenhausbett geholt hatten, aber es bestand keine Gefahr, solange ich ihnen folgte. Hier war die Situation anders. Der Typ war unberechenbar.

Ich sah ihm in die Augen und hielt seinem Blick stand. Ich hatte eine Lebensgarantie. Wenn er schoss, würde er mich nicht tödlich treffen. Aber dafür vielleicht Unbeteiligte, die hinter mir standen. Ich blickte kurz nach hinten und sah, dass alle, die hinter mir gestanden hatten, urplötzlich verschwunden waren. Er setzte ein mieses Lächeln auf und gab mir irgendeine bescheuerte Anweisung, ich solle seine Schuhe küssen oder sowas, ich weiss nicht mehr, irgendetwas Erniedrigendes jedenfalls. Ich blieb stehen und sah ihm in die Augen.

Du kannst schiessen und mich töten, aber du wirst Probleme bekommen, sagte ich ihm in einem ruhigen und deutlichen Ton auf Spanisch. Spanisch, nicht Mískito. Spanisch war die Sprache seiner Chefs. Auch wenn ich damit die Situation dramatisch zuspitzte und keiner der Umstehenden lächelte, spürte ich genau, ich hatte den Respekt der Leute. Ich wusste, er war betrunken, und sachlichen Argumenten nur schwer zugänglich. Ich vermied es, ihm weiter in die Augen zu schauen, und blickte stattdessen in den Lauf der Waffe. Dann sah ich zur Seite, auf die Leute. In Menschenmengen gab es immer Mutige, die am liebsten direkt neben dem Ort des Geschehens standen, wenn etwas passierte. Auch hier. Und endlich, einer von ihnen hatte den Mut und griff meinen Gedanken auf. Er verwies darauf, dass der míriki nichts gemacht habe.

Doch ich war mir nicht sicher, was es bringen würde. Die Militärs waren es nicht gewohnt, dass es etwas gab, dass sie nicht durften. Erst recht nicht die betrunkenen Militärs. Ich sagte nichts. Der Soldat lächelte weiter.

Nimm die Waffe runter und lass den míriki in Ruhe, sagte ein anderer. Irgendwann fühlte sich der Soldat überstimmt, liess die Waffe sinken und lächelte über seine Leistung, dem gringo Angst gemacht zu haben. Langsam löste sich die Situation auf. Die anderen fanden es nicht so lustig und meinten zu mir, ich solle mir nichts daraus machen. Ich drehte mich trotzdem um und verliess den Platz. Einige meinten, ich könne ruhig bleiben, aber andere wiederum sagten, sie könnten es verstehen, wenn ich nicht bleiben wollte.

Nach ein paar Tagen kam er zu Indios Haus und entschuldigte sich. Er war froh, dass es damit getan war. Ich war auch froh. Aus seinen Worten hatte auch ein wenig Angst geklungen, dass ich irgendwelche Schritte einleiten könnte. Vielleicht hatten sie ihn überzeugt, dass es doch ein paar Sachen gab, die auch die Militärs nicht ohne weiteres durften.

Irgendwann wurde deutlich, dass Indio kein zweites cayuco mehr hacken konnte. Mehrere Male fragte ich nach, ob ich ihnen nicht in den Feldern helfen konnte, bei der Reis-Ernte, oder im Kakao, aber sie lehnten entschieden ab. Sie wollten mich nicht mal mitnehmen, wenn sie zu den Feldern fuhren. Ich habe das nie verstanden. Vielleicht war es Misstrauen, oder ihre Felder waren für Fremde tabu, Angst ich könnte ein Spion für Sandino sein, oder einfach nur ihr Verständnis von Gastfreundschaft.

Ich war Gast hier, durfte im Haushalt helfen, Wasser holen, aber ich bekam unweigerlich mehr und mehr das Gefühl, alles das reichte nicht, um das, was ich hier ass, zu kompensieren. Es war auch klar, dass das Geschäft bislang ausgeglichen war und auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Ich hatte wochenlang auf ihr Zelt aufgepasst, während sie cayuco hackten. Besonders, als die Frau wieder gefahren war, hätten sie nur zu dritt arbeiten können. Doch jetzt, im Dorf...

Es kam die Zeit, wo ich mich langsam darüber informieren musste, wo Wampusirpi überhaupt lag. Und wo es von hier hingehen könnte. Ich konnte mir gerne den Zeitpunkt aussuchen, wann ich weg wollte. Niemand drängte mich. Wampusirpi war einer der wenigen Orte, wo sie mich am Ende nicht drängten, hier bei ihnen zu bleiben und eines von den Mädchen zu heiraten.

Wampusirpi lag mitten im Land. Hundert Kilometer Luftlinie zur Küste im Nordosten, und hundert Kilometer zur nicaraguanischen Grenze im Süden. Dazwischen lag der Ort Mocorón, etwa sechzig Kilometer entfernt, und erst ab dort gab es wieder Strassen.

Eine der schönsten Szenen durfte ich in Indios Haus erleben, als Seberino von seinem kleinen Sohn gefragt wurde, in welche Richtung ein Spielzeugauto fuhr. So rum oder so rum? Ein Auto konnte in zwei Richtungen fahren. Was war vorwärts? Seberino überlegte einen Moment, und meinte dann: so rum fährt das Auto.

Es stimmte. Er musste schonmal ein Auto gesehen haben. Junge, dachte ich mir, du weisst gar nicht, wie glücklich du bist, so etwas nicht zu wissen. 1988, Planet Erde. Das Rad kannten die Kinder von Wampusirpi nur von Flugzeugen.

Auasbila[48] lag noch weiter in den Bergen am Río Coco, hundert Kilometer Luftlinie von Wampusirpi entfernt und nur über bergige Urwaldpfade zu erreichen. An sich kein besonders interessanter Punkt, abgesehen von der Tatsache, dass mir einige Leute aus Deutschland vielleicht an die dortige Adresse postlagernd hingeschrieben hatten. In einer alten Honduras-Karte war der Ort ganz gross eingezeichnet, und ich hatte keinen Zweifel gehabt, dass es dort ein Postamt geben würde. Heute war es wohl nur noch ein kleiner Militär-Stützpunkt mit wenigen Häusern. Das hatte ich erst hinterher erfahren. Wenn Post nach Auasbila gegangen war, habe ich sie nie erhalten.

Brief 3 an Lina (August 1988)

Vor paar Tagen hab ich mich entschlossen, wieder weiterzuziehen: Indio hat Schwierigkeiten, wieder zum Einbaumhacken raufzufahren - ausserdem hab ich mitgekriegt als Elvira, seine Frau, zu jemand auf seine Frage geantwortet hat "ich weiss nicht, wann er wieder geht", mit dem leichten Unterton, "er kann doch nicht immer hierbleiben". Und ich will noch vor der Regenzeit los, die setzt Mitte Mai oder Juni ein.

Bettina riet mir davon ab, die Pfade durch den Urwald nach Auasbila zu nehmen und meinte, der Weg nach Mocorón, also direkt Richtung nicaraguanische Grenze, sei wesentlich besser zu gehen.

"Nach Mocorón kannst du nicht zu Fuss gehen, das geht nicht, du kennst den Weg nicht", meinen Humberto und die anderen.

Ich soll das Flugzeug nehmen. Heute nachmittag soll eins kommen, die fliegen immer zwischen Mocorón und Wampusirpi hin und her. Isábel, die einen kleinen Laden hat und mir ein Paar schwarze Schuhe (leider zwei Nummern zu klein, aber es gab keine grösseren) gegeben hat, gibt mir sogar dreissig Lempira, für den Flug.

Na gut, ich warte an der Startbahn. Einen Tag. Der Pilot von World Relief (Flüchtlingsorganisation) sagt, er darf mich nicht mitnehmen.

Noch ein Tag, noch eine Maschine, die ist aber voll, eine andere fliegt nach Puerto Lempira, nicht nach Mocorón.

"Morgen gehe ich zu Fuss los, nach Mocorón."

"Nein, wie willst du den Weg finden, du verläufst dich. Warte auf das Flugzeug, morgen kommt eins."

Ich habe meinen Respekt vor diesen Indianern verloren, denn die, die mich vor dem Weg warnen, sind ihn selber noch nie gegangen. Bettina ja, und Bettina hatte mir geraten, diesen Weg zu nehmen. Also nehm ich ihn auch.

Na okay, auch sie meinte, der Pfad sei nicht ganz einfach, und es könne sehr gefährlich werden, wenn du alleine gehst, dich verläufst und dir das Wasser ausgeht. Es gebe nur wenige versteckte Wasserstellen im Llano[49].

Bettina hatte mir auch genau gesagt, was ich in Mocorón alles tun sollte: Zuerst sollte ich zur comandancia gehen und die fragen, ob mich jemand zum Fünften Batallón mitnehmen könnte. Das sei eine ziemlich grosse Kaserne, etwas ausserhalb vom Ort. Dort müsste ich dann fragen, ob ich mit dem Coronel Sánchez oder Pinieda, welcher gerade da sei, sprechen könnte. Und der sollte mir dann ein Papier ausschreiben, mit dem ich dann an die nicaraguanische Grenze trampen könnte. Und ich sollte ihn von ihr grüssen.

Inzwischen habe ich mein Visum in Honduras natürlich schon über drei Monate überzogen, das darf ich denen natürlich nicht sagen. Und wie ich ohne Visum nach Nicaragua reinkomm, konnte sie mir auch nicht verraten. Aber das sei eh egal, weil das, was ich vorhabe, von Haus aus illegal sei, weil Ausländer auch mit Visum nicht in die nicaraguanische Mosquitia dürfen. Sie hatte das einmal versucht, die hätten ihr aber nichts als lauter Schwierigkeiten gemacht damit. Musste sie tausend Formulare ausfüllen und hinterher durfte sie doch nicht rein.

Ich scheine irgendwie nach Südamerika zu wollen. Nicaragua scheint ziemlich verschlossen zu sein. Aber vielleicht schaffe ich es trotzdem, nach Nicaragua reinzukommen. Von da müsste ich dann nach Costa Rica weiter. Vielleicht illegal oder sowas.

Aber noch bin ich in Wampusirpi und muss erst einmal von hier weg. Also zu Fuss. Das ist allerdings einfacher als gesagt, und die erste Hürde muss ich nehmen, bevor der Ort überhaupt zuende ist. Es ist nicht immer selbstverständlich, dass die Militärs einen auch zu Fuss gehen lassen. Wenn die Militärs von der comandancia sich querstellen, könnte ich gezwungen sein, das Flugzeug zu nehmen. Also muss ich mich von den Militärs hier verabschieden, das hört sich dann so an:

"Hallo amigos, also ich geh wieder, morgen will ich losgehn, nach Mocorón, ich will dort zum Fünften Batallón und mit dem Coronel Pinieda sprechen. Ob Sie mir da ne Erlaubnis geben können, dass ich nach Mocorón gehen kann?"

"Du willst gehn? Wie lange warst du jetzt hier?"

"Drei Monate in Wampusirpi", geb ich ihnen einen kleinen Zettel mit meinem Namen und ein paar Daten drauf.

"Jaja, kein Problem mit der Erlaubnis, hier geht der Weg lang, hier rum und dann immer gradeaus."

"Nein, ich werde lieber morgen früh gehen, ich habe Gepäck und der Weg ist weit."

"Ja, alles Gute dann, kai ke was[50]!"

So, die erste Hürde ist genommen.

Am nächsten Morgen, um acht (zu spät eigentlich) gehe ich los. Einer begleitet mich noch eine halbe Stunde, einer von denen, die am Nachmittag immer mit Volleyball gespielt hatten.

Danach gehe ich allein, mit Rucksack, Schlafsack und Wüstenschuhen. Nein - Lüge - die sind ja im Rucksack, ich hab die schwarzen Schuhe an, die zwei Nummern zu klein sind. Aber der Pfad ist gut. Nach einer Stunde zweigt der Pfad nach Auas ab, genau wie mir der Typ es beschrieben hatte, da muss ich rechts, und dann immer geradeaus. Erst noch paar Hügel, aber dann über viele Kilometer unbewohntes, flaches Grasland mit paar Kiefern, das ist der Llano.

Feuer! Der Llano brennt, stellenweise. Das trockene Gras brennt, ist aber nicht gefährlich.

Es ist schon seit ein paar Monaten Trockenzeit und wenn die Sonne auf meinen Kopf scheint, ist es ganz schön heiss. Die Kiefern stehen hier nur vereinzelt und werfen nur wenig Schatten. Zum Glück weht ein bisschen Wind.

Wo das Gras verbrannt und alles schwarz ist, ist es am heissesten. Wieder ein paar Hügel... Vegetation... der Pfad geht zu einer Stelle mit Schilf und - Wasser! Ein kleiner Bach, und fliesst. Ich schlapper soviel wie möglich Wasser in mich rein, fülle mir meine 0,5-Liter-Wasserflasche nochmal ganz auf und mache T-Shirt und Hose nass. Dann sehe mir die Wasserstelle nochmal genau von der anderen Seite an, und gehe weiter.

Das mit dem Wassertrinken war richtig: es war die letzte Wasserstelle für viele Stunden. Ich gehe über Flachland, abgebranntes oder noch brennendes Gras, immer weniger Kiefern, immer mehr Hitze vom Feuer und von der senkrecht stehenden Sonne. T-Shirt und Hose sind sofort wieder trocken. In Wampusirpi war es nie so heiss. Ich habe die Hitze unterschätzt.

Und Blasen an den Füssen, anders konnte es ja nicht kommen. Der Pfad ist gut, nur leider zu heiss zum Barfussgehen. Er ist wirklich brennend heiss. Die Feuer entzünden sich von selber im Llano, so heiss ist das hier.

Am Nachmittag verzweigt sich der Pfad ein paarmal, da muss ich höllisch aufpassen. Ich soll bloss nie nach Süden gehen, immer nach Osten. Mein Wasser wird langsam weniger. Ich habe keinen Kompass und keine Uhr, aber zum Glück ist es hier so, dass die Sonne auch schon am frühen Nachmittag ziemlich genau im Osten steht.

Der Weg geht genau in Richtung der Schatten der sich langsam senkenden Sonne, das gefällt mir sehr gut. Die Sonne scheint mir dann immer mehr in den Nacken. Das macht noch mehr Durst als die senkrechte Sonne.

Noch eine Pause unter ein paar Kiefern. Die Blasen an den Füssen sind aufgegangen und fangen an, wehzutun. Das Wasser ist auch leer.

Uhrzeit messen: Der Schatten ist noch nicht ganz so lang wie das Stöckchen, also ist es noch kurz vor drei. Um drei Uhr steht die Sonne hier um diese Jahreszeit genau in einem Winkel von fünfundvierzig Grad, dann sind alle Schatten genauso lang, wie die Objekte hoch sind. Drei Stunden also noch bis zur Dunkelheit. Und ich habe kein Wasser mehr.

Wieder weiter, und jedesmal zieht es jetzt mehr rein in den Füssen. Morgen werde ich mit den alten, kaputten Wüstenschuhen gehen, gut dass ich die noch eingepackt habe.

Nach einer halben Stunde Laufen lässt der Schmerz langsam nach. Ich komme zu ein paar mehr Kiefern, die wieder besseren Schatten geben. So ist es nicht mehr ganz so heiss. Die Erde scheint irgendwie feuchter zu sein, denn das brennende Land habe ich hinter mir, hier wächst wieder Gras, neben dem Weg.

Sogar kleine Büsche gibt es hier, ich könnte barfuss laufen, aber das wäre sehr riskant wegen Schlangen. Im Llano soll die barba amarilla vorkommen, die giftiger als die Schwarze Mamba sei... es soll sogar einige Leute geben, die den Biss schon überlebt haben. Ich gehe an den unübersichtlichen Stellen lieber langsamer und trampel extra fest auf dem Pfad auf, damit die Schlangen nicht überrascht werden. Einen Stock zum Schlangen-abwehren habe ich in der Hand.

Das Gras wird immer dichter und höher, wächst jetzt auch schon auf dem Weg selber... immer mehr Vegetation... da, da vorne, ein Haus! Noch eins, da auch Häuser, das muss Sixatingni[51] sein, das liegt auf halber Strecke.

Und es ist Sixatingni. Ich war gut, ich habe den Weg auf Anhieb gefunden.

"Naxa - äh - sprecht ihr Mískito?"

"Ja -"

"Habt ihr Wasser?"

Klar haben sie Wasser, drei ganze Schüsseln trinke ich leer, bin ich froh, endlich Wasser. Die Leute sind freundlich, bieten mir etwas zum Essen an, wir gehen baden im Fluss.

Es sind alles Flüchtlinge in Sixatingni. Eine Familie ist aber vor ein paar Tagen nach Nicaragua zurückgekehrt, und so steht ihr Haus leer, darin kann ich schlafen. Auch hier alles Holzhäuser auf Pfählen. Am Abend ist Kirche, sie laden mich ein (Moravische Kirche) und ich soll ihnen was aus der Bibel vorlesen. Na, dann mach ich das mal. Etwas aus Paulus' Reiseabenteuern...

Das war cool, als ich ihnen aus ihrer Mískito-Bibel ein paar Verse aus der Apostelgeschichte vorgelesen hatte. Der Pastor hatte mir die Bibel gegeben, kurz getestet ob ich auch Mískito lesen konnte, und mir gesagt, ich sollte mir was aussuchen, während sie erstmal ein paar Lieder sangen. Ich blätterte drin rum und stellte fest, aus der Apostelgeschichte verstand ich am meisten. Ich hatte bis jetzt Mískito nur vom Sprechen gelernt, und die Wörter so aufgeschrieben, wie sie gesprochen wurden. Nun sah ich zum ersten Mal geschriebenes Mískito. Zum Glück wurde die Sprache wenigstens fast so geschrieben, wie sie gesprochen wurde.

Achtung, ich war dran. So, heute besucht uns Francisco aus Alemania und der liest uns jetzt etwas vor. Okay, also aus der Apostelgeschichte.

Und dann gingen wir dahin, und dann kamen wir dahin, und am nächsten Tag kamen wir zu dem und dem Ort. Nach fünf oder sechs Versen war ich der Meinung, für heute hatte ich genug Fehler gemacht und Wörter falsch ausgesprochen und lächelte etwas verlegen in die Gemeinde. Wie auf ein unhörbares Kommando antworteten die fünfzig oder sechzig Leute Amen. Oh nein, dachte ich in diesem Moment, denen kannst du ja alles erzählen, zu allem Blödsinn hätten die jetzt Amen gesagt.

Aber es ging mehr um die Geste. Sie freuten sich sehr, dass ich vorgelesen hatte. Aus ihrer Bibel, der Bibel in Mískito. Die meisten hatten ja nicht gewusst, dass ich ihre Sprache konnte. Als ich anfing vorzulesen, war es augenblicklich mucksmäuschenstill geworden in der Kirche und manche hatten mich angesehen, als sei ich der Messias persönlich. Und auch noch mit honduranischem Akzent.

In der Kirche hatte sich das ergeben, dass ich am nächsten Morgen mit einem anderen Indianer zusammen durch den Urwald nach Mocorón gehen kann. In Wüstenschuhen, die ich mit Bast zusammengeflickt habe. Die Wüstenschuhe drücken nicht an denselben Stellen wie die schwarzen Schuhe, von daher machen mir die Blasen von gestern wenig aus. Dafür reiben die Bastbinden ganz fies und bald habe ich eine Reihe neuer Blasen, die auch alle aufgehen. Solange ich laufe, tut das allerdings nicht weh. Nur nach Pausen.

Der Weg durch den Urwald ist schön schattig, aber wegen der vielen Wurzeln und etlicher steiler Stellen total schwierig zu laufen. Der Typ ist um ein Drittel schneller als ich. Wir holen eine Familie ein, die laufen zum Glück langsamer.

Am Nachmittag sind wir in Mocorón am Fluss, erstmal ein Bad, das tut gut. Oh, meine Füsse. Dass die überhaupt noch dran sind. Ich gehe in den Ort, barfuss.

Also zur comandancia. Wieder die Sache mit den Papieren, inzwischen habe ich da Routine, das mit dem überzogenen Visum checkt wieder keiner. Ich kann sogar in der comandancia schlafen, im Armeebett, richtig nobel, mit Mosquitonetz. Bettina hatte mir abgeraten, etwas auf dem Visumszettel zu fälschen, weil mehr als vier Wochen in Honduras gar nicht vergeben würden. Fälschen sei gefährlicher als Nichts-wissen. Hatte sie vielleicht auch recht.

Am nächsten Tag hinten auf einem Lkw der Militärs rausfahren, fünf Kilometer, zur Kaserne vom Fünften Batallón. Eine ganz schön grosse Anlage. Hoffentlich merken die das mit dem Visum nicht, da gehe ich jetzt sozusagen in die Höhle des Löwen. Es ist wirklich unheimlich riskant, was ich da mache. Aber ich habe keine andere Chance.

Barfuss kann ich nicht vor dem Militär-Boss erscheinen, also habe ich die schwarzen Schuhe an, die ziehn höllisch rein, aber ich muss es als eine Art Investition betrachten. Ich muss vorsichtig sein, und ich muss gut sein. Jetzt kommts drauf an.

Der Lkw fährt nicht in die Kaserne rein, sondern setzt mich beim Posten davor ab. Name, Papiere, Visum, was willst du.

"Ich will mit dem Coronel Pinieda sprechen."

"Der ist nicht da."

"Und der Coronel Sánchez?"

"Der ja." ( - püh, Schwein gehabt... was hab ich wieder Schwein hier...das war verdammt knapp).

Ruft er an, gibt Bescheid.

"Und warum willst du den sprechen?"

"Ja, ich schreibe ein Buch und muss hier in der Mosquitia einige Recherchen machen, da brauch ich eine Erlaubnis vom Coronel Sánchez." - Scheint wohl sein Chef zu sein.

"Aha. Und wie heisst das Buch?"

"América a pie." - Amerika zu Fuss, was Blöderes ist mir in der Sekunde nicht eingefallen.

"Bueno, ist in Ordnung, da längs die Strasse, kannst du nicht verfehlen." - ach so, ich soll zu Fuss zur Kaserne gehn.

Oh Mann, zieht das jetzt rein, die schwarzen Schuhe. Ich kann aber nicht langsam gehen, weil das verdächtig wär, weil er mich genau beobachtet, wie ich die Piste entlang zur Kaserne laufe. Ich komme am Batallón an, dort wissen sie schon Bescheid, ich soll ein bisschen warten, bis der Coronel Sánchez kommt.

Der kommt dann auch, im dicken Jeep. Ein Soldat soll ihm erklären, was los ist.

"Guten Morgen, mein Coronel! Melde gehorsamst: ...", und so weiter, ich muss aufpassen, dass ich nicht lachen muss. Das kann leicht passieren bei denen, die die Armee nur aus gewissen Comics kennen[52].

Er will von mir wissen, was ich genau will. Erstmal grüsse ich ihn von Bettina. Dann frage ich ihn, ob er mir eine Erlaubnis nach Auasbila geben kann, damit ich dort über die Grenze nach Nicaragua gehen kann. Er ist ganz nett, meint aber, nach Auasbila kann er mir keine Erlaubnis geben, das sei zu gefährlich.

"Nein, über Leimus[53] musst du, ab da geht die Strasse nach Puerto Cabezas ab, in Leimus ist der Grenzübergang."

"Sicher, wenn Sie das sagen, nur da ist eine Sache, warum ich nach Auasbila möchte: ich habe eventuell Post in Auasbila am Postamt."

"Na, wenns weiter nichts ist...", da können sie doch schnell über Funk nachfragen.

Er gibt ein paar Anweisungen an die Soldaten.

"Jawoll, mein Coronel! Alles verstanden, mein Coronel! Wird sofort erledigt!", fährt der Coronel wieder ab.

Einen Augenblick bleiben sie noch stramm stehen, dann, als der Jeep um die Ecke ist, der eine zum anderen:

"Also, was hat er jetzt gesagt - Erlaubnis bis Leimus ausschreiben, drei Tage Geltungsdauer, soll der und der unterschreiben -"

"Ja, und in welcher Funktion, dass er als Tourist unterwegs ist, soll auch rein -"

"War das jetzt alles?"

"Ja, ich glaube."

Gut, gehen wir zum Haupthaus, alles Beton, aber ganz sauber angemalt in Tarnfarben. Auf dem Platz davor robben sie dann auch ganz fleissig übern Rasen. Das sind die honduranischen Militärs, die haben nichts anderes zu tun. Die haben am wenigsten zu tun hier in diesem Krieg, die müssen nur einfach dasein, viele sein und teuer sein. Geld kommt aus den USA, das ist leicht zu sehen. Kämpfen tun nur die nicaraguanischen: die Sandinisten und die contras. Am Río Coco soll ein contra-Lager neben dem anderen sein.

Den Zettel vom Coronel Sánchez habe ich schon in der Hand, DIN A 4, mit Briefkopf, Stempel und Unterschrift, wie sich das gehört, jetzt müssen wir noch auf den Funkspruch aus Auasbila warten. Den Zettel soll ich auf keinen Fall mit nach Nicaragua reinnehmen, sondern ich soll ihn in Leimus, auf der honduranischen Seite von Leimus, also bevor ich über den Fluss gehe, den honduranischen Militärs wieder zurückgeben.

Der Funkspruch kommt - keine Post für mich in Auasbila. Na, dann halt nicht. Okay, dankeschön nochmal, tschüss.

Paar Militärs nehmen mich mit bis in die Nähe von Leimus, sie selber fahren nach Auasbila. Sie setzen mich an einem Posten etwa zwanzig Kilometer davor ab, an einem Militärposten an der Strasse. Es ist hier alles Llano. Vier Soldaten sind am Posten. Ich soll nicht so losgehen, sondern warten, bis die Flüchtlingstransporte von der UNO durchkommen, und mit denen nach Leimus fahren.

Spät, aber sie kommen. Paar Kieslaster, bis oben voll mit Flüchtlingen, davor fährt der dicke klimatisierte Land-Rover-Jeep mit den Funktionären. Der Verantwortliche wundert sich.

"Du willst in Leimus über die Grenze? Das ist doch kein Grenzübergang für Touristen! Zeig mir mal deinen Pass." - er ist Ausländer, hat irgendeinen Akzent, französischen oder italienischen. - "Du hast ja nur ein Transit-Visum, vier Tage, das ist am siebzehnten Januar abgelaufen!"

Ich solle zuerst nach Puerto Lempira zur Migración (Grenzbehörde) und das regeln, so könne er mich nicht mitnehmen.

Scheisse.

Puerto Lempira liegt vielleicht hundertfünfzig oder zweihundert Kilometer nördlich[54] von hier, da gibt es auch eine Strasse hin. Es ist ganz gut organisiert hier mit dem Trampen: die wenigen Autos, die durchkommen, müssen immer bei den Posten anhalten, und so trampen die Leute hier immer von Posten zu Posten. So ein Posten ist eine ganz praktische Einrichtung.

Es wird später, am Ende warten hier zwölf Leute am Posten, einige wollen nach Puerto Lempira, andere nach Mocorón. Einer meint, in Mocorón sei auch ein Büro von der Migración, und Mocorón ist näher, nur fünfzig Kilometer.

Schon lange dunkel, es kommen wieder Kieslaster, auch voll mit Flüchtlingen, diese hier wollen wohl nach Mocorón. Die Leute, die mit mir warten, wissen, dass ich auch dahin will:

"Hopp, schnell, spring dahinten auf, mach schon, die fahren nach Mocorón! Schnell, die warten nicht lange!"

Was, nach Mocorón - ja okay, Schlafsack rauf, Rucksack schmeissen sie in die Flüchtlinge, meine Schuhe auch, einzeln, ich selber hangel mich hinten am Kieslaster hoch, der wirklich voll ist mit Flüchtlingen, es ist gar kein Platz mehr im Kiesladeraum selber, nicht mal die Beine passen rein, ich kann mich gerade noch auf die Eck-Kante setzen, da fährt er schon los - ahh! - beinah hätte ich das Gleichgewicht verloren und wär wieder runtergefallen.

Es folgt der schlimmste und gefährlichste Tramp, den ich jemals erlebt habe. Mein hundertneunundsechzigster Tramp auf dem amerikanischen Kontinent.

Mit beiden Händen halte ich mich, auf der Hinterkante des Lasters sitzend, krampfhaft fest, es ist die Hölle, denn auf der hinteren Kante verstärkt sich ja jedes Schlagloch um das Dreifache. Die Beine hängen aussen runter, in der Luft. Es ist fast nicht möglich, sich dahinten zu halten. Volle Konzentration, ich darf die Hand keine Sekunde lockerlassen, mist, die Hand kommt ins schwitzen... es wird feucht, ich rutsche ein paarmal fast vom Lack ab - und kippe nochmal fast hinten über.

Bei voller Geschwindigkeit.

Zum Glück habe ich in der Hose ein Taschentuch, also jetzt die rechte Hand mit Taschentuch, und der Laster rast durch die Nacht. Über die Schotterpiste, ein Schlagloch nach dem anderen.

Ich kann bald nicht mehr, meine linke Hand will nicht mehr mitmachen, ich kann mich nur noch mit der rechten Hand festhalten. Mit der linken krall ich mich so fest, dass ich nach ein paar weiteren Schlaglöchern Einschnitte vom Stahl in den Fingern habe. Hand! Hand! Noch ein Schlagloch, noch eins, wieder kurz an der Hose abwischen, kurz schütteln, wieder festkrallen, Sache von Sekundenbruchteilen.

Ich merke, wie die linke Hand immer weniger wird, ich habe kaum noch Gefühl dadrin, kann mich nicht mehr auf sie verlassen. Ein Wunder, dass die rechte Hand, die mit dem Taschentuch, noch so gut hält.

Aber jetzt merke ich, mist, die wird auch schwächer. Wieviele Schlaglöcher halte ich noch aus? Zehn, rechne ich mir aus, dann werde ich abrutschen, und ich habe beide Beine ausserhalb des Lasters. Hin und wieder kommen ruhigere Strecken, dann aber wieder härtere, wieder mit Schlaglöchern. Zehn werde ich noch aushalten, Scheisse, neun, Scheisse, acht... nein, es geht wirklich nicht mehr... wieder etwas ruhigere Strecke -

"Ich kann nicht mehr", meine ich zu der Frau direkt neben mir, und sie schaffen es irgendwie, soviel Platz zu machen, dass ich ein Bein drinnen deponieren kann.

Jetzt kann ich meine Hände abwechseln, da das Bein auch noch hält, und langsam kommen die Hände wieder. Bin ich froh, als wir spät nachts endlich in Mocorón ankommen - also nun auch an den Händen, lauter offene Blasen. Ich bin fertig, gehe zur comandancia, falle ins Bett. Ich habe sogar meine schwarzen Schuhe wieder bekommen, die die Leute am Posten vor Leimus einfach mitten in die Flüchtlinge auf den fast schon fahrenden Lkw geworfen hatten.

Nur noch eine Nacht. Die Stunde der Wahrheit rückt näher.

Am nächsten Morgen also erstmal zum Häuschen der Migración und "das regeln", jetzt wirds spannend. Das Visum ist um dreieinhalb Monate überzogen, für einen Tag kann man mit fünfzig Dollar Strafe rechnen, und wer keine Dollar hat, kommt in Knast, und in Honduras stell ich mir das nicht so toll vor. Das kann mir also hier blühen.

Ein Typ ist im Häuschen, weiss wohl schon Bescheid von dem von der UNO, will also meine Papiere sehen. Ich zeige sie ihm, wie immer, alle documentos, nicht nur Pass und Visum, sondern auch die Zettel vom Reisebüro in Hamburg, die Landkarten von Südamerika, weil sie so schön sind, und den Zettel vom Coronel Sánchez.

"Tja, du hast dein Visum überzogen, fast vier Monate, das weisst du wohl."

Dass ich dumm bin und das nicht gewusst habe, würde er mir jetzt wohl nicht abnehmen, so sieht er nicht aus. Was soll ich denn da jetzt noch sagen? Er tut so, als wär ich dran, jetzt irgendwas zu sagen.

"Können Sie mir da jetzt keinen Ausreisestempel geben?"

Schüttelt den Kopf, gibt mir meinen Pass zurück. Anscheinend bin ich wieder dran, was zu sagen. Jetzt weiss ich aber fast gar nichts mehr, was ich noch sagen könnte... ach so, ich muss ja den Dummen spielen:

"Ja. Kann ich jetzt nach Leimus zur Grenze?"

Das war eine sehr dumme Frage, das weiss ich auch selber.

Zu meiner absoluten Überraschung befinde ich mich eine Minute später wieder auf der Strasse, und zwar frei, denn er kommt mit folgender Antwort:

"Ja, mit diesem Papier vom Fünften Batallón kannst du natürlich nach Leimus."

"Nach Nicaragua?"

"Ja, mit diesem Papier ja." - Das gibts doch wohl nicht.

"Ja dann, danke, adiós."

Das gibts doch wohl nicht! Das ist ja der Wahnsinn! Diese Militärs! Dieser Coronel Sánchez! Mann, das ist ja geil, jetzt weiss ich endlich, wozu die Militärs in solchen Ländern nützlich sind!

Also gut, drei Tage Geltungsdauer hat der Zettel von Sánchez - ich habe noch zwei Tage Zeit, wieder nach Leimus zu kommen. Ich warte in Mocorón in der Einkaufstrasse auf den Bus zum Posten vor Leimus.

Hier sind die Fussböden der Holzhäuser etwas niedriger, stehen aber auch auf Pfählen. Bei den anderen Häusern sind die Fussböden oft über einen Meter über der Erde. Früher, als sie noch keine Holzbretter kannten, haben sie die Häuser aus einer Art Bambus gemacht. Und statt Wellblechdächern hatten sie Palmwedel von einer bestimmten Palmenart, wie heute noch in Wampusirpi... Blondes Mädchen kommt auf mich zu... wieso blond, hier ist doch keiner blond... - Bettina!

"Hey, Bettina! Was machst du denn hier! Weisst du, dass mir dein Coronel Sánchez eben ne ganze Menge Probleme mit der Migración erspart hat?!"

Findet sie gut, lädt mich zum Frühstück zu sich ins Hotel ein, sie ist nur zufällig ein paar Tage hier in Mocorón. Kellogg's Cornflakes, yuca und gekochte Bananen... und Deutsch... manchmal fühlt man sich doch einfach nur gut...

"Wie sehen denn deine Hände aus?"

"Meine Hände? Wieso... - oh, verdammt, die hatte ich vergessen. Die sehen ja genauso aus wie meine Füsse..."

Das sei überhaupt nicht spassig hier in den Tropen, meint sie, weil sich hier sofort alles infiziert. Das sei hier im Llano nicht anders als im Urwald.

Auch die Krankenschwestern in der Klinik sind Mískitos, es ist sehr gut, dass ich die Sprache spreche. Sie behandeln meine Wunden mit irgendsom ganz fiesen Zeugs, das desinfiziert auf der Stelle. Oh ja, allerdings tut es das, das brauch ich sie nicht zu fragen. "Für die Zukunft" geben sie mir violeta (Kaliumpermanganat), Watte und son oranges Jod-Zeugs mit. Es sind neun offene Blasen an den Füssen und vier an den Händen, jetzt alle schön lila angemalt. Drei oder vier waren schon infiziert.

Um fünf Uhr abends bin ich wieder am Posten vor Leimus, hallo Jungs, nachkismá, wie gehts, ich muss jetzt also doch wieder nach Leimus. Sie raten mir ab, nach Leimus zu Fuss zu gehen. Einer sei die Strecke mal abgegangen und wär fünf Stunden gelaufen, aber ohne Rucksack und Schlafsack. Ausserdem seien an der Strasse zwei Contralager.

"Nachts ist es gefährlich, da langzugehen."

Nach Pranza, das sei auch ein Ort, der am Río Coco liege, ginge ein Pfad.

"Pranza ist nur zwei Stunden von hier, wenn du diesen Pfad langgehen willst. Und morgen kommst du mit dem Boot den Fluss runter nach Leimus, das ist kein Problem."

Also soll ich den unbekannten Weg nach Pranza gehen, und zwar alleine. Na gut, wenn die das sagen. Einen neuen Weg zu gehen, bringt nie einen Nachteil.

Einer zeigt mir, wo der Indianerpfad abgeht, beschreibt ihn mir ein bisschen, und ich gehe wieder alleine über den Llano. Drei andere waren zehn Minuten vor mir losgegangen, wollten auch nach Pranza, aber die werden wesentlich schneller sein als ich. Erstens bin ich barfuss, und zweitens kennen sie den Weg.

Eine Strasse würde irgendwann kommen, meinte der Soldat, da müsste ich links. Schon nach fünfhundert Metern kommt eine Strasse, aber die Fussspuren der anderen gehen nach rechts, keine geht nach links. Was mach ich jetzt? Ich geh den Spuren nach - also nach rechts. Und nach weiteren hundert Metern folgen sie wieder einem Pfad, der rechts abgeht. Und ich auch.

Die Dämmerung ist kurz, und schnell ist es dunkel. Bei Dunkelheit kann ich die Unebenheiten auf dem Weg nicht mehr sehen, das ist gefährlich beim barfuss-laufen. Ich mache eine kleine Pause, ziehe die schwarzen Schuhe wieder an, trinke noch ein bisschen Wasser und mache mich auf den Weg in die Dunkelheit. Leider scheint kein Mond.

Das ist hier die Stelle, um die hiesigen Pfade zu loben: die sind so gut ausgetreten, dass du auch bei stockdunkler Nacht auf dem Weg bleibst. Vom büscheligen Gras auf beiden Seiten des Fusspfades wirst du immer wieder auf den richtigen Weg gezwungen.

Es geht immer besser, viel besser, als ich vermuten würde. Und nach einiger Zeit spüre ich auch meine ganzen Blasen an den Füssen nicht mehr. Verdammt, ist der Pfad gut. Stockdunkel ist es allerdings auch nicht: die Venus scheint recht hell. Ja, die Bäume werfen sogar einen Schatten von der Venus. Wo steht die Venus eigentlich, im Osten oder im Westen? Sie müsste im Westen stehen.

Irgendwie geht der Weg in die falsche Richtung. Er geht nach Südost und müsste doch nach West - nach Nordwest... Südwest... Südnord... nein, er geht nach Süd und müsste doch nach Westsüd-Nord, nee, doch Nord, nee... die Venus steht im Westen und ich geh nach... nach... nochmal. Die Venus - halt, still, was ist das?

Geräusche!

Keine Lichter, wieder lauter Bäume vor mir. Scheisse, das darf ich nicht machen, meine Gedanken über die Venus laut anstellen, hier ist Kriegsgebiet, Mann. Das könnten contras sein. Stehenbleiben, genau umschauen.

Doch, dahinten sind Lichter, dahinten, zwei Hügel weiter. Warum hab ich das nicht vorher gesehn? Es ist ein Feuer. Vielleicht ein Lagerfeuer von den contras. Ja, ein Feuer am Berg, das ist genau zu sehen. Etwa zwei oder drei Kilometer von hier. Ob da Leute sind, kann ich aber leider nicht erkennen. Zum Glück geht der Pfad woanders hin.

Ganz vorsichtig geh ich weiter. Die Geräusche sind näher, wie klappern von Metall oder sowas... die Bäume werden dichter, der Pfad geht bergab, durch Gebüsch - knack!

Mist, auf n morschen Ast getreten. Stehenbleiben, ruhig, so laut war das nicht, hat bestimmt keiner gehört, cool bleiben, genau den Geräuschen zuhören. Die Geräusche sind lauter. Sandboden ist hier, komisch. Ich schleich mich leise weiter. Was sind das für Geräusche? Leise, langsam weiter, weiter... noch ein Busch... - oh.

Ein Bach.

Das Ufer an der anderen Seite ist vier oder fünf Meter hoch. Oder ist es eine Strasse? - Nee, isn Bach. Oder ein Fluss. Daher wohl auch die Geräusche. Ich gehe ganz vorsichtig die Böschung runter, es könnte ja der Río Coco sein, und auf der anderen Seite Nicaragua. Verlaufen hab ich mich bestimmt. Aber sollte der Río Coco in der Trockenzeit wirklich so klein sein?

Ahh, sehr verdächtig, der Bach fliesst nach rechts. Der Río Coco müsste auf alle Fälle nach links fliessen, weil er in die Karibik mündet. Erstmal Pause machen, Wasser trinken, auf die andere Seite, sogar ohne nasse Füsse. Wo geht eigentlich der Weg weiter?

Rucksack und Schlafsack an einen Baum. Tarnen, falls welche kommen, und jetzt erstmal nachschaun, ob die Geräusche tatsächlich vom Bach kommen - ja, korrekt. Der Bach plätschert zwischen ein paar Steinen durch die Dunkelheit. Mist, hier auf der anderen Seite ist kein Weg.

Jaja, das habt ihr euch jetzt gedacht, dass ich den Weg verloren hab... Fünfzehn Minuten dauerts, aber dann hab ich ihn, ganz versteckt, hinter Büschen. Hätten ruhig n Hinweisschild hinstellen können.

Und ausserdem ist es der richtige Pfad, weil er nach einer halben Stunde endlich in die Strasse mündet, die ich links langgehen sollte. Und die Feuer in den Hügeln sind auch keine Lagerfeuer von contras, sondern wie zwischen Wampusirpi und Sixatingni einfache Steppenfeuer im Llano, die sich tagsüber von selber entzünden.

"Ja, die entzünden sich selber", meinen die Militärs in Pranza, die sich ganz schön wundern, dass ich bei dieser Dunkelheit noch den Weg gefunden habe. Betrunken sind sie.

In der zerbombten Kirche ist noch ein Holzbett. Die Soldaten sind wirklich ganz schön blau, aber sie haben zum Glück Respekt vor der Unterschrift von ihrem Chef auf meinem Zettel.

In der Nacht fängt es einmal voll an zu regnen, es trommelt wie wild auf das Wellblechdach. Nicht lange. Aber die Regenzeit wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Morgens scheint wieder die Sonne. Es gibt Frühstück... bisschen sich mit den Soldaten unterhalten, auf das Boot nach Leimus warten.

KRACH !! - Ein Schuss, von hinter den Bäumen, ich erschreck mich voll. Die Soldaten hören dem Nachhall zu... - "ja, waren unsere", urteilen sie fachgerecht, und unterhalten sich cool weiter.

"Passiert das öfters?", frage ich sie.

"Jaja, das machen die immer."

"Drüben in Nicaragua auch, auf der anderen Seite vom Fluss?"

"Ja, die auch.", sie lächeln ein bisschen.

"Und im Fluss, kann man da schwimmen?"

"Ja, klar, logisch."

"Und auf die andere Seite?"

"Darf sich halt nicht erwischen lassen -"

"- vom eigenen Chef!", ergänzt lachend ein anderer. Das will ich jetzt genau wissen.

"Seid ihr denn schon mal rübergeschwommen?"

"Ist ne Woche her...", scheint wohl so ne Art Mutprobe zu sein. Kommt ein anderer: "Mach schnell, die warten schon, am Ufer."

[pic]

Anlandestelle der Boote in Pranza mit Blick auf ein paar Häuser. Das Haus, in dem ich übernachtete, befand sich wenige Meter hinter den Häusern der Bildmitte. Im Vordergrund ein duri. Foto Alistar, 2000.

Also schnell hin. Vier Indianer im Einbaum, sie nehmen mich mit. Fahren den Fluss runter, paar Stunden sind das. Ganz schön heiss wird es am Mittag. Natürlich kreuzt das Boot ständig die Flussmitte, Respekt vor der Grenze zeigen sie überhaupt nicht. Wieso auch, auf beiden Seiten leben Mískito-Indianer. Der Fluss ist vielleicht dreissig bis fünfzig Meter breit.

Sie interessiert es natürlich, wo ich herkomme und Mískito gelernt habe, auch, wie es in Wampusirpi aussieht, und so vergeht die Zeit schnell.

Einmal, wir sind gerade wieder in Nicaragua, halten sie am Ufer an und winken eine Frau herunter, die gerade in einem Melonenbeet arbeitet. Kurzes Gespräch, wo kommt ihr gerade her, fragt sie.

"Wir kommen von recht weit oben."

"Und der míriki, was macht der hier?" - Bin kein míriki.

"Der ist von Pranza -"

"Der spricht nur Spanisch, bestimmt, oder noch ne andere Sprache...?"

"Nein, der spricht gut Mískito - erzähl ihr doch, wo du grad herkommst, Francisco."

"Naja, hab drei Monate in Wampusirpi am Patuca gewohnt und will jetzt nach..." - das Gesicht dieser Frau - Lina, es gibt Sachen, die sind einfach nicht bezahlbar.

Der Grenzfluss folgte einer langen Schleife und bald waren wir in Leimus. Auf dem Fluss kam mir die Strecke ganz schön weit vor, gelaufen wäre ich das bestimmt nicht in fünf Stunden. Die Militärs in Pranza hatten mich in das Boot gesetzt und ich hatte mir vorgestellt, sie würden selbstverständlich an der honduranischen Seite von Leimus anlanden. Dass die Mískitos so wenig Respekt vor der Grenze hatten und einfach ohne weiteres ständig zwischen den Ufern pendelten und mal hier und mal dort anhielten, hatte ich gar nicht erwartet.

26

Oder arbeitest du für lasía? -

Nicaragua, 1988

"Das ist Leimus, hier ist Schluss -". Danke fürs Mitnehmen. Nur wundere ich mich, dass ich auf der nicaraguanischen Seite bin, nicht auf der honduranischen, ich sollte doch den honduranischen Militärs den Sánchez-Brief wieder zurückgeben. Na, was solls, jetzt bin ich eben in Nicaragua.

Ich steckte den Brief in die Tüte zu den Landkarten und den anderen Papieren.

Das war leichtsinnig! Warum war ich nicht vorsichtiger? Ich dachte in diesem Moment gar nicht daran, dass ich hier von Kopf bis Fuss durchsucht werden könnte und die gefährlichen Dokumente möglichst weit unten im Rucksack deponieren sollte.

[pic]

Leimus, Nicaragua. Im Hintergrund der Grenzfluss. Die Gebäude für die Flüchtlinge standen hinter dem Betrachter. Foto aus dem Internet, 2002.

Leimus, Nicaragua - das sind vor allem drei grosse Häuser zur Aufnahme der Flüchtlinge. Keine Holzhäuser auf Pfählen, sondern gemauerte Gebäude mit Beton-Fussboden. Es ist die Stelle, wo die Flüchtlinge ankommen, die von Honduras wieder nach Nicaragua zurückgehen, in der Mehrheit Mískitos.

Ein paar Schritte gehe ich - da, einer in Tarnhose, so sehen sie auch hier aus, die Militärs.

"Ja, warte mal", meint er, geht und holt seine Chefin. Die Chefin von der Brigade hier. Sie ist auch nett.

"Gehn wir mal ins Haus, zu meinem Büro."

"Ja", meine ich, "para que hablamos[55]."

"Para que platicamos.", verbessert sie mich. Die Wörterbücher sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.

Lauter Gerümpel im Haus, alle möglichen Kisten und Kartons stehen überall rum, irgendeine Kiste hat sie als Schreibtisch genommen. So, und jetzt muss ich gut sein, denn Europäer brauchen ein Visum für Nicaragua, und das hab ich mir in Tegucigalpa ja nicht geholt.

"Ja, ich bin Schriftsteller und schreibe ein Buch, und muss hier in Nicaragua einige Recherchen machen. Jetzt hab ich drüben in der honduranischen Moquitia gearbeitet und bin aus diesem Grund jetzt hier in Leimus über die Grenze gekommen.", diesen schlauen Spruch werde ich in diesem Land noch etwa fünfzehn mal bringen.

"Aha, interessant. Und wie heisst das Buch?"

"El mundo y el trabajo - Die Welt und die Arbeit". - Ich muss mich ja den Gegebenheiten anpassen...

Ich hole einen Zettel raus, der wirklich wie gedruckt aussieht und den ich schon in Wampusirpi dafür vorbereitet hatte. Mit Stempel, Unterschrift und Briefkopf, von der "Solidaritätsgruppe Nicaragua libre", wo in ein paar Zeilen erklärt wird, dass ich hier höchst solidarisch engagiert bin, ein Buch schreibe und ein zuverlässiger Typ bin. Macht jedenfalls nicht schlecht Eindruck, das Ding. Ausserdem bewundert sie, dass ich Mískito spreche. Sie ist wirklich freundlich und zuvorkommend.

"Bueno, also gut", meint sie, "hier haben wir leider keine Einreisestempel, aber das kannst du in Puerto Cabezas regeln, das wird kein Problem sein."

Sie selber stellt ein Stück Geschichte Nicaraguas dar. Vor zehn Jahren als Partisanin gegen Somoza mitgekämpft, verwundet, heute leitet sie die Brigade in Leimus. Nicaragua hat offensichtlich ein anderes Verhältnis zu Frauen, wenn ihr sogar die Soldaten unterstehen.

"Der einzige Weg für die Frauen, die Gleichberechtigung zu erlangen, ist die Revolution.", meint sie zu mir.

Auch die Witze der Männer in der Brigade über Frauen sind nicht so abschätzig wie die in Mexico.

Höherer Militär kommt an, im Jeep... wieder Papiere, wieder die ganze Geschichte erzählen...

"Ja, das beste ist, wir schicken ihn morgen nach Puerto Cabezas.", sagt er zu seinem Kumpel.

Sie sind auch recht freundlich, momentan ist nicht viel los im Krieg. Verhandlungen mit den contras. Er ist auch Mískito-Indianer.

"Ja, und die Autonomie, die wir uns erkämpft haben, werden wir uns nicht mehr nehmen lassen."

Vor zwei Jahren, 1986, nachdem die Mískito-Indianer (YATAMA[56]) zu den Waffen gegriffen hatten (die waren natürlich wie die contras von den USA gesponsort worden), hat die Regierung in Managua ihnen die Autonomie zugestanden. Schlimme Kämpfe solls gegeben haben, die Sandinisten hätten ganze Dörfer niedergebrannt, nicht von ungefähr gibt es soviele Flüchtlinge in Honduras.

Er betont, dass der Kampf der YATAMA nichts mit dem Krieg der contras gegen die Sandinisten zu tun hatte. Er und die meisten Guerilleros der YATAMA seien hinterher in die sandinistische Regierungsarmee Nicaraguas integriert worden, zusammen mit den Waffen übrigens. Wenn sie nicht gegen die Sandinisten waren, was war dann der Grund? Warum der Widerstand der Indianer?, frage ich mich. Und ihn.

"Die Sandinisten haben eingesehen, dass sie in den ersten Jahren ihrer Regierung grosse Fehler begangen haben, hier in der Mosquitia."

Jetzt haben sie die Autonomie, dass heisst, dass die Regierung Managuas hier innenpolitisch nichts mehr zu sagen hat. Er ist stolz darauf, dass es eine besonders tolle und weitreichende Autonomie ist. Die weitreichendste der Welt. Ja, wirklich.

Vielleicht hatten die Sandinisten die Mosquitia als eine Art Kolonie betrachtet.

Bis morgen kann ich mich noch ein wenig ausruhen und meine Füsse kurieren. Das Jod-Zeugs hilft zwar ein bisschen, aber zwei Wunden sind schon wieder infiziert.

Es waren tatsächlich hunderte von Flüchtlingen, die Nicaragua jede Woche wieder aufnahm. Die Sandinisten hatten kein Interesse, in den Augen der Öffentlichkeit als Diktatur dazustehen, vor der die eigenen Bürger fliehen mussten, arbeitete mit Acnur eng zusammen und unterstützte die Rückführung der Flüchtlinge. In Leimus standen grosse Lagerhallen zu deren Unterbringung.

Einige Tage vorher hatte sich eine Delegation des Europa-Parlaments angesehen, wie ein paar Lkw-Ladungen von Flüchtlingen wieder über den Grenzfluss kamen und dort im Empfang genommen wurden. Der CDU-Abgeordnete soll tatsächlich von sich gegeben haben, die Flüchtlingsrückführungen seien nicht echt, sondern nur eine von den Sandinisten inszenierte Show. Ich konnte nur noch den Kopf schütteln, als ich das hörte.

Am nächsten Morgen fahren mich die Militärs ein bisschen durchs Land spazieren, bis zu einem grösseren Ort an der Strasse nach Puerto Cabezas, wo es auch eine Klinik gibt, wieder Füsse behandeln.

Die Militärs fahren wieder zurück nach Leimus, schreiben aber einen Brief und geben den zusammen mit meinen Papieren drei Pastoren, die extra warten müssen, die nehmen mich mit. Eigentlich wollten sie schon früher nach Puerto Cabezas abfahren.

Total robuster viertüriger Pritschenwagen, Toyota, von der Moravischen Kirche[57]. Die Piste geht übern Llano, sie heizen ganz schön lang. Spanisch spricht nur einer. Ich sitze hinter dem Fahrer, mache das Fenster wieder zu, es wird kühler. Bald wird es dunkel werden.

Die Schotterstrasse ist an einigen Stellen ganz schön rutschig. Mensch, der kann doch nicht mit achtzig diese Piste langheizen. Einmal kommt ihm der Wagen an einer rutschigen Stelle fast aus, er bremst, fährt fast in den linken Graben, dahinter steht alles voll mit Kiefern... kriegt die Kontrolle aber im letzten Moment zum Glück wieder, er war nur sechzig gefahren an der Stelle.

"Ja mann, pass fei auf, das ist nicht so einfach hier.", meint der neben mir.

"Ist das noch weit bis Puerto Cabezas?", frage ich. Normalerweise frage ich ja so etwas nicht, aber bei dem Fahrstil weiss ich auch nicht so recht...

"Stunde, anderthalb Stunden", meint er, "bei Helligkeit werden wir das wohl nicht mehr schaffen."

Der Fahrer scheint anderer Meinung zu sein. Die Piste wird wieder etwas besser, übersichtlicher, die Kurven weniger eng, es sind keine Schlaglöcher mehr da. Dauert nicht lange, und er pest wieder mit siebzig übern Llano. Oder achtzig. Ich schaue fast ununterbrochen auf den Tacho.

Dann, nach einer unscheinbaren Kurve, passierts. Achtzig Stundenkilometer hat er drauf. Der Wagen rutscht auf den Schottersteinchen rum, kommt auf die linke Strassenseite, fast in Graben, immer noch achtzig, er muss gegenlenken, weil da lauter Kiefern stehen, kommt ins Schleudern, schleudert auf die rechte Strassenseite, dreht sich quer, überschlägt sich um neunzig Grad, mein Nachbar fällt auf mich drauf, ich falle gegen das Fenster, natürlich ist keiner angeschnallt, der Wagen rutscht weiter und kommt über dem rechten Strassengraben zum Liegen. An dieser Stelle wachsen nur ein paar kleine Kiefern.

Ein Moment Ruhe.

"Verletzt?"

"Nein -", und Fenster sind auch keine kaputt. Krabbeln wir aus dem auf der Seite liegenden Wagen. Voll robust der Japaner, hat kaum paar Kratzer. Scheint wohl für sowas gebaut zu sein. Toyota.

Es dauert eine Stunde, bis wir ihn wieder aus dem Graben haben. Schon längst ist es dunkel. Jetzt fährt er vorsichtig.

Brücke über einen Fluss, wieder Posten, wieder Kontrolle, alle Brücken werden bewacht. Sie wollen uns nicht weiterlassen, erst morgen wieder. Alles diskutieren hilft nichts. Also gehen wir zum Ort, sie holen den Pastor aus dem Bett.

Am nächsten Morgen kommen wir dann endgültig in Puerto Cabezas an, dem zweitgrössten Ort an Nicaraguas Karibikküste. Oder Atlantikküste, wie sie es hier nennen. Im Häuschen der migración ist noch keiner, also fahren sie zum Haus des Pastors der Moravischen Kirche und setzen mich da ab. Der ist auch sehr nett und bietet mir gleich an, die Nacht in seinem Haus zu schlafen.

Um zehn aber erstmal zur Migración, mit dem Toyota-Pastor. Der Chef-Militär zu den Pastoren:

"Was? In Leimus ist der rein? Das ist doch kein Grenzübergang für Touristen, wieso schleppt ihr den hier an?"

"Ja, wir machen nur, was ihr Kollege in Leimus uns aufgetragen hat, nix weiter."

"Jaja, schon gut... der spinnt wohl, wer war denn das?"

Sie geben ihm den Brief und die Papiere. Im folgenden Gespräch gelingt es mir auch, aber nur mit viel Mühe und vor allem Geduld, den Militär, der mit seiner Brille genau wie Sandinisten-Chef Daniel Ortega aussieht, zu überzeugen. Von meiner wichtigen Arbeit als Schriftsteller. Der Militär von Leimus ist wohl zufällig ein Freund von ihm. Am Ende drückt er mir den Einreisestempel in den Pass: República de Nicaragua, 6.5.88, Leimus[58]. Ausgerechnet der sechste Mai. Was für ein Datum.

Ich habe es geschafft, ich bin nach Nicaragua reingekommen!! Obwohl, ganz zuende ist die Geschichte noch nicht, denn sie haben meinen Pass noch dabehalten, den soll ich morgen abholen, weil ich noch sechzig Dollar umtauschen soll. Die Bank hat aber leider schon zu, also auf morgen warten.

"Ach weisst du, das kannst du aber auch in Managua erledigen", meint er, weil ich nach Managua soll, weil ich erst recht keine besondere Erlaubnis für die nicaraguanische Mosquitia habe. Ich soll zum Flugplatz und mich nach der nächsten Maschine erkundigen, er beschreibt mir den Weg dorthin. Erstmal gehe ich aber wieder zum Haus vom Pastor.

Das erste, was ich jetzt machen muss, ist, mir neue Schuhe zu organisieren. Ein tolles Gefühl, als freier Mensch durch Nicaraguas Strassen gehen zu können. Ich koste es richtig aus.

Vor einem Haus sprechen zwei mich an, Schuhe Grösse fünfundvierzig brauche ich, sage ich ihnen.

"Fünfundvierzig?! Sowas gibt es hier nicht", meint die Frau, "die Läden haben auch schon zu heute."

Er hat eine Idee.

"Hinten beim MinCon arbeitet doch ein Deutscher, da an der Strasse nach Managua raus, fast am Ende des Ortes, in der Fabrik. Vielleicht kann der dir weiterhelfen."

Sie beschreiben mir den Weg, nur immer die Strasse nach Managua langgehen. Fünfhundertsiebenundvierzig Kilometer nach Managua, steht auf dem Schild, aber die Strasse ist nur in der Trockenzeit befahrbar. Busse gibt es nicht, der Flugverkehr wird von der Regierung gesponsort. Zu Fuss kann ich mit diesen Schuhen nicht losgehen, das ist klar. Ich komme am MinCon an. Ministerio de Construcción[59].

"Hola, compañeros, arbeitet hier ein Deutscher?"

"Ja - da durch."

Hö, klappt ja gut. Uli ist Dreher und hat bis 1980 (wie ich!) in Mainz gewohnt, war in der Gewerkschaft aktiv, seit etlichen Jahren ist er jetzt aber schon in Nicaragua, ist mit ner Nicaraguanerin verheiratet, zwei Kinder.

"Schuhe Grösse fünfundvierzig? - Mann, hast du Pech, weisst du was? Vor zwei Tagen habe ich ein Paar Schuhe Grösse fünfundvierzig verschenkt! Zwei Jahre gammelten die bei mir schon rum, ich konnte die nicht brauchen. Und der Willi, dem ich sie geschenkt hab, kann sie auch nicht brauchen..."

Heute ist viel Arbeit, aber er will nach Feierabend nochmal bei dem Typen vorbeischauen, ich soll um 3 an seinem Haus sein. Gleich beim Flugplatz. Okay, bis dann.

Hoffentlich kriegt er den Typen nochmal, das wär ja super. Gut, ich gehe langsam wieder in den Ort, Richtung Flugplatz.

Eine junge Frau spricht mich an, an der Strasse vom MinCon in den Ort: "I love you!" Zwei Typen stehen daneben, an einer Art Einfahrt, ich stelle mich zu ihnen. Rechts geht es zu mehreren Häusern. Grundstücke im europäischen Sinne scheint es hier nicht zu geben. Die Holzhäuser stehen auf Pfählen irgendwo zwischen Wiesen und Bäumen. "I love you!", meint das freundliche Mädchen nochmal, und fragt, ob ich nicht Englisch sprechen würde. Oh ja, ich spreche Englisch. In dieser Gegend tu ich den Leuten den Gefallen und spreche Englisch mit ihnen. Englisch ist ihre Sprache, nicht Spanisch. Ich frage die beiden Typen, was sie mit I love you meinte.

"Na was wohl? Make love with you, natürlich", antworten die beiden lächelnd. Das interessiert mich jetzt. In Spanisch-Amerika war es normalerweise gar nicht zulässig, dass ich als Typ mich mit einem Mädchen im Beisein anderer unterhielt, jedenfalls nicht im Beisein anderer Typen, mit denen sie verwandt sein könnte, und schon gar nicht über Sex. Ich vermute zwar, dass ich hier überall anders nur nicht in Lateinamerika bin, bleibe aber vorsichtig und frage die beiden.

"Heisst das, ich könnte jetzt einfach mit ihr mitgehen?"

"Ja, klar, sagt sie doch."

"Und wohin? Wohnt die hier?"

"Ja, klar, dahinten ist ihr Haus."

"Und müsste ich bezahlen? Oder will sie mich heiraten?"

"Nein, haha, nein, die will nur mit dir schlafen, weil sie auf dich steht. Du brauchst nichts bezahlen. Du hast Glück mit deiner hellen Haut, weisst du."

"Also, was ist jetzt, willst du?", fragt sie mich noch einmal. Fast klingt es nach "ich hab nicht ewig Zeit". Ich kenne ja die Sitten hier nicht, doch ich vermute stark, sie sind anders als ich sie kenne. Sie ist nicht aufdringlich, hat mich nur gefragt, ob ich mit ihr schlafe. Jetzt muss ich noch rauskriegen, wie man hier nein sagt, ohne sie ungewollt zu kränken.

"Fasst sie es als Beleidigung auf, wenn ich nein sage?", frage ich die beiden.

"Nein", meinen sie, "wenn du nein sagtst, dann sagst du eben nein. Dann geht sie wieder. Findest du sie nicht hübsch?"

"Doch, ich finde sie hübsch. Aber das ist es nicht. Also ich kann wirklich einfach nein sagen und es ist okay?"

"Wenn du dir das entgehen lässt, ja. Aber ich versteh dich nicht. Ich würde das sofort machen, wenn sie mir das anbieten würde. Naja, du kennst sie vielleicht nicht. Aber sie ist wirklich nett."

Ich sage zu ihr, dass ich sie zwar hübsch finde, und dass ich es ausserdem vollkommen okay finde, dass sie mich angesprochen hat. Aber ich hätte leider keine Zeit. Okay, meint sie, wie du meinst. Ich bedanke mich bei den beiden Typen für die Hilfe und gehe weiter.

Ich glaube, in so eine Welt wäre ich gerne geboren worden.

Ortega kommt im Jeep vorbeigefahren, ich soll morgen nochmal bei der Migración vorbeischauen. Ja, ist ja klar, mein Reisepass ist ja noch da. Der Flugplatz hat leider auch schon Feierabend.

Zurück im Haus des Pastors, erfahre ich, dass in paar Tagen welche mit dem Auto nach Managua fahren wollen. Da hätte ich Lust, mitzufahren, das erlaubt Ortega bestimmt. Ich warte bei Ulis family, er kommt pünktlich (was seltenes in dieser Gegend!) - und er hat die Schuhe! Und sie passen, ich freue mich riesig.

"Mit dem Typen in der Migración hast du riesiges Glück gehabt, weiss du das", meint er zu meiner Geschichte mit Ortega, "vorher hatten sie da so einen Idioten, so n Oberarsch, auf Deutsch kann ichs ja sagen, der hat nix durchgehen lassen und wie so n Sack auf seinen idiotischen Vorschriften bestanden. Dem hättst kein Kappes erzählen können. Kann sein, dass se den endlich abgelöst haben. - Oder er hat seinen eigenen Chef abgelöst, das ist eher wahrscheinlich. Der war nämlich auf der Abschussliste. Der hatte aber was drauf. Den ham sie garantiert gelinkt. Aber was reg ich mich auf. Diese Sorte Schleimer gibts überall, das ist hier genauso wie anderswo..."

"Nee nee, Ortega, der kann das nicht gewesen sein. Der war anders drauf. Der war Sandinist, der war mit Überzeugung dabei. Weisst du, so einer, der für eine Sache kämpft, nicht für Vorschriften und Ordnung und son Müll. Mit dem konnte man schon reden."

Uli erzählt mir viel über Nicaragua, über das Land, über den Krieg, die Mosquitia. Ich erzähle ihm von den grossen Friedensdemonstrationen in Deutschland, ja, diese neue ökologische Bewegung da in Europa, da hat er auch schon von gehört...

"Gewaltfreiheit, das ist wohl jetzt das neue Wort, das scheint da in Mode gekommen zu sein. Aber das ist doch ein gewaltiger Irrtum, wenn du glaubst, dass du in der Welt auch nur irgendeine Veränderung erzwingen kannst, wenn du ausschliesslich zu gewaltfreien Mitteln greifst! Die Pazifisten, die halten nur ihr Gewissen rein, das ist alles, und verändern tun sie in Wirklichkeit überhaupt nichts! Veränderungen setzen nur allein die durch, die mit der Waffe kämpfen, und die sind es, die für den Pazifismus ihren Kopf hinhalten! Das ist das, was ich erkannt hab, und daraus hab ich die Konsequenz gezogen."

Er war öfter schon bei Kampfeinsätzen dabei, erzählt etwas über seine Aufgaben, die er bei den Einsätzen hatte.

"Alle Revolutionen mussten bis jetzt mit der Waffe durchgesetzt werden, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Oder kannst du mir auch nur ein einziges Beispiel nennen, wo mit gewaltfreien Aktionen irgendwelche Weltmächte besiegt wurden? Du glaubst doch nicht tatsächlich, so ein paar Pazifisten könnten die Herrschenden beeindrucken? Also von einem gewaltfreien Befreiungskampf hab ich jedenfalls noch nie was gehört!"

"Gandhi."

"Das - Gandhi?? Was meinst du jetzt, - Indira Gandhi? Die hat doch nicht nur friedliche Mittel eingesetzt."

"Na, nun sag bloss, du hast noch nie was von Mahatma Gandhi gehört. In welcher Welt lebst du denn? Aber dass Grossbritannien eine Weltmacht war, ist dir schon bekannt, ja?"

"Grossbritannien war eine Weltmacht, aber das gab damals überall blutige Aufstände, auch in Indien. Und die waren es, die die Engländer letztlich zum Abzug gezwungen haben, nicht der Pazifismus."

"Der Befreiungskampf Indiens war gewaltfrei. Ich meine, tut mir leid, aber die Geschichte ist nicht anders gelaufen."

"Ach so, na gut, das mag vielleicht einmal geklappt haben, da kenn ich mich jetzt nicht so gut aus, das... das ist dann wohl immer so das Beispiel. Das war aber auch keine richtige Befreiung in dem Sinn... die Ausbeutung ist dort ja nur in eine andere Form der Ausbeutung übergegangen. Du brauchst dir doch bloss ankucken, wie Indien heute dasteht, also grade Indien kannst du ja wohl wirklich nicht als Beispiel nennen."

Hm. Trouble mit den Sikhs, trouble mit den Moslems, trouble mit den Gurkhas, trouble mit den Tamilen...

"Doch."

"Es ist gar nicht möglich, die Welt mit friedlichen Mitteln zu verändern. Okay, anscheinend glaubst du ja, dass es doch möglich ist."

"Nun gut, ich persönlich bin der Meinung, dass es gar nicht möglich ist, die Welt anders als mit friedlichen Mitteln zu verändern."

Ich frage ihn, ob die Sandinisten eine bessere Weltmacht wären, und warum die YATAMA, die Guerilla der Mískitos, vor drei Jahren zu den Waffen gegriffen hat.

"Die wollten einfach nur mal Rabatz machen", ist seine Antwort, die mich aber auch nicht ganz überzeugt.

"Andere haben mir gesagt, es könnte damit zusammengehängt haben, dass die Sandinisten ihren campesinos nach der Revolution gemäss ihren Versprechungen Land zugewiesen haben - ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass es Land der Mískitos war."

"Ja, sicher, das mag alles mit reingespielt haben, aber für sowas gehe ich noch lange nicht in den Krieg." - Vielleicht bist du kein Indianer...[60]

"Es ging los, als die Sandinisten die Schulpflicht einführten, und sie gezwungen wurden, Spanisch zu lernen."

"Ja, das war so ein Anlass, den haben sie gesucht. Das haben die Sandinisten aber sofort wieder eingesehen, dass das ein Fehler war. Du musst die Mískitos verstehen, ich sag dir, du kennst die nicht - wenn da einer von denen Panik macht, glauben alle, die Welt würde über ihnen hereinbrechen. Die sind so leicht zu manipulieren!"

Da hat Uli aber auch recht, das hatte ich da in Wampusirpi ja auch erlebt, als da auf einmal alle panisch fürchteten, die Sándinos würden nach Wampusirpi kommen.

Am Abend bin ich wieder beim Pastor. Er zeigt mir die neue Kirche, die sie neben seinem Haus auf einem Grundstück bauen. Es stehen erst die Grundmauern.

"Siehst du, die zwanzig Leute, die da arbeiten, das machen die alles freiwillig, die kriegen kein Geld dafür. Nur das Essen geben wir aus. Jeden Tag arbeiten die hier. Hier ist ganz hohe Arbeitslosigkeit und die Menschen sind arm."

Als wir im Haus auf der Terrasse sitzen, geht auf einmal das Licht aus, alle Lichter im Ort gehen aus. Irgendeine zentrale Sicherung muss abgeschalten worden sein. Dann hören wir Schüsse oder Granaten in der Ferne, sehen Lichter in der Luft. Militär-Lkws rasen die Strasse entlang, nach Norden, zum Flugplatz. Nach einer Weile ist Schluss, die Militär-Jeeps kommen wieder zurück, nach einer halben Stunde geht auch das Licht wieder an.

"War wohl ein Flugzeug der contras, das sie aufs Meer rausgejagt haben", erklärt der Pastor.

Am späten Abend kommt uns nochmal ein Militärjeep besuchen, ich soll meine Sachen alle packen und mitkommen, nochmal zur Migración.

Ein comandante der üblen Sorte

Der comandante, der Vorgesetzte von Ortega, ist da. Er sitzt hinter dem Schreibtisch im Zimmer der Migración. Es ist der höchste Militär hier am Ort. Hinterher erzählen sie mir, dass er einem Stab von vier Ober-Militärs vorsitzt, und weil Kriegszustand ist, ist er gleichzeitig praktisch der Bürgermeister.

Ich soll nochmal alles von vorne erzählen. Er macht mir die dicken Vorwürfe, warum ich dahinten in Leimus über die Grenze bin. Woher ich das hätte, dass das ein Grenzübergang für Touristen sei.

"Aber hombre, das hat mir doch der honduranische Militär gesagt, der vom Fünften Batallón, dass in Leimus der Grenzübergang ist."

Und das stimmt auch, denn Sánchez hatte mir genau das gesagt und nichts anderes. Will er mir aber nicht glauben.

Nein, das werde ich jetzt nicht machen, den Sánchez-Brief aus der Plastiktüte holen, der das bezeugen würde. Auch wenn ich die Tüte gerade in der Hand halte. Sánchez mag Militär sein, aber er hat mir einen Gefallen getan, und ich habe ihm versprochen, den Brief nicht den nicaraguanischen Militärs zu zeigen.

Ortega hatte diese Sachen ja auch gefragt, der hat aber dann etwas über meine Absichten hier und über meine politische Meinung wissen wollen, und liess mit sich reden.

"Verstehen Sie es doch nicht falsch, Señor Comandante. Ihre Leute haben mich doch hierhergeschickt, ich bin doch nicht auf eigene Faust nach Puerto Cabezas gekommen. Ihre Leute haben die Pastoren angewiesen, mich hierherzufahren."

"Erst sagst du, die hondureños hätten dich hierhergeschickt - jetzt sagst du, unsere Leute wärens gewesen! Du widersprichst dir doch selber! Bilde dir bloss nicht ein, dass ich dir auch nur ein Wort davon glaube!" - mieser Rhetoriker. Kein Wunder, dass das Land nicht weiterkommt, wenn es von solchen Leuten regiert wird. Der checkt ja nichts.

"Ich habe doch gar nicht versucht, hier grün über die Grenze zu gehen."

"Komm mir bloss nicht mit der Tour! Damit kommst du bei mir nicht durch, dass dus weisst! Was hast du gemacht, als du da rein bist?!"

"Ich habe mich sofort nach der Anlandung des Bootes an die örtlichen bewaffneten Streitkräfte gewandt und gefragt, ob ich wohl einreisen dürfte. Die haben gesagt, ja, und ich solle nur in Puerto Cabezas zur Migración, das liesse sich ohne Probleme regeln. Wenn die nein gesagt hätten, wäre ich doch ohne Widerstand wieder zurück nach Honduras gegangen. Ich habe doch nur das gemacht, wozu Ihre Leute mich angewiesen haben."

Hilft alles nichts, er bleibt bei seiner Haltung und glaubt mir nichts, was ihm nicht in den Sinn passt. Er wird laut und sagt, ich würde eine unglaubliche Geschichte erfinden.

Jetzt ist genau der Moment, wo ich kein Bock mehr hab mit ihm. Na gut, dann werden wir eben nicht einer Meinung. Er weiss ja gar nicht, dass ich schon längst gewonnen habe. Er kanns doch gar nicht mehr vermiesen!

Ich frage mich, was will er eigentlich? Ich habe es geschafft, über Leimus nach Nicaragua reinzukommen. Da kann er sagen, was er will. Und habe von Ortega einen Stempel im Pass. Der Stempel ist da drin, den machst du nicht wieder raus. Hat er anscheinend auch gar nicht vor. Mehr wollte ich doch gar nicht. Was will ich denn hier? Entweder ich bleibe etwas in diesem Land oder ich drifte weiter in das nächste.

Wenn ich Glück habe, schicken sie mich sogar nach Costa Rica und nicht zurück nach Honduras, und ich könnte sogar weiter nach Südamerika. Bin ich nicht schon am Ziel meiner Wünsche? Was will ich denn mehr? Ich bin hier in Puerto Cabezas, Nicaragua - er kanns gar nicht mehr vermiesen.

Na, mal kucken, wie die Diskussion ausgeht, ich bin ja selber gespannt.

"Du bist illegal über die Grenze, ist dir das nicht klar?!"

"Ja, jetzt, wo Sie mir es sagen, weiss ich es. Es tut mir ja auch leid, Señor Comandante."

"Tut mir leid, tut mir leid - das kann jeder sagen!! Wenn wir das durchgehen lassen, kommen nachher die Touristen scharenweise in Leimus über die Grenze! - Ausreisestempel aus Honduras hast du auch nicht!" - und pfeffert mir den Reisepass auf den Tisch.

Oh nein, er hat wohl Ärger mit seiner Frau gehabt, genauo sieht er aus. Was ich mit den contras und den Flüchtlingen zu tun gehabt habe da drüben, "oder arbeitest du am Ende noch für lasía? - - Jetzt sag bloss nicht, du weisst auch nicht, was das ist!"

Ich weiss es tatsächlich nicht, Mist, ich kann kein so gutes Spanisch, und er spricht total schnell.

"¿Lasía?", ich frage ihn, ob ich das Wort richtig verstanden habe. Ich will doch wenigstens mitkriegen, um was es geht, wenn er sich schon solche Mühe gibt, mir Vorwürfe zu machen.

Was heisst lasía? Oder la sía?

Jaja, die spanische Sprache. Alles wird so geschrieben, wie es ausgesprochen wird. Im Prinzip stimmt das auch. Die Sprache ist wirklich so erfolgreich, weil sie so einfach ist. Eine Alphabetisierungskampagne besteht hierzulande tatsächlich darin, den Leuten 26 Buchstaben beizubringen, ein paar Akzentregeln und der Rest ist Übung. Eine Rechtschreibreform wäre ein Witz - es gäbe gar nichts zu reformieren. Aber die Schriftsprache ist der kastilische Dialekt - hier im fernen Nicaragua stösst der gute Wille an seine Grenzen und ein Begriff wie lasía könnte alle möglichen Bedeutungen und Schriftweisen haben.

Also los. La ist der weibliche Artikel, silla[61] heisst Stuhl... La Silla heisst dieses eine Planetarium in Chile. Lazo heisst Seil, lacilla könnte Bande heissen... oder ist es eine Abkürzung? Meinte er Sida und hat das d verschluckt? - das haben sie mir in Mexico beigebracht: Sida heisst Aids.

Nein, ich krieg wirklich nicht raus, was er meinen könnte. Er schaut mich an, als ob er von mir eine Stellungnahme erwarte. "Stell dich nicht dumm", sagt sein Blick. Was hast du dazu zu sagen.

Also gut, soll ich jetzt einfach irgendeinen blöden Müll sagen? Es wär sowieso egal, was ich sage, denn das, was ich sage, hat auf den Inhalt des Gesprächs eh herzlich wenig Einfluss. Er wird mich entweder ausweisen oder in den Knast stecken, das ist klar. Beides wär okay, ich bin eigentlich zufrieden mit der Situation. Nicaragua erleben, unverfälscht, genauso wie es ist, live, und auch noch steuerfrei... ich entscheide mich dafür, keinen blöden Müll zu sagen, sondern höflich zu versuchen, herauszubekommen, was der Inhalt des leicht einseitigen Gesprächs sein mag.

"Lasía? Wie wird denn das geschrieben?", frage ich. Bäh, sagt er natürlich nicht. Ach, du bist gemein.

Ich gebs zu, eine blöde Idee, in einem spanischsprachigen Land zu fragen, wie etwas geschrieben wird. Auf sowas kann auch nur ich kommen. Erst recht hier, wo noch vor wenigen Jahren sowieso kaum jemand lesen und schreiben konnte. Ich kann ihm ja mal einen Vortrag halten über die mindestens 12 verschiedenen Möglichkeiten, wie hier lasía geschrieben werden kann. Oder ist Lasía ein Name, irgendein Contra-Chef? Klingt aber wenig spanisch. Oder ein Begriff aus dem Miskito, siya, vielleicht eine Organisation wie die Yatama?

Offensichtlich kann er sich keinen Reim drauf machen, warum ich "so tue", als würde ich nicht wissen, was lasía bedeutet. Soll er mich für oberverdächtig oder für total doof halten? Auf einmal fängt er an, unsicher zu wirken. Der Elan ist raus. Er nimmt seinen Kugelschreiber in die Hand, legt ihn wieder weg. Sieht den anderen Militär an. Sieht wieder mich an.

"Was sollen wir jetzt mit dir machen? Mach mal einen Vorschlag! Wir schicken dich zurück, nach Honduras!"

"Ja, in Ordnung, einverstanden. Schicken Sie mich nach Honduras -", meine ich beruhigend, etwas gelangweilt, aber auf keinen Fall ganz gelangweilt, " - oder nach Costa Rica."

Der Trick war super. Der Trick war absolut einmalig. Ich weiss, dass ich schon öfter gut war in der letzten Zeit, aber mit dem Satz, den ich eben gebracht habe, war ich wirklich weltklasse. Zum ersten Mal hat er mir zugehört! Ich sehe ihm richtig an, dass er über das gedankliche Kunststück Costa Rica nachdenkt.

Und mit Erfolg. Denn das mit Honduras lässt er gleich wieder fallen, ich könnte ja dort was mit den contras zu tun gehabt haben, so undurchsichtig und verdächtig, wie ich mich hier benehme.

"Dich schicken wir nach Managua, sollen sich die mit dir rumärgern.", ich soll ein paar Tage auf das Flugzeug warten, und zwar hier, im Häuschen der Migración.

Geil. Managua.

Er setzt einen Brief auf, der sich ihm entsprechend liest. Mit Schreibmaschine. Dann gibt er ein paar Anweisungen an seine Untergebenen, wie und für wann sie das Flugzeug zu organisieren haben. Ortega sagt ihm, ich könne auch beim Pastor im Haus schlafen.

"Nein, hier, hab ich gesagt!"

Macht nichts, Ortega, war gut gemeint. Zweieinhalb Tage verbringe ich im Migrationshäuschen, eingesperrt in einem ganz kleinen Zimmer mit lauter Müll und Gerümpel drin. Klo haben sie auch nicht.

Kurze Zeit später bin ich mit Nelson, dem wachhabenden teniente zusammen. Ein einfacher Angestellter. Mit seinen Kumpels und mit mir spricht er Englisch, Mískito nur ein paar Wörter.

"Du musst besseres Spanisch lernen, ohne Spanisch zählst du hier nichts", sagt er, und gibt mir ein spanisches Enid-Blyton-Buch zum Lesen.

Das ist Nicaraguas Atlantikküste. Eine völlig andere Geschichte als die der Pazifikküste, die von den Spaniern, übrigens halbwegs friedlich, kolonialisiert wurde. Die einfachen Leute sprechen Englisch, kein besonders gutes, denn in der Schule müssen sie Spanisch lernen. Nach der Revolution werden sie verstärkt dazu angehalten. Bis 1898 war dieses Gebiet unter Kontrolle von Engländern, zuerst als Kolonie, später als Piratenschlupfwinkel. Der grössere Ort heisst Bluefields. Die Sprache der Karibik ist Englisch. Karibisches, kein amerikanisches Englisch.

Die Engländer sollen sich auch ziemlich danebenbenommen haben: die Mískito-Indianer angehalten, ihnen Sumus als Sklaven zu verkaufen, das tragen die Sumus den Mískitos heute noch nach. Gibt aber auch Mischehen, meinte Bettina.

Die Mískitos hatten immer Kontakt zu den Engländern, nicht zu den spanischsprechenden Mestizen in den Bergen. Die englischsprachige Bevölkerung lebt an der Küste, die Mískitos weiter landeinwärts. Viele Wörter der Mískito-Sprache sind aus dem Englischen entlehnt, Wörter wie Arbeit, lernen, Schule, brauchen, wollen. Nur die allermodernsten Fremdwörter (Auto, Strasse, Satelliten) nehmen die Mískitos aus dem Spanischen.

Die Somoza-Regierung hat sich um die Region nicht gekümmert, aber die Sandinisten haben zunächst wohl nichts besseres zu tun gehabt, als den Leuten zu sagen, wer hier das Land regiert. Gut, sie regieren es, ich sehe es ja ein, aber was haben sie davon? Die einzigen, denen es hier gut geht, sind die comandantes. Ihre Art von sozialistischer Entwicklungshilfe kam wohl nicht so gut an hier, mit spanischen Schulen und - Planwirtschaft, auch wenn Uli das bestreitet. "Die wollten einfach nur mal Rabatz machen" dürfte wohl nicht ganz das Motiv gewesen sein, warum die Yatama vor drei Jahren zu den Waffen gegriffen hat, und erfolgreich[62].

Aus dem Müllkübel fische ich mir unauffällig ein auf einer Seite unbeschriebenes Blatt Papier und verstecke es... als Vorrat, wenn ich mal was schreiben will... erst viel später werde ich einmal aus Langeweile zufällig lesen, was auf der Seite mit Schreibmaschine geschrieben steht: Es ist ein Brief von Nelson an irgendeinen comandante, er versteht nicht, warum sie ihm schon zum zweiten Mal den Lohn kürzen, seit sechs Jahren arbeite er schon für das Militär, müsse ausserdienstlich jobben und wisse nicht, wie er seine sechs Kinder weiter ernähren soll.

Manche Mískitos wollen gerne mal nach Honduras, Freunde oder Verwandte dort besuchen, vielleicht mal ein paar Wochen dableiben. Einen Reisepass hier im Häuschen der Migración zu kaufen, kostet aber tausendeinhundert Córdobas (über hundert Dollar). Für die meisten Leute an der Atlantikküste sei das nicht erschwinglich, sagt Uli. Was machen sie? Sie gehen über die Grenze, melden sich als Flüchtling in irgendeinem Lager, und gehen mit repatriación[63] wieder zurück. Ein Flüchtling in Honduras sagte mir, es gebe Spezialisten, die das schon dreimal gemacht haben.

Und was hiess jetzt lasía? Ich lag völlig daneben. Erst viel später werde ich rauskriegen, dass in der spanischen Sprache alle ausländischen Abkürzungen so ausgesprochen werden, als wären es spanische Wörter - gemeint war der amerikanische Geheimdienst CIA. Und der ist hier ausserdem weiblich.

Achtundvierzig Dollar zahle ich für den Flug drei Tage später nach Managua. Ich werde sogar extra von einem Soldaten "begleitet", wir sitzen in der letzten Reihe in der alten polnischen Maschine, die vielleicht hundert Leute in die Hauptstadt fliegt. Erst mal aufs Meer, die Küste nach Süden, dann über Wald, Bergland, irgendwann immer mehr bewirtschaftet. Ich "darf" am Fenster sitzen.

Im Dunst schon Managua[64], am grossen Managua-See gelegen. Wir verlieren an Höhe, die Gegend ist hier eben, die Berge weiter weg, Grasland, es geht in die letzte Kurve vor der Landung, jetzt kann ich die Stadt nicht mehr sehen, nur noch Grasland, Büsche, und die Berge weiter weg, er setzt zur Landung an, die Bäume pesen total schnell vorbei - da wars!

Das wars, diese zwei dunklen Bäume, die da vorbeipesten, die warns, wir landen. Diese zwei dunklen Bäume zwischen Gras und kleinen Büschen. Die warens! Eine ganz kurze Szene, keine Sekunde, aus der Landungsszene vom Traum in Mexico. Nur eine ganz kurze Szene, eine halbe Sekunde, ich seh die zwei auffälligen Bäume, dunkel im verdorrten Gras, die fallen mir auf, und ich schau ihnen einen kurzen Moment nach - genau das habe ich schonmal erlebt. Ein Déjà-vu.

Wir sind schon in der Flughafenhalle, wieder hinsetzen, warten, was weiss ich auf wen.

Während wir warteten, hatte ich wieder Zeit zum Nachdenken. Wie damals, am 6. Mai 1980, wo ich auch eine Art Freistunde zum Nachdenken hatte. Morgens um sechs auf einer Polzeiwache in Mainz.

Ich hatte den Traum von Mexico noch gut in Erinnerung und ging die Landungsszenen im Flugzeug am Ende noch einmal genau durch. Die Landung im Traum war, wie so oft in Träumen, aus lauter verschiedenen Einzelszenen zusammengesetzt gewesen, die bei nüchterner Betrachtung nicht ganz zueinander passten. So schaute ich während des Fluges rechts aus dem Fenster einer kleinen Privatmaschine, bei der Landung aber links aus einem etwas grösseren Flugzeug. Darunter war auch die Szene mit den beiden Bäumen - eine Szene von nur einer halben Sekunde, die ich ein halbes Jahr nach dem Traum also exakt in der Realität erlebte - daher auch das bekannte Gefühl, das hatte ich schonmal erlebt.

Es war das zweite Mal, dass ich bei einem Déjà-vu nachweisen konnte, dass ich die in der Realität als Déjà-vu erlebte Szene vorher geträumt hatte. Das erste Mal war mir das vor zehn Jahren in Mainz gelungen, bei einer Szene, die sich weniger spektakulär auf dem Klo zutrug, die aber mehrere Sekunden anhielt.

In Mainz hatte ich vor zehn Jahren auch einen anderen Traum gehabt, den ich bis jetzt immer so interpretiert hatte, dass die Zukunft vorherbestimmt war und ich Viktoria eines Tages heiraten würde. Doch wenn ich es heute nüchtern betrachtete, sprach ausser diesem Traum eigentlich fast gar nichts für eine solche Heirat. Fast, denn überraschenderweise schien die Zukunft sogar bis ins Detail schon vorher bekannt zu sein, und hin und wieder liessen sich Einzelszenen aus einer Zukunftsrealität ein halbes Jahr im voraus träumen.

Vielleicht ja nur für ein halbes Jahr? Was wäre eigentlich passiert, wenn ich in El Paraje den Traum ignoriert hätte und nach Mexico City gegangen wäre? Wäre ich dann in einer Parallelwelt gelandet, in der ich weder nach Managua geflogen wäre noch Viktoria geheiratet hätte?

Auch Douglas Adams hatte in Per Anhalter durch die Galaxis den Gedanken einer Parallelwelt aufgegriffen. Zaphod Beeblebrox und Marvin sollten das Zimmer durch das Fenster des bruchgelandeten Hochhauses auf Froschstern B verlassen, aber auf gar keinen Fall durch die Türe, hatte Roosta ihnen gesagt. Sonst wären sie in einem Paralleluniversum gelandet, in der Zaphod niemals den Totalen Durchblicksstrudel überlebt hätte. Eine miese Apparatur, sie zeigte einem die ganze unendliche Weite des Universums, die unendlichen Sterne und Galaxien mit ihren unendlichen Entfernungen dazwischen, und irgendwo auf einem winzigen Pfeil, der auf einen mikroskopischen Pfeil auf einem unendlich kleinen mikroskopischen Punkt zeigte, stand Hier bist du. Hätte Zaphod die Anweisung Roostas nicht befolgt, hatte er die Show nicht überlebt.

Hatte ich nicht vielleicht sogar schon in den vielen Jahren vor Mexico irgendeinen falschen Weg eingeschlagen und lebte schon längst in einer solchen Parallelwelt, in der ich Viktoria nicht heiraten würde?

Managua. Zwei Stunden später fahren sie mich ans andere Ende der Stadt, auf eine Anhöhe, hier steht ein Haus, eine Art Villa, "Innenministerium", steht dran. Zwei Leute fragen mich wieder zweimal das gleiche und ich erzähle ihnen auch wieder zweimal das gleiche. Dass meine documentos über die grosse Solidaritätsarbeit gefälscht sind, fällt auch ihnen nicht auf. Ich geb mich als Sozialist aus. Schaden kann das nicht, sage ich mir, und sollen sie doch denken, was sie wollen.

Alles, was im Rucksack ist, wollen sie genauestens aufschreiben, alle Sachen werden genau notiert. Auch alles, was ich an Geld habe, alle meine Papiere, alle Kleinigkeiten filzen sie genau durch. Nur eine Sache entgeht ihnen: ausgerechnet der Sánchez-Brief aus Honduras. Nein, nein, den zeig ich euch nicht. Gemessen an dem, was sie sonst noch für einen Müll aus meinem Rucksack holen, wäre der Sánchez-Brief das einzige gewesen, was sie interessiert hätte.

Eigentlich ist es kein Rucksack, sondern es ist nur ein alter Jute-Sack für Erbsen, wo ich so Art Träger rangemacht habe. Ich lauf nicht gerade wie ein Rucksack-Tourist rum, sondern eher ziemlich abgerissen, aber hier in den Ländern fall ich nicht auf. Alle Leute, die hier die Strasse als Reiseweg nutzen und nicht das Flugzeug, sind nicht sehr reich. Ich bin einer von ihnen, und das ist ein gutes Gefühl.

Sie sind nicht gross böse, machen halt ihre Arbeit, für sie wohl Routine. Sie scheinen zu honorieren, dass ich sie respektiere. Am Ende der ganzen Fragerei fragen sie mich noch:

"Also? Und jetzt? Was denkst du wohl, was wir mit dir machen?"

Ich weiss auch keine rechte Antwort. Weiss nicht. Ihr könnt mich ja freilassen, oder mich zurückschicken nach Honduras, ...oder eben nach Costa Rica... das denke ich vor mich hin, während ich ihnen sage, dass ich gerne in Nicaragua in einer Brigade arbeiten würde.

Ist ein bisschen verfahren, die Situation, und ich lege keinen grossen Wert darauf, das zu ändern. Sie scheinen irgendwie eine Art Paranoia draufzuhaben. Alle haben sie Angst, ich könnte vielleicht doch irgendein getarnter contra sein. Nur Ortega hatte da schnell von Abstand genommen, den anderen war ich immer verdächtig. Andererseits mache ich auf sie einen ziemlich ahnungslosen und auch unprofihaften Eindruck eines Einzelgängers, sodass ich ihnen wohl doch nicht gefährlich werden würde.

Sie sollen ruhig bis zu einem gewissen Grad glauben, dass ich was mit den contras zu tun gehabt haben könnte, dann schicken sie mich nicht nach Honduras, sondern nach Costa Rica. Sie sollen aber auch nicht denken, ich sei contra, dann wär ich wohl schnell wegen Spionage dran. Das deuten sie mit etlichen Fragen in diese Richtung an.

Wenn rauskäme, dass ich einfach nur cool über die Grenze bin, nur einfach so, dann wäre ich ganz schnell wieder in Honduras, und dürfte mich wegen überzogenem Visum mit denen rumärgern, das wär auch mies. Also gebe ich mich offiziell als der grosse Sozialist aus, wenn sie mich aber nach FBI oder sowas fragen, sage ich nur, ja, ich weiss, was das ist, steht ja in allen Zeitungen.

Das Ergebnis ist, dass sie wohl wirklich nicht wissen, was sie von mir halten sollen. Sie schliessen Tür Nr. 29 auf, Abschiebeknast, da rein, "kriegst Gesellschaft, damits dir nicht zu langweilig wird", meint er abschätzig zu dem bärtigen Typ, der gleich wieder im anderen Zimmer verschwindet.

Barfuss, in blauer kurzer Hose und blauem Hemd, dieselbe Kleidung krieg ich auch. Behalten darf ich hier nur das Handtuch, keine anderen Sachen von mir. Na gut, was brauche ich auch mehr als mein Handtuch. West Virginia...

Bevor sie gehen, fällt mir noch ein, sie zu fragen, ob sie nicht vielleicht etwas zum Lesen hätten. Enid Blyton auf Spanisch war nämlich gar nicht so schlecht gewesen.

"Haben wir was zum Lesen... hm... wir haben nur Lenin, wenn dich das -" Lenin??

"Ja", meine ich freudig, "das ist interessant, das wäre nett, wenn Sie mir das bringen würden. Haben Sie auch Marx?", ich muss ja den perfekten Sozialisten markieren.

Imperialismus - fortgeschrittene Phase des Kapitalismus, 85 Seiten, was anderes darf er mir wohl nicht bringen. Schreiben ist nicht. Stifte gibt es nicht. Sonst werden die Wände vollgeschmiert. Mit Schmähungen gegen den Sozialismus.

Es ist also die Villa irgendeines Somoza-Fans, den sie wohl enteignet haben, und unser Gefängnis besteht aus drei Zimmern und einem Bad. Der andere Gefangene ist im linken Zimmer, ich geh in das rechte, in beiden stehen je zwei Betten. Das dritte Zimmer ist eine Art Aufenthaltsraum, von dem die beiden Schlafzimmer abgehen. Die Fenster und die Tür zum Innenhof haben sie mit Gittern dichtgemacht.

Es ist sogar ganz zivil möbliert, auch wenn die Couch und die Sessel schon leicht ramponiert sind. Die Betten haben zwei Matratzen, recht gemütlich, Schränke aus Holz (in denen verständlicherweise aber nichts drin ist...), sogar Nachtschränke haben wir. Der Boden ist sauber gekachelt. Mich überrascht, dass wir sogar einen Fernseher haben, der funktioniert auch. So können wir uns jeden Abend die brasilianische Telenovelle Final feliz[65] reinziehen, die spielt in Porto Alegre.

Also gut, auch wenn es nicht gleich danach aussieht: hier bin ich also im Knast, Abschiebehaft, Ausbrechen verboten. An der Terrassentür hängt extra ein Zettel, eine Art Gefängnisordnung. Das Licht hat um zehn Uhr aus zu sein und das unaufgeforderte Verlassen der Räume ist den Gefängnisinsassen untersagt. Ausbrechen verboten. Ist wohl als kleiner Scherz gemeint, denn alles ist vergittert und wir werden streng bewacht.

Auf den Matratzen liege ich sehr bequem, als Zudecke reicht in den warmen Nächten Managuas ein einfaches Bettlaken. Manchmal nerven die zancudos, in einer Nacht zerklatsche ich einmal acht dieser lästigen Stechmücken.

Am nächsten Morgen wechseln der andere und ich zum ersten Mal ein Wort.

"Haben sie dir auch dein Geld weggenommen?", will er wissen, "Hast du denen dein Geld gezeigt?"

"Ja, hab ich, wieso, musste ich doch. Die haben alles genau aufgeschrieben. Nur den unsinnigen Flug gestern musste ich bezahlen, weisst du, ich komme von Puerto Cabezas. Wieso, haben sie dir Geld weggenommen?"

"Nein, ich hatte kein Geld, aber zwei anderen haben sie zweihundert Dollar weggenommen, Mexikanern."

"Nein, so richtig weggenommen haben sie mir nichts. Du - bist Nicaraguaner?"

"Nein, Kolumbianer."

"Ah, Colombia. Und woher aus Kolumbien?"

"Aus Bogotá. Und wo kommst du her?"

"Ich bin Europäer. Aus Westdeutschland."

Er heisst Dagoberto und sitzt schon seit zwei Monaten, war aber nicht immer alleine. Scheint diese Militärchefs nicht besonders gern zu mögen, mit den Wachsoldaten kommt er besser klar. Obwohl ich noch nie im Knast war, merke ich von der ersten Minute an diese eigenartige Atmosphäre, wenn jeder jedem misstraut. Das geht nur langsam vorüber.

Einer der Wandschränke ist unauffällig aufgebrochen, mit Kreidestein haben sie ein Gedicht reingeschrieben.

|Cárcel de Lujo |Luxus-Knast |

| | |

|Nunca he visto una cárcel así |Noch nie habe ich so ein Gefängnis gesehen |

|pero siempre es cárcel |aber es bleibt Gefängnis |

|televisor |Fernseher |

|muebles |Möbel |

|buenas camas |gute Betten |

|closeth |Klo |

|buen baño tipo turista |Dusche der Marke Sommergäste |

|pero somos presos |aber wir sind Gefangene |

|y es la misma mierda |und es ist dieselbe Scheisse |

Dreimal am Tag bekommen wir Essen, ich schätze, es ist dasselbe Essen, das die Wachsoldaten auch bekommen. Reis, Bohnen, yuca, Mais, immer etwas anderes, manchmal Gemüse, Obst, dazu einen Becher Saft oder Kaffee.

Wenn sie Lust haben, lassen sie uns am Tag einmal für eine Stunde auf den Hof, an die Sonne. Alle zwei Tage müssen wir ausserdem unsere "Wohnung" saubermachen, dann geben sie uns Feudel, Besen und alles. Damits uns nicht zu langweilig wird.

"Funktioniert die Dusche?"

"Manchmal."

Nur mit Trick funktioniert sie. Aber immerhin. Die Klospülung ist auch nicht ganz in Ordnung.

Dagoberto will wissen, wie es in den USA mit Arbeiten ist, er will nach Nordamerika.

"Das Grenzgebiet wird streng bewacht, du müsstest connections zu Mexikanern haben, die sich da auskennen. In Texas arbeiten viele Mexikaner illegal, und in Kalifornien auch."

Am Mittag kommen zwei dazu.

Ein Salvdoreño, er ist fünfunddreissig und lebt seit neun Jahren in Managua, ist verheiratet mit einer Nicaraguanerin. Seine Papiere sind ihm geklaut worden, jetzt müssen sie ihm neue ausstellen.

Der andere ist aus der Dominikanischen Republik und scheint von Beruf Witzbold zu sein. Achtundzwanzig Jahre, schon in dreiundzwanzig Ländern gewesen, ist reich, das gibt er offen zu, und labert ständig die Wachsoldaten voll. Er will seinen Botschafter sprechen. Er will nur weg hier.

"Schicken Sie mich egal in welches Land, ja, nach Honduras oder Guatemala, ist mir scheissegal, aber schicken Sie mich bloss raus hier", in dem Ton.

Das Essen sei das letzte, was ihm bisher untergekommen sei. Irgendwann verlieren sie die Geduld - Resultat: Fernseher jetzt um acht Uhr ausmachen. Wir schaffen es noch, sie auf 20.30 Uhr hochzuhandeln, weil wir unbedingt das sandinistische Nachrichtenmagazin noch sehen wollen.

"War dein Botschafter schon hier?", fragen wir Kolumbien.

"Ja, schon paarmal war der hier."

"Und wenn sie dich freilassen, wo werden sie dich dann hinschicken?"

"Weiss nicht, keine Ahnung. Nach Kolumbien - ?"

Wir überlegen, ob es von Managua aus Flüge nach Bogotá gibt. Wohl nicht...

Auch bei mir kann ich mir nicht richtig vorstellen, was sie mit mir machen wollen. Zunächst geniesse ich es, barfuss in diesen sauberen Räumen meine zum Glück nicht wieder infizierten Füsse auskurieren zu können. Doch, meinen Füssen tut es wirklich gut. Aber was kommt danach?

Genauso wie sie nicht zu wissen schienen, was sie von mir halten sollten, weiss ich nicht, was ich von ihnen halten soll. Was haben sie mit mir vor? Wollen sie mich einfach nur zermürben? Halten sie mich für spionageverdächtig oder nicht? Fest steht, dass sie mich hier Vollpension verköstigen, jeden Tag dreimal Essen, vielleicht wird es ihnen doch irgendwann mal zu dumm.

Kolumbien sagt, ein Bolivianer soll einmal ein halbes Jahr gesessen haben, ein Italiener sogar einmal zwei ganze Jahre. Aber die hat er nicht gekannt. Vielleicht ist es nur ein Gerücht.

Salvadors Fall kommt uns am komischsten vor.

"Du lebst also schon seit neun Jahren hier in Managua, bist mit einer Nicaraguanerin verheiratet, hast zwei Kinder, warum stecken sie dich dann in den Knast, wenn sie dir nur die Papiere nochmal neu ausstellen müssen?"

Zuckt mit den Schultern, "así son ellos", so sind die halt. Irgendwie haben sie wohl echt eine Paranoia.

Kolumbien und der Dominicano haben ein eigenes Gesprächsthema - beide sind von Costa Rica aus grün über die Grenze. Und dann sind sie weiter innen im Land irgendwann mal bei einer Kontrolle nach Papieren gefragt worden, was in dieser Gegend keine weiter grosse Schwierigkeit ist.

"Ich bin in Costa Rica bis kurz vor den Grenzübergang", erzählt der Dominicano, "son Feldweg rein, und hab den nächsten Bauern nach dem grünen Weg über die Grenze gefragt. Hat er mir beschrieben, ich geh also los, durch den monte", so nennen sie den Urwald, "und auf einmal steh ich auf dem Pfad som Riesen-Wolfshund gegenüber. So gross -"

"Wolfshund? In Mittelamerika gibt es doch keine Wolfshunde."

"Natürlich gibt das hier Wolfshunde, hombre, so gross war der, und hatte Zähne, aber was für welche -"

"Wölfe gibt das nur in Russland -"

"Nein, Wolfshund, ich sag doch, das war kein Wolf, sondern der war grösser, und schwarz -"

"Schwarz? Wenn, dann gibt das hier höchstens ein paar Coyoten, die sind aber nicht schwarz, und schon gar nicht grösser als ein Haushund -"

"Nein, ein Wolfshund, ich sag dir, der war pechschwarz, und etwa, also - so gross -"

"Jetzt erzähl doch nichts, in Mittelamerika gibt es doch keine -"

"Mann, lass ihn doch mal ausreden! Wir wollen das jetzt zuende hören -"

"Also, ich steh da also auf dem Pfad, und der Wolfshund, also - so gross - und -"

"Aha, gewachsen in der Zwischenzeit."

"Nein, so gross, hab ich gesagt. Na gut, so gross. Wir stehen uns gegenüber und mir ist also vom ersten Augenblick an klar, was der von mir will. -"

"Zwei Pesos fürn Bus bestimmt nicht -" Mann, sei doch mal still.

"Ich kuck ihm also scharf in die Augen, und sage: 'Weiche von mir!', und auf der Stelle - nein, das heisst, da hat er sich noch nicht gerührt, also ich nochmal: 'Geh hinfort!' - und dann ist er ab, in den monte, und ich konnte unbehelligt weitergehen."

Vom nächsten Abend an nennen wir ihn Niño, und das hat er sich aber verdient. Wir dachten uns also, er labert besser uns voll, als die Wachsoldaten... aber manchmal übertreibt er es schon ein wenig. Den ganzen Tag will er uns weismachen, dass die beste Demokratie der Welt die Dominikanische Republik sei, mit dem bekanntesten Präsidenten der Welt, die beste Musik käme von daher, und so weiter. Natürlich unterbrechen wir ihn ständig, wenn er es zu weit treibt. So haben wir auf einmal Stimmung im Knast.

"Einmal hatte ich ein Erlebnis. Ich lag zuhause, auf meinem Bett, so wie hier auf der Matratze jetzt -"

"Aber nicht mit Hund, stimmts?!" - alle lachen. Vorher wollte er uns nämlich erzählen, dass es in der Dominikanischen Republik keine Hunde gäbe, genauer, dass die dort nicht auf der Strasse rumlaufen würden, wie hier in den Städten von Mittelamerika.

"Nein, nicht mit Hund."

"War auch wirklich kein Hund in der Nähe?" - Haben sogar die Wachsoldaten gelacht, als Dagoberto ihnen diese Geschichte erzählt hat. Überall in Lateinamerika gibt es Hunde.

"Nein, Mann, echt nicht."

"Auch nicht ein fernes Bellen?"

"Nein, Mann, da war kein Hund! Ich lag alleine auf meinem Bett -"

"Auch nicht mit Wolfshund - ?"

"NEIN. Ich war allein, also, es war schon dunkel, nur eine Kerze, ich lag also da - so - kucke nach oben, und auf einmal höre ich eine Stimme. Ja, wirklich, eine Stimme. Und es war niemand da, woher die Stimme hätte kommen können! Sie kam von genau über mir, von oben, direkt über mir, etwa zehn-zwölf Meter hoch, und die Stimme sagte: Niño, ¡levántate!" - wir liegen am Boden und krümmen und vor Lachen. Der spannendste Moment, und dann kommt das!

Niño, ¡levántate! ist Bibelspanisch und heisst "Kind, erhebe dich". Ausser der "Stimme" würde in Lateinamerika jedenfalls keiner mehr niño zu ihm sagen.

"Niño, das sagt doch kein Mensch!"

"Doch, in der Dominikanischen Republik ist das sone Redewendung, niño, das sagt man halt so -"

"Ja, zu Kindern vielleicht, aber nicht zu dir!"

"Doch, niño, das sagt man auch zu Erwachsenen -" - ich an seiner Stelle hätte gesagt, wieso, da war ich acht Jahre.

Wir haben natürlich nichts Besseres zu tun, als gleich darüber zu diskutieren, ob die Stimme nicht vielleicht doch von einem Hund kam, weil die Hunde in der Dominikanischen Republik ja bekanntlich sprechen können... eigentlich war die Passage, die er uns erzählt hatte, nur eine Einleitung zu einer viel längeren und viel phantastischeren Geschichte, aber Niño hatte keine Lust mehr, weiterzuerzählen.

Und seinen Botschafter will er sprechen, unbedingt, wegen der Genfer Konvention und so.

"Das ist internationales Recht, jeder ausländische Gefangene hat das Recht, innerhalb von drei Tagen seinen Botschafter oder Konsul zu sprechen."

Ernesto, der Salvadoreño: "Hombre, du bist hier nicht irgendwo, du bist hier in Nicaragua. Das sind keine Diplomaten hier, das sind Guerilleros, die haben keine Ahnung von sowas. Wir können froh sein, dass sie uns so gut behandeln. Guerilleros sind das! Das einzige, was die können, ist Krieg führen, und nix weiter."

"So, wie wir hier behandelt werden, würden sie uns in keinem anderen Land behandeln!"

"Hombre, hast du ne Ahnung, wie die Abschiebeknäste in Deutschland aussehen? Geh mal illegal nach West-Berlin, dann redest du aber anders."

"Aber das ist doch ein demokratisches Land, Deutschland."

"Dieses Argument ändert aber nichts am Zustand der Abschiebeknäste dort."

"Also in der Dominikanischen Republik ist das anders. Dort sind die -"

"Ja, klar, wir wissen, da sind das Fünf-Sterne-Hotels mit swimming pools -"

"Nein, das natürlich auch nicht, aber so, wie sie uns hier behandeln, würden sie uns da nicht behandeln, das weiss ich. Und in deinem Land doch auch nicht, oder, Salvador?"

"Das Gefängnis in San Salvador ist so gross wie - komm, wir gehn mal zum Fenster. Du siehst dieses grosse sechsstöckige Hochhaus da hinten? So gross ist ungefähr das Gefängnis von San Salvador. -"

"Wirklich so gross?"

"Das weiss niemand so genau, wie gross das wirklich ist! Weil es nämlich einen kleinen Unterschied gibt: die Stockwerke liegen alle unter der Erde und nicht drüber. Da ist nur ein Stockwerk oben, das ist anders als hier. Wie tief das wirklich ist, kann dir niemand sagen. Jedenfalls keiner, der da lebend wieder rausgekommen wäre."

Ernesto kann ihm mit einiger Geduld zumindest begreiflich machen, dass es durchaus nicht selbstverständlich ist, dass Gefängnisse in den Ländern Mittelamerikas mit Fernseher ausgestattet sind, wo an guten Tagen sogar das mexikanische Programm reingeht, und die Gefangenen vom Wachpersonal auf freundliche Bitte sogar Chemiezeug gegen lästige Moskitos bekommen.

"Aber du kannst doch auf der Strasse laut sagen, wenn dir etwas nicht passt, das ist doch eine Demokratie da."

"Aber pass auf, dass du nichts Falsches sagst. Sonst ist es aus mit der Redefreiheit."

"Auf der Strasse abschleppen können sie mich nicht, ich sage ihnen, ich arbeite als Reporter."

"Die schleppen dich nicht auf der Strasse ab. Die kommen nachts, in dein Hotel, ohne dass das einer sieht, und holen dich raus, ohne dass das einer sieht... und im Hotel bist du nie gewesen. Sie radieren deinen Namen aus, das sind Profis, die wissen, was sie machen."

"Wenn ich aber nicht da bin?"

"Die wissen, wo deine Frau wohnt. Oder deine Kinder. Wenn du erst einmal auf der Liste der Todesschwadronen stehst, die kriegen dich, das ist ein ungleiches Spiel, du hast keine Chance."

"Und wenn ich meinem Botschafter vorher Bescheid gesagt hab-"

"Die kriegen dich, du hast keine Chance. Wer will denn beweisen, dass sie dich haben? Wer will denn draussen wissen, in welchen unterirdischen Gängen sie dich wohin verschleppt haben? Denen kannst du zehnmal erzählen, dass du aus der Dominikanischen Republik kommst, das kümmert die kein bisschen."

Es ist nicht zuletzt Salvadors Einfluss, dass sich Niño mit der Zeit etwas besser ins Knastleben einfügt.

Dagoberto kam sogar schon von Kolumbien bis Nicaragua grün über alle Grenzen, er hatte gar keinen Pass. Hätte er in Kolumbien wohl nie bezahlen können, er kam nicht aus einer reichen Familie. Nun sass er schon Monate im Knast und hatte keine Idee, wie er wieder rauskommen würde. Ob ihm die Botschaft einen Pass ausstellen würde?

Ich hielt mich ein weiteres Mal an einen Ratschlag von Rüdiger Nehberg. Aus dem Kapitel Survival im Knast. Gefangenschaft war eine perfekte Gelegenheit, so hatte er geschrieben, Sprachen zu lernen. Leider konnten die drei nur eine Sprache, Spanisch. Aber immerhin. Wenigstens lernte ich das ein bisschen besser. Ich hatte es mir ja vorgenommen. Wenn am Nachmittag das Fernsehprogramm anfing, versuchte ich so viel wie möglich zu verstehen. Manchmal gab es auch ausländische Filme mit spanischen Untertiteln.

Manchmal lassen sie uns länger fernsehen, das kommt immer auf die Wachen an, und so kriegen wir an einem Abend einen guten Woody-Allen-Film mit, Teil 1, und noch nicht mal von Werbung unterbrochen. Sonst ist auch in Nicaraguas staatlich-sandinistischen Fernsehen alles von Werbung unterbrochen (Final feliz also auch), sie wollen ja nicht hinter den USA zurückstehen. Allerdings ist es meist irgendwelche staatliche Werbung, für irgendwelche staatlichen Banken oder ein Regierungsprojekt, Programmhinweise oder sowas.

Am nächsten Abend um halb neun kommt Teil zwei, und wo es grad am lustigsten wird, sagen die Wachen, wir sollen den Fernseher ausmachen. Hombre. Aber alles diskutieren hilft nichts. Ja, ist gut, Licht aus.

Bis er wieder weg ist, dann holen wir uns die Glotze ins Klo, da ist kein Fenster, Tür zu, Ton ist nicht so wichtig: Original mit spanischen Untertiteln.

Aber die Wachen honorieren, dass Niño sich nicht mehr übers Essen beschwert. Besteck zum Essen bekommen wir aber immer noch nicht, das scheint Befehl von oben zu sein, wir müssen unseren Reis immer noch mit den Fingern essen. Wir teilen uns das Essen immer auf. Ich vertrage die Bohnen nicht, Niño mag yuca nicht, Kolumbien bekommt die Früchte von Salvador.

Wir bekommen sogar ein Brett zum Dame-spielen, Niño verliert dauernd gegen Kolumbien. Zeitungen von vor drei Tagen bringen sie uns hin und wieder auch. Barricada, die Regierungszeitung.

"Wollen wir unsere Adressen austauschen?" - ja, genau, das wollen wir machen, das ist eine gute Idee.

Mal sehen, wie man an einen Bleistift rankommt.

"Hier in der Zeitung ist dieses gute Kreuzworträtsel, das würden wir gerne machen. Können Sie uns dafür einen Stift bringen?"

Bringt er uns tatsächlich einen kleinen Bleistift an, was nicht alles möglich ist.

Es ist sehr warm, auch abends noch lange, und manchmal spendieren die Wachen uns Melonen. Reichen sie uns an durch das Fenster im hinteren Zimmer rein, das brauchen die Chefs nicht unbedingt zu sehen. Ernesto organisiert sich Zigaretten, die aber gegen harte Córdobas. Er hat ein bisschen Geld behalten, hat er trickreich angestellt.

Die Wachen wussten nie zu sagen, wie die Sachen für uns standen. Es kommt ganz plötzlich. Eines Morgens in der zweiten Woche kommen sie zu uns rein, bringen meine Klamotten, ich soll mich anziehen. Aha, es ist soweit. Ich weiss immer noch nicht, was sie jetzt mit mir machen, aber es könnte sein, dass sie mich freilassen. Niño beschreibt mir noch, wo seine Botschaft in Managua ist.

"Was machst du danach?", fragt Dagoberto.

"Weiss nicht, vielleicht nach Südamerika."

"Nach Bogotá?"

"Warum nicht, kann auch sein, vielleicht komme ich irgendwie mal nach Bogotá."

"Da zu dieser Adresse, die ich dir gegeben habe, kannst du immer hingehn, das sind nette Leute. Da kannst du immer anrufen, die helfen dir."

Sie lassen mich nicht frei, sondern sie fahren mich im Bullenwagen durch Managua, verlassen die Stadt und fahren nach Süden. Sie haben mir alle meine Sachen wiedergegeben, auch Geld und Wertsachen, und da sie nach Süden fahren, scheint es jetzt klar zu sein, sie fahren mich nicht zurück nach Honduras. Und damit müsste ich gewonnen haben, ein bedeutender Schritt weiter in Richtung Panamá.

Unterwegs nehmen sie sogar Anhalter mit, eine Frau mit ihrem Kind, die bis Granada mitfährt. Hinter Granada fahren wir lange Zeit am Nicaragua-See vorbei. Einige Stunden später sind wir an der Grenze von Costa Rica.

[pic]

Unauffällig herausgerissene Ecken aus der Barricada, auf die Kolumbien und Niño ihre Adressen geschrieben hatten. Als die Wachen mir meine Kleidung gebracht hatten, riss Niño in der Eile noch einmal einen Zettel aus der Barricada, schrieb seinen Namen und Embaja Domincana darauf, in der Hoffnung, ich könnte in Managua zu seiner Botschaft gehen.

27

Fussball und Moskitos -

Zu Fuss nach Südamerika

Peñas Blancas hiess der Grenzübergang. Seit hinter Granada war ich wieder auf der berühmten Carretera Panamericana, der ich nun bis Kolumbien folgen würde. Bis dorthin waren es allerdings immer noch tausend Kilometer.

Costa Rica verlangte Eintritt. Genauer, man musste ein Ausreiseticket vorweisen. Die billigste Möglichkeit war ein Bus-Ticket nach Panamá, konnte man gleich am Schalter nebenan kaufen. Ah, sehr praktisch. Zwanzig Dollar. Hatte ich nicht in bar. Nein, keine Visa-Reiseschecks. American Express-Reiseschecks? Ja, die gingen auch. Na, das war ja wieder mal knapp. Ich hatte es geschafft. Ich war in Costa Rica.

Mit dem Busticket konnte ich jetzt nach San José fahren. Schade, dachte ich mir, so lernte ich das Land ja gar nicht kennen. Trotzdem kaufte ich mir noch eine Landkarte. Vielleicht war es auch nicht schlecht, den Bus zu nehmen und damit meine Füsse noch etwas zu schonen. Ich hatte jetzt zwar neue Schuhe, schöne feste Stiefel, und alle entzündeten Wunden waren im Gefängnis gut ausgeheilt, nachdem sie die erste Woche noch ziemlich weh getan hatten. Aber die Schuhe mussten erst eingelaufen werden, ich konnte noch keine langen Strecken damit zurücklegen.

In San José ging ich zum Fahrkartenbüro. Auch in Panamá würde ich an der Grenze ein Ausreiseticket vorweisen müssen. Und es war ausserdem dasselbe Busunternehmen. Ich fragte die Angestellten, ob sie mir das Ticket umschreiben oder tauschen könnten, statt von San José von Panamá City an die Grenze. Und ich war überrascht, sie machten es tatsächlich. Das war freundlich.

San José war schön. Ich ging noch ein bisschen durch die Stadt. Fast ein bisschen europäische Ordnung, irgendetwas war anders als in den Ländern davor. Jetzt fiel es mir auf. Es gab kein Militär. Costa Rica hatte nur Strassenpolizei, völlig fortschrittlich und zivilisiert.

Das Nachbarland der Bürgerkriegsländer Nicaragua und Panamá war zusammen mit Island eines der wenigen Länder der Erde, die keine Armee hatten. Costa Rica war mit einer kurzen Militärjunta-Unterbrechung 1917-1919 immer demokratisch regiert, bis 1948 die Militärs erneut die Macht ergriffen. Die Sozialisten besiegten sie noch im selben Jahr und schafften die Armee daraufhin ab. Das Geld, das sie dadurch sparten, schienen sie in ihr Land zu stecken.

San José war zu gross, ich onnte es heute nicht mehr aus der Stadt schaffen. Ich ging durch irgendwelche Wohnviertel, aber nirgendwo ein kleiner Park oder eine ruhige Stelle zum Schlafen. Und auch hier war Lateinamerika, wo es nachts alles andere als sicher war. Ich bräuchte eigentlich einen bewachten Schlafplatz. Ich sah ein Haus im Bau, das von zwei Schäferhunden bewacht wurde. Ein ziemlich grosses Grundstück an einer Strassenecke.

Ich beobachtete die Szene eine Zeitlang. Jedesmal, wenn irgendwelche Leute an der Strasse entlanggingen, kamen die Hunde zum Zaun gerannt, liefen neben den Passanten her und bellten sie solange an, bis diese am endlich Grundstück vorbeigegangen waren. Ein ziemlich sinnloses Unterfangen. Die Hunde waren recht jung.

Es war leicht möglich, über den Zaun zu klettern. Ich wartete, bis wieder jemand am Grundstück entlangging. Die Hunde rannten los, zum Zaun, und folgten den Passanten bis ganz zum Ende des Grundstücks. Und nun wagte ich es. Da beide Hunde bellten, hörten sie nicht, wie ich schnell über den Zaun sprang, in den Rohbau rannte und mich im erstbesten Zimmer versteckte. Fenster waren noch nicht eingesetzt. Ich verharrte absolut still, bis die nächsten Passanten kamen. Wieder grosses Bellen, ich rollte schnell meinen Schlafsack aus, und wieder Stille. Nein, diesen Hunden brauchte ich keine Wäscheklammern auf die Nase klemmen, die checkten auch so nichts. Immer seltener kamen Passanten vorbei, und die Hunde legten sich irgendwann auch schlafen. Noch nie hatte ich so einen perfekten Wachschutz gehabt.

20. Mai 1988

Auch am Morgen, als die ersten Passanten kamen, rannten die Hunde wieder zum Bellen los. Ich packte meine Sachen, rannte schnell zum Zaun, einer der Hunde sah mich, war vollkommen irritiert, und ehe sie mich erreicht hatten, war ich schon über dem Zaun auf der sicheren Seite. Sie fingen erst dann zu Bellen an, als die Welt wieder in Ordnung war und ich am Grundstück vorbei in Richtung Ortsausgang nach Panamá ging.

Ich brauchte lange, um aus San José rauszulaufen. Wie immer war es so, wenn ich aus einer Stadt rauslief, nahm mich niemand mit. Wer aus einer Stadt rausfuhr, fuhr grundsätzlich nur kurze Strecken. Immerhin merkte ich an der Reaktion der Fahrer, dass die Gegend prinzipiell zum Trampen taugte. Irgendwo legte ich mich hin und verbrachte die Nacht an der Panamericana unter den Sternen Costa Ricas.

21. Mai 1988

In der Tat taugte die Strecke zum Trampen. An diesem Tag gelang es mir tatsächlich, die gesamte Strecke über Cartago, die dreitausenddreihundert Meter hohe Passhöhe und Palmar bis nach Canoas an die Grenze von Panamá zu trampen. Und am Abend sogar noch über die Grenze zu kommen.

Panamá.

Nächstes Land. Die Währung war der US-Dollar.

Ich lief aus Canoas raus, ein typischer Grenzort, nicht ganz so schlimm wie Reynosa in Mexico, aber schlimm genug. Die Panamericana führte durch ein sumpfiges Flachland. Gründstück an Grundstück. Es war schon längst dunkel. Der Mond schien. Eine Zufahrt zu einem Grundstück, einer Art Ranch, vielleicht fünfzehn Meter lang bis zum Zauntor, war mit Gebüschen gesäumt. Ich legte mich an den Rand des Gebüschs, so dass mich niemand von der Strasse aus sehen konnte.

Köter bellten. Oh nein. Das durfte nicht wahr sein. Scheiss-Köter. Sie waren zwar angeleint, aber meine Hoffnung, dass niemand im Haus war, erfüllte sich nicht. Licht ging an. Die Köter machten weiter Terror. Schliesslich kam ein Typ aus dem Haus, band die Hunde los, die sofort angerannt kamen. Okay, Nachtruhe vorbei. Als der Typ das Tor öffnete, liess er wenigstens die miesen Köter dahinter.

Ich erklärte ihm, dass ich Deutscher war und morgen nach Panamá City weiter wollte. In sehr freundlichem Ton fragte ich ihm, ob es möglich sei, hier zu schlafen.

- Ich wollte hier nur schlafen, hier vor dem Zaun, also ausserhalb ihres Grundstücks.

Nein, ich könne hier nicht schlafen, meinte er. Wo soll man denn sonst schlafen, fragte ich. Hier sei ja alles voller Grundstücke, und nachts hier an der Strasse zu laufen sei doch gefährlich. Das sei ihm egal, meinte er, hier gehe es nicht, ich solle machen, dass ich verschwinde, sonst rufe er die Polizei. Nein, Polizei sagte er nicht, so zivilisiert wie Costa Rica war das Land hier nicht, er nahm irgendeinen anderen Begriff. Ich nahm meine Sachen und ging weiter.

Selten hatte ich wirklich so unfreundliche Menschen erlebt wie hier. Es war noch nicht einmal sein Grundstück gewesen, ich wollte nur vor dem Zaun schlafen, die Strasse war öffentliches Gelände. Und mein Vorhaben war auch nicht irgendwie ungewöhnlich - auch Panamá gehörte zu den tropischen Ländern mit hohem Sozialgefälle, wo nachts viele Leute auf den Strassen schliefen.

Irgendwann fing endlich das unbesiedelte freie Land an und ich schlief unter den Sternen auf einem abgeernteten Zuckerrohrfeld.

Es gab Moskitos.

Ich hasste Moskitos.

22. Mai 1988

Am nächsten Tag kam ich zunächst durch ein ziemlich ödes Grasland, eine Art Steppe, ein paar Tramps bis Chiriquí. Dort nahm mich jemand mit bis La Chorrera, über vierhundert Kilometer. Mit dem nächsten Wagen der anhielt, kam ich bis Panamá, über die riesige Brücke über den Panamakanal, ein imposantes Erlebnis. Auf der einen Seite der Kanal, der sich durch den Regenwald zog, und auf der anderen die Mündung in die unendliche Weite des Pazifischen Ozeans.

Panamá City war nicht sehr erbaulich. Hässliche Hochhäuser, unpersönliche Atmosphäre, amerikanische Militärpräsenz im Kanalviertel. Ich fand tatsächlich das Büro des Unternehmens, das die Bustickets zur Grenze nach Costa Rica verkaufte. Noch schöner wäre es gewesen, wenn ich mein ungebrauchtes Ticket gegen bares Geld hätte eintauschen können, aber so toll war Panamá leider nicht. Es war übrigens gut, dass ich immer noch fünfhundert Dollar in Reiseschecks bei mir hatte. Es hatte sich herausgestellt, dass ich dieses Geld an jeder Grenze vorzeigen musste, um Einreise und Aufenthalt zu bekommen.

Ich versuchte gar nicht erst, einen Stadtplan ausfindig zu machen. An den Bushaltestellen der Millionenstadt waren stilisierte Stadtpläne abgebildet. Ich nahm irgendeinen Stadtbus nach Westen, bis zur Endstation Tocumen.

Niemand, der nach Südamerika wollte, kam auf die Idee, dazu den Bus nach Tocumen zu nehmen und von dort die Panamericana weiter nach Westen zu trampen. Wer nach Südamerika wollte, nahm den Bus nach Colón ans andere Ende des Kanals und von dort aus die Fähre in die kolumbianischen Hafenstädte Cartagena, Barranquilla oder Santa Marta.

Es war später Nachmittag. Ich fragte mich im Stadtviertel Tocumen nach der Panamericana durch. Sie schien nicht gerade eine vierspurige Autobahn zu sein. Die Leute im Stadtviertel schienen es selber nicht zu wissen. Hm, so kam ich nicht weiter. Noch einige kamen hinzu, endlich, einer wusste es.

Du willst zur Strasse nach Yaviza, im Regenwald am Golf von Darién? Nach dem, was ich gestern nacht erlebt hatte, kamen mir die Leute hier total nett vor. Sie erklärten mir zunächst, wie ich die Schotterpiste finden würde, und einer meinte, es sei schon spät und lud mich zu sich ins Haus ein. Ich konnte im Garten schlafen, unter ein paar Bäumen. Ja, hier sei ich in Sicherheit. Was für eine nette Vorstadt.

23. Mai 1988

Ich ging absichtlich sehr langsam aus der Stadt raus, weil ich mich noch an die Schuhe gewöhnen musste. Hin und wieder nahmen mich welche mit, die oft nur kurze Strecken fuhren. Aber schliesslich kam ich doch noch ganz schön weit, die Strasse bog langsam nach Süden. Irgendwann hielt auch ein Pick-up mit Bananenschösslingen an. Er hatte offenbar eine ganze Bananenplantage geladen.

Der letzte Ort, an dem die Panamericana endete, hiess Yaviza. Natürlich wäre es möglich gewesen, die Strasse bis Kolumbien weiterzubauen und mit dem Schliessen des letzten fehlenden Stückes den Pan American Highway zur längsten durchgehenden Strasse der Welt zu machen. Aber Yaviza und der Nachbarort El Real lagen an breiten Flüssen, über die Brücken gebaut werden müssten. Niemand hatte ein Interesse daran, dass durch den Urwald zwischen hier und Kolumbien eine Strasse gebaut würde. Kein einziger Urwald auf diesem Planeten war dem Menschen heilig, kein einziger, bis auf dieser.

Die USA würden wohl den Bau einer solchen Strasse am liebsten sogar militärisch verhindern. Brauchten sie aber nicht, Panamá hatte gar nicht das Geld dazu. Gäbe es eine Strasse, und mit ihr viele Seiten- und Nebenstrassen, wären die kolumbianischen Drogen noch viel schneller auf ihrem Weg nach Nordamerika.

Yaviza war der letzte Ort in Panamá mit Passstelle und ich holte mir den Ausreisestempel des Landes. Noch war die Regenzeit nicht angebrochen, aber es konnte jeden Tag losgehen - viel Zeit hatte ich nicht mehr, zu Fuss nach Kolumbien zu kommen. Ich erkundigte mich nach dem Weg. Sieben Tage durch den Urwald, erfuhr ich, und es lagen Dörfer am Weg.

Es gab Bücher über diese etwa hundertfünfzig Kilometer lange Strecke. Nur in der Trockenzeit machbar, also nur Januar bis März, nur nach extrem guter Vorbereitung und auf keinen Fall alleine. Na, dass konnte ja was werden. Ich hatte grossen Respekt vor dem, auf was ich mich jetzt einliess.

Zu Fuss den südamerikanischen Kontinent erreichen. Der begann definitionsgemäss an der Grenze zwischen Kolumbien und Panamá.

Und es sei gefährlich. Banditen würden die Touristen ausrauben. Sie erzählten von zwei deutschen Frauen, die im Februar hatten umkehren müssen, weil sie vollständig ausgeraubt worden seien. Es wurde auch davon abgeraten, unbewaffnet loszugehen. Und immer wieder: auf keinen Fall nach März und auf keinen Fall alleine.

Das Wetter war in Ordnung. Wenn es regnete, dann nicht lange. Irgendwo in Yaviza gab es eine alte Lagerhalle, wo Fremde übernachten konnten. Es war offensichtlich, dass diese Gegend auf Touristen eingestellt war. Aberteuertouristen ohne Ansprüche. Aber mit genug Geld, sich alle möglichen Souvenirs zu kaufen.

Also gut. Ich entschied mich dafür. Wenn Südamerika, dann hier und jetzt. In der Regenzeit, ohne Spezialausrüstung, ohne den Weg zu kennen, ohne Proviant und vollkommen alleine.

24. Mai 1988

Ein Einbaum brachte mich über den Fluss. Der nächste Ort war Tuira. Danach kam Union de Chocó. Und weiter nach Yape. Danach der Pfad nach Capetí. Auf dem halben Weg nach Capetí sprachen mich welche vor ihrem Haus ein. Aus Yaviza? So weit? Heute? Oh ja, ich war ganz schön weit gekommen. Aber es würde noch schwerer werden, sagten sie. Es waren Schwarze, sehr nette Leute. Offenbar kamen sie ursprünglich aus Kolumbien. Sie sahen, wie fertig ich war, bewunderten meine Strecke und luden mich ein.

Es gab eine junge Frau in der Verwandtschaft. Ob ich sie heiraten wollte. Ja, meinte ich, wenn sie mit mir nach Argentinien käme. Sie sah hübsch aus, schön schwarz, war auch ganz nett und konnte gut lachen. Aber ausgerechnet Argentinien, das war dann doch zu weit weg. Die Leute fragten mich, ob ich auch mit der Machete umgehen konnte. Konnte ich ein bisschen, hatte ich in Wampusirpi mal gelernt. Sie luden mich ein, noch einen Tag zu bleiben und ihnen ein bisschen bei der Feldarbeit zu helfen. Diese Einladung nahm ich sehr gerne an.

Und Wasser vom Fluss holen konnte ich, mit dem schweren Eimer auf dem Kopf. Sie konnten es nicht glauben. Oh doch, ich zeigs euch. Okay, hier ist der Eimer. Die Frauen zeigten mir den Weg zum Fluss, wo sie täglich das Wasser holten. Auch hier war das ausschliesslich Frauenarbeit. Ja, in Alemania können das auch die Männer. Warum? Wenn die Frauen das zu oft machten, sei das schlecht für die Knochen, sagte ich ihnen. Ja, das hatten sie auch schon gehört, dass sie den Eimer nicht ganz so voll machen und lieber zweimal laufen sollten. Noch besser sei, den männlichen Kindern das Wasserholen beizubringen, riet ich ihnen. Oh, gute Idee, meinten tatsächlich ein paar Frauen. Auch das wäre in Mexico undenkbar gewesen. Fehlte nicht mehr viel, und ich hätte die Jungen davon überzeugt, dass Wasserholen etwas ganz Tolles war.

Es tat gut, einen Tag auszuruhen. Sie nahmen mich ein wenig mit zur Feldarbeit. Niedlich war eine Szene am Fluss. Sie hatten Katzen, und sie unterhielten sich darüber.

- Die Katzen, die sind so wasserscheu, aber pass mal auf, wenn der Kater da drüben am anderen Ufer eine läufige Katze riecht! Was denkst du, wie gut der plötzlich freiwillig schwimmen kann!

Ich fragte sie auch, warum die schwarzen Frauen mich so oft fragten, ob ich sie heiraten oder zumindest mit ihnen schlafen wollte, damit sie ein Kind von mir bekämen. Sie erklärten mir, dass das Ansehen einer Frau hier stieg, wenn es ihr gelang, Kinder mit einer möglichst hellen Hautfarbe zu bekommen. Und mit den Weissen, die hin und wieder hier durchkamen auf dem Weg nach Kolumbien, ging das erfahrungsgemäss am besten. Auch wenn die Hautfarben sich nicht immer eins zu eins mischten. Manchmal blieb die Haut bei den Kindern auch schwarz, manchmal wurde sie aber auch ganz hell. Ich sah auch Schwarze mit blondgelockten Haaren.

26. Mai 1988

Heute ging es weiter über Capetí nach Boca de Cupe. Einer hiess Antonio, er war mit mir eine Zeitlang gegangen und hatte Respekt vor meiner Geschwindigkeit, bei meinem Gepäck. Boca de Cupe lag wieder an einem Fluss und wir mussten warten, bis ein Boot kam. Boote kamen hier selten vorbei.

In der Mosquitia war es üblich, dass wenn ein Boot vorbeikam, man auf die andere Seite mitgenommen wurde. Hier war es eher professionell organisiert, und auch die Einheimischen wie Antonio mussten inzwischen einen Viertel Dollar bezahlen, um auf die andere Seite zu kommen. Schwimmen konnten wir nicht, mit den Sachen, sonst hätten wir das gemacht. In Boca de Cupe konnte ich bei ihm übernachten. Es war sehr nett.

Ab hier schien es nach den Angaben der Leute keinen Pfad zu geben, man musste erst mit dem Boot nach Balsal. Antonio beschrieb mir auch den weiteren Weg.

27. Mai 1988

Einbaum mit Motor bis nach Balsal und ab dort ging es zu Fuss weiter nach Púcuru. Púcuru war das vorletzte Dorf in Panamá, hatte Antonio gesagt. Danach kam noch Paya und dann Cristales in Kolumbien.

Der Pfad nach Púcuru war nicht schwer, aber grundsätzlich konnten die Leute auch hier mitten im Urwald nicht einschätzen, wie weit die Strecken waren. Fast alle unterschätzten die tatsächlichen Entfernungen drastisch. Es spielte keine Rolle, ob es die Schwarzen oder die Kuna-Indianer waren, die ich fragte. Offenbar gab es zwischen den Dörfern nur ganz wenig Verkehr zu Fuss. Andererseits waren die Pfade stellenweise sehr gut instandgehalten. Auch wenn ich sehr selten Leute traf.

Es war schwer, aus der näheren Umgebung einer Ortschaft wie Balsal herauszufinden, denn mit zunehmender Entfernung waren die Pfade seltener begangen und wurden entsprechend dünner. Sicher sein, dass ich auf dem richtigen Weg war, konnte ich erst, wenn der Pfad wieder breiter wurde und sich so der nächste Ort ankündigte. Dann wurden die Pfade wieder besser, weil dann andere Pfade hinzukamen, die zu irgendwelchen Feldern oder Bananenpflanzungen führten.

An diesem Punkt war ich nun. Vor Púcuru kam ich nach viereinhalb Stunden Fussmarsch aus dem Urwald, der Pfad wurde deutlicher und ewas breiter. Er verliess den Wald und führte an einem Hang entlang, der vor nicht allzu langer Zeit gerodet worden sein musste, Bananenanbau. Ich sah die Felder mit den Bananen, dahinter den Waldrand mit den hohen Bäumen, blieb stehen und hielt einen Moment inne. Es war ein Déjá-vu. Genau das hatte ich schonmal erlebt. Ich ging langsam weiter. Das Déjà-vu blieb bestehen.

Wie ein riesiges Zeitloch.

Déjà-vu vor Púcuru.

Wann musste ich diese Szene geräumt haben? Nicht erst in Mexico, auch nicht in Neustadt - meinem Gefühl nach schon in Mainz. Noch nie hatte ich ein Déjà-vu, das ich so lange Zeit vorher geträumt haben musste. Und es hielt ganz schön lange an. Ich ging weiter und weiter. Erst nach einigen Metern war das Déjà-vu wieder vorbei.

Eigentlich waren mir Déjà-vu-Erlebnisse oft unangenehm gewesen, doch diesmal war ich fasziniert und beeindruckt. Mainz, das war über acht Jahre her! Wie konnte mein Unterbewusstsein schon vor acht Jahren wissen, dass ich einmal mitten im Urwald von Panamá einen solchen Pfad entlanggehen würde?

Das würde heissen, dass die Zukunft vorherbestimmt ist, hatte Viktoria gesagt, in Lorscheid, und genau das konnte sie nicht glauben. Instinktiv hatte ich ihr auch recht gegeben, denn auch ich hielt viel von der Idee, dass wir freie Persönlichkeiten waren, die ihr Leben selbst lenken konnten. Vielleicht war das unangenehme Gefühl, das ich bei den Déjà-vus hatte, auch eine Art Protest, ein Sich-Wehren gegen eine vorgefasste Szene, aus deren Verlauf ich nicht aus eigenen Kräften ausbrechen konnte.

Doch heute war es anders. Heute wehrte ich mich nicht. Ich konnte es geniessen. Und selbst wenn die Zukunft vorherbestimmt war - was sollte es, dann war sie eben vorherbestimmt. Irgendwie brachte das Leben trotzdem Spass. Wenigstens der Planet war schön genug. Ein Meer von grün. So viele verschiedene Grüntöne. Riesengrosse Bäume im Hintergrund am Hang. Ich drehte mich um und sah über ein Tal auf die Berge in ihrer ganzen Schönheit, lückenlos überzogen mit einem überwältigenden Urwaldteppich. Selten gab der Urwald einen Blick auf die nächsten Hügel frei.

Eine Stunde später war ich in Púcuru. Púcuru war ein Dorf der Kuna-Indianer. An ti pey, war mein erster Satz auf Kuna, ob sie mir bitte Wasser geben konnten. Wie schon in Honduras hatte ich mir auch hier in den Dörfern vorher die wichtigsten Vokabeln der Indianersprache sagen lassen.

Jemand zeigte mir, wo ich übernachten konnte. Am nächsten Tag musste ich es bis Paya schaffen, und das wäre heute nicht mehr möglich. Schon alleine deswegen, weil niemand mir sagte, wo der Weg langging. In Púcuru waren sie freundlich, etwas scheu und zurückhaltend, aber offenbar an Abenteuerreisende gewöhnt. Leider. Offenbar waren sie es auch gewöhnt, dass die Fremden Geld für Information oder einheimische Führer bezahlten. Und zwar gar nicht so wenig, wie ich feststellen durfte.

Es gab eine handwerkliche Werkstatt, wo Frauen mir ihre Näharbeiten zeigten. Ich zeigte ihnen die Fahnen, die ich auf meinen Stoff genäht hatte. Und siehe da, ich hatte ein Gespächsthema. Denn ich hatte die Fahne von Panamá noch nicht draufgenäht. Wie die Frauen kritisch bemerkten.

Ihre Muster schienen traditionell zu sein, eine ganz eigene Art zu sticken, wie ich es noch nie gesehen hatte. Vögel und ähnliche Tiere in Linien und Formen, die an die Symbole der Mayas oder der Linien von Nazca in Peru erinnerten. Es war jedoch schwer zu beurteilen, was davon wirklich traditionell war, und was von dem, was sie verkauften, dem Geschmack der Touristen folgte. Mir gefiel die Idee, wie die Stoffe gestickt waren, und ich nahm mir vor, so etwas wollte ich auch einmal machen.

Nun ja, jetzt hatte ich ja die Zeit, die Fahne von Panamá dazuzunähen. Stoffreste hatte ich selber. Buchstäblich auf der Strasse aufgesammelt, schon seit New Jersey. Es fehlte nicht nur die Fahne von Panamá. Auch die der anderen Länder seit Nicaragua. Ich musste ein neues Tuch anfangen, weil auf dem alten kein Platz mehr war für Nicaragua, Costa Rica und Panamá. Sie staunten, wie gut ich nähen konnte. Hatten sie wohl nicht erwartet. Lauter kleine bunte Farbflächen. Die Kinder versuchten, die Länder zu raten.

Italien. Dänemark. Mexico.

Eine Frau, mit der ich mich länger unterhielt und die meine Näharbeit bewunderte, sagte ihrem erwachsenen Sohn schliesslich, er solle mir sagen, wo der Weg nach Paya abging. Er tat es schliesslich, obwohl er sich anfangs noch ein wenig sträubte. Aber seine Mutter bestand darauf, und gegen sie konnte er nichts sagen. So erfuhr ich den Weg nach Paya.

28. Mai 1988

Immer noch kein schwerer Regen. Wie es aussah, hatte ich Glück. Heute: Púcuru-Paya. Vier Stunden, hatten sie mir gesagt. Ich rechnete von vornherein mit einer Tagestour.

Der Weg war unglaublich schwer. Oft kam ich an Verzweigungen und musste mich entscheiden, wo ich weitergehen musste. Beim heutigen Abschnitt kam das noch öfter vor als sonst. Ein Pfad, der zum nächsten Ort durchging, war nicht unbedingt breiter als die anderen, die zu Feldern führten. Es kostete Zeit, jedesmal stehenzubleiben, den vermutlich falschen Weg zu prüfen, paar Meter langgehen, dann wieder zurück zum Hauptpfad, sich die Stelle merken, weitergehen und von neuem in Gedanken versinken.

Déjà-vu vor Púcuru.

Wenn ich den Traum, der dem Déjà-vu von Púcuru zugeordnet war, schon in Mainz geträumt haben musste, vor 1981, bedeutete das nebenbei auch, dass ich zumindest in den vergangenen acht Jahren nicht in eine Parallelwelt abgedriftet sein konnte. Wenn ich in der Zeit nach 1977 irgendetwas falsch gemacht und mich in eine Parallelwelt befördert hätte, dann sicherlich noch nicht in Mainz. Das Déjà-vu bedeutete, wenn ich heute in einem Leben lebte, das meinem Unterbewusstsein schon in Mainz bekannt war, dann müsste ich immer noch in derselben Welt leben, in der ich Viktoria heiraten würde.

Irgendetwas an der Sache hatte ich noch nicht verstanden, aber dieses Detail war es offenbar auch nicht. Ich lebte übergangslos nach wie vor in der Welt, in der ich einmal Viktoria heiraten würde. Wann das auch immer passieren mochte. Wenn die Zukunft acht Jahre vorherbestimmt war, dann war sie wohl auch achtzig Jahre vorherbestimmt. Eine komische Welt.

Ich sollte mit Viktoria Kontakt aufnehmen, hatte Lina gesagt. Doch ich hatte nie das Gefühl gehabt, dass ich das tun sollte. Vielleicht von Südamerika? Doch je länger ich den schwierigen Pfad entlanglief, desto schlechter konnte ich mich auf diesen Gedanken konzentrieren. Wenn ich ihr schreiben sollte, würde ich das eines Tages auch selber wissen, schloss ich meine Überlegungen ab, und bräuchte mir darum keine Gedanken zu machen.

Immer wieder ging der Pfad an aufgegebenen Feldern vorbei, die nach der Brandrodung ein paarmal bepflanzt, danach wieder dem Urwald überlassen worden und schnell wieder zugewuchert waren. An einer Stelle teilte sich der Pfad schon wieder auf, kurz nach so einem Feld, als der Pfad wieder in den Wald ging. Mist, wohin jetzt? Nach rechts oder nach links?

Rechts oder links? Welch grosse Frage, flüsterte ich vor mich hin und zitierte wieder mal Otto Waalkes, vor ihr stand Beckenbauer einst, als er von Rummenigge angespielt sich frug, wohin des Leders Rund er flanken sollte... nach links, auf Müllers schussgewalt'gen Fuss? Nach rechts, wo schon das Lockenhaupt des Uli Hoeneß nach dem Ball- okay, Schluss mit dem Quatsch, weiter im Urwald. Ich folgte vorsichtig dem breiteren Pfad nach der Gabelung. Oft war aber der breitere genau der falsche Weg, der nur zu irgendwelchen Feldern führte, und der Schmalere war der Langstreckenpfad. Ich suchte nach Spuren, ging langsam weiter voran und blieb plötzlich stehen. Oh, gerade noch rechtzeitig gebremst.

Ich hatte Glück. In einem halben Meter Höhe war quer über dem Pfad ein feines Spinnennetz gespannt. Die dünnen Fäden waren kaum zu sehen. Ich untersuchte, wie alt es sein dürfte. Sehr schön, alt genug. Hier konnte in den vergangenen Stunden niemand entlanggegangen sein. Ich hatte mir angewöhnt, mich in den Dörfern zu erkundigen, wann die Pfade zum letzten Mal begangen worden waren.

Und ich hatte recht, der schmalere Pfad war richtig gewesen. Allerdings stellte ich hinterher enttäuscht fest, beide Pfade führten nach ein paar hundert Metern wieder zusammen. Das passierte auch oft. Nur so zum Gag.

Völlig fertig kam ich nach sechseinhalb Stunden in Paya an. Paya war der letzte Ort in Panamá. Auch hier wohnten Kuna-Indianer. Wasser, an ti pey, und dann ausruhen. Es gab eine richtig grosse, lange Holzhütte, offenbar kamen hier in der Trockenzeit ganze Reisegruppen an und übernachteten hier. Wie sauber es hier war. Schon seit Tagen hatte ich kein Auto mehr gesehen. Es gab sogar eine Art Sportplatz, schöner grüner Rasen, auf einer Ebene etwas unterhalb der Häuser.

Ein Indianer brachte mir etwas zu Essen. Verdammt, tat das gut. Ein Dollar. Nicht dass es mich störte, einen Dollar für Essen zahlen zu müssen. Diese Indianer hatten es sich wirklich verdient. Aber irgendetwas im Ton verriet, es war keine natürliche Gastfreundschaft, wie ich es in Honduras erlebt hatte. Es hörte sich eher so an wie Geschäftemacherei. Wer konnte wissen, was ein Dollar hier wirklich Wert war.

Antonio hatte angedeutet, ziemlich viel. Mehr als ein Tageslohn eines Landarbeiters. Eher ein Wochenlohn. Aber das war schwer auszurechnen, weil sie hier in der Subsistenzwirtschaft arbeiteten und nicht bezahlt wurden.

Der letzte Ort in Panamá. Was nicht hiess, dass ich morgen in Kolumbien war. Denn es war seit Yaviza zunehmend schwieriger geworden, dass die Leute mir die Pfade beschreiben wollten. Und leider war hier eine der wenigen Gegenden der Welt, wo die Einheimischen überhaupt keinen Respekt vor der Strecke hatten, die ein Durchreisender bereits gegangen war. Allein die Leistung, eine lange Strecke gegangen zu sein, hatte in Honduras immer schon soviel Eindruck gemacht, dass es mindestens ausreichte, dass sie mir den Weg zum nächsten Ziel beschrieben. Das war hier anders. Dass die Fremden sechs Stunden Urwaldpfad von Púcuru hinter sich hatten, wenn sie hier ankamen, waren die Bewohner von Paya gewöhnt und es machte null Eindruck. Genausowenig die hundert Kilometer von Yaviza. Ich hätte ihnen auch sagen können, ich käme gerade von Alaska zu Fuss.

Einige kamen mit einem Fussball auf den Sportplatz und fingen an zu kicken. Ich überlegte. So fertig wie ich war, aber ich wusste, ich musste die Leute hier jetzt irgendwie dazu bringen, mir den Weg zu beschreiben. Und das wäre alles andere als einfach.

Besser gesagt, den Weg zu verraten. Je näher ich der kolumbianischen Grenze kam, desto karger, ungenauer und unfreiwilliger waren die Wegbeschreibungen der Einheimischen geworden. Ich holte meine Näharbeiten heraus. Aber die Fahne von Panamá hatte ich gestern schon draufgenäht, unter den staunenden Augen der Frauen, wie schön ich nähen konnte. Das zog heute nicht mehr. Ein paar Frauen kamen an, wollten für zwanzig oder vierzig Dollar ihre eigenen Näharbeiten verkaufen, zogen aber bald wieder ab.

Was ich nun vor mir hatte, war der Weg nach Cristales. So viel wusste ich, das hatte ich in Yaviza erfahren. Ich wusste auch, der Weg nach Cristales wäre schwieriger und weiter als alle anderen Wege vorher. In den Büchern hatte gestanden, der Weg bis Paya sei nichts verglichen mit dem, was zwischen Paya und Cristales wartete. Dringend wurde davon abgeraten, alleine nach Cristales aufzubrechen. Nie alleine, nie ohne Vorbereitung, nie ohne Führer und nie in der Regenzeit.

Es nieselte, hörte aber wieder auf. Sie kickten weiter. Ein wenig unmotiviert. Zwei oder drei Leute standen bei mir, boten sich als Führer nach Cristales an. Ziemlich hohe Dollarpreise. Sie versuchten zu handeln. Nein, ich gehe alleine, meinte ich von vornherein. Alle konnten Spanisch, stellte ich fest. Nur untereinander unterhielten sie sich in Kuna.

Fussball. Irgendwie musste ich die Leute dazu bringen, mir den Weg nach Cristales zu verraten. Ohne Wegbeschreibung hatte ich keine Chance. Aber ich wollte defnitiv los. Alleine, ohne Führer, ohne die Bücher gelesen zu haben, und in der Regenzeit.

Von dem, was in den Büchern stand, hatten die Einheimischen keine Ahnung. Wenn ich gut wäre, würden sie mich alleine losgehen lassen. Wie in Púcuru. Ich müsste nur gut sein. Denn die Bücher hatten einen Fehler: Der Rat, den Weg auf keinen Fall in der Regenzeit ohne gute Vorbereitung und alleine zu wagen, bezog sich auch auf den Weg bis Paya. Und den hatte ich gerade hinter mir. Hätte ich mir doch nur gemerkt, wo der Weg aus Paya abging.

Das Wissen um den richtigen Weg war hier ein hoch gehandeltes Geheimnis, und es war völlig klar: niemand hier durfte sich erwischen lassen, der einem Unwissenden den Weg nach Kolumbien verriet. Wer das machte, gefährdete die grösste Einnahmequelle des Dorfes. Schon in Púcuru war das so gewesen, und die Mutter hatte ihrem Sohn fast befehlen müssen, er sollte mir den Weg sagen. Der Weg konnte überall abgehen. Ich wusste noch nicht einmal die Himmelsrichtung, in die er gehen würde. Ich hatte auch keine Karte.

Ich war darauf angewiesen, die Leute zu fragen. Aber die drei, die bei mir standen, wollten sich unbedingt als Führer anpreisen. Mein Blick schweifte wieder auf die Indianer auf dem Sportplatz. Diente in der Trockenzeit wohl als Hubschrauberlandeplatz und war vielleicht deswegen so gepflegt.

Fussball.

Plötzlich hatte ich eine Idee.

Auf einmal sah ich, ich hatte eine einmalige Chance. Ich deutete den drei Indianern an, ich hätte Lust, mit Fussball zu spielen. Ich sei aus Alemania. Oh, Alemania. Endlich ein anderes Gesprächsthema. Von welcher Mannschaft ich Fussballfan sei. Die meisten Touristen kamen aus Nordamerika oder Japan und hatten keine Ahnung von Fussball. Doch ich war aus Europa. Sie waren Indianer, aus dem letzten Dorf im Urwald von Panamá - aber auch sie wussten genau, was el Bayern Munich war.

Okay, dann wollen wir mal. Ich hoffte, ich hatte genug Kraft, um das zu bringen. Tief durchatmend blickte ich nochmal zu den schweren Balken der Holzhütte hoch und lächelte sie an. Alle in Deutschland konnten Fussball spielen, meinte ich zu ihnen, und ob sie Lust auf ein Spiel hätten. Was, du kannst spielen? Natürlich, ich bin ja schliesslich aus Alemania. Na, das wollen wir mal sehen.

Überall in Lateinamerika wurden die Deutschen bewundert, die vor zwei Jahren in Mexico hinter Argentinien Vizeweltmeister geworden waren. Dieses Dorf bildete keine Ausnahme. Allerdings war die Latte natürlich gleich entsprechend hoch gehängt. Jetzt wollten sie mal sehen, was der Vizeweltmeister wirklich konnte. Sie gingen auf den Platz, einer holte noch ein paar andere, wir warteten noch.

Fussball. Oh Mann, wie lange war das her? Damals, in der achten Klasse, in Mainz, da hatten wir bald jeden Tag Fussball gespielt. In den Pausen, in den Freistunden. Mit Trapper, Louis, Alexander, Schuster, Schmidt und allen. Ich konnte mich nicht mehr an den Tag erinnern, wann ich das letzte Mal mit ihnen Fussball gespielt hatte. Irgendwann vor dem sechsten Mai. Acht Jahre war das her. In Neustadt wurde selten Fussball gespielt, nie freiwillig, höchstens mal im Sportunterricht, und es hatte auch nie mehr richtig Spass gemacht.

Erschwerend kam hinzu, ich war in Mainz ja keinesfalls einer der Besten gewesen. Ich war schlechtes Mittelmass, hatte meist nur Torwart oder Verteidiger gespielt. Die Indianer wollten natürlich Tore sehen. Vom Vizeweltmeister.

Ich nahm den Ball prüfend in die Hand. Nein, der hatte zuwenig Luft. Das erste, was man im Fussball in der Schule lernte, war ein grosses Maul. Erst recht als Vizeweltmeister. Trapper hätte es nicht anders gemacht. Jemand brachte eine Pumpe und der Ball wurde aufgepumpt. Noch eine letzte Verschnaufpause. Sie waren immer gespannter. Ich musste ja wahnsinnig gut Fussball spielen können.

Dann wurden die beiden Mannschaften gebildet. Das ging ziemlich schnell. Das Team, das gegen meine Mannschaft spielte, hatte natürlich gleich zwei oder drei Spieler mehr. Diskutieren half nichts. Das war schlecht, denn wenn mir hier einer den Weg nach Cristales verraten würde, würde es einer aus meinem Team sein, nicht aus dem Team derer, die sich in diesem Moment vorgenommen hatten, besser zu spielen als der Vizeweltmeister. Und die ich enttäuschen würde müssen. Blöde Regeln. Es war von Anfang an klar, sie wären genauso schlechte Verlierer wie wir es waren. Damals, in der achten Klasse. Also gut, wenigstens vier oder fünf spielten in meiner Mannschaft, und die wollte auch gewinnen. Anpfiff. Und los.

Ich war leicht im Vorteil, zumindest optisch, weil ich grösser war als die anderen. Es dauerte ein wenig bis ich vergessen konnte, dass meine Beine heute schon von Púcuru gekommen und meine Wanderstiefel eigentlich keine Fussballschuhe waren. Das zählte jetzt nicht. Auch nicht, dass ich eigentlich immer hinten in der Verteidigung gespielt hatte. Was zählte, war, dass ich jetzt spielte und Tore schoss.

König Fussball war ein lautes Spiel, mit viel Kommunikation auf dem Platz, ständig wurde gerufen. In welcher Sprache, war dabei nicht so wichtig, eher die Namen. Es war klar, dass sie mich als Stürmer sehen wollten. Niemand in meinem Team machte Anstalten, Tore schiessen zu wollen. Sie waren allerdings auch nicht gerade die geborenen Verteidiger, und so kam mir der Job zu, die Verteidigung gleich vorne in der Hälfte des Gegners zu übernehmen und zu verhindern, dass sie überhaupt aus ihrer eigenen Hälfte herauskamen. Zu meiner Überraschung ging das einige Zeit sogar ganz gut. Ich musste ein enormes Laufpensum hinlegen. Natürlich hatten sie die Mannschaften so trickreich gewählt, dass in meinem Team nur die schlechten Spieler des Dorfes waren.

Ich musste irgendwie ihre Sympatien wecken. Tore allein würden nicht reichen. Auch nicht das enorme Laufpensum, das ich leisten musste. Ein Konter kam durch, meine Hintermannschaft stand überall anders, nur nicht da, wo sie stehen sollte, der fliegende Torwart war gerade ausgeflogen und der Ball war im Tor. Eins zu null gegen uns.

Der 0:1-Rückstand hielt nicht lange vor, und bald stand es nach einer ähnlichen Situation 0:2. Doch Aufgeben war keine Lösung. Auch das wusste ich aus Mainz: auch mit einr schwächeren Mannschaft war so ein Rückstand aufzuholen - mit eisernem Willen und Durchhaltevermögen. Ich musste es irgendwie schaffen, meiner Mannschaft Selbstvertrauen zu geben.

Ständig wurde ich von zwei oder drei Gegenspielern gedeckt, doch manchmal missverstanden sie sich und es gelang mit auszubrechen. Ich konnte schneller sprinten als sie, kam irgendwie an den Ball, der Torwart blieb einen Moment zu lange stehen und der Ball war im kurzen Eck - 1:2.

Doch noch lagen sie in Führung. Sie diskutierten kurz ihre Fehler, die ihnen nicht nochmal passieren würden, und revanchierten sich gekonnt innerhalb weniger Minuten - 1:3. Mist, sie konnten tatsächlich Fussballspielen.

Als sie begannen, sich darüber zu amüsieren, wie gross ich vorher getönt hatte und wie schlecht meine Mannschaft nun spielte, gab ich Kontra.

Nein, meinte ich zu meinen Mitspielern.

- So geht das nicht. Fussball ist ein Mannschaftsspiel. Rumenigge und Maradona können auch nicht alleine Weltmeister werden. Die haben alle eine Mannschaft hinter sich, die ihnen zuspielt und die hinten steht wie eine Eins! Damit sie vorne die Tore schiessen können!

- Na gut, dann sag du uns doch, wo wir stehen sollen. Wenn du schon so schlau bist. Rumenigge!

- So geht das auch nicht! Eine Mannschaft muss auch zusammenhalten und sich einig sein. Augenthaler!

Sie lachten über meine schlagfertige Reaktion und begannen, mich Rumenigge zu nennen. So, meinte ich zu ihnen, und jetzt gewinnen wir. Du - gehst dahin, und du bleibst hinten. Warum?, ich will auch nach vorne. Nein, du bleibst hinten, einfach nur stehen. Egal, wie weit wir vorne sind, du bleibst schön hinten.

Fussball war auch ein Stellungsspiel. Die südamerikanischen Ballkünste waren manchmal weniger gefragt und wenn ein Spieler nicht gleich Pelé war, konnte er immer noch zur richtigen Zeit am richtigen Ort stehen, um Gegentore zu verhindern. Das war der Trick. Schlechten Spielern Selbstvertrauen geben. Zu gut wusste ich noch, wie ich mich gefühlt hatte, wenn Trapper mich einmal gelobt oder gesagt hatte, ich sollte einen Gegenspieler angreifen. Die Spieler waren nur so gut, wie sie sich glaubten. Sie zu loben war wichtig. Die Gegenspieler waren auch nicht gerade Maradona, verdribbelten sich oder verloren den Ball auch manchmal an schlechtere Spieler. Was sie offenbar sichtlich verunsicherte. Sie waren es wohl nicht gewöhnt, früh angegriffen zu werden. Das Problem war hin und wieder, dass ich die Namen meiner Mitspieler nicht kannte, wenn ich ihnen zurufen wollte.

Ein weiterer missglückter Angriff, und wieder kam ein Gegenkonter durch, weil keiner verstand, wen ich meinte, wer angreifen und wer decken sollte, und beinahe kassierten wir schon wieder ein Gegentor. Ausserdem waren schon wieder alle nach vorne gelaufen und hinten war niemand als letzter Mann geblieben.

Nein, so ging das nicht weiter. Ich fragte sie, wie sie hiessen. Pablo. Und du? Auch Pablo... und der hier heisst übrigens auch Pablo, alle lachten. Nein, meinte ich, pass auf, du bist der Torwart, also bist du Toni Schumacher. Die Idee war Gold wert. Okay, und du bist Augenthaler. Augenthaler?! Ja, Klaus Augenthaler. Von Bayern Munich. Und du Lothar Matthäus. Auch von Bayern Munich. Aha, merkten sie, ich war echter Fussballfan. Ich kannte auch die Spieler meiner Mannschaft. Sie waren tief beeindruckt. Zum Glück wollten sie nicht noch die anderen zwanzig Spieler vom FC Bayern wissen.

Die anderen wollten auch Namen haben. Mist, mir fielen so wenige ein. Die deutschen Nationalspieler von 1986 kannte ich gar nicht alle, bei denen von 1974 wäre es einfacher gewesen. Egal, auch das musste jetzt gehen. Immer mehr fielen mir ein. Dieter Hoeneß. Nein, das war zu schwer auszusprechen. Komm, der ist von Bayern Munich. Nein, trotzdem nicht. Na gut, Felix Magath? Nein, klang nicht spektakulär genug. Pierre Littbarski! Jetzt aber! Okay. Das klang exotisch genug. Und wer bin ich? Olaf Thon? Andi Brehme? Rudi Völler! Ich kannte mehr Nationalspieler als ich gedacht hatte.

Mannschaftskapitän hatte ich zwar noch nie gespielt, aber heute musste auch das einmal gehen. Während ich von zwei oder drei Gegenspielrn gleichzeitig attackiert wurde, schob ich das Leder zu Augenthaler, der auf dem linken Flügel ungehindert nach vorne spielen und den Ball dann in die Mitte flanken konnte. Beim dritten Mal traf er ausnahmsweise den Ball - ich war in die Mitte gesprintet, der Torwart war ausgespielt und ich brauchte den Ball nur noch ins Tor zu schieben. 2:3.

Ich bedankte mich für das gute Zuspiel und die Stimmung wurde besser. Nun ging es auch besser mit der Abwehr, die sich immer besser lenken liess, und Alemania dominierte immer mehr das Spiel. Und ich spielte. Ich spielte um den Einzug ins Finale nach Südamerika.

Ein Blinder hätte bald denken können, er hörte einem Trainingsspiel der deutschen Nationalelf zu. Augenthaler! Völler! Littbarski! Rumenigge! Wir glichen aus und gingen bald in Führung. 3:3, 4:3, 5:3. Irgendwann fing die Gegenmannschaft an, über Abseits zu diskutieren. Sie waren wie erwartet genauso schlechte Verlierer wie wir früher. Ich hatte zwar die bessere Kondition als die Indianer, war aber noch vom Weg erschöpft und daher froh, dass sie aufhörten, als es 5:4 stand und dunkel wurde. Besonders die Gegenmannschaft hatte immer weniger Lust gehabt und wir mussten Spieler tauschen. Ich ging wieder in das Holzhaus.

Ob mit irgendjemand von denen den Weg verriet? Vielleicht Littbarski. Der hatte sich so über seinen Namen gefreut. Ich zog meine Wanderstiefel aus und prüfte, ob ich mir vom Spielen keine Blasen geholt hatte. Zum Glück nicht. Ich ass noch meine restlichen paar Mangos, doch ich hatte in den letzten Tagen bald zu viele von ihnen gegessen und vertrug sie fast nicht mehr. Etwas Wasser trank ich noch und legte mich bald erschöpft hin. Hin und wieder regnete es, hörte aber bald wieder auf.

Der Mond kam raus.

Eingeschlafen war ich noch nicht.

Ein lautloser Indianer schlich sich am späten Abend noch einmal zu mir in die lange offene Holzhütte. Ich machte ihm sofort klar, dass ich genau wusste, dass ich auf keinen Fall morgen irgendjemandem andeuten durfte, dass er mir den Weg verraten hatte. Und tatsächlich, er beschrieb mir, wo der Weg nach Cristales losging, nannte mir ein paar markante Stellen. Dann lächelte er mir noch einmal im Mondschein zu und schlich sich leise wieder davon. Niemand hatte ihn gesehen.

Es war Augenthaler.

29. Mai 1988

Paya-Cristales. Niemand anderes sagte mir am Morgen auch nur einen Ton über den Weg. Ausser, dass ich viereinhalb Stunden unterwegs wäre. Augenthaler hatte nur gewusst, wo der Weg losging, aber ich hatte das Ticket in der Tasche. Ich bestand darauf, selbst zu gehen. Sie protestierten und liessen mich erst dann gehen, als ich ihnen sagte, wenn ich den Weg nicht finden würde, würde ich zurückkommen und mir eben dann für hundert Dollar einen Führer nehmen.

Sie liessen mich tatsächlich gehen. Vielleicht dachten sie sich, ich würde dann mehr Geld bezahlen, wenn ich unweigerlich zurückkäme. Sie mussten sich ihrer Sache ganz schön sicher gewesen sein.

Ich rechnete mit sechs oder sieben Stunden. Augenthalers Wegbeschreibung hatte sich nur auf die ersten ein oder zwei Kilometer bezogen. Danach war ich auf mich alleine gestellt. Immerhin hatte er mir gesagt, wo der Pfad losging. Die Stelle, wo er am Ende der Fussballwiese aus dem Dorf führte, war alles andere als auffällig. Sie hatten sie fast schon getarnt. Aus den Büchern wusste ich nur, dass auf halber Strecke der Grenzstein kommen musste, Palo de las Letras, und ich danach in Kolumbien wäre.

Hinter einem Bach sah ich nach einer Viertelstunde Weg eine kleine, ziemlich abgewirtschaftete und überwucherte Bananenplantage. Ich ging hin und fand ein paar Früchte. Es war eine besonders nahrhafte Sorte, ich kannte sie aus Honduras, was Besseres konnte mir hier gar nicht passieren. Die Bananen dieser Sorte waren vielleicht dreimal so schwer wie die Bananen, die in Europa verkauft wurden und hatten rötlich-oranges kräftiges Fleisch. Ich ass drei und war komplett satt.

Es gab hier so viele verschiedene Bananensorten, die alle nicht nach Europa exportiert werden konnten. Die Bananen, die in Europa verkauft wurden, schmeckten fade und langweilig verglichen mit dem, was hier in den Tropen alles angebaut wurde.

Der Weg war sehr schwer. Über Berg und Tal, viele Kurven, oft verlor er sich oder teilte sich unmotiviert einfach auf, in lauter kleine Arme, und ich musste raten, welcher Arm der richtige war. Zum Glück schien den ganzen Tag die Sonne, hoch über den achtzig oder hundert Meter hohen Urwaldriesen und ich konnte sehen, wo Südosten war. Der Pfad ging, wie ich schon nach kurzer Zeit erkannte, streng nach Südosten. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sich das ändern würde.

Ständig hatte ich Riesenangst, es könnten Banditen in der Nähe sein und mir unverhofft entgegenkommen. Einmal sah ich etwas weiter unten am Berghang rote Früchte einer Palmenart, die ich aus Honduras noch kannte und von denen ich wusste, dass sie zu den wenigen essbaren Früchte im Urwald gehörten. Ich war froh darüber, ging hin und legte eine Pause ein. Doch je länger ich Pause machte, desto mehr stieg die Angst hoch. Wenn diese roten Früchte hier wuchsen, hiess das, dass hier nur sehr selten Einheimische entlanggingen, die den Urwald kannten. Und sie wussten sicherlich genau, warum sie hier nicht langgingen.

Der Urwald selbst war ein grandioses Erlebnis. Es war hier nicht der Sekundärwald, der nach einer Brandrodung wieder hochwuchs und der sich durch ein unglaubliches Dickicht an Gebüschen und krautartigen Pflanzen auszeichnete. Es war der Primärwald, der seit Menschengedenken hier wuchs und der noch nicht einmal gerodet worden war. Der hiesige Primärwald hatte kein Unterholz. Er erinnerte in dieser Beziehung fast an einen mitteleuropäischen Buchenwald. Allerdings mit einem unglaublichen Artenreichtum an Bäumen und einem ausgeprägten Leben in den oberen Etagen der Bäume. Affen, Papageien, die verschiedensten Vögel. Kaum ein Sonnenstrahl fiel auf den Boden und selbst in der Regenzeit blieb der Waldboden fast trocken, die wenigen Gebüsche waren oft verdorrt. Das Leben im Urwald spielte sich da oben ab.

Ich wusste auch, es war lebensgefährlich, sich hier zu verlaufen. Wer hier die Wasserstellen nicht kannte und sich im Urwald nicht zu ernähren wusste, war verloren. Und erst recht, wer sich irgendwo mitten im Urwald den Fuss verletzte.

Der Pfad ging in ein Tal und teilte sich auf. Hier gab es Blattschneiderameisen, deren Strassen so dick wie Menschenpfade waren und ihnen täuschend ähnlich sahen. Ich wusste nicht mehr weiter und hatte keine Wahl - ich musste erstmal alle Blattscheiderameisenpfade verfolgen. Deren Konstrukteure offenbar alles andere als einen klaren Plan davon hatten, wo sie überhaupt hinwollten. Irgendeiner dieser Pfade blieb auch nach längerer Zeit einer Richtung treu und ich ging ihn weiter. Es war der richtige Weg.

Tendenziell ging der Weg immer weiter bergan, hielt sich lange Zeit auf einem Berggrat. Irgendwann wurde das Unterholz wieder dichter und der Pfad dünner. Dann war er einfacher zu gehen, weil dann zu sehen war, wenn irgendwelche Äste und Sträucher am Wegrand mit Macheten abgeschlagen worden waren. Woraus übrigens auch abgelesen werden konnte, wie lang der Machetenschlag her war. Hier war es einige Zeit her, anders als vor Púcuru.

Noch einen kleinen Hügel nahm der Pfad, ging auf eine Anhöhe - und auf einmal stand ein Stein am Wegrand, umrahmt von Büschen. Und tatsächlich, er war es: der Grenzstein. Palo de las Letras. Nach vier Stunden hatte ich die Hälfte des Weges geschafft. Ich hatte den Weg nach Kolumbien gefunden. Kein Mensch weit und breit, kein Häuschen, keine Passkontrolle. Nur ein Grenzstein. Republik Kolumbien. Wenn ich jetzt umkehren müsste, müsste ich nicht mehr zurück nach Paya. Hier war ich definitiv auf dem richtigen Weg.

Ein historischer Schritt weiter, und ich war in Südamerika. Ich hatte es geschafft, ich war zu Fuss nach Südamerika gekommen. Alleine, ohne Vorbereitung, ohne Führer und in der Regenzeit. Verdammt nochmal, war ich gut.

Ab hier ging es bergab. Der Weg wurde einfacher und ich hatte mehr Selbstvertrauen. Selbstverständlich prägte ich mir genau ein, wo ich vorbeikam. Fünfeinhalb Stunden nach Palo de las Letras stiess ich auf einen Seitenpfad, der aber schnell endete. Dann ging der Pfad einen steilen Abhang hinunter, erreichte einen ruhigen, grossen Bach, den ich durchwaten konnte, und auf der anderen Seite des Baches standen Häuser! Ich war in Cristales!

Es war tatsächlich Cristales, stand irgendwo an einem Haus der kolumbianischen Forstverwaltung, aber bei den Häusern war kein Mensch. Das Dorf war vollkommen verlassen. Alle Türen und Fenster waren zu. Und, sehr verdächtig, vor allen Fenstern dicke Moskitonetze. Ich nahm ein Bad im Bach. Es wurde bald dunkel, und jetzt kamen die Moskitos.

Alle Häuser waren perfekt abgeschlossen, nirgendwo ein Schlüssel, ich hatte keine Chance. Ich setzte mich neben eines der Häuser, packte mich in den Schlafsack, überall kamen jetzt die Moskitos. Tagsüber flogen Moskitos eher selten. Manche Arten kamen nur am Abend, manche nur am Morgen. Diese hier flogen die ganze Nacht. Ich hatte keine Chance. Und jetzt war es dunkel, stockfinster, ich konnte auch nicht mehr zurück in den Wald. Ich zog alle Kleidungsstücke an, die ich hatte, und verkroch mich so gut es ging in den Schlafsack. Aber die Mücken kamen trotzdem rein, und sie stachen auch durch die Hose, durch die Socken, den Pullover. Die Nacht wurde zur Qual. Sie kamen von überall. Mir fiel nur noch ein Spruch von Norbert ein. Was einen nicht tötet, härtet ein ab.

30. Mai 1988

Am Morgen verschwanden die Moskitos. Überall hatte ich Stiche. Gesicht, Hals und Arme waren besonders zerstochen. Ich badete nochmal im Bach und zählte die Stiche an den Armen. Einhundertfünfzig.

Obwohl kein Mensch da war, lag ein duri am Ufer, angebunden. Auf Spanisch pipante, aber ich war immer noch in der Mískito-Sprache zuhause. Ein kleiner Fluss-Einbaum. Mit Paddel. Na gut. Ich wusste, der nächste grössere Ort wäre Bijao, und der musste irgendwo flussabwärts liegen. Von dort musste ich dann weiter ins Innenland Kolumbiens, dann nach Turbo an die Karibikküste und mir dort einen Einreisestempel geben lassen. Es blieb still. Niemand kam.

Ich entschied mich, das duri zu nehmen und bis zum nächsten bewohnten Ort zu fahren. Danach konnte ich wieder hochfahren, das duri wieder hier abgeben und ohne Rucksack dann den Bach zu Fuss heruntergehen.

Ich legte Rucksack und Schlafsack in das duri, band es los, nahm das Paddel und eine Stange und fuhr den langsam fliessenden Bach herunter. Die Stille war himmlisch. Nur einmal bekam ich ein schlechtes Gewissen, als ich bei einer Art Stromschnelle mit dem duri auf einen Stein aufschlug. Das durfte einem Profi nicht passieren, davon wurden solche Boote nicht besser.

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Ein kleiner ruhiger Fluss durch den Urwald. Die Stille war himmlisch. Foto von einer Postkarte aus Französisch-Guyana, 1990.

Aber es ging gut, der Bach floss ruhig und anständig, war nie zu tief und irgendwann sah ich am rechten Ufer eine Art Pferdetränke, mit Spuren, hier mussten also Leute wohnen. Ab hier wurde der Bach breiter, wurde in wenigen hundert Metern zum Fluss. Ich steuerte das Ufer an, band das duri fest und wollte gerade den Hang hochgehen, die Siedlung zu suchen. In diesem Moment hörte ich Stimmen.

Ich hörte genau hin. Sie kamen von mayara[66] und waren viel näher als mir lieb war. Es war zu spät - ich schaffte es nicht mehr den Hang hoch. Schon kamen sie um die Ecke. Sie hatten ein grösseres duri, eines für vier Personen, und bemerkten mich sofort. Tja, leider Pech gehabt. Es waren die Leute der Forstverwaltung, die nach Cristales fuhren. Sie waren zu dritt und sprachen Spanisch. Natürlich waren sie wenig erbaut davon, dass ich ihnen ihr duri geklaut hatte.

Nein, ich wollte nur den Rucksack abladen und dann wieder hochfahren, versuchte ich ihnen zu erklären, ich wollte nicht weiter flussabwärts fahren. Sie unterhielten sich untereinander.

- Was machst du hier?

- Er wollte damit abhauen.

- Das wär ja wohl überhaupt nicht aufgefallen, wenn ich hier als gringo alleine mit einem duri -äh- pipante den Fluss runtergefahren wäre!

- Was wolltest du damit machen?

- Ich wolle das duri -äh- das pipante wieder hochfahren, oben in Cristales ist niemand gewesen, ich wollte hier nur mein Gepäck-

- Wer hat dir gesagt, dass du das piragua nehmen darfst?

- Das was?

- Das piragua. Sag nicht, du hast hier kein piragua gesehen.

- Das hier?

Kurzer Moment Heiterkeit. Sie mussten den Eindruck haben, ich wollte so tun als wüsste ich nicht, wo auf einmal das duri herkam.

- Ich denk das heisst pipante!

- Nein, das heisst piragua.

Könnt ihr euch nicht mal einigen? Ich zeigte ihnen die Stange zum staken, die immerhin dafür sprach, dass ich mit dem duri wieder flussaufwärts wollte. Na gut, den Vorwurf des Diebstahls liessen sie vorläufig mal fallen. Vor wem wollten sie auch glaubhaft machen, dass ein gringo einen Einbaum klaute? Aber ich könnte zu Fuss nicht wieder nach unten, es gebe keinen Weg entlang des Baches. Ja und?, meinte ich, der Bach war ja nicht tief und ich könnte durchaus auch im Bach laufen, wenn ich kein Gepäck hätte. Im Prinzip sogar auch mit Gepäck. Ich ärgerte mich, denn der Bach war an keiner Stelle wirklich tief gewesen.

Nein, das sei viel zu gefährlich, den Bach zu Fuss herunterzugehen, der habe reissende Stromschnellen. Wirklich unglaublich gefährliche riesige Stromschnellen und haushohe Wasserfälle, entgegnete ich, ich bin doch eben gerade dort heruntergefahren. Nein, das könnten sie nicht zulassen, hier sei ausserdem keine Siedlung und sie müssten mich erst noch zu einer Siedlung bringen. Sie hatten hier die Verantwortung für die Leute, die aus Paya kamen, und sie mussten sie sicher in die nächste Siedlung bringen.

Schade, hier war wohl nicht mehr Panamá. Hier schienen rauhere Sitten zu herrschen. Auch in den Dörfern in Panamá und in den Büchern war das schon angedeutet worden. Ausserdem hatte ich ihnen ihr dummes pipante geklaut. Zumindest hatten sie objektiv gesehen das gute Recht, es für den Moment so aufzufassen. Oder ihr piragua oder wie das bescheuerte Ding hier oder zwanzig Kilometer weiter auch immer heissen mochte. Ich ärgerte mich kolossal, dass ich erst so spät aufgebrochen war. Mindestens eine ganze Stunde hatte ich völlig umsonst vertrödelt.

Ich sollte auf alle Fälle mit ihnen mitkommen, damit sie sehen konnten, ob ich nicht noch andere Sachen da oben geklaut hatte oder eingebrochen sei. Na gut, ich könne mit ihnen mitkommen und das Boot wieder hochbringen, meinte ich, aber ich könnte danach alleine wieder den Bach runtergehen. Ausgeschlossen, meinten sie, sie müssten mich anschliessend persönlich wieder runterbringen, Bijao sei noch weit.

Okay, meinte ich, nächstes Thema. Was würde mich das kosten? Wenn, dann bezahlte ich im voraus. Zehn Dollar. Ich sah sofort, dass ich gut gewesen war mit dieser Frage. Hinterher hätten sie mindestens das Doppelte verlangt. Und ich hätte es zahlen müssen. Einer war bewaffnet. Ich hatte keine kolumbianischen Pesos und musste hier mit Dollars argumentieren. Zehn Dollar war billiger als die horrenden Preise für ähnliche Leistungen in Paya und ich hatte sofort den Verdacht, dass der Dollar hier mehr Wert war als in Panamá. Zwei Dollar, meinte ich, nicht mehr, und ich würde zu Fuss den Bach runtergehen. Immerhin, ich schaffte es, sie auf fünf Dollar herunterzuhandeln.

Sie liessen es nicht zu, dass ich mit dem duri alleine wieder nach Cristales fuhr. Sie banden es hinten an ihr Boot fest, ich musste bei ihnen einsteigen und nach Cristales mitfahren. Na gut.

Zum Glück konnte ich Spanisch. Es musste sie beeindruckt haben, dass ich die Sprache fliessend sprach. Die meisten Fremden, die hier durchkamen, schienen es nicht oder nur sehr unsicher zu können. Sie schienen es gewohnt zu sein, dass sie nicht verstanden wurden, wenn sie sich untereinander unterhielten. Zumindest hier waren sie bei mir an der falschen Adresse, denn beim ersten Versuch war ich sofort dazwischengegangen. Auf keinen Fall durften sie mitkriegen, dass ich von dem, was sie sprachen, durchaus nicht alles verstand.

Sie konnten immer noch Kriminelle sein, die nur vorgaben, von der Forstverwaltung zu sein, und mich in Wirklichkeit ungestört komplett ausrauben wollten. Verdammte Scheisse, warum war ich heute früh nicht früher losgefahren? Wegen diesen Scheiss-Moskitos. Ich musste vorsichtig sein. Hoffentlich vermuteten sie wenigstens, dass ich bewaffnet war. Ich setzte mir einen bestimmten Blick auf. Den hatte ich inzwischen gelernt, seit North Crossett, Arkansas. Ich musste schwer aufpassen, dass ich mir diesen Blick nicht auf die Dauer angewöhnte. Er machte mich unsympatisch. Das sollte er jetzt ja auch.

In Cristales schlossen sie die Räume der Forstverwaltung auf, prüften kurz nach, ob ich nicht Remmi-Demmi gemacht hatte, waren erleichtert, wurden etwas freundlicher und fuhren eine Stunde später mit mir wieder den Bach herunter. Wenige hundert Meter mayara von der Stelle, wo ich mit dem duri gelandet war, liessen sie mich raus. Miese Typen.

Ich war erleichtert, sie los zu sein, stieg das Flussufer hoch und natürlich gab es hier genausowenig eine Siedlung wie an der Stelle, wo ich vorhin gelandet war. Es waren einige Felder mit Mais und Bohnen, durchzogen von Pfaden. Ich ging sie entlang, sie gingen in einiger Entfernung parallel zum Fluss, und bald stiess ich auf eine Siedlung. Ich fragte die Leute, ob das hier Bijao war. Bijao? Nein, Cacarica. Bijao sei noch zwei oder drei Stunden weiter flussabwärts.

Es war bekannt, dass Kolumbien hochkriminell war, aber dass die offiziellen Angestellten der Forstverwaltung, die hier stationiert waren, um den Urwald zu schützen, ihre Position ausnützten, um hier die Wanderer, die von Paya kamen, was ausdrücklich erlaubt war, derart auszunehmen, das war kaum zu glauben. Fünf Dollar war ziemlich viel Geld in Kolumbien, und die Leute hier fanden es eine Frechheit. Die Typen waren also beides gewesen. Sie waren Angestellte der Forstverwaltung, und gleichzeitig waren sie Kriminelle.

Die Bewohner von Cacarica waren sehr nett. Einer hatte ein Bett mit Moskitonetz. Er hiess Miguel, war sehr gastfreundlich und bestätigte mir, dass die Angestellten der Forstverwaltung die Touristen ausnahmen, obwohl sie es definitiv nicht durften. Aber niemand kontrollierte sie. Die gesamte Forstverwaltung sei kriminell, und nicht nur die. Die gesamte Regierung. Kolumbien sei aber nicht überall so.

In jedem Land bekam ich gesagt, die Politiker und die Regierungen seien kriminell. Nirgends jedoch war diese Kriminalität so direkt und offen wie in Kolumbien. Es gab gar keine Stelle, bei der ich mich hätte beschweren oder den Angestellten Schwierigkeiten hätte bereiten können. Von der Regierung bis zur Fussball-Nationalmannschaft - alles befand sich in den Händen der Drogenmafia. Sechs grosse Kartelle gab es in Kolumbien, erklärten sie mir, die die gesamte Wirtschaft kontrollierten. Und die Regierung mitsamt ihrer Armee gleich mit. Alle seien gleich kriminell. Und dann gab es noch die Gebiete, die nicht von diesen sechs Kartellen kontrolliert würden, sondern von der Drogenguerilla. Dort werde das Geld zwar anders verteilt, aber die seien genauso kriminell.

Miguel bot mir an, ein paar Tage bei ihnen zu bleiben. Ich schrieb den siebten Brief ans Forum. Die Leute sassen am Abend mit einer Petroleumlampe vor ihren Holzhäusern auf der Veranda und hatten ein Handtuch in der Hand, mit dem sie in regelmässigen Abständen geduldig die Moskitos verscheuchten.

Ich hasste Moskitos. Die Leute vom Forum konnten ruhig sehen, wie sehr ich Moskitos hasste, und jedesmal, wenn eine Mücke angeflogen kam, haute ich sie auf dem Papier tot. Ich schrieb den Leuten in Neustadt, wie ich nach Nicaragua gekommen war, vom Abschiebeknast und von Dagoberto, der in die USA wollte und von Kolumbien aus immer grün über die Grenzen gekommen war, bis sie ihn in Nicaragua erwischt hatten. Vom Weg über Costa Rica und Panamá bis hier nach Kolumbien. Als ich den Brief am Ende des Nachmittags fertig hatte, zierten zweiundvierzig tote Moskitos den Brief.

Ihr könnt sie ja analysieren lassen - vielleicht haben 10 % von ihnen Malaria.

Langsam heilten die Mückenstiche. Und bald merkte ich, ich musste in der Nacht von Cristales eine Immunität gegen Mückenstiche erworben haben. Und zwar für die folgenden zehn Jahre. Die erste Nacht in Südamerika hatte sich also doch noch gelohnt. Nein, Malaria gab es in dieser Gegend nicht, beruhigte mich Miguel.

Am nächsten Tag schrieb ich auf der Veranda den Brief noch in mein Tagebuch ab. Miguel und die anderen bewunderten aufrichtig, wie klein ich schreiben konnte. Inzwischen war ich schon auf Seite 70. Mit ein paar kleinen orange-gelb-blauen Papageifedern aus Honduras, die ich eingeklebt hatte. Wie ein kleines Poesiealbum. Auch die Mädchen bewunderten das Büchlein immer mehr. Als ich fertig war, steckte ich es wieder in die Jacke. Der siebte Brief ans Forum würde der zweite Brief sein, der verloren gehen und nur in der Abschrift in diesem Tagebuch erhalten werden würde.

Miguel wollte in den nächsten Tagen nach Boca Atrato, der Mündungsstadt des Río Atrato an der Karibikküste. Er tauschte mir Dollars in Pesos. Er war froh, Dollars zu bekommen, denn der Peso hatte eine hohe Inflationsrate und Dollars konnte er kaum kaufen. Er organisierte sogar eine Zeitung, in der der aktuelle Kurs stand. Noch ein paar Tage und sie würden aufbrechen nach Boca Atrato, und ich könnte gerne mit. Mit ihnen, als Arbeiter, dann bräuchte ich für die Fahrt nichts zu bezahlen.

Es gab keinen Landweg von hier ins Innenland von Kolumbien. Zwischen hier und der westlichen Andenkordillere lag ein viele Kilometer breites Sumpfland, und die Pläne, eine Brücke für die Panamericana drüber zu bauen, verstaubten schon seit langen in den Archiven.

4. Juni 1988

Nachdem es sich erst noch ein paar Tage verzögert hatte, brachen wir heute früh auf. Zusammen mit Miguel und ein paar von seinen Freunden. Zunächst in einem relativ kleinen Einbaum für fünf oder sechs Leute, schwer beladen mit Mais, mit dem wir die Bäche und Flüsse herunterfuhren. Die anderen, die sich mit den Paddeln und fünf Meter langen Holzstangen abmühten, kannte ich noch nicht. Flussabwärts zu fahren war stellenweise nicht sehr einfach. Es handelte sich hier oft um weit verzweigte Systeme kleiner Kanäle, durch die das Boot hindurchgeführt werden musste. Ganz schön anstrengend.

Irgendwann nahm ich einem die Holzstange ab und löste ihn beim staken ab. Palancar. Ich konnte es noch perfekt, stakte selbstbewusst und machte keinen Fehler. Verwundert fragten sie, wo ich das so gut gelernt hätte. In Honduras. Oh, Respekt, was für eine exotische Antwort.

Die Wasserstrassen wurden zunehmend breiter, wir luden die Säcke um in ein grösseres Boot, offenbar von einer landwirtschaftlichen Kooperative, und fuhren weiter den immer grösseren und breiteren Fluss hinunter. Wir lagen auf den Weissen Getreidesäcken und liessen uns sie Sonne ins Gesicht scheinen. Der Fluss wurde immer breiter. Erst spät in der Nacht kamen wir in Boca Atrato an. Es gab ein kleines Holzhaus, wo wir uns hinlegen und übernachten konnten.

Lange liess ich noch die nette Atmosphäre am Wasser auf mich einwirken, ein Hauch Venedig, und legte mich erst spät schlafen.

5. Juni 1988

Aufstehen morgens um fünf. Früh fuhren wir weiter, verliessen die Mangrovenküste und den breiten Río Atrato, tuckerten gemächlich über die Uraba-Bucht und fuhren in den Bananenhafen von Turbo ein.

Turbo, Kolumbien. So, wo war die Passstelle? Erstens war Sonntag, und zweitens gab es hier keine Passstelle. Ich musste nach Apartadó, fünfundzwanzig Kilometer landeinwärts. Die seien zuständig. Wundervoll.

Na gut, Apartadó lag auf der Strecke ins Gebirge, in die Anden, und da wollte ich hin. Nicht noch länger hielt ich die Moskitos aus, den ständigen Insektendruck und die feuchte Hitze im tropischen Tiefland. Ich sehnte mich nach den Bergen. Achtzehn Grad, schon seit Monaten sehnte ich mich nach solchen Temperaturen. Auch in den Nächten ging es in den Tropen nie unter zwanzig Grad. Auch nicht in der Regenzeit.

Taxen waren billig und ich nahm ein Taxi nach Apartadó. Doch das Büro hatte sonntags zu, und weils noch schöner war, erzählten sie mir, dass am Montag passenderweise Feiertag war und das Büro genauso dicht. Oh nein, was sollte ich denn jetzt machen? Zu den Militärs, schlug der Taxifahrer vor, und fuhr mich nach Carepa zum Batallón. Das lag auch an der Strasse von Turbo nach Medellín in den Anden.

Die Militärs an der Pforte waren äusserst wenig erbaut. Ich kam gar nicht erst dazu, zu erklären, was ich wollte, es ging um meine Hose. Ich hatte in den ganzen letzten Tagen die tarnfarbene Army-Hose von Mike Horgan aus Georgia angehabt, sie war praktisch und stabil. Die Soldaten am Posto meinten es gut mit mir, als sie mir sagten, ich sollte die in Kolumbien bloss nie wieder anziehen.

Aber einen Einreisestempel gab es auch hier nicht, sie waren natürlich nicht zuständig. Ich sollte nach Medellín, dort könnten sie mir auch einen Einreisestempel geben.

Was, schon wieder illegal im Land, und hinterher dieselbe miese Prozedur wie in Nicaragua? Keiner würde mir in Medellín mehr einen Einreisestempel geben. Ausserdem hatten die Guerilleros in Nicaragua natürlich im Reisepass dick vermerkt, dass sie mich abgeschoben hatten, weil ich illegal eingereist war. Bestens lesbar und in ordentlichstem Spanisch. Auf keinen Fall durfte ich so nach Medellín. Dann müsste ich eben solange in Apartadó warten, bis dort die Passstelle öffnete.

Ich nahm meine Sachen und trampte zurück nach Apartadó. Ein ziemlich moderner und ziviler Jeep hielt an. Ein Peruaner und ein Chilene waren auch im Jeep, auch per Anhalter. Der reiche Fahrer schien sehr nett zu sein. Alvaro Mejía war sein Name. Er musste hier in der Gegend irgendwelche Bananenplantagen besitzen.

Ich erzählte den beiden Ausländern das Problem mit dem Einreisestempel. Das würde hier nicht so eng gesehen, meinten die beiden, es könnte auch sein, dass sie mir den Stempel Dienstag in Medellín geben.

In Apartadó spendierte Alvaro uns allen zunächst ein Essen und gab mir viertausend Pesos, etwa zwanzig Mark, um den Bus nach Antiochia bezahlen zu können. Eine pittoreske kleine Stadt aus der Kolonialzeit, zwei Stunden vor Medellín, lohne sich zu besuchen. Er selbst habe sein Büro in Medellín, erklärte er, und gab mir seine Telefonnummer dort. Falls ich einmal Probleme haben sollte. Er sei leider viel unterwegs, für Colfrutas, Früchte für den Inlandbedarf. Dann verabschiedete er sich von uns und wünschte uns noch eine gute Zeit in Kolumbien.

Es war erst ein Uhr und ich musste noch zwei Stunden auf den Bus nach Antiochia warten. Ich erzählte den Leute an der Bushaltestelle von der Sache mit dem Einreisestempel. Einer meinte, er kenne zufällig den Chef der Passbehörde und wisse, wo er wohne. Er begleitete mich zu seiner Wohnung.

Obwohl er gerade beim Essen war, war der Beamte sehr zuvorkommend und fuhr mit mir zum Büro, das er extra wegen mir aufschloss. Ob ich ein Ticket zur Ausreise dabei habe, wollte er noch wissen. Nein, meinte ich, ich sei gerade zu Fuss von Panamá gekommen, durch den Urwald von Paya nach Cristales, da würde ichs auch fertigbringen, zu Fuss wieder aus Kolumbien auszureisen. Nach Ecuador und Argentinien wollte ich, die Panamericana runter, erzählte ich. Okay, meinte er, kein Problem. In kurzer Hose und T-Shirt drückte er mir glatte neunzig Tage Visum in den Pass. Ich wusste, dass dies das absolute Maximum war und normalerweise nur sechzig Tage gegeben wurden.

Ich kam sogar noch rechtzeitig zum Bus nach Antiochia. Unterwegs ständig Militärkontrollen, schwer bewaffnete Soldaten durchsuchten den Bus. Papiere. Das hatte ich nicht erwartet. Alt hätte ich ausgesehen ohne Visum. Kolumbien war ein Land im Bürgerkrieg. Die Stimmung war noch bedrohlicher als in Mittelamerika. Langsam wand sich die Strasse immer höher in die Anden.

Brief Forum 9 (Juli 1988)

Und so bin ich um drei Uhr nachts also in Santa Fé de Antioquia, eine alte spanische Kolonialstadt, recht verschlafen, unter Denkmalschutz. Oder halb vier.

Ich geh ein bisschen die Strasse entlang, Richtung Zentrum. Nix los. Ist mir auch ganz recht. Wo kann man sich hinpacken und pennen? Ich bin verdammt müde, hatte zuwenig Schlaf die Nacht davor. Zwei auf einem Motorrad kommen mir entgegen, sehen mich, nein, müssen die auch noch anhalten. Was ich hier suche. Ach so, sind Bullen. Aber ganz schön blau. Papiere. Aus dem Bus? Ah, stimmt, der kommt ja immer um diese Zeit durch. Ja, ist okay. Hier kannst du dich ein bisschen hinpacken wenn du willst.

Hier: kleiner Pavillon von so einer tienda, zwei Tische, paar Stühle, Strohdach. Bisschen Licht von der Strasse. Ich leg mich dahin wo man mich von der Strasse aus nicht sieht, ein paar kommen hin und wieder vorbeigetorkelt. Vorsicht in Kolumbien, Kolumbien ist gefährlich, kein anderes Land hat so ein Ansehen im Ausland.

Fast bin ich eingeschlafen, kommen vier Jugendliche an, zwei Mädchen dabei, packen sich auf den anderen Tisch, unterhalten sich ein bisschen, knutschen rum, lassen mich aber in Ruhe. Ich bleibe vorsichtig, ziehe es vor, lieber noch nicht einzuschlafen, von meiner Ecke beobachte ich sie noch ein Weilchen. Mensch, bin ich müde. Halb fünf dürfte es wohl sein, als sie endlich gehen.

Ich könnte mir die restlichen anderthalb Stunden der Nacht noch mit Landkarten lesen oder sowas vertreiben, aber nun lieg ich schonmal, Augen zu, wenigstens noch ein bisschen schlafen.

Fehler! Wie war das noch bei Manfreds Umzug von Berlin? Bis vier Uhr nachts Möbel geladen, zwei Stunden gepennt und um sechs wieder hoch - der Schlaf hielt eine Stunde vor, dann überkam uns alle die grosse Müdigkeit, Resultat: Autounfall um halb acht an der Grenze von Staaken. Zwei Stunden Schlaf, das war der Fehler! Dann lieber durchmachen, das ist besser. Dieser Faktor ist nicht zu unterschätzen.

Ich wache auf, es ist am Hellwerden, also sechs Uhr. Auf, mal sehn was der heutige Tag bringt. Erstmal zur plaza, Mittelpunkt jeder spanischen Kolonialstadt, mit der alten Kirche. Die Strassen mit Kopfsteinpflaster, das ist selten in Amerika. Hm, wo gehts denn jetzt zur plaza? Eine Strasse weiter murkst einer an seinem Auto rum, er winkt mich zu sich her. Kaffee haben sie.

Und zufällig fährt er gerade nach Medellín. Medellín... ja, liegt auf dem Weg nach Süden. Ich entscheide mich, mit ihnen nach Medellín zu fahren.

Weil die Spanier bei ihrer Kolonisation manchmal nicht richtig abschätzen konnten, welche Lage für eine grosse Stadt am günstigsten war, haben sie öfter Departments-Hauptstädte gegründet, die sich später im Lauf der Jahrhunderte nicht mehr weiterentwickelt haben und sozusagen eingeschlafen sind. Im Fall von Antiochia hatten sie hundert Jahre später das fünfzig Kilometer weiter südlich Medellín gegründet, wesentlich günstiger gelegen, und das hat sich in der Tat weiterentwickelt: zur zweitgrössten Millionenstadt in Kolumbien und Welthauptstadt im Drogenhandel.

Um sieben gehts los, zu viert, sind drei Stunden Fahrt, und mich überkommt wieder die grosse Müdigkeit.

"Medellín ist gut", meint er, "besser als Bogotá. In Medellín triffst du Leute, die auch so drauf sind wie du."

Die Atmosphäre in Medellín sei besser als die in Bogotá, in Medellín gebe es nicht soviel Armut wie in Kolumbiens Hauptstadt dreihundert Kilometer weiter. Wir kommen in die Stadt. Seine Elensviertel hat Medellín aber auch.

Ich hab noch drei Monate Visum in Kolumbien, eigentlich müsste ich noch nicht sofort weiter. Tschau, danke fürs Mitnehmen, ich bin im Zentrum.

Medellín. Eine kolumbianische Millionenstadt hab ich mir ehrlich gesagt schmutziger vorgestellt. Und sogar mit Fussgängerzone. Flohmarkt ist, sind wohl gerade am Aufbauen. Zwei morenos mit Rucksäcken kommen vorbei, wir kommen ins Gespräch. Morenos - so heissen hier sie Schwarzen, die einen guten Schuss Spanien oder Mestizen mit im Blut haben. An der Küste stellen sie die Bevölkerungsmehrheit, hier im Binnenland sieht man sie selten. Die Bevölkerung an der Küste hat sich in den letzten vierhundert Jahren gründlich durcheinander gemischt, Kolumbien trennt dort schon lange nicht mehr nach schwarz oder weiss. Der eine ist aus Barranquilla, erzählt er.

"Ich weiss, wie das ist, allein in einer grossen Stadt im fremden Land" - er war einmal in Guayaquil, Ecuador. Hängt aber schon seit einem halben Jahr in Medellín rum. Den anderen stellt er mir als Floyo vor, punquero, Punker, aus Medellín. Hat schon viel von den Punks aus Berlin gehört und ist ein bisschen neidisch, weil die sich ihren Irokesen grün-blau-rot färben können. Mit seinem Haar geht das nicht, und bei der dunklen Gesichtsfarbe würde das wohl auch nicht so gut aussehen. Floyo ist eher still, nicht so gesprächig wie sein Kumpel.

"Nach Bogotá willst du?", fragt er, als ich ihm von der Adresse des Kolumbianers aus dem Knast in Nicaragua erzähle, "Bleib doch ein bisschen in Medellín. Medellín ist ganz gut drauf."

Ich nehme ihr Angebot an. Irgendwie hab ich heute auch keinen Bock, nach Bogotá zu trampen.

Sie zeigen mir ein bisschen Medellín. Erstmal zu den Markthallen, dort kann man sich gut Früchte organisieren. Ist aber noch nichts los am Obstmarkt.

"Hast du Lust zu baden?" Hey, das war ne Idee, hab mich vor zwei Tagen im Río Cacarica das letzte Mal waschen können. Sie wissen eine Stelle, ist etwas weit, wir müssen den Bus nehmen.

"Sauberes Wasser?", frage ich.

"Sisa", meint Barranquilla, das ist sein Spruch, das hat er die ganze Zeit drauf. Sí heisst ja, und sisa ist der Name irgendeiner bescheuerten Droge, den Drogen scheinen die beiden ja nicht gerade abgeneigt zu sein. Nun, hier ist Kolumbien, denke ich mir, in manchen Ländern ist Alkohol die Volksdroge, in anderen Opium, und hier halt Marihuana, cocaina und bazuka. Andere Länder, andere Sitten, andere Gesetze. Obs in Kolumbien anders zuginge, wenn die Drogen verboten wären? Glaub ich kaum, so sind sie halt nur legal.

- Damit jetzt keiner auf die Idee kommt, das stimmt: Drogen sind auch in Kolumbien verboten, nur zu der Zeit dachte ich noch, die wären legal. "Drogen in Kolumbien", das ist ein Teil Amerika. In den USA ist das einzige, was du von den Leuten über Kolumbien hören kannst, dass es das Land ist, wo nix als massenweise Drogen herkommen. In Mexico hab ich dann zum ersten Mal die Version gehört, dass in Kolumbien die Drogen legal sind. Dieses Gerücht - so erfolgreich weil so einleuchtend, hält sich auch in Mittelamerika und Panamá, erstaunlich nahe an Kolumbien ran. Tatsache ist wohl, dass es in Kolumbien lauter verschiedene Guerilla-Gruppen gibt, die Teile des Landes kontrollieren und die den Drogenanbau decken. Hunderttausende Kolumbianer leben vom Drogenanbau.

Wir holen uns ein bisschen Obst von den Markthallen, die beiden sind gut bekannt. Avocados liegen rum, Mangos auch, einer spendiert eine Handvoll Zitronen, auch der Typ, der uns eine Tüte Bananen mitgibt ("¡Hola, yo soy Jesse Jackson!") ist gut drauf. Früchte, die sie nicht mehr verkaufen können.

Medellín ist ziemlich warm, liegt nur tausend Meter hoch. Wir fahren im Bus ein paar Strassen bergauf, dort wo das Wasserwerk ist, ein Bach mit recht sauberem Wasser kommt den Berg runter. Baden, sonnen, Bananen essen. Meine achtzehn-Taschen-Jacke finden sie gut. Ich hab nicht viel im Rucksack und zeige ihnen die alten zerrissenen Klamotten, und sie zeigen mir auch, was sie im Rucksack haben - Hosen, Hemden, sogar sorfältig gefaltet, Decke zum Schlafen. Barranquilla ist sogar verheiratet, Witz, denke ich, seine Frau lebt in Cancán, einem Dorf im Department Antiochia. Ich muss aufpassen, dass ich keinen Sonnenbrand krieg, diese Probleme haben die beiden ja nicht.

Reinrassige Schwarze leben in Kolumbien nur noch in den sehr abgelegenen Gebieten in Chocó, Nordwest-Kolumbien. Übrigens gibt es auch in Kolumbien wie in Honduras eine eigene Sprache, die von den morenos an der Küste gesprochen wird: Costeño, die Küstensprache.

Vier wirds sein, wir gehn wieder runter. "Platz zum Pennen wisst ihr?" - "Sisa, kein Problem." Wir setzen uns auf die Treppen vor der alten Kirche am Bolívar-Platz. Die älteste Kirche, die in Kolumbien rumsteht.

Zwei Omas kommen an, die eine unterhält sich ein bisschen Weilchen mit Barranquilla. Eine paar nette Worte. Als sie weitergehen, meint Barranquilla zu mir: Die sind genauso bürgerlich wie die anderen abgefuckten Typen auch. Die sind kein bisschen besser als die Bonzen."

"Wieso, dadurch, dass sie sich mit uns unterhält, zeigt sie doch, mit wem sie sich lieber unterhält", meine ich, katastrophales Spanisch habe ich jetzt drauf, das ist klar.

Floyo: "Die ist genauso abgefuckt wie alle andern auch. Die ist kein bisschen besser. Die will nur ihr Gewissen beruhigen, deshalb spricht sie mit uns, aber in Wirklichkeit will sie nichts mit uns zu tun haben."

Ach, diese Denkweise. Ist mir unsympatisch.

Sie zeigen mir, wie aus Drahtresten Kettchen gedreht werden. Barranquilla: "Sowas mach ich schon seit über zwanzig Jahren. Seit ich sechs bin. So verdient man sich sein Essen in Kolumbien."

Komisch sehen wir nicht aus, wir drei mit unseren schäbigen Rucksäcken. Das gehört in Medellín zum Strassenbild. Komisch sehe nur ich aus, weil ich blonde Haare habe und dadurch, anders als in Costa Rica, als Ausländer auffalle.

Einer kommt vorbei und unterhält sich mit den beiden, auch über mich. Glaubt wohl, ich versteh kein Spanisch. "Habt ihr schon gekuckt, ob er interessante Sachen im Rucksack hat?" Murmelmurmel, die beiden antworten recht verlegen.

Ein paar cuadras[67] weiter ist der Markt, wo es abends für die Leute von der Strasse günstig Essen gibt. Was ich gut finde, ist, dass die beiden mir Essen spendieren - etwa hundert Pesos, okay, das ist nicht viel, aber ich denke mir, für sie ist es viel Geld. Und ich bin satt.

Eine Stunde später sind wir in einer Art Café und ich entdecke, dass das OP-Tuch mit Jens Tischlers kleines rotes Taschenmesser nicht mehr in der Jacke ist. Im Rucksack auch nicht. Zarkon, ich Trottel, wenn man nicht voll bei der Sache ist, Mann, hier ist Kolumbien! Das ist die Müdigkeit, hab ich ihnen da oben tatsächlich das Messer gezeigt, und Barranquilla hats wieder in das OP-Tuch eingewickelt. Mit Barranquilla kann man reden, man muss nur vorsichtig bleiben. Ich erzähl ihm von Jens Tischler, kriegs sogar noch soweit, dass er nochmal seinen ganzen Rucksack auspackt. Vielleicht hat er es da oben ja aus Versehen eingesteckt. Nix. "Bei dir auch", meint er zu Floyo. Punki macht seine Tasche auf, fingert kurz drin rum und lässt mich dann bereitwillig drin suchen. Und ich finde - das OP-Tuch. Natürlich ohne Messer. Tut mir leid, Barranquilla.

"Ach, ist ja egal, das wird da oben rausgefallen sein. Jetzt ist es schon dunkel, aber morgen früh gehen wir rauf und suchen es", meint Barranquilla.

"Platz zum Pennen wisst ihr?"

"Sisa, kein Problem. Bist du müde?"

Kann man wohl sagen. Milch und so ne Art Kuchen spendiert er mir noch. Was auch sein kann, ist, dass sie das Messer eben auf dem Flohmarkt für dreitausend Pesos verscheuert haben, um sich damit Drogen kaufen zu können.

Wir gehen durch die halbdunklen Strassen vom Libertadores-Stadtviertel, langsam kenn ich mich in dieser Stadt fast schon aus. Das ist nicht schwer, denn die Stadt ist wie so viele in Amerika quadratisch angelegt und die Strassen haben Nummern. Zum Schlafen haben sie sichtlich noch keine Lust, klappern ein paar Leute ab, setzen sich irgendwo auf ein paar Treppen und rauchen ihr Drogen-Zeugs.

"Nosotros consumimos drogas todos los dias", meint Barranquilla zu mir, "para que podemos dormir[68]". Die Strassen sind ruhig, nur ab und zu rauschen ein paar Taxen vorbei. Bei einem Haus klettern sie über den Vorgartenzaun, wir gehen einen kleinen Hang rauf zum Haus, dick mit Säulen und Treppen, wie das Neustädter Rathaus, eine dunkle Ecke. "Hier sind wir sicher, hier kannst du dich hinpacken und pennen."

Es wohne keiner drin, nur eine alte Oma, die drauf aufpasse. Die beiden setzen sich wieder hin und rauchen ihren bazuka-Kram. Mensch, bin ich müde. Ein älterer Typ kommt auch noch an, packt sich neben mich. Wir unterhalten uns ein bisschen, nachdem er rausgekriegt hat, dass ich überraschenderweise doch Spanisch spreche. Mich nervts, denn im Prinzip will er nur wissen, was es in Deutschland für eine Währung gibt und ob ich Dollars mit mir rumschlepp. Verdammt, bin ich müde.

Es macht die Story jetzt spannender, wenn ich schreibe, dass ich vor lauter Müdigkeit eben vergessen habe, die Tüte mit dem zweitrangigen Papierkram aus dem Rucksack zu holen, was ich sonst immer mache. Landkarten, Briefe. Das Täschchen mit dem hyper-wichtigen Papieren, Reisepass und so, ist noch in der Jacke und nicht am Körper. Die Jacke, die ich nicht anhabe, denn sie dient mir zusammen mit dem Handtuch aus West Virginia als Kissen. Später werde ich merken, dass ich mir tatsächlich noch die Mühe gemacht hab, den Schlafsack auszurollen, um mich draufzulegen.

Manchmal wünsche ich mir, ich hätte einen Schlaf wie Kurt. Bei Kurt waren nachts wie bei einem Hund offenbar die Ohren nie abgeschalten, er wachte beim leisesten Geräusch auf. Wenn ich im Freien auf dem Boden schlafe, penne ich nie durch, sondern wache in der Regel nach jeder Tiefschlafphase auf, drehe mich um und schlafe weiter. Das passiert in der Regel so fünf-sechs mal.

Ich wache also auf - und die beiden sind weg. Ein anderer Punk liegt da und versucht zu schlafen. Schuhe sind noch da, Rucksack auch. Ich frage den Alten neben mir (irgendwie muss der da auch noch wachgewesen sein), ob sie was gesagt haben. Natürlich nicht. Sind sich vielleicht wieder Drogen holen gegangen.

"Werden wohl wiederkommen", meint der Alte.

Den Punk nervts wohl, dass wir uns unterhalten, und zieht wieder ab. Vielleicht zehn wird es jetzt sein, lang bleib ich nicht wach.

Ich bin es schon lange gewohnt, elf Stunden die Nacht zu schlafen. Jede Nacht bis sechs Uhr, bis die Sonne aufgeht. Wie in Mexico oder in Griechenland in den Mond reinlaufen geht in den Guerilla-Ländern Mittelamerikas natürlich nicht, und in Kolumbien kann man das ja mal versuchen.

Ich sollte wirklich besser auf meine Schuhe aufpassen. Sie haben sich gut gehalten, sind nicht zerschlissen, obwohl ihnen schon anzusehen ist, was für Sorte Urwaldpfade sie hinter sich haben. Rüttelrüttel - ich wach auch, Barranquilla ist neben mir, hat an der Jacke gezogen, auf der ich liege.

"Was ist los?", frage ich und muss meine Gedanken ordnen. "Was nicht festgebunden ist" kann er nicht antworten, erstens kennt er den Reiseführer Per Anhalter durch die Galaxis nicht, und zweitens heisst "Was ist los" auf Spanisch ¿Qué pasa?. Sein Kumpel ist nicht da. Schuhe sind da - wo ist der Rucksack? Der Rucksack ist weg. Verdammte Scheisse.

"Ohh, dein Rucksack!" Kurze Denkpause, dann: "¡El! Er hat den Rucksack!"

"Der Punk?!"

"Síííí-"

"Was machen wir jetzt? Mensch, gut dass du mich geweckt hast!" Der war gut. Jetzt erst seh ich, in was für einer miesen Scheisse ich hier sitze.

"Weiss nicht was wir jetzt machen sollen-"

Ich durchsuche die Jacke nach Thomas Tagebuch, wie ich ihm weismache, in Wirklichkeit schaue ich nach, ob das Reisepass-Täschchen noch drin ist - ist, mit vollständigem Inhalt. Fünfhundertvierzig Dollar in Reiseschecks.

"Und dein Geld, hast du dein Geld noch?"

"Ich hab nicht viel, nur zweitausend Pesos-", ich Volltrottel, würde Kurt sagen, hol ich die auch noch vollständig aus der Hosentasche. Zweitausendzweihundert Pesos, vielleicht fünfzehn Mark.

"Zeig mal her, zeig her-" - zack, hat er es schon in der Hand.

"Ja, ist vollständig", mein ich, "nun gibs wieder her."

"Nein Mann, das hab ich jetzt, ist doch egal, wer das jetzt hat." Jetzt reichts mir aber, ich weck den Alten neben mir auf, "Hey, der klaut mein Geld."

Er reagiert, wie wohl jeder Kolumbianer an seiner Stelle reagieren würde: "¡Oh, nooo...! Lass mich doch damit in Ruhe!" - Dreht sich auf die andere Seite, pennt weiter. Nee, das war wohl wirklich nicht das Schlaueste, aber inzwischen ist Barranquilla was eingefallen.

"Gib mir das Geld, ich weiss wo er ist, mit dem Geld schaffe ich es, ihm den Rucksack wieder abzukaufen."

"Mit Inhalt?"

"Sisa."

"Hm, und dann bist du weg."

"Nein, Mann, ich lass dich doch nicht im Stich. Vertrauen, Junge."

"Nee, das musst du verstehen. Ich brauch was als Sicherheit, damit du wiederkommst. Lass mir deinen Rucksack da."

"Nein, das geht nicht. Wenn ich ohne Rucksack auf der Strasse langlaufe, halten die Militärs mich an."

- Hä? Aber seine Wolljacke lässt er mir da.

"Gib mir tausend Pesos. Versuchs doch erstmal mit tausend."

"Nein, das ist zuwenig, darauf lässt er sich nicht ein."

"Wenigstens ein bisschen-"

Zweihundert Pesos lässt er mir da. So ist Barranquilla. Ich wunder mich heute noch.

"In fünfzehn Minuten bin ich wieder zurück. Warte du hier", zieht er ab.

Es ist etwas kälter geworden, ich zieh Jacke und Schuhe an, roll den Schlafsack zusammen und setze mich wieder hin. Nein - aufstehen, nachher penn ich nochmal ein. Blauen Kuli haben sie auch liegenlassen. Ich warte.

Paar Minuten später kommt zu meiner Überraschung Floyo an, stapft die Treppen rauf, kuckt um sich, "Hm, also hier ist er nicht", denkt nach, schlurft wieder runter.

Ich hinterher, hol ihn ein. Er scheint mich gar nicht zu registrieren. Ich versuche nochmal ein Gespräch anzufangen.

"¿Tu eres amigo punquero?[69]"

"- enemigo."

Ganz hab ichs nicht verstanden, was er gesagt hat, und das checkt er sogar noch, wiederholt, genauso apatisch:

"Enemigo[70]."

"Ja", meint er noch, als ich ihn frage, ob der andere den Rucksack habe.

Enemigo - na, danke für den Tip. Ich geh wieder zum Haus, elf Uhr, krieg ich später raus, weil ich jetzt wachbleibe und nach ein paar Stunden das System der Kirchenglocken kapiere. Dazu muss ich mir übrigens den Halbmond als Hilfe nehmen.

Paar Minuten warte ich noch oben, dann, Barranquilla kommt nicht, versteck ich mich in einem Gebüsch neben dem Haus, wo mich keiner sieht und wo ich kontrollieren kann, was sich unten auf der Strasse tut. Eine halbe Stunde vergeht.

Dann kommt Floyo nochmal die Strasse hoch, kuckt zum Haus, bleibt stehen, kuckt genauer. Er sieht nur den alten Typen, der bis lang in den Morgen da oben pennen wird. Überlegt kurz, dreht sich um, geht die Strasse wieder runter.

Ich weiss, ich könnte ihm jetzt nachgehen, aber ich lass es sein. An Jens Messer komm ich sowieso nicht mehr, und sollen sie den Rucksack doch behalten. Ich werde bis zum Morgen im Gebüsch bleiben - wach, aber auf der Strasse wird sich nichts mehr tun.

Was war im Rucksack? Nichts, was sie irgendwie verkaufen könnten, stelle ich fest. Brille von Lupe Leal, fällt mir ein. Schnecken aus Texas und Mexico, die ich nach Cismar schicken wollte. Die beiden Hefte, Spanisch und Mískito, Landkarten von Mexico und Costa Rica. Das Schreiben von team-reisen in Hamburg, wonach ich aus Argentinien zurückfliegen würde. Kleidung können sie guten Gewissens im Müll entsorgen. Die T-Shirts, Hosen und Socken sind total hinüber. Mein beste Hose habe ich an: Steve Blackmon's real good American pants aus Georgia. Barranquillas Jacke nehme ich mit.

Verglichen mit New York bin ich weniger wertvolle Sachen losgeworden. Vielleicht tut so etwas hin und wieder auch mal gut. Ich weiss, hinter New York hatte ich mich auch durchaus ein wenig befreit gefühlt, das Leben ohne Rucksack fühlte sich direkter an.

Am Morgen gehe ich mit meinem Schlafsack runter zum Bolívar-Platz, wirklich viele Leute schlafen in dieser Stadt auf der Strasse, ich setze mich zu einem Peruaner, auch mit Rucksack, auf die Bank.

Was ist da oben passiert? Ich check es noch nicht. Warum kam der Punk wieder zurück? Und warum zweimal? Tatsache ist, dass die beiden schon seit drei Monaten zusammen sind, daran habe ich keinen Zweifel. Der Peruaner meint, Bogotá sei auch nicht schlimmer als Medellín.

"Kolumbien - Scheisse", meint er, "es gibt Länder, die besser sind." Das ist halt Kolumbien, was solls, wer wirds ändern.

Wirklich ein Land voller Gegensätze. Ein Ortsgespräch von einer Telefonzelle kostet in Kolumbien einen Peso - weniger als einen Pfennig. Ich rufe bei Alvaros Nummer an und frage nach Alvaro Mejía. Das Büro von Colfrutas ist zufällig gleich zwei cuadras weiter und ich gehe hin. Alvaro ist zufällig auch da. Businessman. Drückt mir nochmal tausend Pesos in die Hand und organisiert mir einen Tramp nach Bogotá. Ein Klein-Lkw, der um drei Uhr voll beladen mit Netzmelonen und Papayas in die Hauptstadt fährt.

Alvaro stellt mich Pablo, dem Fahrer vor, verabschiedet mich und ich bin froh, dass es so freundliche Menschen gibt, die einen so gut auffangen können.

Zehn Stunden Fahrt mit Pablo, es geht wieder in die Anden, sonst ist Kolumbien ja so ein schönes Land. Was ist da oben passiert?

Ich bin müde, aber bei diesem Fahrkomfort würde ich nicht mal schlafen, wenn ich vier Nächte hintereinander durchgemacht hätte. Ich komme ins grübeln - und ich glaube ich kriegs raus. Was ist da oben passiert?

Eines ist klar: beide standen nachher stark unter Drogen, Floyo eher mehr als Barranquilla. Als sie das erste Mal weg waren, waren sie sich wohl tatsächlich nur wieder Drogen holen gegangen. Sie brauchten aber mehr, und ich nehme an, auf Floyos Initiative, holten sich meinen Rucksack, nahmen ihm mit zu ihrem Platz und fingen an, ihn nach was Brauchbarem zu durchwühlen. Wenn einer ihnen dabei zugeschaut hätte - er hätte sie bemitleidet.

Vor allem die Tüte mit den Papieren. Mit dem Forum-Brief 7 mit seinen zweiundvierzig totgeklatschten Moskitos aus Cacarica werden sie wenig anzufangen gewusst haben, genausowenig mit dem genial gefälschten Zettel von der angeblichen Solidaritätsgruppe, den ich mit in Wampusirpi für die Jungs in Nicaragua zurecht gemacht hatte - und die dachten tatsächlich, das wär gedruckt. Eins der beiden documentos, ohne die ich in Nicaragua noch nicht mal bis Puerto Cabezas gekommen wäre. (Das andere hab ich noch - bitte bekommt jetzt keinen Lachkrampf - die Ausweiskarte Bundesrepublik Deutschhund vom 3. Mai 1986, mit Fingerabdruck, KWS-Kennummer und "Erscheinungsbild: subversiv"[71]. Also, ich würde mich heute noch schlapplachen, wenn mir einer erzählen würde, dass der ganze Müll mindestens zehn nicaraguanischen Militärs durch die Hände gegangen ist!) Gut, und auch die Landkarten von Südamerika aus dem Diercke Weltatlas waren wohl nicht gerade das, was sie suchten.

"Also muss er sein Geld woanders haben."

Kann auch sein, dass Barranquilla die Idee erst gar nicht so gut fand und Floyo den Rucksack alleine geklaut hatte. Die beiden am Diskutieren.

"Der muss irgendwo noch was haben" - Floyo.

"Weiss nicht, so viel hat der auch nicht. Der sieht nicht so aus."

"Klar hat der Geld. So ne Typen haben Geld."

"Ach lass doch. Pack den Müll wieder ein, bringen wirs ihm wieder zurück."

Pause. Floyo kommt drauf.

"In der Jacke. Auf die hat er immer besonders aufgepasst. Wenn er was hat, dann hat er das in der Jacke."

"Die Jacke? Hm, oder die Jacke selber verscheuern...", auch Barranquilla brauchte bazuka. "Aber ich hol die nicht."

Langer Blick von Floyo auf den Boden.

Seinen Rucksack nimmt Barranquilla übrigens mit, weil er niemandem traut, auch nicht seinem Kumpel, mit dem er jetzt schon drei Monate zusammen ist.

"Aber ich hol nur die Jacke, weiter nix, ich bin gleich zurück."

"Ja, mach schon."

Bis hierhin kann sichs auch leicht anders abgespielt haben, sicher ist aber eines: es war nicht geplant, dass ich dabei aufwache, als mir Barranquilla langsam die Jacke unter dem Kopf wegzieht.

Auf flachem Boden kann ich schlecht schlafen, ich brauch immer ein recht hohes Kissen. Wenn das zu klein ist und ich in der Nacht davon abrutsche, wache ich auf.

Als er (etwas zu spät) merkt, dass ich aufwache, lässt er die Jacke sofort los und tut im ersten Moment so, als wär nix gewesen. Folgt die Unterhaltung, in der ihm wohl wirklich nicht mehr eingefallen wär, wenn ich nicht die zweitausend Pesos aus der Tasche geholt hätte. Bargeld - sofort haben. Was will er jetzt noch mit der Jacke - er hat Geld, und damit zieht er ab.

Geht aber nicht direkt zu Floyo, sondern holt sich in einer anderen Strasse erstmal Drogen.

Punki wartet, aber sein Kumpel kommt nicht. "Mann, der ist doch unfähig", wird ungeduldig, er müsste doch schon längst - "Scheisse, da ist was passiert!", geht los, ihn suchen. "Hier ist er nicht", stellt er fest, als er bei mir oben auf der Treppe nachschaut. Das mit der Jacke ist nebensächlich, vielleicht hat er es in seinem Drogenrausch auch schon wieder völlig vergessen, es geht jetzt darum, Barranquilla zu finden.

Zweitausend Pesos sind nicht wenig Geld - ich nehm an, Barranquilla hat Stoff für zwei besorgt und erwartet seinen Kumpel vielleicht schon am Platz. Floyo, nachdem er noch ein paar andere Stellen abgeklapppert hat: "Hier bist du, Mann, wo warstn du-"

"Kuck mal, was wir hier haben."

Bazuka, das ist natürlich was anderes.

Aber es reicht nicht aus, Floyo braucht mehr.

"Mann, du solltest doch die Jacke holen, die ist doch mehr Wert als tausend Pesos...-"

Barranquilla will keine Gewalt anwenden, aber anders ist die Jacke nicht zu kriegen. "Bist du zimperlich", geht Floyo los.

Jetzt krieg ich es aber mit der Angst und versteck mich im Gebüsch. So dass der Punk, als er kommt, unter den Säulen nur noch den alten Typen pennen sieht. Er erkennt auch von der Strasse, dass das nicht ich bin. Zieht wieder ab, und zu Barranquilla: "Jetzt ist er weg. Deine Schuld."

Pablo fährt durch die Nacht. Es ist schon nach zwölf, immer wieder überkommen mich Minischlafwellen, wir kommen in Bogotá an. Pablo hat dort Familie, er und sein Sohn schlafen im Haus. Mir bietet er an, bis zum Morgen auf den Sitzen zu pennen. Wagen innen abgeschlossen, Leute, ihr wisst gar nicht, wie gut das ist, sich hinlegen zu können, Augen einfach zuzumachen und zu schlafen!

Tagsüber waren es ja wirklich nette Kerle, aber der Drogenkonsum hat ihr Verhalten völlig veändert. Wie leichtsinnig ich war. Der Punk war gefährlicher und ich male mir nicht aus, wie es hätte ausgehen können, wenn er mich nachher nochmal da oben gesehen hätte.

Ich weiss auch nicht, warum ich mich nachher oben im Gebüsch versteckt hab. Es hatte wohl eher was mit Floyos apatischem Verhalten zu tun als mit Barranquillas zweitausend Pesos.

28

Schuster in Kolumbien -

Bogotá

8. Juni 1988

Bogotá. Pablo setzte mich an einer Hauptverkehrsader in der Nähe des Zentrums ab. Ich hatte mir schon die Adresse herausgesucht, die Dagoberto mir in der allerletzten Minute im Gefängnis von Managua noch mit Bleistift auf eine kleine abgerissene Ecke der Barricada geschrieben hatte. Mit Telefonnummer. Stadtviertel Libertador. Pablo hatte keine Ahnung, wo in Bogotá das sein könnte. Ich fand eine Telefonzelle.

[pic]

Pablo setzte mich an einer Hauptverkehrsader in der Nähe des Zentrums ab. Zentrum von Bogotá, das Hochhaus in der Mitte ist das Edificio Avianca, Mitte rechts Colpatria. Auf dem Berg links die Kirche von Monserrate. Aufnahme J. M. Múnera, 1988.

Eine Frau nahm ab. So, wie sollte ich mich jetzt vorstellen?

- Kennen Sie einen Dagoberto Gallo Ruiz?

- Den costeño? Ja, den kennen wir-

Ich erzählte ihm, dass ich Deutscher sei und mit ihm zusammen in Nicaragua im Abschiebeknast gesessen habe. Ja, sie wusste, dass er in Nicaragua verhaftet worden war. Natürlich war sie brennend daran interessiert, was er mir alles gesagt habe. Und wie es ihm dort ging, ob er gut zu Essen bekam. Sie wollte einen ganzen Roman hören und meinte, als ich ihr sagte, dass ich im Zentrum von Bogotá an einer Telefonzelle stand, dass ich auch zu ihnen kommen und alles erzählen könnte.

- Ja, kann ich, die Adresse hat er mir auch gegeben.

- Dann komm doch einfach mal mit dem Taxi hier vorbei.

- Okay, dann komm ich jetzt gleich vorbei. Para que platicamos.

Para que hablamos, verbesserte sie mich. Jaja, die Wörterbücher waren auch nicht mehr das, was sie mal waren...

Calle 31B Nummer 24-07 Süd, Stadtviertel Libertador. Im Süden also, meinte der Taxifahrer, der im Stadtviertel Libertador lange herumkurvte und die Adresse trotzdem nicht fand. Der Süden war ärmer als der Norden der Stadt, und das barrio Libertador, in dem die Familie wohnte, war zwar kein Elendsviertel, aber es gab auch reichere barrios.

Ich suchte schliesslich zu Fuss weiter und fand das Haus. Die Familie begrüsste mich freudig. Sie hatten eine Schuhmanufaktur, stellten mit sechs oder acht Arbeitern Herrenschuhe her. Der costeño, so nannten sie Dagoberto, weil er von der Küste kam, habe hier nicht gewohnt. Seine Familie wohnte ein paar cuadras weiter. Aber er war ein guter Freund von ihnen und habe auch in der Schuhwerkstatt gearbeitet. Allerdings, so deuteten sie lächelnd an, seine Leistungen bei der Arbeit waren nicht ganz so überzeugend wie seine abendlichen Kneipentouren mit den Söhnen des Hauses...

Gleich am ersten Tag richteten sie mir ein Bett in einem eigenen Zimmer her. Sie zeigten mir ihre Schuhwerkstatt und ich lernte, Schuhe zu machen. Es gab zwei Teilwerkstätten. Verarbeitung des Obermaterials, wo ich arbeitete, und Aufmontierung und Besohlung. Das war schwieriger. Sie begannen, mich Schuster zu nennen, weil ich mit meinen blonden Haaren wie der Fussballer Bernd Schuster aussah. Sie wussten gar nicht, was der Name auf Spanisch bedeutete.

Ich schlief morgens lange aus und arbeitete dafür bis spät in die Nacht, ging oft erst um eins oder zwei ins Bett. Am Anfang protestierten sie noch, aber es hatte einen grossen Vorteil: ich konnte nachts an die Nähmaschinen, die dann frei waren. Oft half ich den Arbeitern oder Arbeiterinnen bei ihren tareas. Tarea war Akkordarbeit. Meine besondere Spezialität war, aus den Lederresten, die beim Schnitt der Schuhmuster abfielen, kleine Taschen zu nähen. Später nähte ich mir auf die Weise auch einen Rucksack zusammen. Bogotá war eine lange Zeit und am Ende konnte ich endlich perfekt Spanisch.

Ich bekam Post aus Deutschland. Zum ersten Mal seit fast einem Jahr erfuhr ich Neues aus Neustadt. Norbert schrieb mir alles, was sich inzwischen ereignet hatte. Manfred war nach Mannheim gegangen und hatte sich mit Norbert überworfen. Matthias machte Abitur in Eutin, Norbert Zivildienst in Neustadt und war mit Marion zusammen, Axels Lehrerin. Es dauerte glatte zwei Monate, bis ich endlich begriffen hatte, wen er meinte, als er mir von Marion geschrieben hatte.

Die Werkstatt fertigte die Herrenschuhe nach eigenen Schnittmustern an, die der Ecuadorianer Jarrín entwarf. Wir nannten uns respektvoll paisano - Landsmann. Zunächst fertigte er die Formmuster (forros) in Karton an, damit sie hinterher von Mario auf Leder aufgehalten und die Lederteile mit selbst angefertigten scharfen Messern, die aus abgebrochenen Sägeblättern hergestellt wurden, ausgeschnitten werden konnten. Diese gingen dann zu Doña Ana und den anderen an die Nähmaschinen, die daraus das Obermaterial der Schuhe zusammennähten. Nachdem sie montiert und mit Sohlen versehen waren, kamen die Schuhe schliesslich in die Schuhgeschäfte im Zentrum von Bogotá in den Verkauf.

Jarrín brauchte, um die Muster entwerfen zu können, lediglich schöne bunte Fotos aus Zeitschriften, möglichst aus Italien und möglichst aktuell. Ich bat Norbert, aus irgendwelchen aktuellen Katalogen die Schuh-Seiten auszuschneiden und uns zu schicken. Wenige Tage später schickte M-K lauter Kataloge von Neckermann - ich war überrascht, wie schnell das ging - und sie waren begeistert. Jarrín konnte etliche Modelle nachmachen.

Hinterher kam raus, dass Norbert in den Dolomiten gewesen war und M-K in Neustadt, wo sie einfach Norberts Briefe geöffnet und so gründlich im Freundeskreis verteilt hatte, dass Norbert sie erst Monate später völlig zufällig zu lesen bekam. Norbert und ich protestierten, aber M-K setzte noch einen drauf und meinte in einem ihrer fünf Briefe, die sie in kurzer Zeit nach Bogotá schickte, das Briefgeheimnis sei von Männern erfunden worden und Frauen würden in dieser Beziehung grundsätzlich anders denken.

Die Briefe ans Forum wollte sie nehmen und versuchen, sie beim Stern oder einer anderen Illustrierten anzubringen. Ich fasste mich an den Kopf und schrieb ihr umgehend zurück. Der Stern konnte meinetwegen Hitler-Tagebücher veröffentlichen, aber nicht meine Briefe ans Forum. Die Stimmung war ziemlich hinüber. Sie erwartete natürlich, dass ich ihr für ihr Engagement Respekt und Dankbarkeit zeigte.

Ich machte für M-K noch ein paar Schuhe, doch ich nahm mir vor, ihr in Zukunft nicht noch einmal meine Adresse zu schreiben. Das Problem war die unterschiedliche Denkweise, die völlig egozentrische Gedankenwelt, die sie einem unweigerlich überstülpte. Ich war losgezogen, um etwas dazuzulernen, mehr vom Leben zu verstehen. Schon bei Torben hatten wir beobachtet, dass er völlig auf seine Mutter fixiert war und sich bei einer mehrwöchigen Trennung von ihr erst langsam daraus löste und seine sehr fragwürdigen Verhaltensweisen ablegte. Kaum war sie wieder da, fiel er zurück in die alten Muster.

Offenbar hatte M-K auf mich einen ähnlichen Einfluss. Ihre Gedankenwelt empfand ich immer mehr als einen Rückschlag in eine vergangene Zeit. Eine in sich abgeschlossene und auch ziemlich gestörte Gedankenwelt, in der neue Ideen keinen Platz hatten. Ihre Denkweise stellte aus irgendeinem Grund eine Gefahr für mich da, und ich nahm mir vor, sie in Zukunft zu vermeiden und am besten ganz zu vergessen.

Bei unserem Vater bestand diese Gefahr nicht. Norbert schrieb mir von einem frustrierenden Gespräch, wo er ihm von mir erzählt hatte. Unser Vater hatte alles andere als begeistert reagiert, hatte sich mit ihm über verschiedene Lebensweisen auseinandergesetzt, wobei er auf keine bessere Idee kam als Norbert vorzuwerfen, er würde die Welt verbessern wollen und die Lebensweise seines Vaters zutiefst ablehnen. Dabei kippte er einen Weinbrand nach dem anderen weg, zum Schluß hab ich ihn sitzen lassen und so sitzt er jetzt auch noch. Ich denke, das Spiel ist jetzt an ihm, entweder er blickts oder eben nicht. Vielleicht braucht er ja nur Zeit.

Norbert hatte lange die Hoffnung behalten, wenigstens unser Vater könnte seine Söhne einmal verstehen oder wenigstens ansatzweise reflektieren, was genau es gewesen sein könnte, das er in seinem Leben falsch gemacht hatte. Doch je mehr Zeit verging, desto weniger war es Norbert möglich, sich mit ihm darüber zu unterhalten.

Hinterher hatten alle in Bogotá, ich eingeschlossen, das Gefühl, ich sei nicht drei Monate, sondern vielleicht ein dreiviertel Jahr dort gewesen. Einmal gab es ein Stadtfest, ein anderes Mal besuchten wir einen Gottesdienst in der Kirche von Monserrate auf dem Berg hoch über der Stadt. Öfter fuhren wir ins Zentrum und gingen spazieren. Oder wir fuhren zu Bekannten nach Fusagasugá, einer Kleinstadt in den Bergen, Heimatstadt von Lucho Herrera, der kolumbianischen Radsport-Legende. An den Bergstrassen standen Schilder, die die Autofahrer darauf hinwiesen, auf Radfahrer zu achten: Respecta al ciclista, puede ser su hijo - nimm Rücksicht auf den Radfahrer, er kann dein Sohn sein. Radfahren war Nationalsport in Kolumbien.

Wenn wir aus dem Haus gingen, und sei es nur um zwei cuadras weiter Nähnadeln zu kaufen, mussten immer zwei Leute zusammen gehen. Nie trauten sie sich, alleine auf die Strasse zu gehen. Wenn jemand zu einem anderen Haus gehen und dort bleiben wollte, mussten zwei Leute zur Begleitung mitgehen, die dann wieder zu zweit zurück gingen.

Ein paarmal besuchten wir auch Dagobertos Mutter und Tochter, die ein paar cuadras weiter entfernt wohnten. Seine Mutter freute sich, etwas von ihrem Sohn zu hören. Dagoberto selber meldete sich nach ein paar Wochen aber auch selbst und wir erfuhren, was er inzwischen erlebt hatte. Eine nette Szene ergab sich mit seiner bildhübschen Schwester, die nachts im Zentrum von Bogotá als Prostituierte arbeitete und erst spät am Vormittag aufstand. Wir klingelten an der Türe, sie bat uns herein, ihre Mutter war nicht da und sie musste noch unter die Dusche. Wir waren zu dritt gekommen, setzten uns in einen netten Raum und warteten. Nach einiger Zeit war sie im Bad fertig und setzte sich zu uns. Während sie sich noch schminkte, fragte sie mich, ob ich mit ihr in ihr Zimmer hochgehen und mit ihr schlafen wollte.

- Wie, jetzt gleich?

- Ja, jetzt gleich, ich muss nachher wieder in die Stadt.

Ich musste lächeln. Sie war Prostitutierte und kannte das Leben so, dass alle Männer mit ihr schlafen wollten, wenn sie es ihnen nur anbot. Wenn sie das nicht wollten, war es nur deswegen, weil der Preis zu hoch war. In diesem Fall bot sie es mir aber ausdrücklich kostenlos an, weil ich ihrem Bruder im Knast Gesellschaft geleistet hatte. Sie sah es als ein freundliches und nett gemeintes Geschenk an mich und verstand überhaupt nicht, warum ich es ablehnte. Ich versuchte, es so freundlich und respektvoll wie möglich zu formulieren. Die beiden Söhne von Doña Empera, die mich begleitet hatten, verstanden es allerdings auch nicht. Auf dem Heimweg sagten sie, sie kannten in ihrer ganzen Bekanntschaft niemanden, der dieses Angebot eben abgelehnt hätte.

Es sprach sich herum wie ein Lauffeuer. Der schuster wollte nicht mit der costeña schlafen. Einige zeigten sogar Respekt. Doña Empera, die Chefin der Schuhwerkstatt und gleichzeitig die Köchin, war die einzige, die meinte, die costeña sei auch wirklich nicht hübsch. Vielleicht sprach daraus auch ein bisschen Neid, weil die morena wirklich ziemlich hübsch war, vielleicht die hübscheste im Bekanntenkreis, wie sich zumindest bis dahin alle einig gewesen waren.

Vielleicht dachte sie aber auch, dass es noch eine andere Schönheit gab. Doña Empera war Zeugin Jehovas und schlief seit einiger Zeit nicht mehr mit ihrem Mann, sondern mit niemandem, weil er dauernd fremdgegangen war. Und er konnte nichts machen. In der Bibel stand nichts von ehelichen Pflichten, sie brauchte nicht mit dem Ehepartner schlafen, sie konnte auch mit gar niemandem schlafen.

In der Schuhwerkstatt lief den ganzen Tag das Radio und so habe ich Bogotá als eine endlose Aneinanderreihung von Salsa- und Merengue-Liedern in Erinnerung. Aguita de coco, para matar la sed... Spanischsprachige Lieder, selbstverständlich - kein einziges Lied war englisch. Das einzige fremdsprachige Lied, das ich in Bogotás Stadtradio Caracol hörte, war Ya mu le ma whel, gesungen in Costeño, der kolumbianischen Küstensprache.

Zu regelmässigen Zeiten gab es tinto. Tinto war echter kolumbianischer Kaffee. Und manchmal gab es auch die Live-Übertragungen der Tour de France oder Fussballspiele. Sehr beeindruckend auch die Radiowerbung, in der ab und zu auch gerne vom Pathos kolumbianischen Nationalgefühls Gebrauch gemacht wurde. Kaum zu glauben, aber Spanisch konnte auch eine sehr schöne Sprache sein.

Con corazón de montaña, sentimientos de llanuras grandiosos, mares de azules inquietos y verde curioso en sus valles - mi Colombia sueña, vive y canta, para que en cada Colombiano viva siempre la esperanza. Aguila Roja, con el sabor de Colombia, es café.

Richtig schön betont, wird jede Freundin schwach. Dass es sich bei dem hinreissenden Text um eine kolumbianische Kaffeewerbung aus dem Radio handelt, braucht ihr ja nicht dazusagen.

Mit einem Herz aus Bergen, Gefühlen von weiten Ebenen, Meere in unruhigem Blau und vielfältigem Grün in seinen Tälern - mein Kolumbien träumt, legt und singt, damit in jedem Kolumbianer immer die Hoffnung lebt. Roter Adler, mit dem Geschmack von Kolumbien, ist Kaffee.

Ich könnte viel von Bogotá schreiben. Selbstverständlich wollten sie am Ende, dass ich blieb, meine eigenen Schuh-tareas machen und vielleicht ein Mädchen aus ihrem Bekanntenkreis heiraten würde. Auch wenn ich anders war als die anderen, ich hatte hohen Respekt, war beliebt, weil ich oft fleissig arbeitete, sie meine Taschen bewunderten und auch die Stimmung oft lustig war. Es la chica de los ojos café, y es mi chica de los ojos café...[72]

Einmal gab es eine kleine Verstimmung mit Mireya, der Tochter von Doña Empera, die knapp über zwanzig war und schon eine sechsjährige Tochter hatte, Yudy. Mireya mochte ich ganz gerne. Aber sie war manchmal ein bisschen streng. Mireya war schwer genervt, wenn ich immer als Letzter aufstand und das Bett nicht machte. Eines Morgens fand ich in meinem Zimmer einen Zettel, auf dem die denkwürdigen Worte standen: ¡Si por lo menos arreglaría esta hijueputa cama este alemán imbécil![73]

Ich wusste nicht, was imbécil hiess und fragte Chato, einen der Söhne des Hauses. Er sprach mit seiner Schwester, dass sie zu weit gegangen war. Fand ich eine nette Geste.

Und meinen Bart sollte ich abrasieren. Besonders Chato und Mireya bestanden darauf. Ich sagte ihnen, das sehe aber nicht gut aus, aber sie meinten, in Kolumbien laufe niemand mit Bart rum, das sei schlechtes Benehmen. Eines Morgens hatte ich tatsächlich meinen Bart abrasiert und sie sahen mich an. Hast recht, sieht scheisse aus, meinten sie einhellig, und ich konnte ihn wieder wachsen lassen.

In einem Brief ans Forum versuchte ich, ein bisschen die Stimmung einzufangen und ihnen ein live übertragenes Fussballspiel im Radio auf Deutsch zu übersetzen. Nicht nur Fernsehübertragungen von Fussballspielen wurden nach US-Vorbild von Werbung unterbrochen, nein, auch die Radioübertragungen. Als kleiner Vorgeschmack davon, was mit der zunehmenden Tendenz der Privatisierung der Medien auch in Deutschland noch alles zu erwarten wäre.

Brief Forum 10 (August 1988)

Bogotá feiert (6.8.1988) vierhundertfünfzig Jahre Geburtstag, und aus diesem Anlass wird Fussball gespielt, heute: Millonarios de Bogotá (etwa so bekannt wie der HSV) gegen die Nationalmannschaft von Uruguay. Wird natürlich live im Radio übertragen, das ist ganz interessant: weil die Sprecher immer so total schnell sprechen, würde einer schon nach zehn Minuten total am Boden liegen, und so machen das immer zwei. Wir schalten uns einmal ein.

Sprecher 1: Ein Ball von der rechten Seite von der Mannschaft von Millonarios, hat ihn über das Mittelfeld gespielt, gibt einen langen Ball Richtung Mitte, - aber da steht keiner, der ihn erreichen kann, nur der letzte Verteidiger von Uruguay. Der spielt erstmal auf Nummer sicher, gibt ihn auf die andere Seite, der Ball wird wieder zurückgespielt-

Sprecher 2: Café de Colombia, alles für Kolumbien, ja, trinken wir einen tinto-

Sprecher 1: Ja, hopp, trinken wir einen tinto-

Sprecher 2: Café de Colombia, mit dem Geschmack unseres Landes, Impuls unseres Fortschritts, trinken wir mehr Kaffee!

Sprecher 1: Sparen lohnt sich in Kolumbien. Sparen Sie mit Llavebanco-

Bank-Typ: Legen Sie ihr Geld gut an. Planen Sie ihre Zukunft gut Llavebanco bietet-Ihnen-die-bestenkonditionenhohesparzinsengünstigekreditbedingungenservicesicherheitStabilität! Llavebanco - die Bank ihres Vertrauens!

Sprecher 2: Angriff auf der rechten Seite von Millonarios, weiter Pass in die Mitte, gut gespielt, ein Spieler von Millonarios auf dem linken Flügel steht frei, wird aber nicht angespielt - Vorsicht, zwei Spieler von Uruguay greifen an, der pájaro[74] Juárez erkämpft sich den Ball wieder zurück, an der linken Seite der Strafraumgrenze, Gefahr für Uruguay, Juárez versucht zu flanken, Schuss, abgewehrt, es gibt einen Eckball, Eckball - von Varta-Batterien - längste Haltungsdauer, viel Energie!

Ton: Dideldideldiii - dm dm!

Sprecher 1: Schuhhandlung Veneta, Schuhe zu berster Qualität und Preisen, Calle[75] sechzig Nummer zehn neunundneunzig, Telefon zweihundertfünfundachtzig dreiundzwanzig einundsechzig, wir sind auch in Medellín und Cali!

Sprecher 2: Ball hoch reingespielt, Kopfabwehr, keine Gefahr für Uruguay, spielt den Ball nochmal zurück, zu Torwart Da Silva, der behält den Ball erstmal in der Hand-

Sprecher 1: Millonarios-Uruguay - zwei zu eins! Das sagt Ihnen: Mustang-Zigaretten - eine Welt voller Aroma!

Sprecher 2: Ja, zünden wir uns eine Mustang-Zigarette an.

Sprecher 1: Ja, gibt her, eine Mustang-Zigarette.

Mustang-Typ: Wir haben Erfolg, an jedem Ort, zu jeder Zeit, weil wir alle Mustang-Zigaretten-rauchen-so-ist-Kolumbien-sosindmustangzigaretten-mitQualitätssiegel- Mustang - Internationale Klasse!

Sprecher 1: Der Ball im Mittelfeld, ein Spieler von Uruguay versucht nach vorne zu spielen, verliert den Ball aber an den Gegner, der spielt auf den linken Flügel, aber wieder ein Fehlpass, Foul von Uruguay, nein Einwurf, entscheidet der Schiedsrichter, Einwurf von - Pepsi! Sensationeller Geschmack! Pepsi, das Getränk der neuen Generation!

Sprecher 2: Café de Colombia - trinken wir mehr Kaffee!

Café-Typ (mit Musik): In den Bergen unseres Landes arbeitet der hombre cafetero[76] mit Kraft, um dem Kaffee besten Geschmack und bestes Aroma zu geben, unserem Kaffee, Café de Colombia... (Musik)... Deswegen: trinken wir mehr Kaffee, geniessen wir mehr das Unsere, Café de Colombia, Impuls unseres Fortschritts!

Sprecher 2: Angriff der Auswahl von Uruguay, kommt über den linken Flügel, weit in der Hälfte des Gastgebers, Pass in die Mitte, einer umspielt, zwei, nein, verliert den Ball, Millonarios kann jetzt kontern, tut das, Ball weit nach vorne gespielt, guter Pass, Chance für Millonarios, vier gegen drei, in halblinker Position, an der Grenze des Sechzehn-Meter-Raums-

Sprecher 1: Bekämpfen Sie Kakerlaken, Läuse und Flöhe mit Cuprex Formel zwei, gibts in jeder Apotheke, das einzige was wirklich hilft, eine Flasche und Ihre Wohnung ist sauber, Cuprex! Cuprex Formel zwei!

Wir geben zurück in die angeschlossenen Funkhäuser. Es kam auch durchaus vor, dass sie mit der ganzen Werbung auch wichtige Tore verpassten. Café de Colombia war einer dieser sechs grossen Multikonzerne, die über alle Branchen die Wirtschaft Kolumbiens kontrollierten.

Hin und wieder gab es Neuigkeiten von Dagoberto. Seine Tour stand meiner in nichts nach. Über Panamá und Costa Rica war er nach Nicaragua gekommen, wo er erwischt und Monate später wieder nach Costa Rica abgeschoben wurde. Ein paar Wochen danach sass er mit einem kubanischen Kumpel im Boot, umschiffte Nicaragua und lag nachts schliesslich irgendwann vor einer Küste, von der sie dachten, es wäre die von Florida. Sprangen ins Wasser und schwammen an Land, und die Leute, die sie empfingen und zur Polizei brachten, waren Schwarze. Und sie sprachen auch nicht Englisch, wie sie dachten, sondern Garífuna - weil sie in Honduras gelandet waren, bei den Schwarzen, die nie Sklaven gewesen sind. Zwei Tage waren sie dort gefangen, die Spur des Kubaners verlor sich.

Irgendwann bekamen wir eine Postkarte aus Guatemala, wo Dagoberto ein paar Mexikaner kennengelernt haben musste, die ihn danach über die Grenze nach Mexico brachten. Den nächsten Anruf bekamen wir aus Monterrey, hundert Kilometer vor Texas, von wo er schliesslich in die USA kam: sein nächster Brief war in Brownsville, Texas, abgestempelt. Er hatte Arbeit, verdiente fünfundzwanzig Dollar am Tag.

Das tollste Erlebnis des ganzen Jahres hatte ich dann eines nachts, als ich um halb eins noch dabei war, Brillenetuis aus Lederresten zu machen und auf einmal das Telefon klingelte. Ich hatte erst gar nicht begriffen, wer da am Telefon war.

- Nein, Chato und die sind schon alle im Bett, die señora auch, ich bin als einziger noch auf.

- Ja, äh, hier ist der costeño.

- Costeño? Dagoberto? Colombia??!

Wir hatten uns ja im Knast mit unseren Ländernamen angeredet.

- Ja, mit wem sprech ich denn?

- Mit Alemania - äh-, hm, wie bringt man das jetzt, du erinnerst dich noch an das Gefängnis in Nicaragua vor vier Monaten?

- Nicaragua? Ja-

- Ich bin Alemania, der mit dir da eine Woche zusammen war!

Und er musste überlegen. Bis heute hatte er ja keine Ahnung, dass ich hier schon drei Monate bei seinen Leuten in Bogotá war.

- Ah, ¡Alemania! ¡¿Cómo estás?!

Salvador hatten sie nach mir auch wieder entlassen, und Niño auch, nach Guatemala. Colombia jetzt in Houston, Texas, und wollte weiter nach New Jersey. Zwei Wochen später meldete er sich nochmal, aus Louisiana.

Norbert schickte mir Landkarten von Südamerika. Nett waren auch die Anrufe von den Leuten vom Forum. Sie hatten sich auf Norberts Initiative zu zehnt getroffen, um in Kolumbien anzurufen. Auch Ilka, Matthias und Jochen waren dabei. Als ich Eckhart fragte, ob ich denn weiter Briefe ans Forum schreiben sollte, war er etwas verwirrt, denn er erinnerte sich nicht mehr daran, was er mir bei meinem Abschied vor einem Jahr im Rackersberg gesagt hatte, meinte aber geistesgegenwärtig: Hä?! Ja- äh- weitermachen!

3. September 1988

Ich hatte ihnen bestimmt zehnmal erklärt, dass ich enorme Schwierigkeiten bekommen würde, wenn ich mein Visum auch nur einen Tag überziehen würde. Sie wollten es natürlich drauf ankommen lassen, dass ich es nicht mehr bis zur Grenze nach Cali schaffen würde, und stattdessen in Bogotá drei Monate verlängern lassen müsste. Womit ich natürlich weitere drei Monate bei ihnen in Bogotá geblieben wäre.

Das war nett gemeint, aber ich wollte trotzdem weiter. Irgendwelche Bekannten von quer gegenüber meinten eine Woche lang jeden Tag, sie würden morgen um vier mit dem Auto nach Ecuador fahren, und so wartete und wartete ich, bis ich wirklich absolut spät dran war und am Ende den Nachtbus nach Cali nehmen musste.

Alex, der jüngste Sohn von Doña Empera, war in Cali verheiratet, mit Maria Elena, die dort eine kleine Boutique in einem Einkaufscenter hatte. Ich besuchte sie am Morgen in ihrem Sportartikelgeschäft und gab ihr eine Nachricht von Alex. Das Mädchen war sehr überrascht und verunsichert, Alex hatte ihr nichts gesagt. Sie hatte tierische Angst, dass ich Alex erzählen würde, dass sie heimlich einen Freund hatte, aber ich konnte sie beruhigen. Warum sollte sie sich nicht dasselbe Recht herausnehmen dürfen wie Alex, wenn er monatelang in Bogotá war? So gerne ich Alex mochte, auf dieser Ebene gab es Grenzen.

Sie riet mir, den Stadtbus zur Uni Valle zu nehmen und von dort aus nach Ecuador loszutrampen. Ich hatte immerhin noch etliche hundert Kilometer schwere Andenstrassen bis Ecuador vor mir. Und nur noch zwei Tage Visum. Ich lief aus der Stadt heraus und sie hatte recht, ich war schnell auf der freien Strecke nach Pasto. Niemand hielt an. Hm. Kolumbien. Gab wahrscheinlich auch hier irgendwelche Guerilla-Gebiete in der Nähe.

Ich trampte nicht grundsätzlich alle Wagen an. Bei manchen Autos hatte ich schon von weitem ein schlechtes Gefühl und Trucks konnten nur schwerlich auf freier Strecke anhalten. Doch heute trampte ich in meiner Verzweiflung auch die Trucks an - und tatsächlich, ein Trucker sah mich, gab mir kurz ein Zeichen, bremste und kam etliche hundert Meter weiter zum Stehen. Ein Sattelschlepper, der in voller Fahrt auf freier Strecke anhielt! Absolut ungewöhnlich, ich konnte mein Glück gar nicht fassen.

Sie waren zu dritt vorne und winkten mich herum, ich sollte mit meinen Sachen auf die Aufladefläche hinter die Kabine springen und mich dort hinsetzen. Also im Kupplungsbereich zwischen Kabine und Hänger. Kaum war ich dort aufgesprungen, fuhren sie weiter.

Ich dachte schon, dort hinten sollte ich bis Pasto mitfahren, vierhundert Kilometer. Aber nach ein paar Kilometern hielten sie an und richteten mir einen Platz im Hänger her. Er war voll beladen mit Kisten, in denen sich Büchsen und Kanister mit Schmieröl befanden. Die vordere Plane liess sich etwas öffnen, sodass ich oben auf die Kisten klettern und vorne heraussehen konnte.

Es war ein sehr schöner Tramp. Im Truck zu sitzen gab schon immer das Gefühl, king of the road zu sein, aber oben auf dem Hänger war ich noch höher und hatte eine absolut prächtige Aussicht. Und Kolumbiens Berge waren wirklich schön.

Santander, Popayan. Die Strasse wurde schwieriger, kurviger, ungeteert. Der Truck kam streckenweise nur sehr langsam voran. Er war den ganzen Tag unterwegs. Die Fahrer wechselten sich ab und leisteten Schwerstarbeit. Sie kamen schon von Cartagena.

In Kolumbien kam es öfter zu Überfällen auf Trucks. Je mehr Personen mitfuhren, desto sicherer waren sie vor solchen Überfällen. Daher hatten sie auf freier Strecke angehalten und mich mitgenommen. Und da ich Ausländer war, hatten sie gleich vermutet, dass ich die Panamericana bis mindestens bis Pasto fahren wollte.

5. September 1988

Nach fünfundzwanzig Stunden Fahrt kamen sie am Vormittag in Pasto an. Pasto lag nur noch gut hundert Kilometer vor der Grenze von Ecuador und es war der letzte Tag, an dem ich noch legal in Kolumbien war. Ein Lkw nahm mich nach Pedregal mit, ein Pick-up bis Ipiales. Aus Ipiales lief ich raus und erreichte zu Fuss nach etlichen Kilometern am Nachmittag des allerletzten Tages die Grenze von Rumichaca.

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Ich bin halt so ein bisschen auf der Suche -

Quichua in Ecuador

Rumichaca war Quichua und hiess Steinbrücke. Ich hatte es geschafft. Der kolumbianische Grenzbeamte lächelte mich an. Noch einen Tag später hätte ich hier nicht erscheinen dürfen. In Ecuador zeigte ich wieder meine fünfhundertvierzig Dollar in Reiseschecks und bekam wieder das Maximum, dreissig Tage Visum. Südamerika war zivilisierter als Mittelamerika.

Und in Ecuador war Frieden, keine Guerilla. Ich merkte es sofort. Ein Truck hielt an, ohne dass ich getrampt hatte, und fuhr mich bis Tulcán. Aus Tulcán lief ich wieder raus und verbrachte meine erste Nacht in Ecuador in Freien.

6. September 1988

Mein heutiges Ziel hiess Ibarra. Aus dieser Stadt kam Jarrín, der in Bogotá die forros entworfen hatte, und der mir einen Brief für seine Familie mitgegeben hatte. Die Andenkordillere bestand hier aus zwei Bergketten, eine westliche und eine östliche, in deren Mitte sich die Städte befanden und wo sich nun über hunderte von Kilometern die Panamericana nach Süden wand. Unter zweitausend Metern Höhe ging sie nicht mehr. Aber ich war die Höhe inzwischen gewohnt, Bogotá lag auch zweitausendsechshundert Meter über dem Meer.

Ibarra erreichte ich am Nachmittag. Jarríns Familie war zunächst nicht da, aber einer, der eine Strasse weiter eine Autowerkstatt hatte, kannte ihn und bot mir an, ein paar Tage bei ihm in Ibarra zu bleiben. Provinz Imbabura. Ecuadors Provinzen waren alle nach den grossen Vulkanen benannt, die sich hoch über den Städten und Dörfern erhoben.

Jarríns Familie freute sich sehr. Sie waren nett, hatten aber sehr viele Kinder, es war kaum Platz in der Wohnung. Ibarra war eine nette alte Kolonialstadt, ein bisschen verschlafen, und ich sammelte ein paar Schnecken für Vollrath in Cismar. Er hatte mir nach Bogotá ein Päckchen geschickt, in der sich lauter Fotokapseln befunden hatten, in die ich nun die Schnecken sammeln konnte.

9. September 1988

Ich lief aus Ibarra raus und nach einiger Zeit hielt ein Wagen an und nahm mich mit nach Otavalo. Otavalo war ein schönes Indianerstädtchen mit viel Kultur. Ecuador hatte sogar Tourismus. Hinter Otavalo hielt wieder ein Truck an und fuhr mich bis Quito. Auf halber Strecke eine kurze Pause an einem kleinen bescheidenen Rastplatz mit Denkmal: wir überquerten den Äquator. Spät am Abend fuhr der Truck nach Quito rein, eine unglaublich grosse Stadt. Sehr gut fühlte ich mich nicht: Quito war eine weitere Millionenstadt, aus der ich wieder rauslaufen würde dürfen. Dennoch, das Panorama der vielen Lichter der Stadt war beeindruckend. Die Strasse zog sich von den Berghängen im Nordwesten her langsam nach unten in die Stadt.

Rauslaufen war ausgeschlossen. Es war schon dunkel, die Läden in der Innenstadt schlossen. Ich fragte einen Ladenbesitzer, der gerade in der Innenstadt seinen Ladeneingang mit einem schweren Rollgitter zuschloss, ob er mich im Vorraum einfach mit einschliessen konnte, damit ich sicher war. Er erlaubte es tatsächlich und ich hatte eine erfreulich ruhige Nacht.

10. September 1988

Ein kurzer Besuch beim Parlament und den Sehenswürdigkeiten der alten Kolonialstadt am Vulkan Pichincha, dann war ich wieder auf dem Weg. Einen halben Tag dauerte es, bis ich die Panamericana wieder aus Quito rausgelaufen war. Natürlich wusste keiner, den ich fragte, wo die Strasse nach Ambato rausging, aber ich war echt gut und fand sie selber, und zwar auf Anhieb, ohne Stadtplan.

Die letzten Kilometer stieg die Strasse ständig bergan und die Lkws hinterliessen einen fürchterlichen Gestank. Ich war froh, als der Verkehr endlich weniger wurde. Ein Wagen nahm mich bis zur Abzweigung der vielbefahrenen Strasse nach Esmeraldas mit und ich lief weiter an der Panamericana entlang.

Esmeraldas lag vierhundert Kilometer weiter an der Küste und war ursprünglich von sechzehn Männern und sechs Frauen aus Guinea gegründet worden, die sich 1553 von einem gesunkenen Sklavenschiff schwimmend an die Küste hatten retten können. Daher gab es schwarze Ecuadorianer.

Das Wetter wurde nicht besser und es fing an zu nieseln. Ich war froh, als ein Pick-up anhielt und mich mitnahm. Nicht nur bis Ambato, wie ich erfreut feststellte, sondern gleich noch eine Stadt weiter, am Vulkan Chimborazo vorbei nach Riobamba. Und weil es schon spät war, lud er mich gleich zum Abendessen ein und ich konnte in seinem Haus die Nacht verbringen. Ecuador war nicht ganz so arm wie die Länder vorher, stellte ich fest.

11. September 1988

Am Morgen lief ich lange aus Riobamba raus und niemand wollte heute anhalten. Ich trampte aber auch nicht, denn gestern war ich fast schon zu weit gekommen. Ich fand das Land zu bezaubernd als dass ich schon so schnell wieder weiter wollte. Die schneebedeckte Silhouette des mächtigen Chimborazo, des mit über sechstausenddreihundert Metern höchsten Berges des Landes, hob sich im Norden prachtvoll gegen den Himmel ab. Fast wie ein persönliches Geschenk, denn alle anderen Berge blieben unter schweren Wolken. Es war kalt und feucht. Ab etwa viertausend Metern lag Schnee.

Vor Riobamba hatte die Strasse eine Hochebene auf dreitausendsechshundert Metern Höhe durchquert, nun lief sie wieder etwas tiefer durch die Talebene eines kleinen Flusses, dessen Wasser viele tausend Kilometer weiter einmal an der Mündung des Amazonas in den Atlantik fliessen würde. Ich ging immer weiter die Strasse entlang und trampte absichtlich nicht. Ich fragte mich, wann der erste Wagen freiwillig anhalten würde. Aber es war sehr wenig Verkehr, nur ein paar Busse.

Leider hielt sich das Wetter wie gestern wieder nicht und es begann von Zeit zu Zeit zu regnen. Eigentlich schade. Am Mittag bekam ich kaum mit, dass ich schon in Cajabamba war. Drei Kinder sprachen mich an, als ich fast schon aus dem Ort wieder rausgelaufen war.

- Wo willst denn du hin?

- Wohin? Naja, halt die Strasse hier weiter, diese Richtung, Cuenca.

- Was, nach Cuenca? Zu Fuss willst du dahin?

- Ja, zu Fuss, klar.

- Mann, das geht nicht, du kannst nicht zu Fuss nach Cuenca gehn, das ist ja total weit, das ist ja - lejote[77]!

Ich sollte lieber den Bus nehmen, meinten sie.

- Ja, Mann, klar ist das weit, das sind ja noch fast zweihundert Kilometer, aber was hab ich denn davon, wenn ich den Bus nehm?

Dann würde ich mir in Cuenca ein Eis kaufen und wieder aus der Stadt rauslaufen können, in Cuenca erwartete mich doch nichts.

- Aus Alemania bist du?

Sie wussten, dass das in Europa lag.

- Wieso bist du denn von zuhause weg?

- Ich bin doch nicht weg.

Heute war ich hier zuhause, genau hier auf der Carretera Panamericana.

- Du musst nach Guayaquil, und von dort nach Quito, und von dort mit dem Flugzeug nach Alemania.

Na, also da wusste ich wirklich was Besseres. Auf dem nächsten altiplano[78] holten mich die Regenwolken fast ein, aber ich war wieder schneller. Danach gaben sie es auf. Bald würde es sechs werden, vielleicht würde ja wieder wie gestern einer anhalten und mich bei sich im Haus schlafen lassen. Dass es in der Nacht trocken blieb, glaubte ich nicht im Ernst.

Colta erreichte ich am Nachmittag. Es waren nur wenige Häuser an der Strasse. Ein Lkw hielt hinter Colta an und nahm mich mit. Leider einer meiner kürzesten Tramps seit Virginia, denn er bog nach vierhundert Metern die grosse Strasse nach Westen ab, um nach Guayaquil zu fahren. Guayaquil war die zweite Millionenstadt in Ecuador. Nein, das musste nicht sein. Ich fand die Anden so schön und das Wetter hielt sich. Zumindest noch. Es war schön, an dieser Strasse entlangzulaufen.

Die Strasse folgte einem kleinen Tal, ein Bach kam dazu, immer wieder ein paar Häuser, das fruchtbare Vulkanland war hier überall bewirtschaftet.

Ja, - der hielt an. Sie waren zu viert. Geschlossener Pick-up.

- Wo willst du hin?

- Auch die Richtung, weiter-

- Wohin? Alausí?

- Ja, wos halt hingeht, Cuenca. Und ihr?

- Was? Nach Cuenca?! Wir fahren nur ein Stückchen. Wenn du nach Cuenca willst, musst du den Bus nehmen, den von Patria. Cuenca ist weit.

- Heute werde ich nicht mehr nach Cuenca kommen, das ist klar. Aber wenn ihr mich n Stückchen mitnehmt, das wär doch gut!

- Cuenca, das ist weit. Nein, das beste ist, du wartest auf den von Patria, der kommt hier vorbei, der ist viel schneller.

Hm.

- Ja, ist okay.

Ich liess sie wieder davonfahren. Es war das erste Mal, dass ich mir einen Tramp entgehen liess. Und ich fühlte mich total gut dabei. Dann lieber zu Fuss. Sie hatten es gar nicht verdient, in meinem Tagebuch als Tramp zweihundertundsieben zu erscheinen.

Ich lief weiter, und das Wetter hielt sich mühevoll zurück. Grüne Täler, hohe Berghänge. Ecuador war ein sehr freundliches Land. Es tat gut, durch ein Land zu kommen, in dem ausnahmsweise einmal kein Bürgerkrieg war. Vielleicht sollte ich nicht mehr sagen Cuenca, wenn sie mich fragten, wo ich hinwollte. Andererseits, warum fragten sie es überhaupt?

Die Erde war ganz dunkel, fruchtbarer Vulkanboden. Ich war mitten in Ecuador. Die Hälfte des Landes hatte ich schon auf meinem Weg nach Süden durchquert.

Und dann hielt ein Bus neben mir an. Die Busse waren hier alle ein bisschen kleiner als in Europa. Sahen ganz lustig aus.

- Wo willst denn du hin?

- Na, da lang halt-

- Hopp, steig ein!

Na, wenn ers mir schon anbot.

Der Bus fuhr ein paar Kilometer das Tal entlang. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Es war ein Dorfbus, kein Überlandbus. Hinter den verschwitzten Fensterscheiben sassen vielleicht acht oder zehn Einheimische, die sich interessiert mit mir unterhielten. Irgendeiner musste den Fahrer angewiesen haben anzuhalten. Ich war zunächst ein wenig misstrauisch, wie immer, aber es waren nette Leute vom Land, Indianer. Sie unterhielten sich untereinander in Quichua. Sie waren beeindruckt als ich sagte, ich war heute früh von Riobamba losgewandert.

Der hier ist nett, meinten drei oder vier, die auf den vorderen Sitzen sassen und zu einem vielleicht vierzigjährigen kleinen, hageren Mann in der dritten Reihe zeigten, der hat dir die Fahrt spendiert.

Oh, das war wirklich nett, ich bedankte mich bei ihm. Muchas gracias. Schade, dass ich nicht wusste, was danke auf Quichua hiess. Kein Problem, wehrte er bescheiden ab. Nach fünf Kilometern hielt der Bus wieder an und er stieg aus. Er fragte mich, ob ich mit aussteigen wollte. Ich blickte fragend in die Runde. Die anderen drei oder vier aus den vorderen Reihen, mit denen ich mich bis dahin angeregt unterhalten hatte, lächelten.

- Ja, der ist nett, mit dem kannst du ruhig mitgehen, der ist wirklich nett, du musst keine Angst haben! Mach das, schnell, steig mit ihm aus, dem kannst du vertrauen!

Okay, ich nahm meinen Rucksack und stieg mit aus. Der kleine Bus fuhr davon.

Eigentlich war es nur ein einzelnes Haus. Auf einer alten, verlassenen Bahnstation stand ein Ortsschild: Mancheno. Die Angabe, wieviele Meter über dem Meresspiegel, war verblichen.

- Ruh dich erstmal aus, du musst müde sein, wenn du schon von Riobamba gelaufen kommst. Du kannst hier gerne ein paar Tage bleiben. Das Wetter ist viel zu schlecht zum Weitergehen. Warte ein paar Tage oder eine Woche, bis das Wetter besser ist, und dann kannst du weiter.

Aus den paar Tagen sollten über zwei Monate werden. Manuel Naula lebte mit seiner Frau und vier Kindern in dem grossen Haus an der Strasse. Er war Lehrer im Dorf, das ein paar Kilometer weiter in Richtung der östlichen Andenkette lag.

Die Leute aus dem Dorf versuchten einmal, mir ein bisschen über Manuel aus einer leicht anderen Perspektive zu erzählen, ein Hauch von Dorftratsch.

Manuel hatte es von seinen drei Brüdern am wenigsten weit gebracht, er war nur Dorflehrer. Und dass seine zwei ältesten Töchter nicht von ihm sein konnten, weil sie so gross und hellhäutig waren, gab auch Anlass zu Spekulationen, vor über zehn Jahren waren nordamerikanische Missionare im Dorf gewesen. Doch Manuel schien es nicht weiter zu kümmern, wenn so über ihn gesprochen wurde. Vielleicht hatte er es nicht nötig? Fast schien es, das Geschwätz machte ihn sogar ein wenig stolz. Er stellte mich seinem Vater vor. Der über achtzig Jahre alte Mann lebte in einem einfachen Haus und war heute ein angesehener Herr.

Das war nicht immer so gewesen. Sie erzählten mir ihre Geschichte. Und ich stellte bald fest, diese Geschichte war ganz nebenbei Teil der Geschichte dieses Landes.

Ecuador.

Denn der alte Herr Naula war einer der ersten im Dorf gewesen, der, damals, vor über dreissig Jahren, als die ersten evangelischen Missionare aus Nordamerika hier angekommen waren, den protestantischen Glauben angenommen hatte. Bis dahin war das ganze Dorf katholisch gewesen und die sonntäglichen Gottesdienste waren streng in Spanisch abgehalten worden - einer Sprache, die hier damals niemand verstand. Die Missionare hatten ihnen zum ersten Mal eine Bibel gezeigt, die in Quichua geschrieben war, und fingen an, den Bauern von einem Jesús von Nazaré zu erzählen. Geschichten einfacher Leute mit Eseln und Schafen, aus dem Leben gegriffen. Die Indianer waren beeindruckt.

Aber die katholische Kirche sah ihre Felle davonschwimmen und reagierte schnell und sehr direkt. Der Bischof stachelte die gesamte Dorfbevölkerung gegen die Missionare auf, und nur mit Glück schafften es die Amerikaner, aus dem Dorf zu fliehen und der Lynchjustiz zu entgehen. Viele andere evangelische Missionare mussten damals für ihren Mut mit dem Leben bezahlen.

Manuels Vater war der einzige, der sich nicht beeindrucken liess, und stellte sich heimlich gegen das Dorf. Autodidaktisch brachte er sich Lesen und Schreiben bei. Heimlich lasen sie die Bibel in Quichua, die ihnen die Amerikaner dagelassen hatten. Sie stellten fest, sie mussten noch viel besser Lesen lernen, wenn sie im Leben weiterkommen wollten, und dass der Schlüssel zu einem besseren Leben in der Bildung lag. Ihnen war in diesen Jahren überhaupt nicht klar, dass sie als Indianer gar keine Möglichkeit zu einer höheren Bildung hatten. Sie waren der Meinung, sie hatten die bestehenden Möglichkeiten zu einer Ausbildung bisher einfach nur nie wahrgenommen, weil sie sich nie dafür interessiert hatten. In dieser Einschätzung sollte Herr Naula sich täuschen.

Er fasste den festen Willen, dass alle seine vier Söhne in die Schule gehen sollten. Alles Geld, das er verdiente, investierte er in die Schulausbildung seiner Söhne. Er arbeitete härter als alle anderen im Dorf und blieb dennoch immer ein armer Mann. Niemand im Dorf verstand diesen ungewöhnlichen Familienvater, der längst hätte reich sein können, der sich aber mit den Jahren immer mehr in seiner ungewöhnlichen Ausbildungsidee aufzureiben schien.

Als sie die Grundschule absolviert hatten, schickte er seine Söhne in die Sekundarschule. Guamote, die nächste Kleinstadt, war weit. Die Indianerkinder mussten täglich zwei Stunden mit dem Pferd hin und zwei Stunden wieder zurück. Bei jedem Wetter. Ein paar Jahrzehnte später wären die Töchter auch mit dabei gewesen... aber so weit war Ecuador in dieser Zeit noch nicht. Ecuador fing viel kleiner an. Herr Naula konnte sich nicht vorstellen, wie winzig klein Ecuador in diesen Jahren anfing.

Er bekam es bald zu spüren. Die katholische Kirche, aus deren Griff sich das Land langsam lösen musste, hatte absolut kein Interesse daran, dass Indianer lesen, rechnen oder gar schreiben konnten.

Naulas erzählten mir ein wenig davon, gegen was für schier undurchdringliche Wände von Vorurteilen ihr Vater sich immer wieder in zäher und geduldiger Manier durchsetzen musste, wenn seine Söhne sich auch nur zu einer Prüfung oder eine Klasse weiter auf die nächsthöhere Schule anmelden wollten. Es war alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass höhere Schulen Indianer aufnahmen, wenn sie nicht vom Staat dazu gezwungen wurden. Im Gegenteil. Jede Bildungsinstitution bangte um ihren Ruf, wenn sie Indianerkinder aufnahm und versuchte eine Zulassung von Indianern mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern. Jeder kleine Schritt musste erkämpft werden. Nichts gab es geschenkt. Doch Vater Naula gab nicht auf und gewann einen aufreibenden Streitfall nach dem anderen.

Und seine Mühe hatte sich am Ende gelohnt: sein ältester Sohn Juan war der erste Indianer des ganzen Landes, der an der Universität von Quito ein Studium erfolgreich abschloss. Dr. Juan Naula, heute Arzt in Quito, war der erste indianische Medizinabsolvent an dieser Universität. Die übrigens 1586 gegründet worden war, seit 1693 hatte sie eine medizinische Fakultät.

Nun zollten auch die Dorfbewohner stillen Respekt vor dem Vater der Familie Naula, auch wenn viele nie verstanden, wie sich ein Mann nur das ganze Leben so aufreiben konnte. Andere im Dorf konvertierten zum evangelischen Glauben und wandten sich von der katholischen Kirche ab, auch wenn diese nun ihrerseits begann, Gottesdienste in Quichua abzuhalten.

Manuel war in einer Familie grossgeworden, über die im Dorf immer abschätzig gespochen worden war, und die es dennoch weiter gebracht hatte als alle anderen. Es war Teil des Stolzes dieser Familie, dass die Dorfgemeinschaft über sie tratschte.

Nur noch Manuels beide Schwestern lebten im Dorf, die drei Brüder schon lange nicht mehr. José, ein anderer Bruder, arbeitete in Quito bei Radio HCJB[79], dem christlichen Radiosender, ein dritter Bruder spezialisierte sich gerade in Chirurgie in Argentinien. Neben seinem Beruf als Dorfschullehrer hatte Manuel auch ein paar Tiere und Felder. Lehrer verdienten in Ecuador nicht viel Geld und arbeiteten nachmittags in der Landwirtschaft.

Sie gingen in die Felder, aber es regnete zu stark und sie wollten mir die Feldarbeit nicht zumuten. Leute wie ich würden ausserdem nicht im Feld arbeiten, das sei zu hart. Die Kinder gingen in die Schule, die Eltern in die verregneten Felder und ich blieb alleine zuhause und durfte auf das Haus aufpassen. Auf die Dauer war das ein wenig langweilig. Ich nahm mir vor, ihre Sprache zu lernen.

- Habt ihr Lehrbücher für Quichua?

- Nein-

Auch heute noch war Ecuador Ländern wie Mexico weit zurück. Schulunterricht gab es grundsätzlich nur in Spanisch. Die Kinder zeigten mir ihre Schulbücher. Überall blonde hellhäutige Kinder, kein Wort davon, dass es überhaupt Indianersprachen gab. Die in Spanisch-Amerika auch selten genug als Sprachen, idiomas, bezeichnet wurden, sondern abschätzig als dialectos, Dialekte.

- Auch kein Wörterbuch?

- Mein Bruder José in Quito hat welche, im Büro von Radio HCJB, aber hier haben wir nichts. Wir können ja alle Quichua, wozu bräuchten wir dann ein Wörterbuch?

- Habt ihr hier irgendein Buch in Quichua? Irgendetwas Schriftliches?

- Wir haben nur die Bibel... und auch nur das Neue Testament-

- Die Bibel ist euer einziges Buch, das ihr in Quichua habt? Äh - Moment, habt ihr die auch in Spanisch?

- Ja, warum?

- Was, und das fragt ihr noch?!

Ich entschied mich nach kurzem Durchblättern für das Johannes-Evangelium Kapitel 4: 5-42, die Sätze waren praktischerweise durchnumeriert und die Sprache einfach. Jesus von Nazareth unterhielt sich mit einer Frau an einem Brunnen und bat sie um Wasser. Es begann eine Diskussion, zunächst darüber, ob ein Israeli wie er und eine Palästinenserin aus Samaria wie sie sich überhaupt miteinander unterhielten.

Vers 7 Satz 2. - P'ichilla yacuta cuhuai - nircami. Wasser: yacu. Geben: cuna. P'ichilla musste wenig und nircami musste sagte er heissen. -rca- musste für Vergangenheit stehen. Dann war -ta ganz einfach der Akkusativ. Zwei Wochen später und ich konnte den Rest.

Die Sprache der Inkas war so erfolgreich, weil sie so logisch aufgebaut und leicht zu lernen war.

Quichua hiess es in Ecuador und Kolumbien, wo die Inkasprache etwas weicher ausgesprochen wurde, Quechua oder Kechua in Peru. In Quito lernte ich später Leute kennen, die die Bibel in Indianersprachen übersetzten und die mir erklärten, dass es in fast jeder Provinz in Ecuador einen eigenen Quichua-Dialekt gab. Ich erfuhr, dass ich Quichua aus der Provinz Chimborazo gelernt hatte. Es unterschied sich vom peruanischen Kechua etwas weniger als Bayrisch und Norddeutsch.

Kechua. Niemand wusste genau, woher die Indianer des kleinen Volkes der Inkas ursprünglich kamen, bevor sie auszogen und die Anden eroberten. Vielleicht aus einer Küstenregion in Nord-Peru. Nach 1400 begannen sie, das peruanische Hochland einzunehmen und breiteten sich immer mehr aus, bis sie in nur hundert Jahren die Völker fast der gesamten Anden von Kolumbien bis Argentinien und Chile unterworfen hatten. Die Wurzeln ihrer Sprache lagen im Dunkeln. Aber sie setzten ein sehr effektives Verwaltungssystem ein und bestimmten in allen Gebieten Kechua zur einzig gültigen Verwaltungs- und Verkehrssprache.

Mit bis heute sichtbarem Erfolg. Viele Völker des Inkareiches hatten innerhalb von nur hundert Jahren ihre eigenen, oft sehr komplizierten Sprachen aufgegeben und sich das effektivere und einfachere Kechua angeeignet, das bis 1532 Verwaltungssprache blieb. Seitdem war Spanisch Verwaltungssprache, doch Kechua sprachen zwanzig Millionen Menschen in den Anden bis heute, von Kolumbien bis Argentinien.

Es dauerte also knapp zwei Wochen, bis ich das System begriffen und mir die Vokabeln zusammengesammelt hatte. Sie waren überrascht, dass ich mich mit ihnen auf einmal in ihrer Sprache unterhalten konnte. Und irgendwann hörte es auch auf zu regnen.

Sie diskutierten vorsichtig, ob ich nicht doch mit ihnen in die Felder gehen könnte. Zunächst unter dem Kompromiss, dass ich nur zusehen brauchte. Sie droschen Gerste, indem sie auf einem Berg in einem Kreis Pferde über die Gerste laufen liessen. Die ganze Familie nahm daran teil.

Es gab viel zu tun. Stroh und Korn trennen und das Stroh auf Haufen packen, Pferde anleiten, Pferdeäpfel schnell wegsammeln, neues Getreide heranschaffen. Und die kleinen Schweine davonjagen, wenn sie wieder beim Stroh waren, an das sie nicht gehen sollten. Es war nicht schwer, zunächst den Kindern bei ihren Arbeiten zu helfen. Die Kinder waren begeistert, wie viel ich ihnen abnehmen konnte, und die Erwachsenen konnten nichts dagegen sagen. Irgendwann wurde es ihnen dann zu dumm und sie liessen mich auch bei den schwierigeren Arbeiten helfen.

Damit war der Durchbruch geschafft und sie waren nicht mehr schüchtern, was ihre Feldarbeit anging. Die Arbeit war nicht immer hart, manchmal war sie einfach nur zeitraubend. Zeit, die die Töchter der Familie besser mit Schularbeiten verbringen könnten. Ecuador war inzwischen noch weiter gewachsen, auch Indianermädchen gingen heute zur Schule.

Die Schweine sollten die abgeernteten Gerstefelder nach Wurzeln durchstöbern. Aber die intelligenten Tiere wussten genau, wann sie mal wieder ausreissen konnten und niemand sie beobachten würde. Ein mieser Job, den ganzen Tag auf die Schweine aufzupassen, die Viecher waren echt schlau.

Wie die Kuh hiess, fragte ich Elena, die wie jeden Morgen die grosse schwarz-weiss gefleckte Kuh melkte. Die Familie hatte drei Milchkühe. Und drei Kälber.

Yanavaca kannst du zu der sagen, schwarze Kuh, weil wir geben den Kühen keine Namen, meinte sie und brachte mir tatsächlich bei, die Kuh zu melken. Nach dem Melken wurde das Kalb wieder zur Kuh gelassen und konnte den Rest der Milch aussaugen. Damit die Kuh lange Milch gab. Ganz schön gemein, das arme Kalb die ganze Zeit nicht an den dicken Euter zu lassen. Einmal hatte sich das Kalb nachts losgerissen und die ganze Kuhmilch ausgetrunken. Tja, so konnte es auch gehen.

Nachdem das Gerstefeld abgeerntet war und die Schweine es nach Wurzeln durchwühlt hatten, musste es gepflügt werden. Zunächst machte das Manuels Vater, aber es war sehr anstrengend für den alten Mann. Ich nervte ihn solange, bis er mir beibrachte, wie es ging.

Es war wirklich anstrengend. Zwei Stiere wurden vor einen Pflug gespannt, der von einer Person gehalten werden musste, die dann hinter den Stieren herlief und die Furchen zog. Ich hatte anfangs ein bisschen Respekt vor den Stieren mit den langen Hörnern. Stiere waren stärker als Ochsen oder Kühe, erklärten sie mir, aber sie seien friedlich. Die Stiere verstanden Quichua. Sie wussten genau, was sie zu tun hatten, arbeiteten aber nicht freiwillig, wie ich schnell bemerkte. Ständig musste ihnen das Kommando ri für weitergehen oder tigra für umdrehen zugerufen werden. Dazu hatte ich eine Lederpeitsche in der Hand, vor der die Tiere grossen Respekt zu haben schienen. Meistens reichte es, die Peitsche auf den Boden zu knallen. Nur hin und wieder, wenn sie gar nicht wollten, wurde auch auf die Stiere gepeitscht. Es tat ihnen nicht weh, aber sie spürten es. Es dauerte lange, bis das Feld durchgepflügt war, aber man konnte sich bei dieser Arbeit richtig schön austoben. Am Ende war ich viel fertiger als die Stiere.

Juan kam mit seiner Familie fast jedes Wochenende in seinem kleinen grünen Auto aus Quito und besuchte Manuel. Dabei nahmen sie sich flaschenweise frisches Wasser und vor allem frische Milch mit. In Quito gab es keine frische Milch zu kaufen. Genauer gesagt, keine Kuhmilch, denn die Lebensmittelkonzerne pantschten Mehl und alles mögliche zusammen und verkauften es in den Supermärkten als Milch.

Ende September blieb ich eine Woche bei Juans Familie in Quito. Ich musste mein Visum um weitere dreissig Tage verlängern. Juan kam extra mit zum Amt. Und eine Hochzeit wurde gefeiert, in der Familie, Indianerhochzeit auf Quichua, mitten in Quito. Ich lernte den Radiosender HCJB kennen, der nicht nur in Englisch und Spanisch, sondern auch in Quichua, Deutsch, Portugiesisch und Japanisch sendete. José Naula arbeitete in der Abteilung Quichua. Sie sendeten über die ganzen Anden und wurden bis nach Bolivien verstanden.

Sie stellten mich auch der deutschen Abteilung vor, wo ich mich mit Rüdiger Klaue unterhielt, der schon lange im Missionsdienst tätig war. Eine alte Frau ging durch den Garten und er machte mich mit ihr bekannt. Ich gab ihr die Hand und wechselte mit ihr ein paar freundliche Worte. Als wir weitergingen erklärte er mir, wer diese Frau war. Ich wusste es aber selber schon, denn sie hatten mir ihre Geschichte schon in der Abteilung Quichua erzählt. Sie war eine der sechs Ehefrauen, deren Männer, nordamerikanische Missionare, vor dreissig Jahren im ecuadorianischen Amazonastiefland von Indianern umgebracht worden waren, weil sie irgendeinen kleinen Verhaltensfehler begangen hatten, das zu einem Missverständnis geführt hatte. Die sechs Frauen gingen hin, setzten die Arbeit ihrer Männer fort und wurden später hochgeehrte Persönlichkeiten. Später verteidigten sie die Indianer auch gegen die Erdölkonzerne.

Rüdiger Klaue wusste nicht recht, was er von mir halten sollte, und versuchte sich mit Fragen vorzutasten. Leider waren es dieselben Fragen, die ich mir selbst stellte.

- So, von Nordamerika zu Fuss, da musst du ja ne Menge unterwegs gesehen haben. Und bis wo willst du hin? Feuerland?

- Feuerland? Weiss nicht, vielleicht, mich müssen sie nicht fragen-

Dann versuchte er es mit der Frage, was ich studiert hätte, was ihm wenig half.

- Und wann gehts wieder zurück?

Ich hatte keine Lust, so zu antworten, wie ich es in diesem Kontinent gewohnt war. Ich war strenger mit ihm als mit den Leuten von der Strasse. Vielleicht lag das in der Natur der Sache. Auch Jesus von Nazareth war mit den Leuten, die sich hauptberuflich mit Religion beschäftigten, strenger als mit anderen gewesen.

In Wien geboren, in Deutschland aufgewachsen, Bibelschulen und Gemeindearbeit, war Rüdiger Klaue nach 1968 jahrelang in Paraguay, Brasilien und schliesslich, seit 1982, in Ecuador in der Missionsarbeit tätig. Vielleicht erwartete ich zu viel von ihm, wenn ich glaubte, Gott habe seine Leute zwar überall, aber einige müssten Gott näherstehen als andere und Gott könnte mir durch sie etwas sagen, wohin mich mein Weg führen würde und welches meine Fragen seien. Ich wusste ja noch nicht einmal, wie meine Fragen lauteten, die ich an das Leben stellte. Doch das Gespräch mit ihm driftete ziemlich schnell ab.

- Und wovon lebst du? Von Leuten, die dich einladen-

Eine fast schon als Vorwurf gedachte Feststellung. Gerade die Familie, bei der ich jetzt sei, würden zum Beispiel selber kaum über die Runden kommen.

Prompt entgegnete ich, dass Naulas alles andere als die ärmste Familie in Ecuador seien, Manuel war Lehrer, Juan Arzt, hatte sogar ein Auto, und das Land, das sie pflügten, gehörte ihnen selbst. Aber ich fing es falsch an, und auch er merkte, dass seine Bemerkung unglücklich war.

- Naja, ich mein nur, weil wir haben hier öfter Leute hier, die das so ähnlich machen wie du. Und hinterher kommen sie nach Deutschland zurück und geben an, wie billig sie durch Südamerika gekommen sind.

Sie luden mich ein, meinte ich zu ihm.

- Ja, das ist aber hier so Brauch-

Das dürfe man aber nicht ausnützen, die meinten das nicht ehrlich, wenn sie mich aufforderten, bei ihnen zu bleiben, war sein Unterton.

Ich musste fast den Kopf schütteln. Manuel Naula war nicht irgendwer, und er konnte es wirklich selbst entscheiden, ob er mich einladen wollte oder nicht. Nein, so sensibel war ich schon, dass ich das unterscheiden konnte. Ausserdem arbeitete ich in den Feldern mit und half ihnen, ihre Äcker zu pflügen.

Einmal hatte ich Manuel angeboten, dass ich ihm ein paar Dollar geben könnte. Ecuador war phänomenal: die Kaufkraft westlicher Währungen betrug hier etwa das Zwanzigfache wie in den Industrieländern, oder noch mehr. Zwanzig Dollar waren hier gleich vierhundert Mark. Wenn die Missionare von den Organisationen hier nach westlichen Massstäben bezahlt wurden, mussten sie unheimlich reich sein. Manuel hatte mein Angebot sofort abgelehnt, was ich auch gut verstehen konnte.

Denn es gab noch eine Komponente, die Rüdiger Klaue offenbar kaum einschätzen konnte. Als Missionar protestantischer Religion hätte er das aber ganz genau wissen können.

Denn es gab durchaus etwas, das die katholische Kirche in Südamerika richtig gemacht hatte, und wo die Methoden der Protestanten zweifelhaft waren. Die Katholiken liessen den Indianern ihre kulturelle Identität, ihre Götter, ihre Feste. Sie hatten lediglich die Namen ausgetauscht. Die alten Götter hatten neue Namen bekommen, Namen irgendwelcher Heiliger der katholischen Kirche. Den Inhalt der Bibel erklärten sie den Indianern nicht, entweder weil sie selbst gar nicht wussten, was dort drin stand, oder - was wahrscheinlicher war - weil sie sich vor den Konsequenzen fürchteten, den Indianern Bildung im Allgemeinen oder den Inhalt der Bibel im Besonderen näherzubringen. Die Indianer behielten ihre Wertvorstellungen, ihre kulturellen Eigenständigkeit, ihren Stolz und ihre Würde.

Die Protestanten hatten einen viel dogmatischeren Ansatz, wenn sie missionierten. Sie, die Weissen, die grösstenteils aus den überaus christlichen USA kamen, erklärten den Indianern zu allererst, dass sie Sünder seien und Gott erstmal um gnädigste Vergebung zu bitten hätten. Einen besseren Weg, das Selbstbewusstsein ganzer Völker zu ruinieren, konnte es kaum geben. Als nächstes wurden sämtliche heidnischen Bräuche, Sitten, Feste und Spiele als unchristlich gebrandmarkt und die missionierten Indianer wurden gezwungen, einen Grossteil ihrer Identität aufzugeben.

Schlimmer waren übrigens die Mormonen. Ihr Buch Mormon[80] war in den USA zu einer Zeit entstanden, in der es unter den Weissen Mode war, die dortigen Indianer als eine aussterbende Rasse abzuqualifizieren, die gottgewollt über kurz oder lang verdrängt werden würde. Genau dieser Gedanke findet in den heiligen Schriften von Joseph Smith wieder.

Rüdiger Klaue wurde offenbar nach westlichen Standards bezahlt. In der Missionsarbeit war das praktisch, es unterstrich bei den einfachen Leuten sicherlich seine Autorität. Aber er konnte nicht nach El Paraje, Mexico, fahren und glaubhaft behaupten, er sei ein armer gringo. Denn dort war es wirklich so gewesen, dass die Leute, die mich zwei Wochen in ihr Dorf eingeladen hatten, selber kaum etwas zu Essen hatten. Ich hatte den Stolz und die Würde in den Augen der Menschen gesehen, und wieviel es ihnen bedeutete, einen gringo aus den reichen Ländern im Norden einzuladen und mit ihm ihr Essen und ihre Gemeinschaft zu teilen. Die Menschen waren immer nur so arm, wie sie sich fühlten.

Dass derjenige, der eine Einladung annahm, dadurch auch gleichzeitig den Menschen, die ihn einluden, eine Menge geben konnte, was mit Selbstbewusstsein und Würde zu tun hatte, sah Rüdiger Klaue nicht. Was er von Jesus von Nazareth gesagt hätte? Auch der hatte sich oft genug einladen lassen. Und reicher als hier waren seine Gastgeber oft auch nicht gewesen.

Ich bin halt so ein bisschen auf der Suche, versuchte ich das Gespräch noch einmal in eine andere Richtung zu lenken. Und nun traute er sich, ein Urteil abzugeben.

- Das bringt Sie nicht weiter. Sie werden es nicht finden, was sie suchen. Sie können hingehn wohin Sie wollen, Sie werden es nicht finden. Da können Sie bis ans Ende der Welt gehen.

Na, da sprach er aber stark gegen seinen eigenen geistlichen Vorsitzenden, sucht und ihr werdet finden. Sonst nahm er doch die Geschichten, die von Jesus von Nazareth überliefert waren, auch unkritisiert hin. Der Typ soll doch ner ganzen Reihe von Leuten gesagt haben, sie sollten losgehen und sich auf den Weg machen. Auf einen Weg, im wörtlichen Sinn, nicht im übertragenen Sinn, das waren ja kleine Gleichnisse. Da war oft ganz klar auch eine geographische Komponente dabei.

Schade, anstatt etwas über meinen Weg zu erfahren, hatte ich hier etwas über christliche Missionsarbeit gelernt.

Eines Nachts wachte ich auf und hatte mal wieder von Viktoria geträumt. Sie hatte zu mir gesagt, schreib mir einen Brief. Aber die Traumwelt unterschied sich von der Realität. Ich schrieb ihr keinen Brief. Ich schrieb einen Brief ans Forum und verglich meine Situation ein bisschen mit der Thematik aus Per Anhalter durch die Galaxis. Dort wurde nach der letzten aller Fragen gesucht, deren Anwort am Ende schlicht und einfach zweiundvierzig lautete. Danach hatten sie festgestellt, dass sie eigentlich nach der genauen Formulierung der Frage hätten suchen sollen. Ich war auf der Suche. Aber nach was? Was suchte ich?

Spannung, Abenteuer und echt fetzige Sachen[81] ja ganz offenbar nicht. Zeit sicherlich auch nicht.

"Die Zeit ist eine Illusion. Die Mittagszeit erst recht."[82]

Vielleicht werd ichs ja nie rauskriegen.

"Ach weisst du, es gibt Schlimmeres. Ich hab mal von einem Planeten gehört, draussen in der siebten Dimension, der wurde in einem interplanetaren Billiardspiel als Kugel benutzt und fiel genau in eins der schwarzen Löcher. Fazit: Zehn Milliarden Tote."

"Das ist ja schrecklich. Einfach grauenvoll."

"Ja, und dann brachte es nur dreissig Punkte."[83]

...

"Hm, wo hastn das her?"

"Habs gelesen."

"Gelesen? Wo gelesen?"

"In einem Buch."

"In was für einem Buch?"

"Per Anhalter durch die Galaxis."

"Ach, in dem..."[84]

...

Ich weiss, dass ich auf dem Weg bin. Nehmt Slartibartfass.

"Seht mich an. Ich entwerfe Küsten. Für Norwegen habe ich einen Preis gekriegt."[85]

Immer, wenn ich in Mancheno bei klarer Sicht auf den Hügel ging und die Schweine hütete, sah ich weit vor mir im Norden den grossen Chimborazo mit seiner über sechstausend Meter hohen schneebedeckten Vulkankuppe anmutig in den blauen Himmel ragen. Der Gipfel des längst erloschenen Vulkans war abgerundet. Eigentlich müsste er leicht zu besteigen sein, dachte ich manchmal.

Eine der Fragen, die ich hatte, konnte ich inzwischen allerdings doch formulieren. Wie passte es zusammen, dass ich mich einerseits hier auf dreitausend Metern Höhe in den ecuadorianischen Anden befand und gleichzeitig in Viktoria verliebt und für kein anderes Mädchen offen war? Lina hatte gesagt, sie würde nur mit demjenigen schlafen, den sie auch heiraten würde. Und ich hatte immer das Gefühl gehabt, eigentlich hatte Lina recht. Oder doch nicht?

Leicht zu besteigen war der Chimborazo nicht, wie mir die Leute nachdrücklich versicherten. Es sei ein unglaublich schwieriger und auch gefährlicher Berg, und ausserdem sei er ständig unter Wolken, unter denen die fürchterlichsten Gewitter tobten. Dass er oft unter Wolken war, stimmte. Wenn sich die Wolken nach ein paar Tagen dann wieder verzogen hatten, war auch aus vierzig Kilometern Entfernung leicht zu erkennen, dass jede Menge neuer Schnee gefallen sein musste, der nach ein paar wolkenlosen Tagen unter der Äquatorsonne wieder abschmolz.

Gott würde mir keine Aufgabe zumuten, die ich nicht bewältigen konnte. Sollte es mein Job sein, tatsächlich wie Lina zu leben und mit keiner Frau schlafen bis ich Viktoria geheiratet hätte, dann hätte ich auch das Format und die Stärke dazu. Aber ganz sicher war ich mir nicht. Lag darin wirklich mein Job? Hatte ich das jetzt wirklich richtig verstanden? Was war mein Job? Hatte Lina recht?

Nein, auf keinen Fall darfst du auf den Chimborazo gehen, war die einhellige Meinung von Manuel und allen Leuten, wenn ich ihnen erzählte, dass ich auf den grossen weissen Berg wollte. Besonders Manuel malte mir in den dunkelsten Farben aus, dass ich so eine Tour kaum überleben würde.

Ich nahm nur mit, was ich brauchte. Schlafsack, warme Kleidung und panela. Panela waren Blocks aus braunem Rohrzucker, ich kannte das aus Kolumbien, wo sie mir erklärt hatten, es sei das Zeug, mit dem Lucho Herrera und die anderen Kolumbianer bei der Tour de France die Bergetappen gewinnen würden. Viel zu Essen ausser panela nahm ich nicht mit. Ich rechnete mit drei oder vier Tagen.

Razu hiess auf Quichua verschneit, und chimbo kam aus einer anderen Indianersprache, die vor den Inkas hier gesprochen worden sein musste. Niemand wusste mehr genau, was das Wort bedeutete, vielleicht heilig oder von den Göttern. Der Gipfel des Sechstausenders war ausserdem der Punkt auf dem Planeten, der vom Erdmittelpunkt am weitesten entfernt lag. Die Erde war ja zu den Polen hin abgeflacht.

Zunächst nahm ich den Bus nach Ambato und stieg hinter Riobamba dort aus, wo mir der Berg am nächsten zu sein schien. Die Sonne schien und es war nicht kalt. Ich befand mich etwa in Höhe der Passhöhe von dreitausendsechshundert Metern. Die Reisenden wunderten sich sehr, dass ich mitten in der bamba ausstieg. Im peruanischen Kechua pampa, unbesiedelte Ebene. Ich ging einfach querfeldein nach Westen auf den grössten Berg des Landes zu.

Nach ein oder zwei Stunden hatte ich mich weit genug von der Strasse entfernt. Ich sah am Relief des Berges, dass ich ihn auf der Ostseite nicht besteigen konnte. Von Ferne gesehen betrug der Steigungswinkel zwar nur fünfundvierzig Grad, aber aus der Nähe musste ich feststellen, dass die Stufen, die streckenweise von Querreihen senkrechter Felsen gebildet wurden, viele Meter hoch und ohne Bergsteigerausrüstung unbezwingbar waren. Ich hatte noch nicht einmal ein Seil dabei. Da die Ostseite unmöglich zu besteigen war, musste ich es auf der Nordseite probieren, um den Berg herum.

Ein tiefes Tal eines Baches zog sich vom Berg in Richtung der Strasse nach Osten. Wenn ich nach Nordwesten und um den Berg herum wollte, musste ich dieses Tal durchqueren. Das Ufer fiel an beiden Seiten metertief ab. Schliesslich entdeckte ich eine Stelle, an der ich den Bach überqueren konnte, und eine Stunde später war ich auf der anderen Seite, wo ich mich erstmal in der Nachmittagssonne ausruhte.

Dann ging ich weiter in Richtung Nordwesten. Im Norden erhob sich ein anderer Vulkan, der Carihuayrazo, fünftausendzwanzig Meter hoch und vielleicht fünf Kilometer entfernt. Ich ging langsam auf die Sattelhöhe zwischen den beiden Andenvulkanen zu. Immer wieder musste ich Pausen einlegen. Längst befand ich mich auf etwa viertausend Meter Höhe und hatte die dünne Luft ein wenig unterschätzt.

Ich wusste, dass die Bergsteiger den Chimborazo von der Westseite her nahmen, nicht von Süden, Norden oder Osten. Ich unterschätzte den Berg tatsächlich gewaltig. Je weiter ich auf die Nordseite des Berges kam, desto deutlicher wurde, dass auch hier zig Meter hohe Fels- oder Eisstufen jedes Weiterkommen ohne Bergsteigerausrüstung unmöglich machten.

Ich hatte keine Karte des Chimborazo, hatte aber schon lange vorher den Berg genau beobachtet. Aus irgendeiner Zeitung hatte ich ein grosses Foto des Berges und mass die Höhen ab. Ab viertausend Metern fiel Schnee, blieb aber nie lange liegen, erst ab etwa viertausendsiebenhundert Metern. Vierzehn Gletscher sollte der Sechstausender haben. Am späten Nachmittag kam ich in eine Art Tal und musste mir langsam einen Platz zum Schlafen suchen. Zu meiner Enttäuschung wurde das Wetter wieder schlechter.

Das Hochgebirge glich in dieser Gegend einer Mondlandschaft. Nur wenige Flechten zogen sich über Geröll, Felsen und Steine. Pflanzen gab es in dieser unwirtlichen Gegend keine mehr. Manuel hatte mir Handschuhe und eine Mütze mitgegeben. Ausserdem hatte ich ein Thermometer dabei.

Ich hatte kein Zelt, aber da es in der Nacht regnen konnte, musste ich nach Möglichkeit eine überdachte Stelle finden. Ich begann, mir die grösseren Felsen anzusehen, die vielleicht zumindest einen Windschutz bieten könnten.

Und ich hatte Glück. Eine Stunde bevor die Dunkelheit einsetzte, fand ich in dem langen, nach Norden führenden U-Tal, das vom Berg herunterkam, mehrere grosse Felsen, die vereinzelt zwischen dem Geröll lagen. Ich legte Rucksack und Schlafsack hin und untersuchte sie. Ein vielleicht fünf Meter langer Felsblock am Westhang schien sich am besten zu eignen. Er bildete unter sich sogar eine kleine Höhle. Ich stellte fest, dass sich ein Mensch mit einiger Mühe im Notfall in diese Aushöhlung zwängen konnte. Dann holte ich Rucksack und Schlafsack her und entschloss mich, noch etwas zu essen und dort zu übernachten.

Das Wetter verschlechterte sich leider immer mehr. Es konnte sich nicht richtig entscheiden, ob es regnen oder schneien wollte. Viel mehr Respekt hatte ich vor den Gewittern, deren Blitze man im vierzig Kilometer entfernten Mancheno oft sehen konnte. Doch Angst hatte ich kaum. Ich war nicht auf einer spassigen Abenteuertour hier, ich war auf der Suche. Da ich eine ernsthafte Frage hatte, konnte Gott kaum daran interessiert sein, dass ich hier durch einen bescheuerten Blitz erschlagen würde.

Ich war hier, weil ich Gott noch näher sein wollte als wenn ich nachts in meinem Bett in Mancheno den Regen auf das Dach prasseln hörte und mit einem Gebet auf den Lippen einschlief. Und es war erwiesen, dass Berge die Menschen Gott näher brachten. Auch Moses war auf den Berg Sinai gestiegen. Jesus von Nazareth soll es genauso gemacht haben, wenn er Gott nahe sein wollte.

Ich sass unter dem Überhang, den der Felsen über dem Eingang zu seiner kleinen Aushöhlung bildete. Immer mehr tropfte es vom Felsen und ich wurde mit meinen Sachen bald nass. Ich musste mich tiefer in die Höhle zurückziehen. Tiefer im Felsen konnte ich nicht mehr sitzen, nur noch kriechen, die Decke war weiter innen nur knapp einen halben Meter hoch. Aber der Boden war trocken. Ich befreite den kleinen niedrigen Raum von Spinnweben und Steinen und konnte mich bequem hinlegen. Es war ein kleiner enger Raum, der nicht mehr als einer Person Platz bot. Es dauerte nicht lange bis es stockdunkel war.

Tatsächlich, es gab Gewitter. Urplötzlich zog es auf und auf einmal war ich mitten drin in den tobenden Urgewalten des Planeten. Eine beeindruckende Show. Ich zog mich noch weiter in die Höhle zurück und nutzte das Licht der Blitze, die im Sekundenabstand kamen und unter höllischem Lärm ganz in der Nähe meiner Behausung einschlugen, um meine Sachen noch tiefer in die Höhle zu ziehen und vor Nässe zu schützen. Vielleicht waren solche Felsen ja irgendwie blitzgesichert. Ausserdem hatte ich eine Lebensgarantie.

Ich fand es fast schade, als das Unwetter langsam abzog und mich mit meinen Gedanken alleine zurück liess.

Vor einer Woche hatte ich geträumt, dass Viktoria mir sagte Schreib mir einen Brief. Aber das war gefährlich. Meine Träume spiegelten schliesslich meine Gedankenwelt, die Wünsche meines Unterbewusstseins. Ob es an der Zeit war, ihr wirklich einen Brief zu schreiben, hatte damit wohl kaum was zu tun. Träume sind Schäume, hatte Lina gesagt. Vielleicht würde ich morgen mehr erfahren.

Es war ungewöhnlich, unter einem riesigen Stein zu schlafen, der keine zwanzig Zentimeter über dem Gesicht lag, aber ich gewöhnte mich dran und schlief gut in meinem sicheren Versteck.

17. Oktober 1988

Der nächste Tag begann mit ein paar freundlichen Sonnenstrahlen. Ich liess zur Gewichtsersparnis ein paar unwichtige Sachen in meinem Basislager und machte mich mit Rucksack und Schlafsack auf den Weg nach oben.

Ich befand mich also in einem Tal, das den Berg von Süden nach Norden herunterkam, und hatte etwa in viertausenddreihundert Metern Höhe übernachtet. Das U-Tal wurde an beiden Seiten von hohen Seitenmoränen flankiert. Berge von Schutt, die der Gletscher im Lauf der Jahrtausende vom Berg heruntergeholt und an seiner Seite abgelagert hatte. Der Chimborazo war ein Quartärvulkan, entstanden in den letzten zwei Millionen Jahren; in historischer Zeit ist er nicht mehr ausgebrochen.

Irgendwann erreichte ich die Gletscherzunge und schon bald war es nicht mehr möglich, neben den weissen und gletscherblauen Eismassen weiter nach oben zu kommen. Ich stieg das Geröll der östlichen Seitenmoräne hoch und entdeckte dort oben zu meinem Erstaunen eine Art Furche, die sich oben auf dem Grat der Seitenmoräne gebildet hatte und einen Weg nach oben freigab. Der Gletscher musste also früher etwas breiter gewesen sein, den östlichen Aussengrat der Seitenmoräne aufgeworfen haben, und sich dann langsam zurückgezogen haben. Später musste er dann in einem weiteren Anlauf, wo er kleiner gewesen sein musste, einen zweiten Grat aufgeworfen haben, zehn bis zwanzig Meter weiter westlich. Zwischen beiden Graten bildete sich ein Tal, durch das Regenwasser abfloss. Dieser Furche folgte ich nun. Zu beiden Seiten ging es etwa zehn Meter hoch.

Das Tal führte ganz schön steil nach oben. Nun machte ich Höhenmeter. Das war auch gut so, denn der Berg hatte noch eine ganze Menge davon zu bieten. Von dreitausendsechshundert Metern Höhe war ich gekommen, stand kurz unter der ewigen Schneegrenze und hatte also schonmal achthundert Meter Höhe gemacht. Allerdings stellte ich fest, dass ich wirklich die Höhenluft unterschätzt hatte. Oder ich hatte nicht richtig gegessen. Tatsache war, ich war bald völlig erschöpft.

Nach einiger Zeit war ich soweit, dass ich nach jedem dritten Schritt verschnaufen musste. Jeder einzelne Schritt erfordete vollen Einsatz. Ich machte eine grössere Pause, setzte mich hin, ass etwas panela. Nach einer Weile konnte ich wieder weitergehen. Ich zählte die Schritte. Die Kraft liess schon nach dreissig oder vierzig Schritten wieder nach.

Zunächst waren es noch hundert Schritte, später fünfzig, schliesslich nur noch zwanzig, nach denen ich jeweils eine grössere Pause einlegen, Gepäck abladen, trinken und panela essen musste. Danach schaffte ich nur noch achtzehn. Dann siebzehn. Ich versuchte, wenigstens diese Zahl zu halten. Und ich schaffte es. Irgendwann war ich wieder auf achtzehn.

Ich kam wieder besser voran und der Berg wich vor mir zurück. Ich erreichte die Wolkengrenze. Leider hielt sich die Sonne schon lange nicht mehr. Meine Sicht betrug bald nur noch fünfzig Meter. Aber verlaufen konnte ich mich hier nicht, ich ging streng die enge Furche der Seitenmoräne hoch, der sich wenige Meter weiter oben im Nebel verlor.

Nach ein paar Stunden hatte ich unter grössten Anstrengungen etliche hundert Höhenmeter hinter mich gebracht. Nun hatte ich, wie ich durch einen Blick über den östlichen Grat erkannte, die Zone erreicht, in der der Schnee nie schmolz. Viertausendsiebenhundert Meter. Die Wolken rissen hin und wieder auf und gaben den Blick auf den vor mir liegenden Berg frei. Wie zu erwarten, hörte die Geröll-Talrinne der Seitenmoräne irgendwann auf und wurde durch steile Eiswände ersetzt. Ohne Eispickel und spezielle Ausrüstung konnte ich hier nicht hochkommen. Je höher ich nun kam, desto steiler wurde der Berg. Auch das hatte ich schon von Mancheno aus gesehen.

Ich hatte nur noch eine Wahl, wenn ich höher kommen wollte. Ich musste auf dem Gletscher nach oben steigen, an dessen Seite ich die ganze Zeit entlanggegangen war. Der Gletscher war nicht zu steil, eindeutig nicht. Er kam in einem einigermassen flachen Fallwinkel von vielleicht dreissig Grad vom Berg. Allerdings hatte ein Gletscher wie dieser grundsätzlich einen kleinen Nachteil. Er hatte Gletscherspalten, und zwar nicht zu knapp. Am Rand war das blaugrüne Eis aufgerissen und nicht von Schnee bedeckt. Auch wenn die Sonne nicht schien, war die Farbe des Gletschers zauberhaft schön. Umrahmt von strahlend weissem Neuschnee.

Ich hatte einen Holzstock dabei, hatte ich mir in Mancheno schon gemacht. Ich entschied mich, auf den Gletscher zu gehen und ihm ganz einfach in der Mitte nach oben zu folgen. Ich wusste, dass das, was ich machte, eigentlich lebensgefährlich war. Würde ich einbrechen, niemand käme auf die Idee, mich ausgerechnet hier in irgendeiner hinterher wieder zugeschneiten Gletscherspalte zu suchen. Jahrzehnte später würde mich der Gletscher tiefgefroren und hunderte von Metern weiter unten wieder ausspucken. Nun gut, das waren die Chancen. Ich war auf mich selber gestellt. Es war ein faires Spiel. Ausserdem hatte ich eine Lebensgarantie.

Also ging ich auf den Gletscher, an einer verschneiten Stelle ging das ganz gut, und ging in die Richtung der Mitte des Gletschers. Einmal zogen sich die Nebelwolken kurz zurück und ich konnte gut sehen, dass der Gletscher etwa vier- bis sechshundert Meter höher an einer senkrechten Eiswand endete. Das bedeutete, ich konnte ohne Spezialausrüstung höchstens bis dorthin kommen. Der Gipfel war von dort aus unmöglich zu erreichen. Kein Wunder, dass die Bergsteiger auf der Westseite raufgingen.

Er war erst recht nicht dann zu erreichen, wenn es jetzt auch noch anfing zu schneien. Das Wetter wurde nicht besser. Das Steigen war hier nicht weniger mühevoll als auf der Seitenmoräne. Ich sank unterschiedlich tief in den Schnee ein und je höher ich kam, desto dünner wurde die Luft. Wie hoch war ich? Fünftausend Meter? Oder etwas drunter. Ich war mitten im Berg. Über die Hälfte der Höhenmeter bis zum Gipfel hatte ich seit der Panamericana geschafft. Vielleicht tausenddreihundert hatte ich noch vor mir. Dreihundert käme ich noch bis zur Eiswand, aber die restlichen tausend Meter hatte ich von hier keine Chance. Auf keinen Fall würde ich sie heute noch schaffen. Soviel war klar. Und so musste ich mir langsam überlegen, wo ich diesmal übernachten wollte.

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Der Vulkan Chimborazo, 6310 m hoch, von Norden bei klarer Sicht aus etwa 4500 m Höhe. Rechts meine wahrscheinliche Aufstiegsroute. Foto R. Kilian, Mineralogie-Museum Münster.

Schneetreiben setzte ein und bedeckte meine Fussspuren. Leider hatte der markante Vulkan, der sich fast dreitausend Meter von der Andenhochebene in den Himmel erhob, ein Eigenklima. Ich wusste aus Erfahrung, dass das Wetter am Chimborazo von einer Stunde auf die andere umschlagen konnte und der Berg dann drei oder mehr Tage lang ununterbrochen unter schweren Unwetterwolken verhangen blieb. In der unmittelbaren Umgebung konnte tagelang die Sonne scheinen, während der Berg ab viertausend Metern Höhe ununterbrochen unter schweren Wolken hing.

Es war ganz klar: hier auf dem Gletscher, der sich in dieser Höhe zwischen hohen bizarren bläulich-türkisen Eiswänden ächzend und stöhnend nach unten schob, konnte ich ohne gutes Wetter unmöglich übernachten. Meine Sicht sank fast gegen null. Mir fehlte jede Kraft, mir eine Schneehöhle zu bauen. Es war so schon gefährlich genug, dass ich hier völlig leichtsinnig einfach in der Mitte des Gletschers nach oben stapfte.

Über irgendwelchen Neuschnee, der vielleicht erst gestern Nacht gefallen war und Spalten überdeckt hatte. Nach einiger Zeit ging ich auch sparsamer mit dem Stock um, mit dem ich am Anfang noch vor jedem Schritt geprüft hatte, ob die Schneeschicht auch dick genug war. Ich konnte mir denken, dass ich mit dieser Methode eine Schneeschicht über einer Spalte, die mich so vielleicht gerade noch getragen hätte, durch das Bohren erst zum Einsturz bringen konnte. Gut, ich hatte eine Lebensgarantie, würde also aus der Spalte irgendwie wieder rauskommen. Trotzdem hatte ich keine Lust, hinterher schwer verletzt bei Manuel anzukommen. Bei einem Blitz war man entweder tot oder nicht vom Blitz getroffen. Ein Fall in eine Gletscherspalte konnte dagegen schwere Erfrierungen und Knochenbrüche zur Folge haben.

Der Schneesturm wurde immer stärker und die Temperatur sank bedrohlich schnell. Auf der Ostseite des Gletschers befanden sich senkrechte Eiswände - keine Chance, da hochzukommen. Die einzige Übernachtungsmöglichkeit blieb der Felsen von vergangener Nacht, mindestens sechshundert Meter unter mir. Ich blieb stehen und überlegte. Inzwischen hatte dichtes Schneetreiben eingesetzt. Den Gipfel eines Berges zu erreichen, der ganz und gar in Wolken gehüllt war, stellte ich mir als ziemlich trostlos vor. Ich hatte keine Uhr, aber als ich begann, mir diese Gedanken zu machen, musste es bereits vier Uhr gewesen sein.

Es war fast schon zu spät, als ich mich endlich entschloss umzukehren.

Ich sah zu, dass ich vom Gletscher herunterkaum, solange ich meine Fusspuren bei dem ganzen Neuschnee noch erkennen konnte. Die Wolken wurden dicker und dicker und verdunkelten die Sicht. Nachdem ich endlich vom Gletscher runter war, musste ich noch hunderte von Metern diese Seitenmoränenfurche absteigen.

Normalerweise war der Abstieg immer schwieriger als der Aufstieg, aber ich hatte es meiner dilettantischen Art des Bergsteigens zu verdanken, dass das hier anders war. Der Weg zwischen den beiden Graten der Seitenmoräne war zwar kaum zu erkennen, weil die Sicht im Schneetreiben fast null betrug, doch ich stolperte erstaunlicherweise schneller herunter als ich raufgekommen war. Der verschneite Weg war wirklich einfach zu gehen.

Weniger einfach war, die Stelle wiederzufinden, wo ich die Seitenmoräne verlassen musste, um zu meinem Basislager-Felsen zu kommen. Mehrmals stieg ich auf den Westgrat meiner Seitenmoräne und versuchte, auf der gegenüberliegenden Seite des U-Tales meinen Felsen auszumachen. Aber ich konnte ihn nicht erkennen und musste zeitraubend wieder auf den Grund der Furche absteigen. Langsam setzte die Dämmerung ein und ich wusste, ich musste mich beeilen. In dieser Höhe hielt sich das Licht noch etwas länger, und so konnte ich beim dritten oder vierten Versuch gerade noch mit viel Glück den winzigen dunklen Punkt auf der Westseite des Tales ausmachen, der mein Felsen sein musste.

Er war es. Als ich ihn eine halbe Stunde später erreichte, war es stockdunkel. Ich schüttelte den Schnee ab. Alles, was ich an Kleidung dabei hatte, zog ich an. Im Inneren der Felsaushöhlung war es nach wie vor trocken. Es dauerte lange, bis ich es geschafft hatte, mit letzter Kraft in den Schlafsack zu kriechen. Noch einmal nahm ich das Feuerzeug und sah auf das Thermometer. Minus acht Grad.

Dann fand ich langsam zu mir. Vielleicht sollte es jetzt und hier sein. In meinem Gebet versuchte ich noch einmal die Frage zu formulieren, die ich hatte. Die Frage nach meinem Weg. Warum war ich hier, und vor allem: sollte ich mich wirklich nicht verlieben, bevor ich Viktoria heiraten würde? Oder mit niemandem schlafen? War es okay, dass ich in Viktoria verliebt war oder nicht? Ich sollte Viktoria schreiben, hatte ich geträumt, doch Lina hatte gesagt Träume sind Schäume. Lina hatte auch gesagt, sie würde erst mit dem schlafen, den sie auch heiraten würde. Ich überlegte lange und entschloss mich schliesslich, den ganzen Komplex auf eine einfache Frage zu reduzieren: Hat Lina recht?

Und zum ersten Mal gab es auf eine ja/nein-Frage keine ja/nein-Antwort.

Ich befand mich auf einem Berg und ging einen Weg hoch. Oben auf dem Grat einer Seitenmoräne eines Gletschers, wobei der Grat von einer kleinen Furche durchzogen war, in der ich hochgehen konnte. Wenn ich nach vorne schaute, verlor sich der Weg im Nebel. Ich ging immer weiter nach oben. Manchmal zog sich der Nebel zurück und im Hintergrund wurden riesige bizarre gletscherblaue und schmutzigbraune Eiswände sichtbar, die viele Meter senkrecht nach oben gingen. Dann kam der Nebel wieder und ich ging weiter.

Noch einmal zog sich der Nebel leicht zurück und ich konnte den Weg vor mir wieder sehen. Er war vielleicht drei oder vier Meter breit und führte sehr weit nach oben.

Plötzlich geschah etwas, das ich noch nie erlebt und auch noch nie geträumt hatte. Es war, als würde eine Person zu mir sprechen. Mir wurde ein einziger Satz gesagt. Allerdings in keiner bestimmten Sprache - die Worte schienen sich in meinem Gehirn zu materialisieren und als allererstes das nächstbeste Sprachzentrum zu suchen, wo die Worte in eine Sprache umgesetzt werden konnten. Es war honduranisches Spanisch.

El camino es largo y angosto.

So lautete der Satz. Mein Gehirn nahm sofort seine Arbeit auf, begriff, dass es sich um ein Bibelzitat handelte, und gab als Antwort auf Deutsch zurück: "Ja, ich weiss, und die Pforte ist eng-".

Dabei wachte ich auf. Es war mitten in der Nacht. Die Temperatur war nicht weiter gesunken, im Gegenteil, sie war sogar gestiegen und hielt sich bei minus fünf Grad. Es war still in über viertausend Metern Höhe.

El camino es largo y angosto, war mir gesagt worden. Der Weg ist lang und schmal. Im Honduras nahmen sie für den Begriff weit nicht lejos, sondern largo. Ich war unsicher, ob dies die Antwort auf meine Frage war. Die eindeutig lautete Hat Lina recht? und mit ja oder nein zu beantworten wäre. Ich merkte mir noch einmal den Traum und schlief wieder ein.

Bis zum Morgen konnte ich mich an keine weiteren Träume erinnern. Die Tragweite des Traums begriff ich erst jetzt. So komisch es klang - Gott hatte zu mir im Traum auf meine Frage auf direkte Weise geantwortet. Ich hatte erlebt, wie es war, wenn Gott zu einem Menschen persönlich sprach. Gott benutzte eindeutig Worte, allerdings keine Sprache.

Unwillkommene Worte, denn ich mochte solche Bibelzitate nicht gerne. Deshalb hatte ich auch sofort so abweisend reagiert, noch im Traum. Aber genau genommen war es auch kein Bibelzitat. Es war nur eine Anlehnung an ein Bibelzitat.

Matthäus 7:13-14 (Teil der Bergpredigt von Jesus von Nazareth). Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit offen und der Weg breit, der zur Zerstörung führt und viele sind es, die dort hineingehen. Denn eng ist die Pforte und schmal ist der Weg, der zum Leben führt und wenige sind es, die diese finden.[86]

Die Antwort auf meine Frage hatte gelautet Der Weg ist lang und schmal. Lina hatte offenbar nicht grundsätzlich recht. Sie mochte für sich selbst recht haben oder auch nicht. Was für Lina galt, musste nicht unbedingt für mich gelten. Mein Weg war möglicherweise ein anderer und deshalb konnte die Antwort nicht einfach ja lauten.

Sie konnte auch nicht einfach nein lauten, da eine solche Antwort falsche Schlussfolgerungen zugelassen hätte. Die einzige sinnvolle Antwort konnte offenbar lauten, dass meine Frage falsch gestellt war.

Die Anlehnung an das Bibelzitat, in dem nicht von einem langen und schmalen, sondern von einem breiten oder schmalen Weg die Rede war, war offenbar beabsichtigt. Es war sicherlich ein schmaler Weg, einer, der zu den Wegen gehörte, die nach Jesus von wenigen gegangen wurden und der schwer zu finden war.

Aber mein Weg war nicht nur schmal, sondern auch weit. Von New York bis Ecuador, das klang ja auch überzeugend. Und ich bekam gleichzeitig im Bild vorgeführt, dass der Berg noch vor mir lag und ich das Ende des Weges noch gar nicht sehen konnte, so weit war er. Die meiste Zeit verschwand er ziemlich schnell im Nebel und war nicht zu erkennen.

18. Oktober 1988

Ich hatte die Antwort auf die Frage bekommen, auch wenn ich nicht ganz zufrieden damit war, weil ich sie nur ansatzweise verstand. Ich konnte nichts falsch machen, wenn ich so weitermachte wie bisher. Wieviel von dem, was Lina gesagt hatte, auf mich zutraf, würde ich noch vorsichtig und langsam herausbekommen. Der Weg war noch weit.

Ich umrundete den Chimborazo wieder auf der Ostseite und ging diesmal allerdings direkt auf die Strasse nach Cajamarca im Süden zu. Es war jedoch weiter als ich dachte. Irgendwann begannen Wirtschaftswege und ich kam an Häusern vorbei. Vor einem Haus sprach mich ein betrunkener, älterer Typ an und wollte mich nicht weitergehen lassen. Er war absolut nervig. Es waren Häuser in der Nähe, doch die Bevölkerung war in dieser Gegend sehr scheu und hatte vor Fremden wie mir Angst.

Der Typ sprach Spanisch mit mir, zumindest bildete er sich das ein, denn in seinem betrunkenen Zustand fiel er immer wieder in sein Quichua zurück. Ich kam immerhin noch eine Strasse weiter, wo zwei andere Häuser standen. Der Typ stellte sich quer vor mich hin und versperrte mir theatralisch mit beiden Armen den Weg. Na gut, meinte ich zu ihm, wir können das jetzt ausdiskutieren. Der Vorteil war, ich brauchte mit ihm weder Spanisch noch Quichua sprechen, Deutsch reichte bei seiner Auffassungsgabe vollkommen aus.

Endlich liessen sich ein paar schüchterne Gesichter in der Haustüre des anliegenden kleinen Lehmhauses blicken. Sie waren überrascht, dass ich Quichua sprach. Zögerlich begannen die Frauen, auf den Typen einzureden und ihm zu sagen, er solle mich weitergehen lassen. Alkoholismus war ein generelles Problem bei Indianern. Die Frauen stimmten mir zu.

Bald danach kam der Milchwagen vorbei, der hier in der Gegend die vollen Milchkannen einsammelte, und nahm mich mit. Als ich wieder auf der Panamericana war, nahm ich den Bus nach Mancheno.

Ich blieb noch bis Ende November in Mancheno, nachdem sie mir in Quito zweimal problemlos das Visum verlängert hatten.

Und dann ging ich weiter, zu Fuss, so wie ich gekommen war.

30

Land der Inkas -

Einmal durch Peru

29. November 1988

Nach kurzer Zeit hielt ein Lkw an und fuhr mich nach Guamote. Ich brauchte nur an der Strasse entlangzugehen und, wenn ein Wagen kam, mich einfach umzudrehen. Den Daumen rauszuhalten wäre hier wohl schon fast einer Nötigung gleichgekommen.

Nächster Tramp, Lkw bis Abzweigung Cochaloma, Tramp zweihundertdreizehn bis Alausí, danach bis Chunchi, dann hielt eine Art Bus an, bis Abzweigung Huigra, Lkw bis Cañar, Lkw bis Abzweigung Méndez und schon befand ich mich nur noch acht Kilometer vor Azogues. Oder zehn. Zwei Jungen warteten an der Strasse und sahen mich kommen. Grünes flaches Tal, paar hohe Bäume an der Strasse.

Ja, Azogues, das war die Strasse, meinten sie, aber die Stadt war noch weit, ich müsse das carro nehmen. Bis Cuenca wollte ich heute noch, und zwar ohne carro, meinte ich zu ihnen. Und würde ich auch noch kommen, setzte ich hinzu als ich ihre skeptischen Blicke sah. Na gut, mit Cuenca hatte ich wohl ein bisschen zu dick aufgetragen, denn das waren noch über dreissig Kilometer und die Sonne stand schon tief.

- Das schaffst du nie. Du schaffst es nicht mal mehr bis Azogues, wenn du nicht das carro nimmst.

- Ich kann trampen.

- Keiner nimmt dich hier mit.

- Heute bin ich von Guamote gekommen. Auch getrampt.

- Von Guamote??

Sie sahen sich an.

- Wie war das Wetter in Guamote?

- Bisschen regnerisch, nicht so schön wie hier.

- Das kann jeder sagen, hier hat es heute früh auch geregnet-

- Kann ich doch nicht wissen.

- Wo geht die Strasse lang in Guamote?

- Führt oben am Berghang entlang, an der Seite der Stadt, in so einem Bogen.

- Tatsächlich, der kennt Guamote. Also du hast es echt in einem Tag von da bis hierher geschafft, ohne carro?

- Ja klar.

- Getrampt?

- Ja, getrampt. Die nehmen mich auch mit, wenn ich noch nicht einmal den Daumen raushalte.

- So, das würden wir gerne mal sehen.

In den Moment näherte sich ein Wagen. Naja, probieren kann ichs ja mal, dachte ich, drehte mich professionell um, sah den Fahrer an, der irritiert mich und die beiden Jungen anblickte und im nächsten Moment schon vorbeigefahren war. Die Jungen lachten.

- Aha, so einfach soll das also sein?

- Das geht nicht weil ihr dabei seid, das irritiert die. Das geht nur, wenn ich alleine an der Strasse entlanggehe. Ausserdem muss ich auf offener Strasse entlanggehen und nicht hier an der Kreuzung stehen.

Der andere verstand jetzt den Trick an der Sache.

- Die nehmen dich mit, weil du ein gringo bist. Uns nehmen sie nicht mit, weil sie sehen, dass wir Einheimische sind. Wer arm ist, bleibt arm. Und die gringos werden umsonst mitgenommen. Weisst du, was wir zahlen müssen, wenn wir bis Azogues wollen? Weisst du, wieviel meine Mutter verdient?

Damit hatte er verdammt recht, und ich ein verdammt schlechtes Gewissen. Sollte ich zumindest haben. Nein, ich ging jetzt nicht zu Fuss los. Ich setzte mir in den Kopf, jetzt das Kunststück fertigzubringen, dieser Diskussion eine noch niveauvollere Wendung zu geben als sie so schon bekommen hatte.

- Vielleicht ist es, weil sie sehen, dass ich Fremder und hier nicht zuhause bin?

- Was macht das für einen Unterschied? Die Reichen bleiben unter sich, egal wo sie zuhause sind. Wir haben gar keine Chance, auch reich zu werden. Die Armen bleiben immer arm. Das ist nämlich immer so.

- Wenn du mit Rucksack und einer ecuadorianischen Fahne alleine in Europa unterwegs wärst - vielleicht würden sie dich dann auch mitnehmen? Vielleicht macht es einen Unterschied, ob ich von New York nach Feuerland oder nur von Méndez nach Azogues unterwegs bin?

- Warum soll darin der Unterschied liegen?

- Habt ihr ein Haus, wo ihr wohnt, mit einem Bett drin? Wo ihr heute nacht schlafen könnt?

Das war die riskante Frage in dieser Diskussion, die nun an einem ganz heiklen Punkt angelangt war. Denn es gab genug Leute, die darauf guten Gewissens auch mit nein antworten konnten. Aber ich nahm die Hürde, sie antworteten mit ja.

- Also ihr wisst, wo ihr heute Nacht schlaft?

- Ja, wieso? Das ist ja wohl ganz normal.

- Ist es nicht. Ich habe das nämlich nicht. Ich weiss nicht, wo ich heute Nacht schlafen werde.

- Wieso nicht?

- Ich bin doch unterwegs, von New York nach Feuerland, jeden Tag schlafe ich woanders. Woher soll ich wissen, ob ichs heute überhaupt noch bis Cuenca schaffe? Nur mit Glück schaffe ich das noch.

- Stimmt, er weiss das ja gar nicht. Er ist ja überall zuhause, wenn er jeden Tag unterwegs ist.

- Seht ihr, ich finde nämlich, ihr seid reicher als ich. Denn ihr habt ein Haus. Ihr müsst wissen, dass ein Haus mit einem Bett etwas sehr Wertvolles ist. Und ihr habt Verwandte, Freunde, Leute die ihr kennt und mit denen ihr euch jeden Tag treffen könnt. Ihr könnt euch verabreden, ihr könnt Leute zu euch nach Hause einladen, und ihr könnt euch hinlegen in euer eigenes Bett, wenn ihr einmal müde seid. Ich habe das nicht. Ich finde es eine Erleichterung, wenn mich die Autos mitnehmen. Ausserdem ist es wirklich ganz schön weit bis Feuerland.

- Wie weit ist denn das?

- Azogues sind acht Kilometer. Feuerland sind achttausend.

- Acht-tausend?

- Peru und Argentinien sind grösser als Ecuador.

- Und wie weit ist New York?

- Weiss nicht, zehntausend oder so. Bin seit über einem Jahr unterwegs.

- Hm. Er hat recht. Auch mit dem, was er sagt, finde ich.

- Ja, ich finde auch, er hat es sich verdient, mitgenommen zu werden. Und wenn er wirklich so reich wäre, würde er doch das Flugzeug nehmen.

- War nicht so gemeint, gringo. Es ist okay, wenn sie dich mitnehmen.

- Es ist nett, dass ihr mir das gönnt. Echt, finde ich wirklich nett von euch. Ich fühle mich geehrt.

Es ist nett, dass du mir das zugestehst, hatte Viktoria gesagt. Schade, dass es ausgerechnet solche Sätze waren, die am längsten hängenblieben. Sie hatte es anders gemeint, als sie diesen Satz in den Weltraum sprach. Vielleicht war es mir heute gelungen, ihn weiterzugeben und seine Richtung zu ändern, mit der er sich durchs All bewegte.

Ob sie mir helfen konnten, boten sie mir noch an. Oh nein, entgegnete ich, ihr habt mir genug geholfen. Kümmert euch um die Zukunft eures Landes. Euer kritischer Ansatz ist gut. Und vergesst nie, dass in Wirklichkeit ihr es seid, die reich sind. Ihr seid viel reicher als ihr denkt.

Wir verabschiedeten uns, ich ging die Strasse entlang weiter und sie sahen mir nach. Nach zwei Minuten kam ein Lkw. Ich drehte mich um. Der Wagen hielt an. Beim Einsteigen sah ich noch die Freude in den Augen der beiden Jungen, die mir von der Abzweigung Méndez nachwinkten.

Der Lkw fuhr zu meiner Überraschung sogar durch Azogues durch und so schaffte ich es tatsächlich noch am Ende des Tages bis ins sagenhafte Cuenca.

So, und was hatten die Kinder in Cajabamba gesagt? Cuenca war weit? Na, da mussten sie sich aber ein bisschen mehr anstrengen, wenn sie mich beeindrucken wollten. Lejote. Standesgemäss verbrachte ich die Nacht im terminal terrestre, dem Busbahnhof. Ich war wieder auf dem Weg.

Am nächsten Tag lief ich dann aus der Grossstadt Cuenca raus. Und stellte fest, oh, es war eine nette Stadt, und es war überhaupt nicht öde, aus der Stadt herauszulaufen. Cuenca war die Ausnahme unter den Städten der Welt. Manchmal gab es Ausnahmen.

Am Vormittag kam ich ein bisschen vom Weg ab und wurde von einem netten Fahrer, Saúl, bis nach Santa Isabel nach Westen gefahren. Ein netter Ort, es gab auch noch einen kleinen Imbiss bei ihm zuhause, aber leider war ich nun fast schon in der Küstenebene und musste wieder die Anden hinauf, zur Panamericana. Das war schwieriger als ich dachte. Ausserdem war es hier unten ganz schön heiss, über tausend Meter tiefer. Und die Leute hielten nicht mehr ganz so oft an wie in den Bergen. Bis zur Brücke des Río Girón kam ich noch an diesem Abend. Ich musste mich ausserdem endlich mal beeilen, mein Visum lief am 2. Dezember ab. Und das war übermorgen.

Immerhin, ich sammelte ein paar schöne Schnecken für Vollrath. Auch am nächsten Morgen, als ich es aus eigener Kraft wieder in die Berge schaffte und nochmal ein paar Schnecken sammelte, Provinz Azuay inzwischen, solange bis mich eine nette Frau in ihrem VW-Bus bis Susudel mitnahm. Ganz selten hielten in Südamerika Frauen an.

Ganz schön fertig war ich, als ich endlich wieder an der Panamericana war, die hier nur noch auf zweitausend Metern Höhe lag und nicht mehr ganz so schön kühl wie am Chimborazo war. Ein Lkw nahm mich noch mit bis Loja, die letzte grosse Stadt in den ecuadorischen Anden.

Ab dann wusste erst einmal niemand mehr, wo die Panamericana überhaupt langführte. Es gab einen Grenzkonflikt zwischen Ecuador und Peru, etliche Gebiete waren strittig. Hin und wieder gab es sogar richtige Schiessereien mit toten Soldaten und allem was zu einem ordentlichen Grenzkonflikt gehörte - je nachdem in welchem Land gerade Wahlen anstanden. In Loja ging ich zum Ortsausgang und legte mich oberhalb der Strasse unter ein Gebüsch eines Grundstücks. Und war froh, dass es nicht regnete und mich am Abend keiner mehr sah.

2. Dezember 1988

Auch am Morgen kam ich unauffällig wieder weg. Den südamerikanischen Städten traute ich allen nicht über den Weg. Ausnahmen wie Cuenca waren selten. Ich war froh, als ich wieder auf der freien Strecke war.

Nach Süden ging es von hier tatsächlich nicht weiter, hatten sie mir in Loja gesagt, höchstens in irgendwelche Konfliktgebiete. Also musste ich nach Westen, Richtung Macará. Ein Übergang an einem Abschnitt der Grenze, der ausnahmsweise einmal nicht zwischen den beiden Ländern umstritten war. Ja, sowas hatten Peru und Ecuador hier auch zu bieten, der perfekte Service, wenn auch nur hundert Kilometer.

Dass die Länder hier nicht auf die Idee kamen, unter Vermittlung der UN mal die Leute in den strittigen Gebieten einfach zu fragen, ob sie Peruaner oder Ecuadorianer seien... aber mit solchen Ideen würden die Politiker hier wahrscheinlich in beiden Ländern nicht wiedergewählt werden. Und die Einheimischen würden wohl lieber ankreuzen, sie seien Koreaner oder Isländer, wenn ihnen das jemand als Alternative zu Ecuador und Peru auf den Abstimmungszettel schreiben würde.

Heute lief mein Visum ab und ich musste gut sein, wenn ich heute noch bis zur Grenze kommen wollte. So weit war es auch nicht mehr, knapp hundert Kilometer, und die Tage zuvor hatte ich solche Strecken auch an einem Tag bewältigt.

Doch die Aussichten waren nicht gut. Es dauerte lange, bis endlich einer anhielt und mich mitnahm, allerdings nur zehn Kilometer. Na gut, also noch neunzig. Nächster Tramp, Catamayo. Auch nicht viel weiter. Ich lief aus dem Ort raus. Es war viel weniger Verkehr als die vergangenen Tage in den Anden und die Strasse hörte schliesslich auf, geteert zu sein. Eine staubige Piste durch eine ziemlich vertrocknete Gegend, hier musste schon lange kein Regen mehr gefallen sein. Mangos wurden angebaut, die ganzen Hügel waren mit Mangobäumen bepflanzt.

Es ging so weit, dass ich schon froh war, als ein Traktorfahrer anhielt und mich einen Kilometer mitnahm. Und der mir auf die Frage, ob ich richtig war, auch ganz cool antwortete, ja, das hier sei die Panamericana. Die Strasse von Alaska nach Feuerland.

Ein anderer Wagen hielt an, ich hatte Glück und kam bis Las Chinchas. Noch einmal kam Hoffnung auf, vielleicht würde ich es doch noch schaffen? Wieviele Kilometer es wohl noch waren bis Macará? Vierzig, vielleicht. Ich lief weiter. Doch jetzt hielt keiner mehr an, und es kam kaum noch ein Wagen vorbei. Schlagartig gab es auf einmal überhaupt keinen Überlandverkehr mehr. Konnte es gar nicht geben, bei der Staubpiste.

Nach sechzehn Kilometern erreichte ich am späten Nachmittag Velacruz. Noch zwanzig Kilometer bis Macará an die Grenze. Dreissig, verbesserten mich die Leute. Achtundzwanzig, konnte ich noch runterhandeln. Mist, nichts zu machen. Die staubige Gegend war immer trockener geworden. Kein Wunder, dass hier nichts los war. Fernverkehr zwischen Ecuador und Peru gab es nicht. Auch keine Überlandbusse von Loja an die Grenze.

Eine Art Kleinbus hielt an. Der Fahrer hiess José Antonio und nahm mich bis Naranjo mit. Und das war es dann für heute. Es wurde dunkel. Nein, in der konfliktreichen Grenzregion sollte ich wirklich nicht nachts an diesem Feldweg entlangspazieren. Ach, da wird dir schon nichts passieren morgen an der Grenze, der eine Tag ist doch nicht so schlimm, versuchten sie mich zu beruhigen. Ich hatte dennoch ziemliche Angst und ging zu Fuss weiter.

Nach einer Viertelstunde sollte ein Militärposten kommen, hatte mir ein campesino auf dem Weg gesagt. Vielleicht wäre das eine Idee, ähnlich wie in Honduras, dass die mir irgendeinen Zettel für die Grenzer ausschrieben, wonach ich hier nicht weitergehen durfte oder sowas. Aber es kam kein Militärposten. Nur ein paar Häuser. Zwei Jungen unterhielten sich an der Strasse.

Nein, zu diesem Militärposten sei es noch mindestens eine Stunde zu laufen, ausserdem sei er nicht an der Strasse. Schade, dass heute kein Mond schien.

- Oder kann ich hier irgendwo übernachten?

- Ja klar, das Haus da, kannst ruhig hingehen, das ist mein Vater.

Sie hatten eine Petroleumlampe. Sehr nette Leute. Ich bekam sogar Abendessen, und am nächsten Morgen Frühstück und die besten Wünsche auf dem Weg nach Macará.

3. Dezember 1988

Auch in dieser Gegend, so nahe an der Grenze, gab es kaum Verkehr. Ich hatte noch lauter ecuadorianische Sucres und war froh, dass ich endlich so nahe an Macará herangekommen war, dass die Strasse besser wurde und es wieder carros gab, die aus der Umgebung in die Stadt fuhren. Am Vormittag war ich in Macará, füllte meine Wasserflasche auf, tauschte meine Sucres in Intis, katastrophal, wie ich schnell feststellte, und ging die vorbildlich geteerte Strasse entlang, eine knappe Stunde noch bis zur Grenze. Tabak wurde angebaut, alles war hier grün in der fruchtbaren Ebene. Allerdings nur auf der ecuadorianischen Seite der Grenze.

Grenze. Jetzt wurde es spannend.

Ich sagte gleich, dass ich mein Visum einen Tag überzogen hatte und dass es mir schrecklich leid tat. Der Beamte stimmte mir insofern zu, dass ihm das auch sehr leid tun würde. Hm. Nächster Absatz.

Im nächsten Absatz steht, dass ich ihn wohl noch gefragt haben musste, wieviel das kostete, und er meinte, naja, schon okay, aber machs nicht nochmal. Selten gab es gringos, die so gut Spanisch konnten, und wenn, dann waren es wohl vor allem irgendwelche Radler aus Alaska oder Feuerland, die die Anden entlangfuhren und deren Benehmen immer ganz vorbildlich sein musste.

Und ab, über die Brücke.

Peru, 1988.

Wesentlich freundlicher die Grenzbeamten hier als in Mittelamerika. Das hier waren ja richtig fortschrittliche Länder. Drei Monate Visum, gleich auf Anhieb, ohne Diskussionen. Die Radler aus Alaska schienen hier echt ganz gute Arbeit zu leisten.

Danach zum Zoll. In Guatemala und Nicaragua kam diese elende und sinnlose Prozedur schon, bevor sie mir überhaupt die Einreise gegeben hatten. Oder auch nicht. Im Zollbüro argumentierten sie hier, dass es schon fast zwölf sei, oh, so spät schon, und dass sie eigentlich keine Lust hatten, nachzusehen, was ich alles im Rucksack mit mir herumtrug. Hast du Zigaretten dabei, Schnaps oder so Zeug? Nein? Okay, sparen wir uns die Arbeit, dann kannst du so weitergehen, meinte der Beamte. Oh, das war ja absolut fortschrittlich! Alles Gute in Peru, und viel Glück auf dem Weg, wünschte er mir noch. Ein Grenzbeamter! Wo war ich hier denn?

An der Grenze war noch ein bisschen was los, kleiner Grenzverkehr, buntes Treiben. Ich liess es mir nicht nehmen, zu Fuss loszugehen, die Strasse entlang, die nach Sullana und Piura führte. Ich war in Peru, und dies waren die ersten Schritte. Peru.

Die Piste führte durch die Wüste. Der Unterschied zwischen beiden Seiten der Grenze war frappierend. Ecuador sah kurz hinter der Grenze bis Macará so modern aus wie Italien und Peru machte den Eindruck des ärmsten Landes, das man sich nur vorstellen konnte. Ecuador war grün gewesen, bewässertes Land, Teerstrasse, Telegrafenmasten, hohe Bäume - Peru eine staubige Piste durch die Wüste, trockene Hügel bewachsen mit total verdorrtem Gestrüpp, schon seit fünf Jahren konnte es hier nicht mehr geregnet haben, und praktisch kein Autoverkehr. Hoffentlich hatte ich mir jetzt nicht zu wenig Wasser mitgenommen.

Aber ich hatte aufgepasst. Und hin und wieder kämpften sich ein paar klapprige Autos die staubige Piste entlang und versuchten, den vielen Schlaglöchern auszuweichen. Schneller als zwanzig konnten sie alle nicht fahren. Selbst die Staubpisten zwischen Catamayo und Naranjo waren besser befahrbar gewesen als diese hier, und die Mangobäume grün.

Noch ein Wagen kam vorbeigeklappert, sah mich und hielt an.

- Hopp, komm mit, wir fahren nach Sullana!

Einsteigen, weiterklappern. Tramp zweihundertachtundzwanzig nach Sullana.

Hä, wo war ich denn jetzt? Wohl eine Art Familienausflug, elf Leute, die meisten Frauen, heute wohl gut drauf. Nach zwei Stunden hatten wir dreissig Kilometer geschafft und es gab Essen. War kein Familienausflug.

- Nein, das machen wir jeden Tag, immer hin und her, Ecuador und zurück.

Nur heute gabs nicht sonderlich viel zu holen in Macará. Das Auto war irgendein alter Japaner, oder Dodge, sah etwa so aus wie ein VW Passat, die Hintersitze ausgebaut, drei oder vier Leute vorne, der Rest lümmelte sich halb liegend im Hinterraum herum. Dazwischen irgendwelche Waren, vor allem jede Menge Mangos.

Eines der Mädchen war mir schnell aufgefallen, weil sie mich von Anfang an so komisch angelächelt hat. Sie war wohl ein wenig schüchtern, aber sie musste eine Frage haben. Bisschen kleiner als die anderen, klein bisschen dicker, dunkle glatte Haare, sah ganz niedlich aus und wirkte zwar ein wenig schüchtern, war aber wie die anderen fröhlich und aufgeschlossen. War nicht anders zu erwarten, wenn sie jeden Tag zwischen Sullana und Ecuador unterwegs waren und mit Grenzwaren handelten. Irgendwann musste sie ihre Freundin angesprochen haben, und die meinte zu ihr, naja, warum nicht, frag doch einfach.

Nahm sie sich den Mut, stimmt, warum nicht, und fragte mich einfach.

Ob ich mit ihr schlafen wollte, sie würde gerne ein Kind von mir haben.

Oh, was für eine nette Frage. Das hatte ich auch schon lange nicht mehr so direkt gehört, seit ich die von den Schwarzen bewohnte Küstenregion in Kolumbien hinter mir gelassen hatte.

Ich war ein wenig erstaunt. Stimmt das?, fragte ich ihre Freundin, die weniger schüchtern war. Könnte ich jetzt einfach ja sagen und mir ihr schlafen?

- Wenn sie das sagt.

- Und niemand hätte da was dagegen? Auch nicht ihre Eltern oder wer?

- Nö wieso, das hat doch sie zu entscheiden.

Was für ein nettes Land, wo die Mädchen einen fragten, ob man mit ihnen schlafen wollte, wenn sie ein Kind bekommen wollten. Vor allem, auch die schüchternen Mädchen.

Ich reagierte so wie immer und sagte ihr sofort, dass ich es völlig okay und richtig von ihr fand, mich das zu fragen. Und dass ich es durchaus gerne hätte, wenn die, in die ich verliebt sei, und die in Alemania wohnen würde, mich das auch einmal fragen würde. Aber leider gabs den Service nicht, eigentlich ein bisschen schade, aber das Leben wäre eben manchmal ein bisschen schade.

Hin und wieder lagen Posten an der Strasse, Zollbeamte, die den Durchgangsverkehr kontrollierten. Beamte war zu viel gesagt, der peruanische Staat schien sie jedenfalls nicht zu bezahlen. Es wirkte wie ein nettes und lange eingespieltes Ritual, wenn sie die Beamten mit ihren Mangos bereicherten, auch wenn sie heute gar nichts zu verzollen dabei hatten.

Wenn sie ein Kind von mir bekommen würde, ob das dann auch blaue Augen, blonde Haare und helle Haut hätte, fragte sie. Die Haut, schätzte ich, wäre nicht ganz so hell wie meine, und die Augen wären sicherlich braun.

- Aber die gringos haben doch blaue Augen.

- Quatsch, doch nicht alle, ich habe auch keine blauen Augen, schau-

Das hätte ich auch mal bleiben lassen können, ihr vorzuschlagen, mir tief in die Augen zu schauen, fiel mir im nächsten Moment ein.

- Naja du siehst jedenfalls, die sind grau und nicht blau.

- Nicht ganz grau, die sind eher so grünlich-

- Aber blonde Haare könnte so ein Kind schon haben.

- Und würde es auch mit gringo-Akzent sprechen, und Englisch können?

Die anderen diskutierten. Nein, die Sprache müsste man Kindern doch erst beibringen, meinten andere. Sie blieb skeptisch und wollte es von mir selber wissen. Ich war es gar nicht gewohnt, dass so viel auf das gegeben wurde, was ich sagte.

- Ich bin kein Amerikaner, ich bin Deutscher, aus Alemania, das kennt ihr, von der Fussballweltmeisterschaft. Wir sprechen auch kein Englisch, genauso wie ihr, wir sprechen Deutsch. Oder spreche ich etwa mit gringo-Akzent?

- Nein.

- Mit was für einem Akzent spreche ich denn?

- Du sprichst mit ecuadorianischem Akzent.

- Oh, echt? Danke. Nicht mit kolumbianischem? In Ecuador hatten sie mir noch gesagt, ich spreche mit kolumbianischem Akzent.

- Nein, du sagst bonito, wie die Ecuadorianer, und nicht chévere, wie die aus Kolumbien. Bisschen kolumbianisch vielleicht.

- Eigentlich müsste ich mit deutschem Akzent sprechen. Englisch müssen wir auch erst lernen, in der Schule.

- Ach so, ja. Und dein Kind würde also dann Deutsch sprechen?

- Nur wenn ihr es ihm beibringt. Wenn ihr ihm Spanisch beibringt, würde es Spanisch sprechen.

Da gabs Kontra. Aber wie. Das hatte ich gar nicht erwartet. Nein, Spanisch war das, was alle Kinder automatisch sprachen. Spanisch sei auch gar keine Sprache. Englisch und Kechua und Aimará und Deutsch, das seien Sprachen, aber Spanisch sei einfach das, was die Kinder sprachen, wenn ihnen niemand was anderes beibringen würde. Kinder fingen automatisch von sich aus an, Spanisch zu sprechen, das bräuchte ihnen niemand beizubringen. Spanisch konnte man von daher auch gar nicht als Sprache bezeichnen. Spanisch sei im Prinzip auch nicht im eigentlichen Sinne Sprechen. Nur Sprachen könnte man auch sprechen. Aber das peruanische Schulsystem sei so schlecht, sie würden einem selbst in der secundaria nicht einmal das Sprechen beibringen!

- Wir können nichts, wir können genauso viel wie die Kinder, nicht Kechua, nicht Englisch, nicht Französisch, nichts!

- Aber ihr sprecht doch- ihr unterhaltet euch- auf Spanisch-

- Nein, das ist echt so. Sie bringen uns in der Schule wirklich nicht das Sprechen bei.

- Na, was man alles noch lernt hier. Jedenfalls wenn du von einem Amerikaner ein Kind bekommen würdest, und es würde hier aufwachsen, würde es auch kein Englisch können. Wenn ihr ein Kind isolieren und kein Wort zu ihm sagen würdet, würde es übrigens gar keine Sprache lernen, auch kein Spanisch. Dann könnte es wirklich nicht sprechen.

- Glaube ich nicht. Die Kinder fangen von sich aus an mit Spanisch, das bringt denen niemand bei.

- Die Kinder bringen sich das doch gegenseitig bei-

- Nein, die fangen von selber damit an. Das ist angeboren.

- Dann müssten die Kinder in anderen Ländern damit doch auch von selber anfangen. Aber in den USA können sie nur Englisch.

- Eben! Denn bei denen ist Englisch angeboren!

- Du darfst nicht denken, wenn du mit einem Amerikaner schläfst, hat dein Kind hier bessere Berufsaussichten, weil es perfekt Englisch kann!

Hätte es doch, meinten sie übereinstimmend, weil es blond wär und eine hellere Hautfarbe hätte.

Irgendwann wurde die Strasse besser und nach einem halben Tag waren wir schliesslich in Sullana. Die Leute stiegen aus, teilten die Mangos auf und trennten sich, gingen ihrer Wege, verschwanden allmählich in den Strassen der Stadt. Das Mädchen und ihre Freundin blieben noch stehen.

Wenn das nette Mädchen jetzt irgendeine Infrastruktur geboten hätte, vielleicht ein Haus in der Nähe, eine nette Familie, ein Wohnzimmer mit Teppichen, ein kleines Zimmer zum Ausruhen, ein Dach zum Reparieren oder einen Text aus dem Englischen zum Übersetzen - vielleicht wäre diese Geschichte dann anders ausgegangen. Aber dort wo sie wohnte, schienen andere auch zu wohnen. Und es schien auch so, dass es darunter durchaus welche gab, die es gar nicht so gut fänden, wenn sie auf einmal ein Kind bekommen würde. Und zwar weil es davon in dieser Gegend offenbar schon genug gab.

- Vielleicht würde ich mit dir schlafen. Ich weiss es nicht. Ich finde dich nett, wirklich. Aber wenn, dann würde ich mich auch um das Kind kümmern wollen, und dazu müsste ich in dieser Stadt leben. Ich müsste hier ja eine Arbeit finden oder sowas.

Das hatte ich vorher auch schon gesagt, und sie hatte entgegnet, das bräuchte ich gar nicht, sie wollte gar keinen Partner haben, nur ein Kind.

Aber es schadete nicht, so etwas nochmal zu wiederholen. Anscheinend gab es hier nicht viele Väter, die sich auch um ihre Kinder kümmerten, und boten für die Frauen und Mädchen wohl kaum einen Anreiz, mit ihnen zusammenzuleben. Ich ging die Strasse nach Piura raus.

Jetzt musste ich mir langsam überlegen, wo ich hinwollte. Die Panamericana führte hinter Piura bald wieder an die Küste und hielt sich fortan über tausende von Kilometern an der Küste, Chiclayo-Trujillo-Lima und weiter nach Chile. Aber die wüstenartige Küste stellte ich mir langweilig vor, ich mochte die Anden lieber. Und hier im Norden Perus seien die Berge noch friedlich, war mir gesagt worden, nicht wie weiter südlich, in Huancayo und Cusco, wo die Guerilla vom Leuchtenden Pfad ihr Unwesen trieb.

Ein Lkw hielt an und nahm mich mit. Wieder hatte ich keinen Daumen rausgehalten. Zwei Fahrer, sie fuhren bis Chiclayo. Also erst einmal Richtung Piura, die Strasse nach Süden.

Ja, wenn das Mädchen vorhin irgendeine Struktur geboten hätte. Wenn. Hatte sie aber nicht. Ich wusste nur, dass der Weg lang und schmal war, und dass ich um einen besonderen Schutz gebeten hatte. Ich war offen, ich wusste nicht, ob ich wie Lina leben sollte oder nicht, ob ich auf Viktoria warten sollte oder nicht, und daher hätte ich jede Struktur, die so ein Mädchen geboten hätte, als von Gott genehmigt angesehen. Ich hatte extra darum gebeten, das Leben eine Zeitlang mal so sehen zu dürfen. Einen besonderen Schutz. Unsterblich war ich vorerst sowieso. Und jetzt hatte ich auch noch einen besonderen Schutz vor Versuchungen, die mir nicht gut tun würden.

Die Katholiken würden jetzt sagen, ich hatte gebetet, keine Sünden begehen zu können. Die Katholiken würden auch sagen, so etwas wäre gar nicht möglich. Wie facettenreich das Leben war, und was alles möglich war, hatte ihnen Jesus von Nazareth doch versucht zu erklären.

Der Vorteil davon, auszusehen wie ein gringo, war, dass niemand vermutete, dass ich perfekt Spanisch sprach. Also hatten sie mich die ganze Zeit mit meinen Gedanken alleine gelassen und hin und wieder untereinander ein paar Worte gewechselt. Irgendwann waren meine Gedanken dann wieder bei Viktoria und der Strasse, die mir entgegenkam und mich Kilometer für Kilometer der Person näherbrachte, die ich einmal heiraten sollte.

Und genau das war der Zeitpunkt, endlich aus meinen Tagträumereien aufzuwachen und mich mit den Truckern zu unterhalten. Hier war Peru. Und da gabs auch was zu lernen.

Oh, du sprichst ja Spanisch, hatten wir gar nicht erwartet. Schnell verstand ich, warum die beiden mich mitgenommen hatten.

- Du bist ein gringo, da wissen wir, dass wir keine Angst haben müssen. Und es ist immer besser, wenn wir zu dritt im Wagen sind. Peru ist nicht so sicher, weisst du.

Vor Piura hielten sie an und der Beifahrer kletterte hinten auf die Ladung. Ich sah den Fahrer fragend an.

- Zum Bewachen. Es kommt oft vor, wenn wir an den Ampeln stehen, dass welche auf den Lkw springen und einfach die Ladung abwerfen. Du ahnst gar nicht, wie schnell das geht. Es hat schon Fälle gegeben, da haben sich die Fahrer hinterher gewundert, dass ihr Truck leer war. Und wenn du hier vorne sitzt, ist das gut für meine Sicherheit. Andere Banden kidnappen nämlich den Fahrer.

- Aber das können sie doch auch, wenn wir zu zweit sind.

- Zu gefährlich. Die denken natürlich, dass wir beide bewaffnet sind. Vor allem du. Wir Trucker sind hier alle schwer bewaffnet, aber als Fahrer achtest du eben oft auf den Verkehr, und das nutzen die aus. Ein Beifahrer braucht nicht auf den Verkehr zu achten.

Interessant. Als Tramper warst du in Peru jemand, der den Truckern eine Dienstleistung entgegenbrachte. Zumindest als Weisser.

Nein, nicht nur Weisse, meinte er. Ausländer allgemein. Schwarze würde er auch sofort mitnehmen, Asiaten auch, nur keine Einheimischen. Auf keinen Fall. Das könnten welche sein, die mit den Banden zusammenarbeiteten. Alles schon vorgekommen.

Die Panamericana führte hinter Piura erst einmal nach Osten, auf die Anden zu, um dann einen Bogen zu machen und nach zweihundert Kilometern bei Chiclayo wieder auf die Küste zu treffen. Ich hatte mir in der Peru-Karte, die mir Norbert nach Bogotá geschickt hatte, einen Ort in den Bergen mit dem klangvollen Namen Huancabamba ausgesucht. Es klang so schön Quichua. Und wie es der Zufall wollte, befand sich an der Abzweigung der Strasse, die von der Panamericana in die Berge führte, ein kleiner Ort, Carasquillo, mit ein paar Imbissbuden und einem Truck Stop. Inzwischen war es dunkel geworden.

Bei Dunkelheit fuhren sie nicht, zu gefährlich, und übernachteten hier. Die Lkws wurden auf bestimmte Weise hingestellt, sodass sie gut zu bewachen waren. Ein Mädchen gesellte sich zu uns und unterhielt sich ein wenig mit den Truckern und dem gringo. Ob ich mit ihr schlafen wollte, meinte sie. An den Truck Stops gab es immer Mädchen, die sich in der Prostitution ein wenig Geld verdienten. Nein, meinte sie, nicht für Geld. Sie würde gerne ein Kind von mir haben, deshalb. Ich war nicht mehr ganz so überrascht wie vor Sullana.

Geschlafen wurde an solchen Stellen oben auf den Trucks, auf der Ladung und unter den Sternen. Die Nächte waren hier besonders klar. Peruanische Küstenwüste, achtzig Kilometer weiter lag der nächste Ort an der Panamericana.

4. Dezember 1988

Ich wollte in die Berge und der nächste Ort auf der staubigen Piste in Richtung der Anden war nur zwanzig Kilometer entfernt. Buenos Aires. Gut, dass ich mir genug Wasser mitgenommen hatte. Sonntags war besonders wenig los auf den Strassen. War auch gut so, bei der Staubpiste. Nach ein paar Stunden erreichte ich am frühen Vormittag den Río Piura, durch dessen bewässerte Talebene die Strasse weiter auf die Berge zu führte. Ausser ein paar mageren grauen Eseln und eingestaubten Mangobäumen war hier kaum etwas los.

In diesem Jahr war die Regenzeit ausgeblieben, das kam hier immer öfter vor, und entsprechend staubig war die Landschaft. Nur der Piura führte noch Wasser und der grüne Mangobewuchs im Flusstal glich einer Oase in der Staubwüste.

Als ich ein paar Stunden die Strasse entlanggegangen war, nahmen mich welche mit, die in die Mangos fuhren, bis Serrán, wo die Strasse nach Huancabamba das Flusstal verliess und das Land noch trockener wurde. Ab hier gab es auch keine Ziegen mehr, nur noch die Esel, die einzigen Tiere, die sich hier noch von dem verdorrten Dornengestrüpp ernähren konnten.

Wir machen das mal spannender und wechseln den Schreibstil. Die Geschichte, die sich jetzt entwickelt, erzähle ich eigentlich nicht so gerne.

Brief Forum 13 (Dezember 1988)

Ein Auto kommt an, fährst erst noch an mir vorbei, hält dann aber an und fährt zurück. Blonder Typ am Steuer. Wohin ich will, fragt er mich. Wir unterhalten uns auf Spanisch. Er fährt nur ein kleines Stückchen, aber natürlich nimmt er mich gerne in seinem Jeep mit. Sehr gut, dann brauche ich wenigstens dieses Stück nicht zu laufen.

Da er Spanisch mit Akzent spricht, frage ich ihn, aus welchem Land er sei.

"De Alemania."

"O, de Alemania. ¿De Alemania Occidental o de Alemania Federal?"

Er musste lachen. Den Gag musste ich einfach bringen, ihn zu fragen, ob er aus Westdeutschland oder aus der Bundesrepublik Deutschland sei. Diese Frage kommt mir hier alle Tage.

Hm. Wie kommt ein Deutscher mit Auto in diese Gegend?

"Tourist?"

"Nee, ich arbeite im Entwicklungsdienst."

Er fährt nicht weit, aber er erzählt mir viel über Peru.

"Je weiter du jetzt nach Süden kommst, desto kritischer wird das. Hier im Norden ist es noch ruhig, aber weiter im Süden dann - besonders Huancayo, Ayacucho, auch Cusco..."

In Macchu Picchu hätten sie gerade ein holländisches Ehepaar ermordet. Wer wohl auf solche Ideen kommt? Sendero Luminoso, der Leuchtende Pfad, die maoistische Linksguerilla?

"Das sind nicht die Senderos, die kümmern sich eigentlich wenig um Ausländer. Das sind Banditengruppen, die dort seit Neuestem losziehn, auch Alkoholismus spielt da ne Rolle. Weiter im Osten dann natürlich auch die Narcos, die Drogenguerilleros, naja, du musst selber wissen ob du da hingehst."

Doch im Norden sei es ruhig, hier in dieser Gegend sei noch nie etwas passiert.

In Chandro setzt er mich ab und ich setze mich noch ein bisschen unter einen schattigen Baum. Jetzt ist es nicht mehr weit bis zu den Bergen im Osten. Hier fange langsam die peruanische Schweiz an, hatte er noch gemeint.

Als ich gerade losgehen will, winkt mich einer zu seinem Haus. Und er hat recht: ich habe heute überhaupt keine Lust mehr, in der Hitze weiterzulatschen. Also nehme ich seine Einladung an und bleibe den Tag über in Chandro.

Am Morgen komme ich sehr früh los und gehe auf die Berge im Osten zu. Doch weil der Weg so total mies gelegt ist, habe ich seit halb sieben die ganze Zeit ununterbrochen die Sonne im Gesicht. Es ist natürlich ein ungewöhnliches Bild für die Einheimischen - ein gringo, mit Rucksack und Schlafsack, der allein durch die Gegend gelaufen kommt. Aber die Leute sind alle sehr freundlich, zwei gehen mit mir ein Stückchen lang, in Santa Rosa eine Limo zur Erfrischung, Autos wollen keine vorbeikommen.

So bin ich am Mittag zu Fuss in Canchaque, ein schönes Bergdorf, wo ich auch freundlich begrüsst werde. Sie beschreiben mir, wo der Weg nach Huarmaca abgeht, weil Huancabamba für mich ein Umweg wäre. Huarmaca seien ein paar Tage zu Fuss, es soll ziemlich hoch oben liegen und von dort gäbe es wieder eine Strasse zur Hauptstrasse Chiclayo-Pucará. Die Strasse, die von der Küste abgeht, die Sierra überquert und im Oriente, im Amazonasgebiet landet.

So nehme ich den Weg nach Huarmaca und verlasse das Dorf zusammen mit ein paar Typen, die mit ihren grossen Macheten in die Felder gehen. Canchaque habe ich schon fast hinter mir, als mir ein paar Mädchen nachrufen - "¡Gringo!". Aber schon solche von der wirklich eindeutigen Sorte. Die Typen, die gerade mit mir langgehen, bräuchten mir nicht mehr zu erklären, was das wieder bedeuten soll - "quieren un hijo tuyo", sie wollen ein Kind von dir. Schon das dritte Mal in meinen zweieinhalb Tagen Peru. Guter Schnitt.

"Warum gehst du nicht hin? Ist doch n Angebot!", meint der eine, mit dem ebenfalls vollkommen eindeutigen Lächeln auf den Lippen.

"No, gracias", danke, ich hab Respekt vor der Bevölkerungsexplosion.

Ein anderer Arbeiter, schon etwas älter, hat eine Erklärung, warum ich nicht will.

"Ja, stimmt, die Deutschen sind sehr rassistisch. Jaja, das ist bekannt..."

Gringo. Was mich auch nervt, ist, dass der Weg keine Anstalten macht, endlich mal ein bisschen nach oben in die Berge zu gehen. Nein, er hält sich strikt auf der Höhe von 1250 Metern, führt die ganze Zeit am Hang entlang, wo Bananen, Mangos und Mais angebaut werden. So schön die Aussicht nach Westen ist, ich wollte doch in die Berge.

Noch ein Dorf kommt und will nicht aufhören. Hier jetzt schon an jeder Ecke, besonders die Kinder - "¡Gringo!" Hat sich das Bild geändert? Ja, wie auf einen Schlag.

Endlich werden die Häuser weniger. Hier haben sie wohl alle Häuser, die sie zur Verfügung hatten, genau an diese Strasse hingebaut, die sich immer noch am Berghang entlangzieht. An einem Haus bin ich schon fast vorbei, als plötzlich ein paar Typen rauskommen und mich zu sich herrufen. Gringo.

Ob ich was zu verkaufen hätte. Sie sind betrunken. Nein, ich hab nichts zu verkaufen. Ich hab nur was zu verschenken. Aber das ist nicht im Rucksack. Ich geh weiter.

Alkoholismus. Sehr verbreitet bei den Indianern. Diese Leute hier sprechen allerdings nur Spanisch, keine Indianersprache.

Mieser Köter. Die Sonne senkt sich nur ganz langsam. Autos kommen hier gar keine vorbei, das hatten sie mir aber vorher gesagt. Noch ein mieser Köter.

Die Leute, die hier wohnen, laden mich nicht ein, mich zu ihnen auf die Bank am Haus zu setzen, oder wie gestern in Chandro, nein, das hier ist eine andere Gegend. Wie bin ich mir nur so sicher in der Einschätzung dieser Region? Erst seit zwei Stunden bin ich auf dem Weg nach Huarmaca.

Ich glaube, es sind die Köter. Schon Bettina in Honduras hatte gesagt, die Haustiere spiegeln die Menschen wieder. Okay, wenn ich an einem Haus vorbeigehe, der Hund liegt vor dem Haus und pennt im Schatten, sieht mich erst, als ich fast schon vorbei bin, und kommt dann über ein paar hundert Meter kläffend hinter mir her, dass ich mich frage, ob er nicht bald heiser wird - na gut, dann ist es eben ein mieser Köter. Etwas anderes ist es, wenn an der Strasse jeder Köter vor jedem Haus das bringt.

Ich habe Glück, als mich am Nachmittag Jorge, der junge Dorfarzt von Huasimal spontan einlädt, die Nacht im centre salud, dem Krankenhäuschen zu verbringen. Ich unterhalte mich ein bisschen mit den Leuten. Ein Händler meint, von jetzt an bis Huarmaca sei mit den Leuten überhaupt nichts mehr zu wollen.

Als ich am nächsten Morgen weitergehe, nervt mich zunächst mal, dass der Weg sich immer noch an diesem Berghang hält und keine Spur steigen will. Ausserdem hatte der Händler von Huasimal recht: die Kinder trauen sich hier noch nicht einmal mehr, gringo zu rufen. Der Grossteil der männlichen Einwohner, die ich sehe, ist betrunken, und ganz scheu sind die Frauen. Eine Indianersprache sprechen auch sie nicht, auch wenn sie kein bisschen spanisches Blut haben.

Ich kann mir denken, was hier passiert ist. Viele Indianervölker in Peru haben ihre Sprachen aufgegeben und Spanisch gelernt, weil sie dachten, damit käme der grosse Fortschritt und alle würden reich werden. Doch der grosse Fortschritt blieb aus und sie wurden noch ärmer als vorher: heute können sie nicht einmal mehr ihre eigenen Gedanken in einer dafür geeigneten Sprache ausdrücken. Sie wirken hilflos.

Zwei sind am Mittag bei einem Haus dabei, Bambusrohre zu spalten, laden mich spontan zum Verweilen ein. Sie geben mir Wasser. Ich glaube, sie sind nicht von hier. Als ich gehen will, bringen sie sogar noch einen Teller Essen an. Und ich weiss, es ist mein Abendessen. Ich mach den Fehler und geh weiter.

Tolingas erreiche ich noch, es ist am Dunkelwerden. Auch hier sind die Leute etwas ängstlich, aber im Ort nicht ganz so scheu. Während ich meine Wasserflasche auffülle, unterhalte ich mich mit einem Mann, der vor seinem Haus sitzt. Nach Huarmaca sei es wesentlich kürzer, den steilen Pfad direkt hochzugehen und nicht die Strasse weiter. Ja, das hatten mir die beiden von heute Mittag auch gesagt.

Nein, er macht keine Anstalten, mich zu fragen, ob ich schon weiss, wo ich übernachten will. Aufdrängen will ich mich nicht - ich kann ja auch im Berg schlafen. Und so mache ich mich auf den Weg, den steilen Pfad nach oben.

Es wird schnell dunkel, aber der Pfad ist gut zu sehen.

Komisch, dass das bei denen keinen Eindruck gemacht hat, von Canchaque zu Fuss gelaufen zu kommen. Sonst löst sowas doch immer fast schon Mitleid aus. Alleine heute von Huasimal waren es vierzig Kilometer. Vielleicht sind sie's hier ja gewöhnt, so weite Strecken zu Fuss zu gehen. Meine Füsse sind jedenfalls schwer, ich bin schon ziemlich fertig und gehe nur noch ganz langsam.

Sie meinten noch, etwas weiter oben am Berg gäbe es wieder Wasser. Genau, dazu hätte ich jetzt absolut Lust, mich vor dem Schlafen nochmal mit schönem kühlen Bergwasser zu waschen. Es wird immer dunkler, heute ist kein Mond. Ich höre Stimmen... Leute kommen von unten.

Es hat keinen Zweck, das check ich sofort, zu versuchen, den Pfad schneller nach oben zu gehen. Wieviele sind das denn? Vier oder fünf. Schon haben sie mich eingeholt. Alles Männer. Oder sechs.

"Geht ihr auch nach oben?", frage ich.

"Ja, wir gehen auch nach oben."

Puh, ich dachte schon, sie wollten mich überfallen. Also gehen wir zusammen. Das ist gut, denn sie kennen den Weg. Und auf einmal kann ich wieder schneller gehen.

Es entwickelt sich ein Gespräch, das aber sehr bald stark nach einer Seite abkippt. Andere unterhalten sich mit mir, weil es ihnen Spass macht, sich mit einem Ausländer zu unterhalten, der von weit her kommt. Aber bei ihnen habe ich schnell das ungute Gefühl, sie wollten bestimmte Sachen aus mir rauskriegen. Also pass ich auf, was ich sage.

Sie unterhalten sich auch nicht untereinander, das ist das total Verdächtige. Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her.

Das hier ist jetzt das letzte Haus, an dem wir vorbeikommen. Von unten hatte ich gesehen, dass darüber keine Häuser mehr standen. Was wollen die da oben?

Es ist jetzt fast vollkommen dunkel. Ich bin fast schneller als sie; ich wundere mich, dass ich so schnell bin. Aber ich weiss genau, ich gehe wieder mal auf Reserve. Nach Huarmaca wollen sie doch bestimmt nicht. Der eine fängt das Gespräch wieder an. Kein langes Gespräch, das hatte ich schon geahnt.

"So, hier bleiben wir stehen, ein bisschen ausruhn, ja, kein Problem, nur ein bisschen ausruhn, damit wir uns ein wenig unterhalten können."

Mit anderen Worten, sie zwingen mich stehenzubleiben. Postieren sich um mich. Irgendsowas musste ja kommen.

"Nur ein bisschen unterhalten, und dann werden wir weitersehen."

Ha, sind ganz schön aus der Puste.

Ich soll meinen Rucksack ablegen, angeblich wollen sie meine Papiere sehen. Es kommen noch mehr, sieben, acht, am Ende sinds zehn oder so. Darunter einige ganz schön dunkle Gestalten. Einer hat eine Kerze und liest sich den Visumszettel durch.

Was sind denn das für komische Typen?! Andere sagen Geld her, oder nehmen Rucksack und Schlafsack und haun damit ab, jedenfalls hab ich mir das immer so vorgestellt. Ein Jüngerer mit Jackett kommt angeschnauft und tut sehr wichtig.

"Ja, also, wir haben hier in dieser Ortschaft das Recht, jeden, der uns verdächtig vorkommt, nach seinen Dokumenten zu fragen - also - deine Papiere."

"Ja, hier, der hat die, Reisepass und Visum."

"Ja- äh- äh- hm, würdest du mir bitte erklären, was das jetzt auf Spanisch bedeutet, hier im Reisepass?"

Ja, okay, laber laber, das hab ich in Honduras gelernt...

"Und warum ist Nachname deiner Mutter nicht im Reisepass?"

Oh, den muss ich wohl beim Fälschen vergessen haben. Dreimal muss ich ihm erklären, dass die Leute in den nicht-Iberisch sprachigen Ländern nur einen Nachnamen haben. Will er nicht wahrhaben. Komisch, die in Honduras haben da schneller durchgeblickt.

"Ja, gut, Reisepass. Weitere Dokumente-"

Nix weitere Dokumente, Reisepass und Visum. Nein, er will weitere Dokumente.

"Deine Dokumente, um dich auszuweisen!"

"Da, Reisepass."

Bl. Will wohl meine Militärkarte sehen, erzählt mir von einer Ausweiskarte, die man braucht, um den Präsidenten zu wählen. Also weisst.

Nein, das macht keinen Spass. In Honduras hat das immer Spass gebracht, und in Nicaragua auch. Als ich noch mit der Bundesrepublik-Deutschhund-Karte aufgeschockt hab und solche Geschichten.

Sie einigen sich darauf, dass ich im Schulhaus schlafen soll, und so gehen wir den ganzen Weg wieder runter. Das Schulhaus ist sehr funktionsgerecht gebaut - mit Gittern vor den Fenstern. Eine Lehrerin kommt endlich mit dem Schlüssel und schliesst ein Klassenzimmer auf, hier rein.

Nein nein, nicht nur ich. In kürzester Zeit haben sie das halbe Dorf zusammengetrommelt, das ist natürlich die Attraktion.

Waschen hab ich schon längst von der Wunschliste gestrichen, ich will nur noch schlafen und morgen früh los. Aber erstmal ist nix mit schlafen - erstmal ist grosses Verhör. Mit Publikum. Sie können es sich, noch schlimmer als im übrigen Kontinent, überhaupt nicht vorstellen, dass jemand einfach so sein Land und Papa und Mama verlässt und das auch noch gut findet.

Wieder: wo ich hinwill. Na gut, kein Problem zu sagen, wo ich hinwill, hier bleiben bestimmt nicht.

"Von hier nach Huarmaca, von da auf die Hauptstrasse nach Pucará, und von da nach Cajamarca."

Tuscheltuschel, dann:

"Woher kennst du diese ganzen Orte? Ich denk du bist nicht von hier."

Was ich von Terrorismus halte. Ja, genau, darin muss die Lösung liegen. Ganz vorsichtig tastet mein Autoritäten-Chef sich vor, zweifellos ist er überzeugt, er habe das sehr geschickt gemacht, bis er schliesslich bei der ultimativen Frage angekommen ist.

"Hast du jemals etwas vom Leuchtenden Pfad gehört?"

"Nein, was ist das?" Und auf Deutsch füge ich hinzu: "Und ausserdem mach ich dich jetzt fertig."

Warum muss das Publikum mein Nachteil sein? Und ich will jetzt was zum Lachen haben. Ich wäre nicht bei Steffen in die Schule gegangen, wenn ich hier nicht gleich etwas zum Lachen draus machen würde. Ich ahne schon, was gleich kommt.

"Also- äh- ich mein es wär besser, auch zur Beruhigung aller hier, wenn du uns die Sachen zeigst, die du im Rucksack hast-"

Nehmt nur Nicaragua weg, hab ich das bis jetzt nur ein einziges Mal machen dürfen. Der Abend in Palacios an der honduranischen Karibikküste, bei den Militärs, die mich mit Maschinengewehren aus dem Bett geholt hatten. Aber da gab es einen wesentlichen Unterschied: in Peru laufe ich nicht schon seit Tagen mit einem abgelaufenen Vier-Tages-Transitvisum rum.

Wasserflasche. Den halben Liter hab ich eben doch noch vor aller Augen aufgefüllt, am Wasserrohr.

"Was ist das?"

"Wasser."

"Wasser?"

"Nein, Benzin für Molotow-Cocktails, nix weiter", und trinke einen Schluck draus. Prüft er ganz vorsichtig misstrauisch nach.

"Und was hast du da?"

"Steht doch drauf: Wanderkarte von Chile." Die mir Norbert nach Bogotá geschickt hatte. Jede einzelne Seite kuckt er durch. Die Karten von Peru und Südamerika zeig ich ihm nicht.

"Und diese Zettel?"

"Propaganda vom Leuchtenden Pfad." Ah, meine Italienisch-Zettel, und auf der Rückseite die geistreichen Anmerkungen über Liebe in der Ehe von Alex von Bogotá.

"Nein, die Propaganda vom Leuchtenden Pfad ist in diesem Heft hier, nur leicht verschlüsselt." - das bunte Heft aus Bogotá mit meinen vierhundertvierundsiebzig Vokabeln in acht Sprachen. Eigentlich ein altes Schulheft von Yudy, halb voll mit Mathe zweites Schuljahr. Ihr Name steht vorne drin.

"Wer ist Yudy Constanza Serrano?"

"Die Tochter von Mireya."

"Und wer ist Mireya?"

"Die Tochter von José."

(Und so weiter.)

Zahnbürste.

"Nein, das ist zum Bombenputzen."

"Was ist das? Ah - Zahnpasta."

Noch von Ecuador, sieht wohl anders aus.

"Nein, nicht für die Zähne, zum Bombenschmieren braucht man das."

Langsam wird die Stimmung gut. Das Päckchen von Vollrath mit den Schnecken, jetzt wirds kritisch. Er glaubt natürlich, dass da nichts als lauter Drogen drin sind. Eine Fotokapsel mach ich ihm auf. Ein paar zwei Zentimeter kleine Landschnecken sind drin.

"Woher hast du die?"

"Kann ich mal das Fundortlabel sehen? 10 km westlich Susudel, Provinz Azuay, Ecuador."

Die Paketschnur um das Päckchen prüft er ganz genau nach, mit den Zähnen.

"Na, wie ist das Urteil?", und mit Blick auf die eine Lehrerin: "Spezialist!" Alles lacht. Jetzt endlich verliert er die Lust.

"Ja, okay dann- ach so, hast du schon was gegessen, sollen wir dir Abendessen bringen?"

Da hätte er früher draufkommen können.

"Nein, danke."

Finden sie natürlich auch verdächtig. Aber sie gehen und lassen mich alleine. Und sperren die Tür zu.

Ein paarmal kommen sie noch an und schauen nach, ob ich auch wirklich schlafe. Na logisch penn ich, Kerls, wozu ist denn ne Schule anders da als zum Pennen?!

Morgen. Ich will eigentlich früh los, weil ich keine Lust hab, die angeblich zwei, also drei Stunden nach Huarmaca in der Mittagssonne hochzuhecheln. Witzig sind sie auch noch: sperren mich abends ein und haben am Morgen angeblich keinen Schlüssel, um wieder aufzuschliessen.

Aber wer gut ist, kann die Tür auch ohne Schlüssel aufmachen, idiotensicheres System, haben wir schon bei Ernst Wenzel im Rackersberg gelernt, und ab gehts den Pfad nach oben. Aber ein bisschen schneller als gestern Abend.

Am Mittag bin ich endlich in Huarmaca - und die Leute sind fast genauso freundlich wie in Tolingas und bringen mich direkt zur Landpolizei, der Guardia Civil. Ein besonders diensteifriger - Bulle - will auch genau wissen, was ich alles im Rucksack hab. Genauer noch als die Nicas, denen ich ja immerhin den wichtigsten Zettel, die Erlaubnis vom honduranischen Coronel Sánchez, verheimlichen konnte. Die Paketschnur hält auch er für ne Zündschnur. Und jede einzelne Schneckenfotokapsel muss geöffnet werden.

"Hast du keinen Fotoapparat?"

"Nein, ich mal die Landschaft immer ab." Idiot. Kann ich nicht einmal die Fresse halten, nur ein einziges Mal?

"Ah, du kannst also zeichnen? Und wo sind deine Bilder?"

"Haben sie mir in Kolumbien geklaut." Das stimmt sogar.

"Du bist aber gestern beobachtet worden, wo du dich an den Wegrand gestellt und einen Berg und einen Baum abgezeichnet hast."

"So, wer hat denn das beobachtet?"

"Ja, den werden wir gleich bringen."

"Hier hat der nix zu suchen, den könnense gleich zum Augenarzt bringen."

Natürlich kuckt das ganze Dorf zu, als ich vor ihm auf dem Tisch meine ganzen Sachen auspacken darf. Ich trödel mit Absicht - hab eh keine Lust, jetzt in der Mittagssonne loszulatschen. Und ich werde sofort losgehen, auf dem direkten Weg aus dem Dorf, weil sich in den nächsten Minuten gleich die Gerüchte verbreiten werden, was ich alles für tolle Sachen im Rucksack hab - besonders die Kugelschreiber.

Nein, und jetzt auch noch die Sachen aus der Jacke - jetzt hab ich bald kein Bock mehr. Bulle. Endlich kommt sein Chef an und sagt ihm, dass ich die Sachen aus der Jacke nicht auch noch auspacken sollte. Nur Reisepass und Visum, und er erklärt dem anderen Bullenseppl erstmal, was das überhaupt ist.

Mein Problem ist, dass ich immer dringender aufs Klo muss, aber natürlich jetzt meine Sachen nicht alleine lassen kann. Als ich aus dem Häuschen endlich entlassen werde, gehe ich mit einigen Leuten die Strasse Richtung Ortsausgang entlang. Irgendwann befinde ich mich in einem Haus. Aber aufs Klo gehen kann ich hier auch nicht. Zwanzig oder dreissig Leute würden mir zukucken! Ich muss los, so schnell wie möglich aus dem Dorf.

Hier verirren sich wirklich nur ganz selten Fremde in die Gegend... naja, kein Wunder. Als ich aus dem Dorf herauslaufe, kommt eine Horde von hundert oder hundertzwanzig Kindern hinter mir her.

Ich gehe einfach weiter, immer weiter die Strasse entlang. Bald sind es nur noch vierzig Kinder. Zwanzig. Fünfzehn. Zehn. Sechs . Drei. Zwei. Eins. Und Ruhe, nochmal umdrehen - und endlich pissen!!!

Obwohl ich den ganzen Nachmittag laufe, erreiche ich die Hauptstrasse am Abend nicht. Autos sind keine vorbeigekommen. Es wird dunkel und ich gehe zu einigen kleinen Lehmhäusern etwas oberhalb der Strasse. Es wird dunkel. Mist, nur lauter Kinder oder ängstliche und total scheue Frauen. Ha, da, an der Türe, endlich ein Typ "männlich, erwachsen". Heute kein Mond, in zehn Minuten wird es dunkel sein.

"Guten Abend, ich komme gerade von Huarmaca gelaufen, bin den ganzen Tag unterwegs gewesen und meine Beine sind schwer und müde."

"Ja. Ja, das müssen sie auch sein."

Die Landbevölkerung bis Canchaque war sehr christlich eingestellt gewesen und so eine Sprache fand ich eigentlich ziemlich angemessen. Ich hatte es in einer vergleichbaren Gegend auch noch nie erlebt, dass sich nach so einem Satz kein Gespräch entwickelte. Verstanden hatte der ältere Mann, was ich gesagt hatte.

"Also, es ist so: ich müsste zu der Hauptstrasse, aber das ist ja noch weit, das werd ich heut Abend wohl nicht mehr schaffen."

"Nein, die Hauptstrasse ist gleich da unten, das ist ganz nah, du kannst diesen Pfad da langgehn, da kürzt du die Strasse ein bisschen ab."

Fünfzehn Minuten Pfad, ich erreiche die Strasse wieder, ein paar Häuser sind noch da. Mist, einige sehen mich und beginnen, mich zu verfolgen. Miese Situation. Aber jetzt ist es gleich total dunkel, nur noch die Sterne.

Zwei Typen nehmen die Verfolgung auf, kommen hinter mir her, vielleicht siebzehn Jahre alt, haben natürlich keinen Rucksack zu schleppen und holen langsam auf. Mist, selbe Situation wie gestern hinter Tolingas. Ich gebe nicht auf und laufe weiter, schliesslich habe ich nur einen halben Tag Strecke hinter mir. Die hinter Tolingas hätte ich auch abhängen können. Meine Augen sind gut an die Dunkelheit gewöhnt. Ein weiterer Vorteil. Und sie unterhalten sich laut, sind wahrscheinlich sogar betrunken. Mist, auch das noch, sie dürften gefährlich sein. Nein, auf keinen Fall stehenbleiben, ich laufe weiter.

Sie hinter mir her. Der Abstand verkürzt sich immer weiter, bald sind es nur noch zweihundert Meter. Rennen können sie nicht, es ist zu dunkel. Hören können sie mich genau. Ich sehe lieber zu, dass ich schnell gehe und entscheide mich dagegen, leiser und langsamer zu gehen. Sie merken auch, dass ich sie nicht mehr sehen kann, nur noch hören. Eine Zeitlang ist Stille. Haben sie aufgegeben? Wo sind sie? Haben sie mich lautlos eingeholt? Meine Ohren sind sicher schlechter als ihre. Indianer hören besser. Und sie können lautlos schleichen.

Da, einer ist auf die Schnauze geflogen. Endlich wieder ein Geräusch, aber unangenehmerweise noch näher als vorhin. Inzwischen ist es stockdunkel und da sie stolpern, scheinen sie bis vor kurzem noch ein einem beleuchteten Raum gewesen zu sein, ihre Augen noch nicht so gut an die Dunkelheit gewöhnt wie meine. Die Erosionsrinnen auf dem Weg sind tief. Ich muss selber aufpassen, dass ich nicht hinfliege. Ein paar Meter weit kann ich immerhin noch sehen.

Nochmal haut es sie auf die Schnauze. Und gleich nochmal. Sehr schön. Ich gewinne immer mehr. Der Abstand vergrössert sich wieder. Jetzt laufen sie vorsichtiger und langsamer. Irgendwann höre ich schliesslich, dass sie aufgeben und wieder den Rückweg antreten. Ich war wohl besser als sie und bin ihnen entkommen.

Sie gehen tatsächlich zurück. Ich schleiche noch hundert Meter weiter, verlasse die Strasse, gehe lautlos rechts den Berg herunter, auf dem ausser Stachelgewächsen nicht viel wächst. Neben ein paar Kakteen suche ich mir einen Platz zum Schlafen und lege mich hin. Hier wird mich niemand mehr finden. Zum Glück haben die keine Hunde.

Am Morgen stehe ich früh auf und wandere noch glatte drei Stunden, bis ich endlich, vielleicht fünfzig Kilometer hinter Huarmaca, die Hauptstrasse erreiche. Dort leben wieder aufgeschlossene Leute und sie reden nicht gerade sehr hochschätzend von den Leuten in den Bergen von Huarmaca.

"Das sind reine Indianer, aber die können nichts, weder Kechua noch Aimará noch sonstwas, die können wirklich überhaupt nichts!"

Kechua scheint bei den Peruanern hoch im Kurs zu stehen.

Ein Lkw nahm mich ein kleines Stück bis Tierra Blanca mit und mit langen Wanderungen an der Strasse und ein paar Tramps kam ich immer weiter nach Osten auf der Strasse, die in den Amazonasregenwald führte. Nach zwei Tagen war ich schliesslich in Pucará, wo ich ein einem kleinen Lokal, Rincón Pucareño, übernachten konnte.

Einige Mädchen kamen an. Na, welche wollte hier wohl mit mir schlafen und ein Kind? Anscheinend alle. Ein schüchternes, unscheinbareres Mädchen mochten die anderen wohl nicht, sie drängten sie ab und jagten sie davon. Es war meine Art, mir in solchen Situation in den Kopf zu setzen, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Irgendwann hatten sie es kapiert und ich konnte mich in den Schlafsack legen. Dann kam das Mädchen noch einmal. Sie hiess Mery.

Ob ich ihr etwas aufschreiben könnte. Irgendein paar Zeilen. Ich erzählte ihr etwas von mir, wie lange und wohin ich unterwegs war, und dass ich mich nicht um die Dinge wie Übernachten oder Essen kümmerte. Genau so, wie es in der Bibel stand.

Sie schrieb mir einen kleinen Zettel mit einem Gebet auf den Weg, dass Gott mir helfen und für mich sorgen möge. Sie musste es ausserdem ziemlich geschickt anstellen, mir diesen Zettel überhaupt zukommen zu lassen, ohne dass sie jemand dabei erwischte.

Ein anderer hatte mich in dieser Gegend einmal gefragt, ob ich predicador, Prediger sei. Hier kamen vielleicht manchmal nordamerikanische Missionare vorbei. Ich hatte ihm geantwortet, Bueno, ¿no es que, de alguna manera, todos nosotros somos predicadores? Sind wir nicht, auf irgendeine Weise, alle Prediger? Und er hatte gestaunt über den schlauen Spruch, und respektvoll gehaucht, oh ja, in der Tat, ein Prediger.

Die Gegend, in die ich nun kam, war grüner als die trockenen Wüsten der Küste. In den feuchten Tälern wurde Reis angebaut. Ein Lkw nahm mich bis Chamaya mit, ein weiterer über den Río Marañón nach Bagua Grande. Der Marañón war einer der grossen Quellflüsse des Amazonas. Hinter Bagua Grande, das einen etwas verstaubten Eindruck machte, nahm mich noch eine Fuhre Arbeiter im Pick-up truck ein paar Kilometer weiter nach Salao mit. Ich lernte Carlos kennen, der mich für die folgenden zwei Tage zu sich in sein Haus einlud.

Ich fragte mich, ob ich hier nicht länger bleiben könnte. Carlos wollte studieren und war sehr nett. Seine Familie hatte grosse Schweine.

"Die Leute sagen immer, unsere Schweine sind schöner als wir selber", lächelte er.

Er zeigte mir auch die Felder seiner Familie. Zwischen dem Reis wuchsen Zitrusfrüchte. Die heruntergefallenen Apfelsinen konnte ich mir nehmen. Zu spät merkte ich, dass ich damit einen fatalen Fehler beging.

Nach zwei Tagen bekam Carlos völlig unerwartet Probleme mit seiner Familie. Sie war reich und schien Carlos Schwierigkeiten zu machen. Er durfte ohne ihre Erlaubnis keine Leute von der Strasse bei sich übernachten lassen. Nein, auch keine Europäer. Es tat ihm sehr leid, dass er mir sagen musste, dass ich wieder gehen sollte. Wir tauschten unsere Adressen aus. Carlos war einer der wenigen, die mir später einmal geschrieben haben. Er hatte einen Studienplatz an der Universität in Lima bekommen.

Es wäre auch nichts dabei gewesen, dass ich weiter zog. Wenn ich nicht an dem Abend plötzlich krank geworden wäre. Ich bekam plötzlich Fieber. Zum Glück war es nicht Malaria, es schien etwas mit dem Essen zu tun zu haben. Carlos schaffte es noch durchzuchecken, was ich alles gegessen hatte, und zu prüfen, ob auch andere krank geworden seien. Das war nicht der Fall. Dann fragte er mich, wie viele Apfelsinen ich gegessen hatte. Tja, zu viele.

13. Dezember 1988

Am nächsten Tag kam ich mit einem Lkw bis Jazal, das war die Abzweigung nach Moyobamba, sechzig Kilometer den Río Utcubamba entlang. Doch ich konnte die Fahrt kaum geniessen, fragte mich immer wieder, ob ich nicht ernsthaft krank würde. Leider hatten die Symptome von gestern Abend nicht nachgelassen. Ich fühlte mich immer schwächer.

Der nächste Wagen nahm mich bis zur Abzweigung Chachapoyas mit. Ich musste mich entscheiden, ob ich im tropischen Klima des peruanischen Oriente bleiben sollte. Doch ich musste wieder zurück in das gemässigte Klima der Berge. Hier im Amazonastiefland war der Krankheitsdruck zu hoch. Auf meiner Karte war eine Strasse von hier in die Anden nach Cajamarca eingezeichnet, über Leimebamba und Balsas.

Würde ich krank werden? Mein Klopapier ging immer mehr zur Neige. Carlos hatte mir irgendein altes Comic-Heft mitgegeben.

14. Dezember 1988

Zehn Kilometer ging ich erstmal an der Strasse entlang, bis ich mich für ein carro nach Tingo entschied. Mit zwei anderen Bussen, wenn man die so nennen konnte, die mich als Tramper mitnahmen, kam ich an diesem Tag noch fünfundvierzig Kilometer weiter bis Leimebamba. Und wieder lief ich aus dem Ort raus. Ob ich aus dem Ort rausgehen sollte? Mist, in diesen Bergdörfern gab es kein Kafeníon wie in Kreta.

Und noch einmal hielt ein Lkw an. Er fuhr in die Nacht, erreichte am nächsten Morgen Celendín. Hinter Balsas überquerte er wieder den Marañón. Ich bekam kaum etwas davon mit.

Irgendwie muss ich am nächsten Tag noch zu einem Haus in Huaiñambra gekommen sein. Eine arme Familie aus dem kleinen Ort mit einer Oma, die mir etwas Tee machte. Kräuter oder Koka, es tat gut. Ich war so froh, dass sie freundlich waren, legte mich mit hohem Fieber auf eine Holzbank und musste bald danach eingeschlafen sein.

16. Dezember 1988

Am nächsten Morgen ging es mir nicht viel besser, aber immerhin konnte ich wieder aufstehen. Es musste gehen. Sie gaben mir noch etwas Tee und ich bedankte mich bei den freundlichen Leuten. Dann setzte ich Rucksack und Schlafsack auf, machte mich auf den Weg, ging die grosse Kurve entlang, aus dem Dorf nach Süden, immer höher in die Anden, inzwischen über dreitausend Meter. Ich hatte von Viktoria geträumt, was mich immer ein wenig beflügelte.

Ich hatte immer noch Fieber. Langsam und nur mit Mühe vorwärts kommend erreichte ich endlich die letzten Häuser des Ortes. Alle fünfhundert Meter musste ich stehenbleiben und mich ausruhen. Ich hielt an und ging etwas die Böschung runter, sammelte ein paar Schnecken für Vollrath. Es gab Clausilien. Wie in Kreta. Die Gehäuse waren grösser. Nach einer halben Stunde ging ich weiter. Ein Drittel meiner normalen Geschwindigkeit, aber es musste gehen und es ging auch.

Was wäre, wenn ich unterwegs krank würde?, wurde ich öfter gefragt. Nun, genau jetzt war es soweit. Dann konnte ich eben nur mit dreissig Prozent Geschwindigkeit gehen. Aber es ging trotzdem. Wer nie krank war, war auch nicht gesund, sagte ich mir. Nach vier Stunden hatte ich immerhin zehn Kilometer geschafft. Dann, der Lkw, der bis Cajamarca fuhr, die Rettung.

Er sah mich und hielt an. Ich konnte hinten raufklettern und mich zu den anderen auf die Getränkekisten stellen. Über hundert Kilometer in unendlich vielen Kurven, durch Kälte und Nebel, ging es durch die Anden.

Anfangs hoffte ich, ich würde es einfach nur schaffen, stehenzubleiben, so erschöpft war ich schon vom raufklettern. Doch es ging einigermassen. Ich hatte mich warm angezogen und hielt mich gut fest.

Nach vielen Stunden erreichte der Wagen Los Baños del Inca und wir sahen die Sonne herauskommen. Und am Ende der langen Fahrt hielt der Laster vor einem unscheinbaren Denkmal auf der Plazuela Los Lacas, von wo aus die Avenida Casanova in die Innenstadt von Cajamarca führte. Da ich nach Süden Richtung Chilete wollte, kletterte ich vom Wagen herunter, ging auf die Wiese der runden Verkehrsinsel und ruhte mich vor dem Denkmal aus.

Cajamarca.

Hier lernte Südamerika Europa kennen, am 16. November 1532. Es war ein katholischer Priester, Fray Vicente de Valverde, der an diesem Tag mit Kreuz und Bibel in der Hand Inka Atahualpa erklärte, er kenne den einzig wahren Gott. Was Atahualpa bezweifelte - ganz offensichtlich zu Recht - und ihn fragte, wer ihm das wohl gesagt hätte.

- Die Bibel, das heilige Buch.

- Gib es mir, damit es es auch mir sagen kann.

Der Inka hielt sich die Bibel ans Ohr. Wenigstens ein einfacher technischer Trick hätte ihnen einfallen können, wenn sie schon ihren Gott nicht dazu bringen konnten, ein Buch sprechen zu lassen. Aber nicht einmal das hatten sie fertig gebracht. Nein, die Bibel schwieg. Der Inka warf sie weg.

Woraufhin Pizarro, der genausowenig lesen konnte wie der Inka und sich bewaffnet hinter einer Wand versteckt hielt, mit seinen Leuten den Indianerkönig festnahm, entführte und eine riesige Lösegeldsumme in Gold forderte, die auch beglichen wurde. Inka Atahualpa wurde ein halbes Jahr später in der Gefangenschaft ermordet. So lernte Südamerika Europa kennen.

Die Kulturen der beiden Kontinente passten von Anfang an nicht zueinander. Valverde wurde vom Papst ein Jahr später zum Bischof von Panamá berufen. Und Francisco Pizarro 1541 in irgendwelchen Rivalenkämpfen ermordet.

Das Staatswesen, das die Inkas aufgebaut hatten, war zerstört. Die Bevölkerung der Anden bedauerte das bis heute. Entsprechend hoch stand die Sprache der Inkas im Kurs. Wer in Peru wegen seiner hohen Bildung bewundert werden wollte, brauchte nur zuzugeben, Kechua zu können. Auch die korrupte Regierung hatte den psychologischen Wert der Indianersprache begriffen und bei der letzten Währungsreform nicht nur drei Nullen weggestrichen, sondern den Namen der peruanischen Währung von Sol in Inti geändert. Die Sonne, Spanisch sol, hiess auf Kechua inti. Die Motive der Geldscheine waren ansonsten die gleichen geblieben.

In Bezug auf Kriminalität hatten sie in Cajamarca in den vergangenen fünfhundertsechsundfünfzig Jahren einiges aufgeholt, dessen konnte ich mir sicher sein. Wenn es mir besser gegangen wäre, hätte ich mir die Innenstadt ein wenig angesehen. Doch ich war krank und fühlte mich schwach, es ging zwar besser als heute früh, aber ich lief immernoch auf halber Leistung und ein Stadtbummel wäre an diesem Nachmittag noch riskanter gewesen als vor einem halben Jahr in Medellín. Ich überlegte lange, bis ich mich schliesslich auf den Weg machte und der Strasse Richtung Küste folgte. Noch war es nicht zu spät und ich könnte es noch aus der Stadt schaffen.

Nach ein oder zwei Kilometern sprachen mich welche an der Strasse an. Freundliche Leute. Wo ich denn hinwollte. Nach Chilete, antwortete ich. Nein, das gehe nicht, ich sollte hier nicht weitergehen, es sei schon spät und die Viertel am Stadtrand nicht sicher. Und bis zur Dunkelheit würde ich es nicht aus der Stadt schaffen.

- Du kannst überfallen werden, nachts ist es nicht ungefährlich hier.

- Ich weiss ja nicht, wo ich sonst hin soll. Ich wüsste ja nicht, wo ich schlafen soll.

- Verbring doch die Nacht bei uns, unser Haus ist gleich da unten die Strasse runter.

Diese Antwort kam ziemlich schnell, ohne zu zögern. Cajamarca. Ganz angeglichen hatten sich die Kulturen immer noch nicht. Von den Spaniern konnten sie sowas nicht gelernt haben.

Es machte nichts, wenn es in einer Stadt gefährlich und die Kriminalität hoch war. Solange es Menschen gab, die mitdachten. Ich war froh und dankbar, in dieser Nacht ruhig schlafen zu können. Irgendwo zwischen Küche und Flur war Platz für meinen Schlafsack. Das letzte Mal hatte ich so etwas in Panamá City erlebt. Na gut, ich muss noch zugeben, sie hatten vorher noch gefragt, ob ich Kechua sprach.

Ich hätte noch eine zweite Einladung haben können an diesem Abend, aber das konnte ich nicht wissen.

17. Dezember 1988

Die Nacht tat gut. Am nächsten Morgen fühlte ich mich schon wieder viel besser. Ich verliess früh das Haus und ging zielstrebig die Strasse entlang nach Süden. Irgendwann kam die Strasse an einem Tagebau vorbei, wo Mangan oder was abgebaut wurde.

Ein weisser Sattelschlepper kam aus der Anlage und schob sich über die holprigen Strassen langsam auf die Strasse vor. Die Strassenverhältnisse in Peru waren schlecht. Sollte ich trampen? Ich hatte den Oriente und die Sierra gesehen. Ich war in Cajamarca gewesen. Und ich hatte eingesehen, dass ich hier offenbar keine Zukunft hatte. Offenbar sollte ich weiter. Der Weg war lang und schmal. Ich entschied mich zu trampen.

Der Truck hielt an. Und los. Tramp zweihundertvierundvierzig.

Trujillo hatten sie geantwortet, als ich sie gefragt hatte, wohin sie fuhren. Aber als erfahrener Tramper wusste ich inzwischen, dass Trucker einem Unbekannten, der gerade einstieg, nur ungerne ihr wahres weit entferntes Ziel mitteilten. Allerdings war auch die knapp dreihundert Kilometer entfernte Hafenstadt Trujillo nicht gerade nah. Erst recht nicht bei diesen Strassen.

- Die Regierung hat jetzt ein neues Gesetz erlassen und die Verantwortung für die Instandhaltung der Überlandstrassen den Gemeinden übertragen. Naja, das Ergebnis siehst du ja.

Es war natürlich die Katastrophe. Die Gemeinden konnten wohl kaum ein Interesse daran haben, ihr weniges Geld dafür auszugeben, dass ein Truck auf ihre Kosten mit einer Geschwindigkeit von mehr als dreissig Stundenkilometern von Cajamarca nach Trujillo kam.

Kam er auch nicht. Die Gemeinden hatten allerdings durchaus ein Interesse daran, dass der Truck am Ortseingang anhalten, eine Mautgebühr für eine angebliche Instandsetzung der Strasse entrichten und beim Verlassen der Ortschaft den Mautzettel wieder abgeben musste. Selbstverständlich wurden durch diese Massnahme nur die Kosten für das Personal abgedeckt, das die Mautgebühren kassierte. Der Rest floss dann wahrscheinlich direkt in die persönliche Tasche des jeweiligen Bügermeisters. Der musste ja auch leben.

Als die Sonne über dem Pazifik unterging, hatte der Truck immer noch nicht die Küste erreicht.

In der Nacht fuhren wir durch Trujillo und als wir die Stadt hinter uns hatten, begann es langsam zu dämmern. Wir waren nun auf der Panamericana, die etwas besser instand war, und vor uns lag ein weiter Weg nach Süden.

Irgendwann im Morgengrauen überquerte die Strasse einen kleinen Fluss, den Río Virú. Der Name des Landes Peru stammte angeblich von diesem Fluss, stand stolz auf einer Hinweistafel geschrieben. Die Spanier sollen die Indianer an dieser Stelle gefragt haben, wie das Land hiess, und als Antwort den Namen des Flusses Virú gesagt bekommen haben.

Aber auch wenn sich das Gerücht beharrlich hielt und den Lokalpatriotismus erfreute - der Landesname hatte mit dem Land der Inkas wenig zu tun. Verantwortlich waren Indianer in Panamá. Sie hatten den gierigen Spaniern seit etwa 1520 erzählt, im Süden gäbe es ein reiches Land oder einen Häuptling namens Birú mit Unmengen von Gold und Edelsteinen. Seit 1522 tauchte der Name Biru in Panamá immer wieder auf, Jahre bevor der erste Spanier das Andenland, das Tahuantinsuyo hiess, überhaupt gesehen hatte. Und selbst 1527, als der Name Peru bereits in Dokumenten verwandt wurde, war noch kein Spanier südlicher als Lambayeque gekommen. Und das lag immer noch lockere zweihundertfünfzig Kilometer nördlich von hier.

Der Landesname bezog sich in dieser Zeit nicht nur auf des heutige Peru. Das Vizekönigreich Peru umfasste in den folgenden zwei Jahrhunderten halb Südamerika von Venezuela bis Uruguay und Feuerland, bis die spanischen Kolonien anders aufgeteilt wurden.

Inzwischen war es Mittag und ich fragte die Trucker, ob ich mich hinten auf den Anhänger stellen konnte. Der Sattelschlepper war nur halb voll mit manganeso, Manganerz, und ich stellte mich neben meinem Rucksack, hielt mich am Geländer fest und hielt das Gesicht in den Wind. Vor uns lagen immer noch hunderte von Kilometern peruanische Küstenwüste.

Den Rucksack hätte ich vielleicht nicht unbedingt mit dem schwarzen Manganerz-Kram einsauen müssen. Die schwarzen Flecken würden nach diesem Tramp aus dem Leder nie wieder rausgehen.

Zu ersten Mal war ich in einer richtigen Wüste. Vollkommen kahle Berge, Sanddünen oder Kies, kein Zeichen irgendeiner Vegetation. Ich wusste, dass eine Wüste nachts kalt war. Aber dass sie, wenn keine Sonne schien, auch tagsüber so kalt sein konnte, hätte ich nicht gedacht.

Momentan war in Peru Regenzeit. Da es aber in einer ordentlichen Wüste, die etwas auf sich hielt, nie regnete, hatte sie sich hier auf einen Kompromiss eingelassen. Die Wolkenzeit. Die Wolken regneten sich in den Bergen ab und drifteten mit dem Wind weiter nach Westen, die Berge herab und auf den Pazifik zu. Je tiefer sie kamen, desto mehr lösten sie sich auf. Ein absolut sicheres System, nie in die Verlegenheit zu kommen, abregnen zu müssen. Und so fanden sich an den Küstenabschnitten von Peru und Chile die trockensten Wüsten der Erde, in denen es buchstäblich nie regnete.

Es sei denn, ich kam vorbei. Ich konnte es nicht fassen - nicht einmal den einfachsten Service konnte ich erwarten. Ausgerechnet in dieser völlig vegetationslosen Wüste, in der nicht einmal ein Kaktus wuchs, musste ich mir nun mit dem kalten Fahrtwind die dicken Regentropfen auf den Kopf knallen lassen.

Immerhin ging es schneller voran als gestern, als wir das Tal von Chilete heruntergefahren waren. Die Panamericana war zwischen Lima und Trujillo ziemlich stark befahren und sogar geteert. Kilometerweit zog sie sich schnurgerade über die Hügel. Manchmal ging sie sogar bis ans Meer. Aber auch dort dasselbe trostlose Bild: Sandwüste-Sandstrand-Dünung-Meer. Nicht eine einzige Kokospalme war zu sehen.

Dafür andere interessante Szenen. Weiter Brief Forum 13.

Einmal, der Truck war gerade wieder einen Hügel heraufgeschnauft, bot sich in der anschliessenden weiten Sandebene ein erstaunliches Bild. Eine einsame Gruppe von vielleicht zehn Kindern war dabei, die Sanddünen wegzuschaufeln, die mit dem Ostwind über die Strasse wehten. Mitten in der Wüste. Das Komische war, dass nichts, aber auch rein gar nichts, darauf hinwies, in wessen Auftrag die dort wohl arbeiteten. Kein Schild, kein Bauwagen, kein Auto, wirklich nichts. Für wen arbeiteten die da?

Als der Truck näher herankam, bremste er leicht ab, und Fahrer und Beifahrer drückten den Kindern im Vorbeifahren ein paar Scheinchen in die Hand. Und die entgegenkommenden Trucker taten dasselbe.

Gestern, in der Wüste.

19. Dezember 1988

Nach achthundertvierzig Kilometer Fahrt und fünfundvierzig Stunden auf dem Truck war ich am frühen Morgen des dritten Tages schliesslich in Lima. Die Trucker verabschiedeten sich von mir und liessen mich an der Avenida Zarumilla raus, von wo ich gleich die Brücke über den Río Rimac, den sprechenden Fluss, überquerte. Doch der Fluss hatte schon lange aufgehört zu sprechen und war zu einer übelriechenden Kloake verkommen. Ich ging weiter in die Innenstadt.

Mit einem Stadtplan fand ich mich ganz gut zurecht. Kilometerweit zog sich die Avenida Ugarte hin, bis ich endlich die Plaza Bolognesi erreichte. Dann zwang ich mich, wenigstens ein paar der grossen alten Häuser der peruanischen Hauptstadt zu bewundern - bevor sie beim nächsten Erdbeben allesamt einkrachen würden, so sahen sie jedenfalls aus. Wenn ich schonmal hier war, konnte ich mir wenigstens mal ein paar Sehenswürdigkeiten anschauen. Und mich dann, was wesentlich wichtiger war in dieser riesigen Millionenstadt, darum kümmern, wie ich hier so schnell wie möglich wieder rauskam.

Die Stadt war viel zu gross, das hatte ich inzwischen gemerkt. Lima war nicht so klein wie Quito. Ich hatte keine Chance, in einem Tag aus Lima rauszulaufen. Und ich hatte auch keine Lust. Ich fragte mich nach der nächsten Station für Überlandbusse durch. Sie lag nur ein paar Strassen weiter.

Die Preise waren sehr billig. Willkürlich suchte ich mir irgendeine kleine Stadt südlich von Lima an der Panamericana aus. Cañete. Hörte sich gut an. Zielstrebig ging ich zum Schalter und kaufte das Ticket.

Zielstrebig. Was mich am meisten nervte in dieser Stadt, war, dass ich alles, was ich tat, zügig und zielstrebig tun musste. Noch mehr als anderswo war ich hier gezwungen, ständig eine Zielstrebigkeit vorzutäuschen, die weder meinem Naturell noch der Situation entsprach, die aber die einzige Möglichkeit war, sich irgendwelche überall herumhängenden Typen vom Leib zu halten. Die ansonsten in Massen auf mich zugekommen wären.

Zielstrebig war ich zum Platz der Republik gegangen. Zielstrebig hatte ich mir den Justizpalast angeschaut. Zielstrebig war ich völlig planlos irgendeine Nebenstrasse langegangen, bis ich endlich eine vertrauenswürdige ältere Frau stehen sah, die ich nach der Busstation fragen konnte.

Endlich konnte ich in den Bus einsteigen. Endlich eine Verschnaufpause. Ich setzte mich gleich hinter den Beifahrer mit bester Aussicht auf eine mir entgegenkommende Panamericana und weitere hundertfünfzig Kilometer peruanische Küstenwüste.

Der Bus war eine Wohltat. So gemütlich war ich schon lange nicht mehr gereist. Und die Busfahrer waren nett. Wo ich herkäme und was ich in Cañete wollte, fragten sie neugierig.

- Ich will eigentlich gar nicht nach Cañete, ich habe die Stadt nur auf der Landkarte gesehen. Ich will bis Feuerland.

- Feuerland? Cool! Und von Cañete willst du einfach weitertrampen?

- Ja genau. Aus Lima wär ich nicht anders rausgekommen, deshalb hab ich den Bus genommen.

- Wir fahren bis Chincha, das ist noch fünfzig Kilometer weiter. Bis dahin können wir dich auch noch mitnehmen. Als Tramper, natürlich. Kleiner Ausgleich dafür, dass wir dir nicht mit Feuerland dienen können.

Ein nettes Geburtstagsgeschenk, fand ich. Was hiess Geburtstag auf Spanisch? Ach so, hatten sie mir in Bogotá ja beigebracht, cumpleaños.

- Cumpleaños, was meinst du damit?

- Ich bin heute- der Tag an dem ich- Moment, hier: das Datum im Reisepass.

- Ach, dann ist das heute dein santo! Sag das doch gleich! Herzlichen Glückwunsch!

Tja, die Wörterbücher waren auch nicht mehr das, was sie mal waren. Bus-Tramp zweihunderfünfundvierzig Chincha, notierte ich in meinem Tagebuch.

Wer diese Strecke öfter fuhr, wusste, dass europäische und japanische Reisende hin und wieder die Panamericana entlangfuhren, meist mit dem Fahrrad, auf dem langen Weg von Alaska nach Feuerland. Einmal sei jemand mit dem Pferd von Kanada hier vorbeigekommen, erzählten sie. Auch unser Truck gestern war bei Virú einem Radler mit viel Gepäck begegnet, mit grosser holländischer Fahne und einer Art Windsegel.

Chincha. Ich ging ein bisschen durch den Ort und stellte fest, die Stimmung war hier eigentlich ganz entspannt. Kein Vergleich mit Lima. Zwei Einheimische sassen vor einem Lokal und luden mich spontan zum Essen ein. Völlig spontan. Ja, meinte ich, das nehme ich gerne an, ich habe heute nämlich santo. Wollten sie erst nicht glauben, aber ich hatte ja meinen Reisepass. Der gleich überall die Runde machte. Das Essen konnte ich wirklich geniessen.

Ich musste an Lina denken. Lina freute sich, wenn Leute an ihren Geburtstag dachten. Ich freute mich, wenn die Leute mich zum Geburtstag einluden ohne zu wissen, dass ich überhaupt Geburtstag hatte.

Einer anderer gesellte sich zu uns. Er war Amerikaner. Ich musste lächeln, weil sein Akzent beim ersten Wort auffiel. Er hatte einen Anzug an und war Mormone. Sie seien auch Mormonen, erzählten die beiden Peruaner. Genauer, von der Iglesia de Dios de los Santos de los Últimos Días. Aha, Gottes Kirche von denen, die in den letzten Tagen Geburtstag hatten. Auf der Basis liess sich ja schonmal diskutieren. Der Amerikaner lud mich spontan für die Nacht zu sich ins Quartier ein. Er hiess Elder und war aus Salt Lake City, Utah.

Bei ihm zuhause lernte ich noch ein paar Kumpels von Elder kennen. Elder beispielsweise, oder Elder und sein Freund Elder, und nicht zu vergessen Elder. Alle mormonischen Missionare hiessen Elder. In anderen Situationen vielleicht ja auch ganz praktisch. Elder war jedenfalls ganz nett, es gab noch Nudeln bevor ich mich schlafen legen konnte.

20. Dezember 1988

Am Morgen gab Elder mir das Buch Mormon mit und wünschte mir einen schönen Tag und gute Fahrt. Ich war dankbar für diese Nacht, denn ich hatte schon wieder von Viktoria geträumt. Dieses Mädchen war echt nett - sie nahm mir wieder mal sämtliche Sorgen, über die ich an so einem Morgen hätte nachgrübeln können. Beispielsweise, ob es nicht gefährlich war, hier einfach an der Panamericana langzugehen und wahllos Autos anzutrampen.

Nach ein paar Tramps war ich in Ica, hundert Kilometer weiter, wo ich am Mittag wieder rauslaufen konnte und mit einem weiteren Pick-up bis Santiago mitkam. Die Panamericana war immer noch relativ gut befahren. Dennoch war mir ein bisschen mulmig, in der Mittagssonne alleine in die Wüste loszugehen. Die Leute rieten mir davon ab. Aber die Leute hatten ja auch nicht von Viktoria geträumt. Ich ging los. In die Wüste. Schliesslich hatte ich eine Lebensgarantie.

Ich hatte Glück, denn schon bald hielt ein Lkw an, der Zucker geladen hatte und von Lima kam. Der Fahrer hiess Francisco. Er war nett und freute sich, dass er für die lange Strecke einen Tramper gefunden hatte. Auch wegen der Ladung. Zucker war begehrt.

Er fuhr nach Arequipa, wie er freimütig erzählte, als ich ihm sagte, dass ich Richtung Chile wollte. Sechshundertachtzig Kilometer, rechnete ich schnell aus. Auf deutschen Strassen würden wir für die Strecke vielleicht sechs oder sieben Stunden brauchen. Francisco musste lächeln. Mit ein bisschen Glück und ohne Pannen seien wir übermorgen da.

Sechshundertachtzig Kilometer, das bedeutete vierzig Stunden anstrengende Fahrt durch die peruanische Küstenwüste. Die Strasse wurde immer schlechter. Längst befand sich die Panamericana nicht mehr in dem guten Zustand wie in der Umgebung von Lima. Der Lastwagen, dessen Holzaufbau wie alle Lkws in Peru in leuchtenden Farben angemalt war, blau-grün-orange, wobei an beiden Seiten wie immer auch gross das Autokennzeichen gemalt war, musste sich streckenweise im Schritttempo um die tiefen Schlaglöcher herumschlängeln, die die Strasse wie einen Mond zerkratert hatten.

Francisco nahm es gelassen. Nur einmal beschwerte er sich, als ihn ein besonders dicker Pkw ungeduldig anhupte und barsch überholte. Francisco war gerade wieder einmal mit zwanzig in der Strassenmitte umhergekurvt, um Schlaglöchern auszuweichen.

- Was will der denn?! Die Strasse ist schlecht, da muss man sich doch den Strassenverhältnissen anpassen! Der kann doch nicht erwarten, dass ein Truck hier mit sechzig langheizt!

Am späten Abend waren wir hundertzwanzig Kilometer weiter bis nach Nazca gekommen. Francisco hielt an einem Truck stop. Ich schrieb den dreizehnten Brief ans Forum zuende. Ob ich Maria Reiche kenne, wollten die Trucker wissen, ich sei doch Deutscher, die habe hier gewohnt. Kannte ich natürlich nicht, peinlich.

Maria Reiche kannten alle hier. Letztes Jahr erschien eine Briefmarke mit ihrem Portrait. In vier Jahren würde sie sogar als erste Ausländerin die peruanische Staatsbürgerschaft verliehen bekommen, vom Präsidenten persönlich. Ich wusste nicht, dass die Linien von Nazca ohne ihren Einsatz schon längst zerstört worden wären.

Nazca, das grosse Mysterium der Geoglyphen, den aus zahlreichen Fernsehsendungen bekannten ausserirdisch gross anmutenden Linien und Bildern von Vögeln und wilden Tieren in der Kiesebene. 1920 wurden sie entdeckt, aus der Luft, von Passagieren der ersten Flugzeuge, die über die Ebene hinwegflogen.

Wie waren sie entstanden? Und vor allem, warum wurden die Figuren gezeichnet, wenn sie nur aus der Luft zu erkennen waren? Ihre Erforschung durch Maria Reiche und anderen in den folgenden Jahrzehnten löste das Rätsel nicht. Es war zwar bekannt, dass uns die geheimnisvollen Linien von der Kultur der Nazca-Indianer zusammen mit datierbarem Holz und Tonscherben hinterlassen wurden- vor teilweise über zweitausend Jahren. Doch was das grösste Kunstwerk der Welt, das nur aus der Luft erkennbar war, für einen Zweck bewirkt haben soll, blieb ein Rätsel.

Wenn es nicht Erich van Däniken gäbe. Dank ihm blieb es nicht nur bei einem Rätsel. Mit jedem neuen Buch kamen neue und scheinbar auch für ihn unlösbare hinzu. Rätsel, was er denn in seinen vorigen Büchern alles gemeint haben könnte. Ein Ufo- oder Flugzeug-Landplatz für fremde Intelligenzen, Ausserirdische oder Götter, je nach Wahl, wobei jedoch nie Flugzeuge drauf gelandet sein könnten, was er ja auch nie behauptet habe, weil der Boden zu weich sei, wie Reiche ja auch richtig festgestellt habe, in einer Reaktion auf eines seiner Bücher, erst recht nicht Ufos, auch wenn Ufos dort gelandet sein mussten, was ihm jedoch nur unterstellt würde, weil ordentliche Ufos gar keine Landepisten brauchten, es sei denn, sie landeten dort, woran gar kein Zweifel bestehen konnte, aber alles das habe er nie gesagt, und wenn, dann sei er böswillig missverstanden und falsch zitiert worden von Leuten, die keine Ahnung hatten und nichts als blühenden Unsinn verbreiteten.

Vielleicht hatten die Nazcas einfach nur Lust zum Joggen gehabt und sich ein paar hübsche Aschenbahnen angelegt.

Am nächsten Tag hatten wir Glück und kamen ohne Panne etliche hundert Kilometer weiter. Küstenwüste - Sand, felsige Hügel, Berge, Steine und mittendurch die Strasse. Sehr langweilig.

Einmal gab es eine Abwechslung. Ein paar eingefallene Häuser am Strassenrand, vielleicht eine ehemalige Mine oder sowas. Die Wände auch schon lange nicht mehr weiss, hatten sie im Lauf der Jahre natürlich lauter politische Parolen draufgeschrieben. Die kannte ich auch schon alle, weil sie im ganzen Land immer dieselben waren. Nur auf einer der Mauern stand nichts ausser ein einziger Schriftzug: Amos 5:4. Nichts weiter. Der Lkw fuhr um die Kurve.

Eine Parole, die man erstmal recherchieren musste. Sucht mich und ihr werdet leben. Bei den Truck stops, an denen wir hielten, handelte ich mir jedesmal hohen Respekt ein, wenn ich ja antworten konnte auf die Frage, ob ich Kechua sprach. Am Abend näherten wir uns Arequipa und Francisco sah es als seine Pflicht, mir zu erklären, dass hier nicht mehr Peru sei. Irgendwo überquerten wir eine unsichtbare Grenze, die alle genau zu kennen schienen.

- Ab hier sind wir nicht mehr in Peru, sondern in der República Independiente.

In der Unabhängigen Republik, so nannten die Bewohner von Arequipa ihre Region. Und tatsächlich, überall in dieser Gegend wurde mit stolz darauf hingewiesen, das alles, was in Peru gelte, hier in Arequipa nicht gelte. Arequipa sei anders als das übrige Peru. Was den Zusammenhalt der Bevölkerung und auch die Kriminalität anging.

Inzwischen hatte Francisco an den Truck stops noch etliche andere Trucker getroffen, die wenige Kilometer vor der Stadt wieder an einer Tankstelle geparkt hatten. Da so spät in der Stadt sowieso niemand mehr arbeitete, entschieden sie sich, hier zusammen die Nacht zu verbringen und morgen früh in die Stadt runterzufahren. So kletterte ich wieder oben auf den Truck und legte mich in meinen Schlafsack.

Arequipa lag nicht mehr an der Panamericana. Die Strasse, die sich die Anden entlang nach Süden zog und nach knapp vierhundert Kilometern Chile erreichte, war in Repartición rechts abgebogen - Arequipa lag weiter östlich in den Bergen. Ich entschied mich, wenn ich schon auf dem Weg in die Berge war, gleich weiterzutrampen, an den Titicacasee und von dort vielleicht nach Bolivien.

22. Dezember 1988

Ich wachte früh auf. Es war noch dunkel, aber ich konnte nicht mehr einschlafen. Endlich fing es im Osten ganz langsam an zu dämmern. Ein helles, klares Weiss, dass vom Osten kam und die blauschwarze Nacht verdrängte, noch lange bevor die Sonne den Himmel mit gelben und orangen Farbtönen eindecken konnte. Als die Trucks über den letzten Hügel und dann nach unten in die Talebene der Stadt fuhren, stand die Sonne bereits wieder am Himmel.

Francisco verabschiedete mich an der Einfahrt zum Industriegebiet und ich machte mich auf den Weg in die Stadt. Das Postamt im Zentrum hatte an diesem Donnerstag noch zu, also wartete ich noch ein Weilchen und sah mir die alte Kirche an. Tatsächlich, die Stimmung in der Stadt war anders als in Cajamarca oder Lima. Keine Horden arbeitsloser Kids stürzten sich auf mich und versuchten, so viele Dollars wie möglich aus mir rauszuholen. Jemand half mir, meinen Brief nach Deutschland loszuwerden.

Ich wollte an den Titicacasee, also die Strasse nach Juliaca raus, und dazu musste ich erst einmal die grosse Hauptstrasse an den Markthallen vorbei. Markthallen versuchte ich wie alle Orte zu vermeiden, an denen viele Menschen waren. Auch wenn ich viel Gutes gehört hatte von Arequipa, ich traute der Stadt immer noch nicht ganz.

Ein kleines Mädchen sah mich, ging kurz in die Halle, kam kurz darauf wieder zurück und lief auf mich zu. Sie hatte Bananen in der Hand, drückte mir ein paar davon in die Hand und verschwand wieder zwischen den Menschen. Ich blieb stehen und sah hinter ihr her. Offensichtlich war das hier doch eine andere Republik.

Die Hauptstrasse führte in einem weiten Bogen um die Stadt, die sich weit in die Ebene erstreckte. Hinter der Ebene erhob sich im Nordosten der imposante Vulkan Misti, auf dessen fast sechstausend Meter hoher Spitze Schnee lag.

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Die Strasse führte im einem weiten Bogen um die Stadt, hinter der sich im Nordosten der imposante Vulkan Misti erhob. Arequipa auf einer Postkarte.

Irgendwann erreichte ich endlich das östliche Ende der Millionenstadt und die Strasse stieg immer weiter an. In vielen Kurven wand sich die Strasse immer weiter nach oben. Ich hoffte, weiter oben würde die Sonne weniger heiss scheinen. Leider hielten keine Autos an. Das war üblich, wenn man aus einer Stadt rauslief. Alle Autos, die vorbeifuhren, fuhren grundsätzlich nur bis zur nächsten Abzweigung.

Dann eben nicht, sagte ich mir und wanderte weiter. So gefährlich wie woanders in Peru schien die Gegend nicht zu sein. Endlich, nach sechzehn Kilometern, hielt ein Lkw neben mir an und nahm mich bis Chihuata mit. Nun war ich schon fast auf dreitausend Metern Höhe. Je höher ich kam, desto mehr schwand die Sicht in Wolken. Ich erreichte die Nebelwaldzone.

Stundenlang wanderte ich an der Schotterstrasse durch den Nebelwald. Nach ein paar Stunden passierte ich einen Militärposten und ging weiter. Irgendwo in dieser Gegend lag die Grenze der República Independiente. Von der die Soldaten natürlich nichts wissen durften. Mit einem anderen Lkw kam ich noch höher in die Berge bis zu den Boratminen bei Salinas. Der Nebelwald drückte ziemlich auf die Stimmung, weil es wirklich absolut nichts zu sehen gab ausser Nebel. Ich war froh, als irgendwann ein Laster mit Bierkisten hielt und mich mitnahm.

Als wir die Hochebenen erreichten, riss der Nebel langsam wieder auf. Herden von Lamas bewegten sich geschmeidig über den dünn besiedelten Altiplano. Irgendwann wurde es Abend. Zweihundertzwanzig Kilometer waren in Peru eine Tagesreise. In diesem Fall war es eine Nachtreise. Am frühen Morgen waren wir in Juliaca.

23. Dezember 1988

Als erstes mussten die ganzen Bierkisten abgeladen werden. Der Lkw hatte auch andere mitgenommen, die nun begannen, die Kisten in das Lagerhaus zu tragen. Ich half einfach mit. Es machte Spass, alle hatten gute Laune und ich war ihnen dankbar, weil sie mich von meiner trostlosen Wanderung durch den Nebel erlöst hatten. Und wer weiss, wo ich in der immerfeuchten Gegend übernachten hätte sollen. Alles wäre nass geworden.

Nach ein paar Stunden war der Lkw ausgeladen. Dass wir hier auf über dreitausendachthundert Metern Höhe waren, spürte ich nicht. Vielleicht war ich noch akklimatisiert von Ecuador. Für die Arbeiter gab es Mittagessen und sogar einige Intis Lohn. Für mich auch. Hinterher konnte ich also sagen, in Peru einmal für Geld gearbeitet zu haben.

Eine schnurgerade Strasse führte von Juliaca nach Puno an den Titicacasee. Der Unterschied zur aufgeschlossenen Bevölkerung von Arequipa sprang sofort ins Auge. Die Stimmung war wie verwandelt. Als ich aus Juliaca rauslief, liefen die Kinder und Frauen vor mir weg. Richtige Fremdenfeindlichkeit war hier spürbar. Ein paar Typen warfen mir aus sicherer Entfernung Steine hinterher. Ich blieb stehen, drehte mich um und sah sie an. Sie verzogen sich sofort. Das durfte doch nicht wahr sein. Später erfuhr ich, dass auch Radfahrer, die den Kontinent auf dem Weg nach Feuerland durchquerten, in dieser Gegend solche Erfahrungen gemacht hatten. Ich hielt einen Lkw an, der mich nach Puno fuhr.

Auch in Puno sah ich zu, dass ich schnell wieder aus der Stadt kam. Zum Glück hatte ich Stadtpläne für die grossen peruanischen Städte. Die Strasse führte bald hinter der Stadt direkt am schönen Ufer des Titicacasees entlang. Es war schön, in der Sonne hier entlangzuwandern und die Fischer mit ihren traditionellen Schilfbooten auf dem tiefblauen Wasser des höchsten schiffbaren Sees der Welt zu beobachten. Ich machte eine kleine Pause und sammelte Schnecken. Irgendwann hielt ein Pickup und nahm mich bis Desaguadero mit.

Desaguadero war die Grenze zu Bolivien. Die Menschen hier am Südufer des grössten Binnensees in Südamerika waren aufgeschlossener und freundlicher als hundert Kilometer weiter nördlich. Der Río Desaguadero war ein Fluss, der den Titicacasee nach Süden entwässerte, dessen Wasser aber ein paar hundert Kilometer weiter auf dem Altiplano in irgendwelchen Salzseen versickerte. Die Brücke über diesen Fluss markierte die Grenze.

Es herrschte ein reges Treiben. Bunt gekleidete dunkelhäutige Indianer, die in dieser Gegend Aimará sprachen und die traditionellen schwarzen Melonenhüte trugen, überquerten emsig mit ihren voll beladenen Handwagen die Brücke. Niemand schien den kleinen Grenzverkehr zu kontrollieren. Ich wunderte mich, wie wenig im Häuschen der Passkontrolle los war. Wie immer zeigte ich mein Tuch mit den Fahnen, die mit der Zeit immer mehr geworden waren, und bekam ohne Probleme das übliche Touristenvisum für Bolivien.

Bolivien. Sofort war deutlich, dass ich nicht mehr in Peru war. Bolivien war ein friedliches Land, nichts war mehr zu spüren von dem in Peru allgegenwärtigen latenten Misstrauen einer Bevölkerung, die schon seit vielen Jahren mit Guerilla und Bürgerkrieg lebte. Obwohl es schon bald Abend wurde, entschloss ich mich, einfach die Strasse nach Osten am Südufer des Sees entlangzugehen.

Das Südufer des Titicacasees war flach, spärlich bewachsen und die Ebene zog sich kilometerweit nach Süden bis zu einer Bergkette. Der Altiplano war ursprünglich von einer noch viel ausgedehnteren Seenlandschaft bedeckt gewesen, von denen der grösste Teil inzwischen ausgetrocknet und verlandet war. Der Titicacasee war ein vergleichsweise kleiner Überrest. Der Nachteil der flachen Uferebene war, dass es kaum Stellen gab, wo ich mit meinem Schlafsack übernachten konnte. Und dass mich jemand auf dem flachen Land in der Dunkelheit sah, wollte ich auch nicht riskieren.

In regelmässigen Abständen von ein oder zwei Kilometern befanden sich unter der Schotterpiste, die von der Grenze nach Huaqui und La Paz führte, Entwässerungsrohre, durch die das Regenwasser von der Uferebene in den See fliessen konnte. Kurz bevor es ganz dunkel war, verschwand ich blitzschnell in einem dieser Kanalrohre unter der Strasse, ohne dass mich jemand bemerkt hatte. Wie eine Kanalratte. War gar nicht so einfach, den Schlafsack in dem engen Rohr zu entrollen.

24. Dezember 1988

Zum Glück regnete es nicht in dieser Nacht. Ganz schön kalt war es am Morgen, als ich wie ein Murmeltier aus meinem Versteck kroch. Es wäre ja peinlich gewesen, wenn mich dabei jemand beobachtet hätte, und so sah ich zu, dass ich so unauffällig wie möglich aus dem Rohr gekrochen kam. Im nächsten Moment war ich wieder auf der Strasse und lief mich erstmal warm.

Bis Huaqui kam ich nicht. Ein Lastwagen hielt an und war vollbeladen mit Leuten, die nach La Paz wollten. Wie die Flüchtlings-Lkws in Honduras. Hier hatten die offenen Laster jedoch die Funktion ganz gewöhnlicher Busse. Die erstens Geld kassierten, wie ich bald erfuhr, und zweitens durchaus nicht für jeden auf freier Strecke anhielten. Dass sie mich mitnahmen, sei nicht selbstverständlich gewesen. Na, ich war skeptisch. Ich wäre auch selbst weitergelaufen, meinte ich zu ihnen.

Am Nachmittag kamen wir in La Paz an. Ich wusste nicht recht, wie froh ich jetzt darüber sein sollte. Die Stadt lag in einer Art Talsohle am Fuss der Ostkette der Anden mit ihren stattlichen Sechstausendern. Die grösste Stadt Boliviens war riesig. Es war sofort klar, dass ich aus dieser Millionenstadt heute abend nicht mehr rauslaufen konnte. Wenn ich nicht mit viel Glück sofort wieder rauskam, musste ich irgendwo in La Paz einen Platz zum Übernachten finden.

Der Lkw fuhr bis zum Markt und alle stiegen aus. Es war ein typischer Markt von Einheimischen. Hunderte von Ständen boten alle möglichen Waren an. Ich war der einzige Ausländer weit und breit. Interessant war, dass fast die gesamte Wirtschaft in dieser Gegend Boliviens von Frauen kontrolliert wurde. Es waren praktisch nur Frauen, die hier ihre Stände hatten und Geschäfte machten. Später erfuhr ich, dass die Frauen einen Grossteil der bolivianischen Wirtschaft kontrollierten und in der Familie den Männern das Geld zuteilten. Fast alle hatten ihre Melonenhüte auf und ein Baby auf dem Rücken. Wenn ein paar Männer auf diesem Marktplatz waren, so wirkten sie entweder ziemlich fehl am Platz oder waren betrunken.

Ich gehörte eindeutig zu denen, die fehl am Platz wirkten. Dennoch kam ich mit jemandem ins Gespräch und erzählte ihm, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich heute übernachten sollte. Mit vielen Leuten konnte ich hier nicht ins Gespräch kommen, denn die meisten auf diesem Wochenmarkt sprachen weder Spanisch noch Kechua, sondern Aimará. Einer gab mir seine Adresse und sagte mir, wenn ich bis heute Abend nichts gefunden habe, könnte ich auch bei ihm übernachten. Ich war zwar erleichtert, dass er das angeboten hatte, aber ich hatte meine Zweifel, was die Zuverlässigkeit eines solchen Angebots anging. Immerhin, ich hatte eine Adresse.

Ich wusste auch nicht, wie die Millionenstadt aufgebaut war, wo das Zentrum gewesen sein mochte und wo vielleicht Bus Terminals waren, wo man übernachten konnte. Aber nicht einmal Busse schien es zu geben, und der Geier schien zu wissen, wo die Lastwagen abfuhren, auf deren Ladeflächen die Leute über das Land gefahren wurden. Ich hatte auch nur eine grobe Vorstellung, in welcher Richtung die Strasse nach Süden rausging, der ich morgen wieder auf den Altiplano folgen wollte.

Natürlich gab es kein Schreibwarengeschäft, wo ich mir eine Landkarte von Bolivien oder einen Stadtplan von La Paz hätte kaufen können. Die grösste Stadt im ärmsten Land Südamerikas schien völlig planlos an die von der Andenkette herunterkommenden Berghänge gebaut worden zu sein. Tegucigalpa, San José, Panamá, Medellín, Bogotá, Quito, Lima - egal welche Millionenstadt es war, überall hatte ich mich viel schneller zurechtgefunden als hier in La Paz. Bald wurde es dunkel und ich war mitten in einer südamerikanischen Millionenstadt, irgendwo in irgendeinem Stadtviertel, orientierungslos und ohne die geringste Ahnung, wo ich überhaupt war.

Na gut, die Strassen waren auch hier prinzipiell schachbrettartig angelegt und hatten Nummern, und so fand ich an einem der steilen Berghänge die Strasse der Adresse des Typen, den ich auf dem Markt kennengelernt hatte. Es war eine hangparallele Strasse. Es gab Strassen, die geradewegs auf den steilen Berg hochführten, und hangparallele Quertrassen.

Doch irgendwas mit der Hausnummer stimmte nicht. Ich ging wieder zurück zu der Strasse, die ich hochgekommen war und lernte einen Bewohner des Eckhauses kennen. Er versuchte, mit mir zusammen die Adresse zu finden, doch auch er hatte kein Glück. Er lud mich in sein Haus zu ein paar Weihnachtskeksen ein und fragte mich, woher ich die Adresse denn hätte. Ich erzählte ihm meine Geschichte.

Spontan meinte er, wenn es nur ums Übernachten ging, könnte ich ja auch bei ihm bleiben. Ich war erleichtert. Nun hatte ich schon das zweite Angebot für diese Nacht. Und diesmal wusste ich, welches Haus es war.

Dann kamen noch ein paar Verwandte mit dem Auto an und fuhren in den Hof. Sie begrüssten mich freudig, feierten Weihnachten, das Fest der Nächstenliebe, tranken Wein und wollten bald wieder losfahren, ein paar Knaller loslassen und mit der ganzen Familie zu noch anderen Verwandten fahren. Der Typ hatte selber keine rechte Ahnung, was seine Grossfamilie alles vorhatte. Irgendwann war klar, dass ich hier doch nicht übernachten konnte. An jedem anderen Tag ja, nur heute, an Weihnachten, da ging das wegen der Familie nicht. Ich nahm ihm das auch ab, soviel Menschenkenntnis hatte ich inzwischen, dass es an jedem anderen Tag unkompliziert gewesen wäre. Weihnachten waren alle Familien unter sich und als Fremder war man überall fehl am Platz. Er packte mir noch ein paar Kekse in eine grosse Tüte. Wirklich gute Kekse.

Irgendwie musste ich lächeln und war auch ein wenig froh, wieder auf der Strasse zu sein. Natürlich war es jetzt schon vollkommen dunkel. Ich versuchte nochmal, diese Adresse von heute Nachmittag zu finden. Doch am Heiligabend waren die Strassen dieses Stadtviertels wie leergefegt und ich traf keinen weiteren Menschen, der mir helfen hätte können. Ich klingelte an einem Haus, das eigentlich die Hausnummer tragen hätte müssen, die auf meinem Zettel stand. Niemand öffnete. Ich klingelte an einer anderen Klingel. Eine alte Frau öffnete das Fenster, doch bevor ich nach der Adresse fragen konnte, hatte sie das Fenster schon wieder geschlossen. Es war Weihnachten und jeder war nur mit sich selbst beschäftigt.

Zwei einsame Soldaten kamen die Strasse entlang. Ein bisschen betrunken, aber ansonsten nett und hilfsbereit. Aber auch sie rätselten herum und kamen auf keine Lösung, welches Haus gemeint war.

- Der hat dich verarscht und dir eine falsche Adresse gegeben.

- Glaub ich nicht, so war der nicht drauf. Ich denke schon, dass es diese Adresse gibt. Ich denke, dass es hier sein muss, vielleicht dieses Haus.

- Ja, es muss auf dieser Strassenseite sein, das stimmt schon, aber die Nummer gibt es ja nicht.

- Wisst ihr nicht, wo ich übernachten könnte? Vielleicht gibt es hier einen Park? Ist es hier gefährlich, wenn man in La Paz einfach auf der Strasse übernachtet?

- Eigentlich ist das hier nicht sehr gefährlich, aber heute nacht würde ich das auf keinen Fall machen. Heute ist Weihnachten, da sind zu viele Leute betrunken, weisst du. Und das ist gfährlich. Im Freien solltest du heute nicht schlafen.

- Gibt es irgendeinen Ort, wo Militärs Wache halten? In Tegucigalpa in Honduras hab ich einmal vor dem Regierungspalast geschlafen. In den Hauptstädten geht das manchmal.

- La Paz ist zwar nicht die Hauptstadt von Bolivien, aber deine Idee ist gut. Wart mal, genau, du kannst zum Olympiastadion gehen, da halten die Kameraden von unserer Einheit Wache. Ja stimmt, denen kannst du dich anvertrauen, die passen auf dich auf. Aber du musst fragen, ob der Chef da ist.

Dieses Viertel von La Paz lag etwa dreitausendachthundert Meter hoch, es war wohl schon über der Baumgrenze und Parks waren in dieser Höhe kaum zu erwarten. Die Soldaten beschrieben mir den Weg zum Olympiastadion.

Ausgerechnet am Heiligabend musste ich in diese Stadt gekommen sein. Weihnachten war die schlimmste Nacht von allen. Zum Fest der Nächstenliebe waren alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit ihren Familien, Verwandten und Kindern. Weihnachten wusste einfach jeder, wo er hingehörte. Bis auf ich. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer werden würde, herauszubekommen, wo ich in dieser Nacht in der Stadt schlafen sollte. Ich kam mir bald vor wie zwei gewisse Personen vor zweitausend Jahren in Bethlehem. Das musste auch um Weihnachten rum gewesen sein.

Der Weg zum Olympiastadion war zwar weit, aber nicht schwer zu finden. Es ging kilometerlang immer bergab. Die Strassen wurden immer grösser. Am Ende brauchte ich nur noch ein paarmal nach dem allseits bekannten Stadion zu fragen, bis ich schliesslich vor dem grossen Tor stand. Tatsächlich, die Militärs hielten Wache.

Ich fragte sie, ob ich mich einfach vor dem Stadion auf eine Parkbank legen konnte. Erst waren sie skeptisch, ihr Chef war nicht da. Kommt, Leute, sagte ich ihnen, es ist doch Weihnachten, bis irgendeiner sagte, na gut, aber auf deine Verantwortung. Eine halbe Stunde kam ihr Chef und schüttelte den Kopf über seine Soldaten.

Er sprach ein paar Worte mit mir und nahm mich mit rein, ins Fussballstadion. Er war nett, entschuldigte sich nochmal bei mir, lud mich zu Koka-Tee und ein paar Keksen ein und bot mir am Abend eine stille Ecke auf dem Betonfussboden an, wo ich in Ruhe schlafen konnte. Und vor allem, in Sicherheit.

Schöner konnte es nicht kommen, schreib ich im vierzehnten Brief ans Forum. Ausgerechnet der Chef der Militärs.

25. Dezember 1988

Morgens gab es nochmal Kuchen und Koka-Tee und bald befand ich mich wieder auf der Strasse. Wobei ich immer noch nicht wusste, wo es nach Süden ging. Ein Taxi hielt neben mir an. Nein, er wollte kein Geld und nahm mich so mit. Er fuhr sowieso in die Gegend und empfahl mir, hinter dem Militärkontrollpunkt von La Paz zu trampen. Es ging wieder bergauf, auf den Altiplano, und ich hatte endlich La Paz hinter mir. Der Taxifahrer war nett.

Oh, es gab doch Busse in Bolivien, stellte ich fest, und einer nahm mich gleich als Anhalter ein paar Ortschaften weiter bis Sicasica mit. Nachdem mich noch ein Bus bis Lahuachaca mitgenommen hatte, kam ich schliesslich mit einem Lkw mit. Wie vor La Paz konnte ich wieder zu den anderen Leuten auf die Ladefläche steigen.

Bald jedoch merkte ich, dass ich ein Problem hatte. Ich hatte keine Mütze. Der Höhensonne setzten sich nicht einmal die dunkelhäutigen Indianer aus, die hier oben teilweise fast so schwarz waren wie Afrikaner. Alle hatten Hüte oder Kappen. In Caracollo entschied ich mich, nach Süden weiterzugehen und nicht die Strasse nach Osten, nach Cochabamba zu nehmen. Wenn ich nach Feuerland wollte, ging das am besten über Chile.

Der nächste Wagen, der mich mitnahm, war wieder ein Lkw. Nein, was mir die Leute aus dem Lastwagen vor La Paz gesagt hatten, dass Tramper hier grundsätzlich bezahlen mussten, stimmte nicht. Wenn mich die Fahrer hier mitnahmen, dann, weil sie Lust dazu und die Leute auf dem Lastwagen gute Laune hatten. Ein anderer Lkw überholte uns, fuhr schneller vor uns her und einer derer, die auf der Ladefläche standen, hielt seine Mütze zu sehr in den Wind, sodass sie im nächsten Moment auf der Strasse landete.

- ¡Gorra!

Gorra hiess Kappe in Bolivien. Sie brachten den Fahrer dazu, anzuhalten und drängten mich dazu, die gorra zu holen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, vom Lkw zu steigen und meine sämtlichen Sachen auf der Ladefläche bei den Leuten zu lassen. Wenn er jetzt losfuhr, stände ich genauso da wie vor einem Jahr in New York. Ich blickte die Strasse nach hinten, ob wenigstens ein Wagen hinter uns die schnurgerade Teerstrasse über die Hochebene fuhr. Keiner, der nah genug dran war.

- Hopp, spring runter und hol dir die gorra!

Na gut, dann sollte es eben so sein. Ich sprang in die Tiefe und holte mir blitzschnell die Mütze, rot-gelb-grün, in den bolivianischen Landesfarben. Sofort rannte ich wieder zurück zum Lkw. Viele Arme streckten sich mir entgegen und zogen mich wieder in den Wagen, der sodann wieder losfuhr. Ich hatte eine gorra. Nun war ich einer von ihnen.

Gut gelaunt kamen wir am frühen Nachmittag in Oruro an. Die Leute gingen ihrer Wege. Ich fragte mich nach der Strasse nach Chile durch.

Auch Oruro war ganz schön gross und zog sich um einen Berg herum, der früher als Silbermine gedient hatte. Heute schien die Stadt in erster Linie von sich selbst, vom Dienstleistungssektor zu leben. Das Ambiente war nett.

Ich ging auf dem Bürgersteig einer Strasse nach Süden entlang und holte zwei Einheimische ein. Es ergab sich ein kurzes Gespräch.

- Du sprichst ja ganz gut Spanisch, aber weisst du auch, dass wir hier auch eine andere Sprache sprechen? Wir sprechen hier nämlich noch die Sprache der Inkas, Kechua, hast du schon einmal etwas davon gehört?

- Oh ja. Ihr werdet lachen, ich spreche auch die Sprache der Inkas, allerdings den Dialekt aus Ecuador. Wollt ihr mal echtes ecuadorianisches Quichua hören? Quichua rimaniari, cancuna quichua intindingui cashca mana yachanichu[87].

- Natürlich verstehen wir das! Das gibts ja nicht, du sprichst ja tatsächlich Kechua! Allerdings heisst es nicht rimani, sondern parlani. Ich spreche.

- In Ecuador nehmen sie rimana für sprechen und in Peru auch, oder?

- In Peru auch? Glaube ich nicht.

- Sonst wäre der Fluss, der durch Lima fliesst, ja nicht der berühmte Rimac. Sondern der Parlac. Der Sprechende.

- Ach so, das stimmt auch wieder. Wir wissen, dass in Ecuador manche Wörter auch anders ausgesprochen werden. Was heisst Geld auf Quichua?

- Cullqui.

- Genau, und hier sagen wir k'olki. Es ist dasselbe Wort, nur viel härter ausgesprochen.

Sie beschrieben mir den Weg nach Chile. Es gab eine befahrbare Strasse von hier nach Iquique in Chile, quer über den Altiplano und die Westkordillere. Der Grenzort hiess Pisiga.

Irgendwann musste ich rechts abbiegen. Es waren sogar Verkehrsschilder angebracht. Wie lange dauerte das denn, bis ich endlich aus dieser Stadt draussen war?

31

Tarea in Oruro -

Arbeit auf dem Altiplano

Brief Forum 14 (Januar 1989)

Aber die Stadt ist wesentlich grösser als ich dachte - zwei Stunden später und ich bin immer noch nicht draussen.

"Buenas tardes", frage ich ein älteres Ehepaar, "ist das hier der Weg nach Pisiga?"

"Pisiga? Ach so, ja, nach Chile, ja, das ist die Strasse." - Na endlich hab ich diese dumme Strasse gefunden, wurde aber auch Zeit.

"Du willst nach Chile?"

"Ja, will ich, ist die Strasse befahren?"

"Ja, da fahren Busse, aber die fahren immer morgens ab, jetzt um diese Zeit fährt kein Bus mehr."

"Na, es muss ja nicht unbedingt der Bus sein. Ich mein, ob vielleicht ab und zu ein paar Lkws vorbeikommen?"

Ja, es kämen zwar welche vorbei, aber die würden nicht anhalten.

"Wenn sie mich nicht mitnehmen, dann geh ich eben zu Fuss."

Die Frau: "Zu Fuss? Aber es ist doch schon spät, wo willst du da in der Pampa übernachten? Heute nacht wird es bestimmt wieder regnen."

Auch er ist pessimistisch.

"Besser du verbringst die Nacht hier in Oruro, und morgen früh, vom Walter-Khon-Platz, da fahren die Busse ab." - Was will ich denn im Bus?

"Ich glaube, es ist besser, ich geh zu Fuss. Vielleicht nimmt mich ja doch ein Lkw mit."

Dass der Bus teuer sei, setze ich hinzu. "Und ich kann ja nicht irgendwo arbeiten und mir das Geld verdienen."

"Nun ja, wer nich arbeitet, soll auch nicht essen. So steht es geschrieben."

"Gut, aber von der Arbeitslosenrate in Bolivien steht da nichts dabei. Oder kann man hier etwa arbeiten, wenn man will?"

"Wenn man will, ja -"

Sie erzählen von einem Chilenen, der wohl auch nicht sonderlich viel Geld hatte, der zwei Wochen hier in Oruro gearbeitet hatte, um sich das Geld für die Busfahrt zu verdienen.

"Ja wie, heisst das, es gibt hier Arbeit?"

"Ja, die bauen hier die Kanalisation, Gräben ausheben, das ist aber harte Arbeit..."

"Und das geht, einfach eine Woche da mitzuarbeiten?"

"Ja, oder zwei... wenn die einverstanden sind. Schwerarbeit ist das aber, würdest du so etwas machen wollen?"

"Mit Spitzhacke und Schaufel?"

"Ja."

"Hm, in Mexico habe ich das auch schonmal gemacht... warum eigentlich nicht..."

"Heute ist Weihnachtssonntag, da arbeiten die nicht, morgen auch nicht, du müsstest also bis zum Dienstag warten... du kennst natürlich niemand hier in dieser Stadt?"

"Nein, ich komme gerade vom Titicaca-See. Ich müsste ja wo übernachten..."

Schon wieder sehe ich mich vor einem gewissen Problem, das mir langsam bekannt vorkommt und das mir auch ein wenig unangenehm ist. Übernachten, Weihnachten, Grossstadt, Bolivien. Doch das Problem löst sich in dieser Stadt viel schneller als ich denke.

"Du gehst hier zwei Blocks weiter, links rein, ein Haus mit der Nummer vierunddreissig. Sag denen, du bist ein Freund von Victor Felípez. Da kannst du bleiben, das ist kein Problem."

Kein Problem.

Victor hat zwölf Kinder, zwischen sechs und dreiunddreissig Jahren, acht davon wohnen im Haus. Darunter Hugo, der manchmal auch beim Gräben ausheben mitarbeitet. Es ist wohl eines der ärmeren Stadtviertel von Oruro - es gibt zwar fliessend kalt Wasser und Strom, aber was fehlt, ist Abwasser. Es gibt also kein Klo im Viertel. Die Strassen sind nicht befestigt, und bei Regen verwandeln sie sich in sowas wie Schlammpisten. Aber trotz des Geldmangels sind die Leute alle aufgeschlossen und fröhlich, die Atmosphäre ist auch hier wirklich ganz anders als in vielen Gegenden in Peru.

Dienstag. Hugo geht mit mir zu den Arbeitern, zwei Blocks weiter. Ein paar Worte werden mit dem Chef gewechselt - alles klar, mitarbeiten willst du, aber immer doch, kein Problem. Etwa fünfzehn Leute sind es, Hugo selbst hat diese Woche keine Lust.

Ein bisschen erstaunt sind sie, als sie merken, dass ich gut Spanisch spreche. Haha, Leute, ihr wisst ja gar nicht, dass ich das, was ihr auf Kechua sagt, auch verstehe. Als sie sehen, dass ich ihre Indianersprache auch kann, sind sie völlig überrascht. Aber sie haben natürlich nichts Schlechtes gesagt, als sie sich über mich unterhalten haben.

Lección 1, wie in Mexico also: "Ziehen Sie einen Graben. Unbeirrt und kühn entschlossen..." Aber siebzig Zentimeter breit, nicht fünfzig wie in Mexico. Ausserdem viel tiefer, teilweise bis zwei Meter. In Mexico hatte ich das eine Woche mitgemacht, hier werden es dafür zwei Wochen sein.

Lección 2: Arbeitszeiten. In Mexico hatten sie die Pausen von der bezahlten Arbeitszeit abgezogen, 7-17 Uhr, Samstag nur bis zwölf, machte etwa fünfundvierzig Stunden in der Woche. Hier in Bolivien gibt es ausser eine Stunde am Mittag gar keine Pausen, gearbeitet wird von 8-17 Uhr, samstags genauso, macht achtundvierzig Stunden in der Woche. Obwohl, sie machen es so, dass sie täglich eine Stunde mehr arbeiten (8-18 Uhr), dafür haben sie am Samstag nachmittag dann frei.

Lección 3: Akuli. Keiner hält diese harte Arbeit vier Stunden hintereinander ohne eine Pause durch - also wird eben eine bezahlte Pause gemacht, eine um zehn und eine um vier, etwa fünfzehn Minuten. Je nachdem, wie hart die Arbeit ist, oder eine halbe Stunde. Akuli ist Kechua und heisst soviel wie "Kau-Zeit". Das kommt daher, weil sie früher in der Pause immer Koka-Blätter gekaut haben. Muss früher weit verbreitet gewesen sein.

Lección 4: Tarea. Wörtlich übersetzt heisst das etwa "Aufgabe, Arbeitspensum". Das ist mies, wenn das kommt. Das gabs in Mexico nicht: Bezahlung nach Leistung, nicht wie sonst nach Arbeitszeit. Am zweiten Tag werden also ein paar Linien auf die nächste Strasse gezogen, und jeder bekommt ein drei Meter fünfzig langes Stück - und soll dann das Stück Graben ausheben. 1,30 Meter tief. Die Arbeit gilt für einen Tag. Wer fertig ist, kann also heimgehen. Oder aber, und das machen Solís und die anderen Strongies, gleich noch eine tarea machen - das macht dann also zwei Tageslöhne.

Wer es aber nicht schafft, muss am nächsten Tag noch an der alten tarea weitermachen und bekommt also für den nächsten Tag keinen Lohn. Das Gemeine bei der Sache ist, dass die tarea-Abschnitte nicht alle gleich schwer sind, weil der Boden unterschiedlich ist, und nur Solís und solche Spezialisten, die schon länger dabei sind, sehen, wo leichter Sandboden drunter ist, und suchen sich gezielt diese Stücke aus. Bei Sandboden muss man nicht mit der Spitzhacke erst alles lockermachen, da kann man einfach alles mit der Schaufel rausnehmen, das ist wesentlich einfacher. Zum Glück gibt es diese tareas nur etwa einmal in der Woche.

Blasen an den Händen, wie in Mexico, habe ich hier nicht, weil ich hier von Anfang an mit Taschentüchern arbeite. Trotzdem bin ich am Mittwoch total fertig und froh, dass Hugo kommt und mir den Rest der tarea macht. Ab einem Meter Tiefe steht Wasser, das ist dann besonders toll.

Bezahlt werden wir aus La Paz, vom Sozialministerium, weil es sich um ein Sozialprogramm handelt. Die härtesten Arbeiter sind hier jetzt schon über ein Jahr dabei. Es sind ehemalige Minenarbeiter, die entlassen wurden, als die Minen dichtgemacht wurden, unter der neuen Regierung. Da hatten sie ihnen diese Alternative angeboten. In den Minen hatten sie etwa das Doppelte verdient. Angeblich liegt die Arbeitslosigkeit in Bolivien bei elfeinhalb Prozent.

Lohn: sieben Bolivianos Tageslohn. Macht für mich also fünfunddreissig die Woche, wir haben beide Montage nicht gearbeitet. Etwa vierundzwanzig Mark Wochenlohn, in Mexico waren es zehn Mark. Die Inflation ist in Bolivien mit zwanzig Prozent im Jahr sogar überraschend gering, in Peru und Brasilien sind es über achthundert, in Argentinien waren es letztes Jahr dreihundertsiebzig. In den letzten zwei Monaten lag die Rate in Bolivien sogar unter ein Prozent. Es ist ohne weiteres möglich, auf der Strasse Dollar zu tauschen: pro Dollar 2,51 Bs. im Ankauf und 2,49 Bs. im Verkauf. Auch diese geringe Differenz ist sehr ungewöhnlich.

Oruro liegt dreitausendsiebenhundertzwanzig Meter über dem Meeresspiegel und ich dachte, mir würde vielleicht irgendwann mal die Luft ausgehn - aber dieser Moment kam irgendwie nicht.

Wer aber kam, war viel schlimmer - aus La Paz: Félix, der andere Chef. Der, der uns auch auszahlt und sehen will, ob wir auch gut arbeiten. Félix heisst er nur, wenn er dabei ist. Sonst nennen sie ihn Casco - "Schutzhelm", weil er der einzige weit und breit ist, der dick mit leuchtend gelbem Schutzhelm rumläuft. Dass der Casco beliebt ist, kann nicht gerade behauptet werden: er bringt es fertig, stundenlang neben uns zu stehen und zuzuschauen, wenn wir den Graben wieder zuschaufeln.

Der Casco lässt keine Pausen zu. Der andere Chef hatte das mit dem akuli irgendwie noch toleriert und nichts gesagt, war auch öfters mal weggegangen. Wenn er da war, hat er auch mal selber mitgeschaufelt. Es ist ein richtig mieses Gefühl, sich beim Graben-zuschaufeln von einem Typen beobachten zu lassen, der nur bezahlt wird, um neben uns zu stehen und uns zu überwachen. Und natürlich nichts selber arbeitet und dafür dann mehr Lohn bekommt.

Endlich sind wir mit dem Zuschaufeln fertig und er teilt die Gruppe auf. Neun von uns sollen alleine nach oben gehen, fünf Blocks weiter, und dort den Graben von gestern zuschaufeln. Dieser Casco macht einen total fertig.

"Ja, hopp, ist doch gut, gehn wir nach oben."

Ich soll mit. Na gut, gehn wir eben nach oben.

Wenn sie nicht so schnell gehen würden, könnten sie zehn Minuten für den Weg brauchen... warum gehen die denn so schnell, der Casco ist doch mit den anderen Arbeitern unten geblieben? Vielleicht haben sie Angst, dass er nachkommt und sie beim Trödeln erwischt. Komischen Weg gehen sie. Ich wäre ja jetzt links gegangen.

Sag mal, warum bin ich eigentlich total fertig und langsam und tierisch froh über die paar Sekunden Pause, und die freuen sich, dass sie nach oben gehen dürfen und dort weiterarbeiten?

Noch ein Block quer -

"Hier?"

"Ja, hier, das ist gut."

"Alles hinsetzen, akuli!"

"Hopp, hol die Liste raus!" - Lima hat pastelitos dabei, Gebäck von Zuhause, bezahlt wird am nächsten Zahltag... Wenn der Casco weg ist, werden die Pausen also nachgeholt.

Wenn der Casco zum Kontrollieren kommt, ist er schon von weitem in der Menschenmenge auf der Hauptstrasse auszumachen: seinen gelben Schutzhelm hat er immer auf.

Anfang der zweiten Woche kommt es dann ganz dick: jetzt gibt der Casco uns die tarea : keine 3,50 Meter langen Stücke, sondern fünf Meter, wenn auch nur 1,10 Meter tief. Hugo und ich wollen zusammenarbeiten und zehn Meter machen.

Wir wechseln uns ab, es ist wirklich sehr schwere Arbeit. Wir haben bei der Vergabe wieder Pech gehabt, die Erde ist sehr schwer, mit blöden Steinen drin, die erhoffte Sandschicht kommt und kommt nicht. Bis ganz unten müssen wir mit der Spitzhacke arbeiten, es wird halb acht, aber wir schaffen es.

Hugo hat am nächsten Tag keine Lust mehr, das mit dem Casco ist ihm zu schwer. Er will sich woanders Arbeit suchen. Ich habe das Gefühl, dass ich am Ende sogar etwas mehr geschafft habe als Hugo, der vier Monate hintereinander mit Spitzhacke und Schaufel gearbeitet hat.

Ich kann es kaum glauben - ich habe da vier Kubikmeter feuchte, schwere Erde an einem Tag rausgeholt, so schwer hab ich wohl noch nie gearbeitet. Und das ausgerechnet auf fast viertausend Meter Höhe.

Den ganzen Donnerstag sind wir dabei, Gräben zuzuschaufeln. An sich keine sehr harte Arbeit, von Natur aus viel leichter als Gräben auszuheben. Aber fast den ganzen Tag ist der Casco dabei - es kann ihm nicht schnell genug gehen. Bescheuert ist das - du bist gezwungen, den Moment abzuwarten, wenn der Casco mal wegkuckt oder vielleicht mal für fünf Minuten woanders hingeht - keiner arbeitet dann mehr. Schon am Mittag bin ich vollkommen groggy. Es ist bei ihm einfach nicht möglich, auch nur einen kleinen Ansatz von Arbeitsrhythmik zu entwickeln.

Es spricht sich das Gerücht rum, dass wir morgen wieder tarea bekommen. Nein - so jedenfalls nicht. Ich gehe nach Hause und pack mich erstmal, vollkommen fertig, in den Schlafsack.

"Wenn sie morgen wieder tarea geben, dann kommst du um zwölf, dann helfe ich dir am Nachmittag", versucht mich Hugo aufzumuntern.

"Ich weiss nicht. Es kommt auf die Tiefe an. Ich glaub, wenn er uns mehr als einen Meter gibt, werd ich gar nichts machen. Ich bin absolut fertig. Naja, muss mal sehn, wie ich morgen drauf bin... "

Der Casco gibt immer fünf Meter lange Stücke, und siebzig Zentimeter breit müssen sie auch immer sein. Nur die Tiefe variiert. Allerdings wäre ein Meter oder noch weniger nicht sehr wahrscheinlich.

Freitag morgen. "Also, mit dir und mit dir, wir gehn nach oben, ja, Vicente, auch mit dir, Francisco auch mit nach oben...", manchmal spricht der Casco ein bisschen komisch. Er sagt auch taréu statt tarea.

Acht Leute sollen also mit nach oben kommen. Der Casco selber will mit den Arbeitern, die Gummistiefel haben, unten bleiben und im Wassergraben arbeiten. Vicente beschreibt er kurz, wohin wir gehen sollen, wir gehen schön brav hoch, aber wir wissen immer noch nicht, was wir da machen sollen. Spannung. Vielleicht Gräben zuschaufeln?, das wäre gut. Hoffentlich Gräben zuschaufeln. Es ist ein Stadtviertel am Hang.

Fünf Minuten später wissen wir bescheid, als ein Typ mit Metermass und Leine ankommt... der Casco kommt dann auch - klar, anders konnte es nicht kommen:

"Taréu."

Tiefe: 1,10 Meter.

Warum akzeptiere ich ein fünf Meter langes Stück tarea, wo schon vorher klar ist, dass hier am Hang alles voll mit Steinen ist, die man nur mit der Spitzhacke rausklopfen kann? Warum bin ich so blöd und akzeptiere drei Komma acht Kubikmeter Steineklopfen auf dreitausendsiebenhundertvierzig Meter Höhe, die ganze Zeit unter der Sonne, die hier am Mittag senkrecht steht?

Weil ich ein Trottel bin.

Am Mittag habe ich vielleicht zwanzig oder dreissig Zentimeter Tiefe geschafft, aber es zeichnet sich kein bisschen Besserung ab, der Boden ist voller Steine. Also, so bringts das jedenfalls nicht.

[pic]

Blick vom Hang über die Südstadt von Oruro auf die Weite des Altiplano nach Süden. Im Vordergrund die Strasse mit den Gräben, dahinter die Lehmmauer des Grundstücks mit einigen Häusern hangabwärts. Meine fünf Meter lange tarea links im Bild. Bei den Bergen am linken Bildrand ging die Strasse nach Chile raus. Aquarell, 1989.

Mittagspause, ab nach Hause. Hugo ist gar nicht da - dabei hatte er doch versprochen, mir zu helfen!

Also alleine weitermachen. Eine halbe Stunde mach ich noch weiter, dann hab ich keine richtige Lust mehr. Die Kinder aus der Nachbarschaft helfen mir. Denen bringt das sogar richtig Spass, mit wesentlich mehr Ehrgeiz sind die dabei.

"Wir machen hier weiter, bis unten" - bei dem Boden, ich weiss nicht.

Ach, das bringts nicht, ich geh runter zu Vicente, der hat sich gleich zwei tareas, also zehn Meter abmessen lassen, weil er dachte, der Boden wäre leicht. Ist er aber auch bei ihm nicht. Nee, das bringts doch nicht, da oben ohne Hoffnung auf die Steine einzuhauen für die sieben Bolivianos, dann schon lieber hier unten Vicente ein bisschen helfen.

Auch wenn Vicente etwas leichteren Boden hat als ich - die zehn Meter wird er heute auch nicht mehr schaffen, das ist klar. Also sind wir zu zweit dabei. Es scheint zunächst ganz gut zu gehen, aber nach einer etwas leichteren Schicht kommen wieder Steine, und zwar leider die ganz dicken. Das sind die miesesten. Da kann man den Boden mit der Spitzhacke nur ganz langsam und vorsichtig bearbeiten. Wenn man mit der Spitzhacke voll auf einen grossen Stein haut, ist das der schnellste Weg, sich offene Blasen an den Händen zuzulegen. Es fängt aber trotzdem fast an, Spass zu machen, der eine klopft solange Steine, bis er nicht mehr kann, der andere räumt sie dann mit der Schaufel alle raus. So haben wir immer gut Zeit, uns auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln. Arbeitsrhythmik. Hin und wieder wechseln wir die Geräte, weil das Hacken anstrengender ist.

Um sechs hören wir auf - fünfeinhalb oder sechs Meter haben wir heute geschafft, fehlen immernoch gut vier. Na, wenigstens etwas. Die Kinder sind da oben bei meiner tarea immer noch dabei, sind aber wie erwartet nur wenig weitergekommen. Vielleicht kann man ja mit dem Casco reden, dass er uns die Arbeit von heute als Tageslohn anrechnet.

Kann man nicht.

Also am nächsten Morgen wieder hoch, Samstag, die tarea zuende machen. Es ist also klar, dass wir für die zwei Tage Arbeit nur einen einzigen Tageslohn bekommen, den Samstag arbeiten wir also umsonst. Nur Vicente nicht, weil der bekommt ja Lohn für zwei tareas.

Ach, was solls, aus irgendeinem Grund hab ich heute trotzdem noch Bock, zu arbeiten, ob der Casco jetzt zahlt oder nicht. Wozu bin ich denn hier in Bolivien. Ausserdem ist es mein letzter Arbeitstag, das muss ich doch ausnutzen - wer hat denn schon die Gelegenheit, in Bolivien mit Spitzhacke und Schaufel Gräben ausheben zu können? Also erstmal zu meiner eigenen tarea gehen.

Oh - die Kinder sind tatsächlich ein bisschen weitergekommen. Vielleicht einen halben Meter tief sind sie jetzt oder sogar etwas mehr, aber leider sieht der Boden immernoch genauso hart aus. Nein, komm, lass es, ich geh lieber wieder runter zu Vicente, der heute Morgen schon seit sieben dabei ist. Die letzten vier Meter sind noch schwerer als der Murks von gestern.

Kommt der Casco, kuckt sich die Arbeit an, geht zu meinem Stück hoch, weil ich ihn ja gestern angesprochen hatte, weil es so schwer war... - ich gehe auch hin und sehe die Überraschung: er ist mit der Spitzhacke in meinem Stück dabei, "was willst du denn, der Boden ist doch hier ganz leicht", hackt auf die Steine ein als wärs Butter.

Peinlich. Es ist plötzlich viel leichter als gestern, auch viel leichter als bei Vicente. Die ersten fünfzig oder sechzig Zentimeter waren wie einbetonierte Steine, aber in der Schicht darunter liegen die Steine total locker drin - es dauert keine zwei Stunden und ich habe die tarea fertig! Ha, das macht immerhin einen Tageslohn für zwei Tage Arbeit!

Danach geh ich wieder runter zu Vicente. Ein bisschen machen wir noch, kommen nur ganz langsam vorwärts... es bleibt ein Stück von etwa zwei Kubikmetern, als Vicente um halb eins einpackt und geht - er will am Montag wiederkommen und das Ding zuendemachen. Na okay, dann geh ich eben auch, erstmal was essen. Die meisten anderen gehen auch heim oder sind schon gegangen. Fünf Meter weiter ist Alex noch dabei; er sagt, er will weitermachen, bis er durch ist, vielleicht zwei oder drei Stunden wären das noch.

Vicente ist zwar wirklich ziemlich fertig, das ist aber nicht der Grund, weshalb er keinen Bock mehr hat:

"Wenn sie uns nicht auszahln... -", weil angeblich kein Geld da sei.

Das gab es in Mexico nicht. Samstag gab es immer Lohn, achtzehntausend Pesos, für jeden. Ohne Zahlungsverzögerung. Hier in Oruro zahlen sie mit Glück alle zwei Wochen mal was, letzten Samstag haben sie aber nur den halben Lohn ausgezahlt und die Leute auf heute vertröstet. Diesen Samstag haben sie aber angeblich gar nichts... müssten sie nächsten Samstag also zweieinhalb Wochenlöhne zahlen. In Peru muss das natürlich noch viel mieser sein, wenn sie den Arbeitern in den Minen monatelang die Löhne schulden, bei einer Inflation von tausenddreihundert Prozent im Jahr.

Es ist von daher etwas verständlich, dass sie in Bolivien die Regierung gut finden, die hier zwar alle Minenarbeiter entlassen hat (auf Druck vom IWF), dafür aber die Inflation gestoppt hat. So wirkt es sich nicht ganz so katastrophal aus für die Arbeiter, wenn sie ihre Löhne jedesmal einen Monat später bekommen. Viele Unternehmen halten das so und machen daraus bei hoher Inflation ihre Geschäfte.

Nach dem Essen geh ich nochmal hoch, zu Alex, der wirklich ganz schön schlapp ist, und mach mit ihm seine (auch zweite) tarea zuende. Klar ist er schlapp - wie will er denn den ganzen Samstag volle Pulle arbeiten, ohne was dazwischen zu essen? Und mehr als ich hat er bestimmt nicht gefrühstückt - eine Tasse Tee und ein Brötchen, selbstverständlich trocken.

Alex ist noch keine zwei Monate dabei. Vicente rödelt hier schon seit sechs Monaten, hat aber auch woanders schon mit Spitzhacke und Schaufel gearbeitet. Ist auch Anfang zwanzig. Ich gehe nochmal zu dem Stück von Vicente und schaue es mir an, in der Mittagssonne... zwei Kubikmeter fehlen ihm noch.

Zwei Kubikmeter. Macht er die am Montag zuende, hat er zwei tareas in drei Tagen geschafft, also einen Tag praktisch umsonst gearbeitet.

Es ist Samstag, früher Nachmittag. Zwei andere Arbeiter sind ein paar Meter weiter oben aber auch noch bei ihren tareas dabei, verdammt schwerer Boden... wie es bei mir zuerst auch war... sie wollen bis sechs arbeiten. Vicentes Stück hat nicht ganz so schweren Boden... zwei Kubikmeter... hm, rechnen wir mal nach.

Zehn Meter lang mal ein Meter zehn tief mal siebzig Zentimeter breit, sind sieben Komma sieben Kubikmeter... gestern vormittag er allein, danach mit mir, haben wir bis zum Abend vielleicht viereinhalb Kubikmeter geschafft. Heute vormittag hat Vicente, grösstenteils allein, in knapp sechs Stunden noch einen oder eins Komma zwei rausgeholt - und will die restlichen zwei am Montag rausholen, müsste also mit etwa acht oder neun Stunden rechnen.

Noch zwei Kubikmeter Bolivien... eigentlich hab ich noch ein bisschen Lust. Ich habe auch gut zu Mittag gegessen. Diese Spitzhacke hier, da steht sie so einladend...

Ach, gehst her. Doch, ich mache in Vicentes Stück noch ein bisschen weiter. Ich fange an, in den Steinen rumzumurksen... nach einer halben Stunde habe ich vielleicht zehn Schaufeln rausgekriegt. Das ist wenig.

Irgendwie bin ich noch von gestern fertig. Oder von heute vormittag? Oder von der ganzen Woche... oder von Donnerstag, wo uns der blöde Casco beim Zuschaufeln so gescheucht hat... vielleicht liegt es auch an der Sonne, wie gestern hat es fast keine Wolken.

Von einem Haus hole ich mir einen ganzen Eimer voll Wasser (das ist in dieser Stadt trinkbar), trinke einen halben Liter aus, jetzt gehts besser. Vielleicht war es ja das, was mir gefehlt hatte.

Zwei von den Kindern kommen wieder an, und damit irgendwann auch die Frage:

"Können wir dir helfen?"

"Wenn ihr wollt..."

Einer nimmt die Spitzhacke, der andere die Schaufel, und so hacken sie ein wenig auf den zwei Kubikmetern herum. Das ist gar nicht so einfach, die Spitzhacke richtig zu gebrauchen... ja ja, das sieht so leicht aus, wenn die Arbeiter das machen, aber ihr seht, das will gelernt sein.

Wart mal, die da oben wollen bis sechs Uhr durchmachen, das sind noch vier Stunden... ich glaub, ich entschliess mich auch, bis vielleicht um sechs hier rumzurödeln, dann muss Vicente am Montag vielleicht nur den halben Tag arbeiten, das wird ihm guttun.

Also nein, mit der Spitzhacke können sie wirklich nicht umgehn, da kann ja kein Mensch zuschaun. Also nehm ich wieder die Spitzhacke und hacke ihnen ein bisschen was raus, und sie wechseln sich im Schaufeln ab. Die Kinder können nicht hacken, aber sie können schaufeln.

Das ist jetzt der Augenblick, wo ein kleines bisschen Kopfarbeit gefragt ist. Arbeitskraftmanagement. Hier ist es wichtig, dass vor allem die Schaufel ständig im Einsatz ist, die Spitzhacke kann ausruhen. Nur die Schaufel bringt die tarea wirklich weiter. Sie müssen also ständig etwas zum Rausschaufeln haben.

Also hacke ich an zwei Stellen des fünf Meter langen Abschnitts, hinten und vorne, immer abwechselnd. Ich hacke an der einen Stelle solange, bis sie gegenüber zuende geschaufelt haben, dann gehe ich wieder auf die andere Seite. Und ich habe sogar etwas Glück: der Boden wird eine Idee leichter, ich halte mit ihnen gut mit, kann ihnen immer genug zum Schaufeln raushacken.

Inzwischen ist Nachmittag, einer der Nachbarn lädt mich zum Tee mit Brötchen ein, genau wie gestern nachmittag die eine Frau drei Häuser weiter oben. Mir kommt eine Idee... das wär doch ein Riesen-Gag, wenn ich jetzt Vicentes tarea komplett zuende machen würde! Ich stell mir sein Gesicht am Montag vor, wenn er am Morgen da völlig lustlos angelatscht kommt und seine tarea fertig gemacht sieht. Hey, das wär doch der volle Gag. Ich glaub, ich hab mir schon lange keinen wirklich guten Gag mehr geleistet. Zwei Kubikmeter, es wäre vielleicht tatsächlich zu schaffen...

Ich bin den Anwohnern dankbar. Brötchen und Tee (mit Zucker!) und ein paar Minuten ausruhn - das ist jetzt das genau eins-A-Richtige, was mir momentan passieren kann. Diese Gegend hier oben taugt wirklich mehr als das graugelbe, staubige, verkehrsreiche Stadtviertel weiter unten. Wo die Typen, die an der Strasse entlanggetrottelt kommen, jedesmal einen halben Genickbruch kriegen, wenn sie mich da als einzigen blonden Weissen unter den Arbeitern sehen. Ich kam mir bald vor wie im Zoo da unten.

Am härtesten war der eine Typ, da haben sich sogar Lima und die anderen an den Kopf gefasst, die das mitgekriegt hatten: als wir wieder mal mit unseren Geräten über den Schultern die Strasse langgelatscht kamen. Irgendso ein Typ sah mich da also, als ich schon vorbeigegangen war, drehte sich um, rannte ins Haus: "Mami, Mami!"

Und der Typ war über dreissig.

So, genug ausgeruht, weiter an der tarea. Ein Riesen-Monster-Stein liegt drin, den brauchen wir aber nicht rauszuholen, das machen die, die nächste Woche die Rohre legen. Die Kinder haben zwar bald keine Lust mehr - nur einer ist noch gekommen, vielleicht zwölf Jahre ist er alt, er bleibt noch.

Dafür lege ich jetzt erst richtig los. Zwei Kubikmeter nicht schaffen, das wäre ja noch schöner. Dieses miese tarea-System. Ich hacke mit voller Energie auf den Graben ein und unterlasse es gerade noch, schwarzamerikanische Arbeiterlieder zu singen, die wir mal in der Schule gelernt hatten. Oder Es ist an der Zeit von Hannes Wader. Weit in der Champagne, im Mittsommergrün... Hatte ich letzte Woche im unteren Stadtviertel gebracht, damit ging es tatsächlich leichter. War ne gute Show. Sie dachten, jetzt sei ich vollkommen übergeschnappt.

"Ich kann nicht mehr, kannst du mal die Schaufel nehmen ?" - oh, jetzt merke ich ja erst, dass ich den jungen Freund ziemlich gut in Trab halte.

"Okay, gib die Schaufel her, das kriegen wir schon hin... wir machen das so: ich schaufel immer diese Seite, und du danach die andere, okay?"

"Ja, gut, das ist glaub ich besser."

Ich kann mich auch mit der Schaufel austoben, zur Abwechslung, und irgendwann merke ich, dass wir durch sind. Vicentes Graben hat verloren. Der Rest ist Technik.

Um halb sechs sind wir fertig und ich habe in dreieinhalb Stunden tatsächlich zwei Kubikmeter Erde zusammengehackt. Und nur etwa ein Viertel davon selber rausgeschaufelt, den Rest haben die Kinder gemacht.

Wow! Vicentes tarea ist fertig! Und er weiss es noch gar nicht!

Dieser Gag!

Eine Woche blieb ich noch in Oruro - ich musste ja auf den Lohn warten, auf nächsten Samstag. Vicente musste am Montag morgen ein gutes Gesicht gemacht haben. Er war wirklich total fertig und froh, dass er wieder nach Hause gehen und sich noch einen Tag ausruhen konnte.

Den Lohn haben sie am nächsten Samstag ausbezahlt, für mich vollständig, weil ich ja nach Chile wollte, aber den anderen blieben sie wieder anderthalb Wochenlöhne schuldig...

Ein anderer Sohn von Victor, Vidal, war schon älter, verheiratet und wohnte in einem etwas grösseren Haus ein paar Strassen weiter. Er hatte Aquarellfarben und Papier. Ich war ihm dankbar, dass ich mich damit oben auf den Hang stellen und ein Bild von Oruro malen konnte. Ich schickte es in einer selbst gebastelten Rolle nach Neustadt zu Mechthild. Vom Rest des Geldes kaufte ich mir Schokolade. Zwei Bolivianos die Tafel. Ich mochte die grossen Tafeln, die kristallweise Rohrzucker enthielten.

Victors kleines Haus hatte zwei kleine Schlafzimmer, in denen Victor, seine Frau und mindestens sieben Kinder schliefen. Hugo hatte mit seiner Freundin seit neuestem eine kleine Baracke aus Wellblech und Plastikplanen im Garten gebaut. Sah richtig gemütlich aus. Ich schlief im Schlafsack im kleinen Wohnzimmer auf dem Fussboden. Den ganzen Tag lief das Radio. Radio Oruro, bolivianische Musik. Sylvester wurde nett gefeiert.

Mit Victor konnte man sich gut über Politik und Geschichte unterhalten. Er war beeindruckt, wie hart ich gearbeitet hatte.

- Von allen Völkern, die uns hätten kolonialisieren können, mussten ausgerechnet die Spanier kommen! Was haben sie uns gebracht? Faulheit und schlechte Manieren, nichts weiter! Viel lieber wären uns die Deutschen gewesen!

Bolivien war irgendwie das urigste der Länder Südamerikas. Fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung waren Indianer. Wie bei allen Ländern in diesem Kontinent ergaben sich die Staatsgrenzen als Erbe der Kolonialmächte, und denen war es ziemlich egal gewesen, was für Völker in den einzelnen Verwaltungsgebieten lebten.

So wurden in den bolivianischen Regionen vor allem drei Indianersprachen gesprochen: im Hochland Kechua und Aimará, im Tiefland im Südosten Guaraní. Als sich die ersten Staatsmänner Boliviens (spanische Militärs) dann die Landessprache aussuchten, nahmen sie Spanisch. Und das war gar kein so schlechter Zug, wie auch Victor meinte, denn Spanisch mussten alle Indianer neu lernen - und kein Indianervolk war bevorzugt worden.

Ich kam auch mit anderen aus dem Stadtviertel ins Gespräch. Dabei gewann ich den Eindruck, dass die Frauen in diesem Land, das offenbar vom spanischen Machismo nicht ganz so viel mit auf den Weg bekommen hatte, im Vergleich bessere berufliche Aufstiegschancen hatten als in anderen Ländern des Kontinents.

Eine Nachbarin sagte mir, sie möchte, dass ihre Tochter auf die höhere Schule käme, Deutsch lernen und später vielleicht in Deutschland studieren würde. Sie erzählte mir auch, dass sie stolz darauf sei, dass Bolivien einmal etwa ein Jahr lang von einer Präsidentin regiert worden war. Und ein Jahr sei gar nicht so schlecht gewesen - in einer Zeit, wo die durchschnittliche Zeit, die bis zum nächsten Militärputsch verging, bei acht Wochen lag.

Auch die technische Leitung über das Kanalisationsprojekt der Stadt lag bei einer Frau. Die junge Architektin kam einmal in der Woche aus La Paz und begutachtete die Arbeiten, liess sich genau erklären, wieweit sie schon gekommen waren, überprüfte, ob sie sich an die Pläne gehalten hatten... und es schien für die Arbeiter und die Chefs eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass sie alle unter der Leitung einer Frau arbeiteten.

Vielleicht haben sie im Sozialministerium ja die Erfahrung gemacht, dass die Frauen tatsächlich verantwortungsbewusster und zuverlässiger arbeiteten, und daher einem weiblichen Architekturbüro in La Paz den Auftrag erteilt.

Niedlich war eine Szene mit Viktors sechzehnjähriger Tochter. Sie hatte seit neuestem einen Freund, der Druck machte und mit ihr schlafen wollte. Aber sie wollte nicht, weil sie nicht schwanger werden wollte. Irgendwann überwand sie sich und traute sich, mich darauf anzusprechen. Auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ganz schön mutig. Offenbar hatten sie das Thema in der Schule schon gehabt und waren es gewohnt, darüber zu sprechen.

- Kennst du eine Methode, wie ich mit ihm schlafen könnte, ohne schwanger zu werden?

- Kondome, Pille?

- Nein, das ist zu teuer, die Pille auch. An sowas kommen wir hier nicht ran.

- Also gut, wenn er mit dir schlafen will, dann muss er sich darum kümmern und das auch bezahlen. Wenn du so mit ihm schläfst, wirst du schwanger.

- Aber er hat auch kein Geld dazu. Und ich auch nicht. Geht es nicht auch, dass ich an bestimmten Tagen während des Monatszyklus nicht schwanger werden kann? Er hat gesagt, das würde auch gehen. Ich wollte fragen, ob du davon was weisst.

- Ganz genau kann ich dir das nicht erklären, aber du hast im Prinzip recht. Es gibt bestimmte Tage, wo es nicht so wahrscheinlich ist, dass du schwanger wirst. Würde ich mich an deiner Stelle aber nicht drauf einlassen. Ich weiss, dass es ziemlich riskant ist, und in zehn Prozent der Fälle wurden Frauen trotzdem schwanger. Es kommt auch drauf an, wie regelmässig du deine Monatsregel bekommst. Na, wie ist es, bekommst du sie sehr regelmässig oder nicht so?

Ihre jüngere Schwester musste lächeln. Eigentlich waren das nicht exakt die Sorte Fragen, die wildfremde Männer in Bolivien sechzehnjährigen schüchternen Mädchen stellten. Sie wiesen mich darauf hin, dass ich auf keinen Fall ihren Eltern sagen sollte, über was wir hier sprachen.

- Na gut, aber das musst du dich schon fragen lassen, ich mein, das ist nun mal leider das Thema, du hast es ja wissen wollen. Wenn du sie unregelmässig bekommst, ist diese Methode umso riskanter. Und es ist auch sehr kompliziert. Du müsstest jeden Tag deine Temperatur messen und alles genau aufschreiben. Was heisst denn Eisprung auf Spanisch? Salida de huevo vielleicht. Wenn das Ei aus dem Ovar-

- Ja, ich versteh schon.

- Jedenfalls wird das so gemacht. Das ist das, was dein Freund meinte. Verstehst du, du müsstest richtig Buch führen darüber, an welchen Tagen du immer deinen Eisprung bekommst. Und zwar mindestens ein halbes Jahr lang.

- Das ist zu lang.

- Was machst du, wenn er dich mit dem Baby sitzen lässt? Willst du denn unbedingt mit ihm schlafen?

- Ich nicht so unbedingt, aber er will das.

- Du musst wissen, ob du das willst. Du hast das zu entscheiden. Ich wäre sehr vorsichtig. Lass dich bloss nicht überreden. Es ist dein gutes Recht, vorsichtig zu sein. Und es ist dein gutes Recht, nein zu sagen. Und wenn du ja sagst, dann muss er sich um die Verhütung kümmern.

- Das macht er aber nicht.

- Dann geht es eben nicht. Dann musst du ihm sagen, dass es nicht geht.

- Das habe ich auch gesagt. Aber er sagt, ich sei zu feige.

- Du bist nicht feige, du triffst eine verantwortungsvolle Entscheidung, und das ist dein gutes Recht, weil es dein Körper ist, über den nur du entscheidest. In Wirklichkeit ist er feige, wenn er keine Verhütungsmittel kaufen will.

- Ich weiss nicht, er fängt halt immer wieder damit an.

- Soviel kann er doch nicht taugen, wenn du ihm noch nicht mal das Geld für Verhütungsmittel Wert bist.

Hätte ich vielleicht nicht sagen sollen. Ich versuchte herauszubekommen, was es für ein Typ war, in welchem Stadtviertel er wohnte, wie sie ihn kennengelernt hatte. Er war wohl auch jung und unerfahren, vielleicht nicht böswillig. Vielleicht stand er seinerseits unter Druck, von seiner Clique. Es schien kompliziert zu sein.

- Weisst du wirklich nicht, wie ich einmal so mit ihm schlafen könnte, ohne schwanger zu werden? Vielleicht noch eine andere Methode?

- Eine andere Methode kenne ich leider auch nicht. Nur wenn du einmal mit ihm schläfst, kannst du dich darauf verlassen, dann wird er ständig mit dir schlafen wollen. Beim zweiten Mal wird er wieder sagen, du bist feige. So löst du das Problem nicht. Irgendwann wirst du dann garantiert schwanger. Ein Wundermittel gibt es nicht. Ich glaube, du musst das Problem so lösen, wie es sich darstellt.

Ich wusste nicht, was Selbstbewusstsein auf Spanisch hiess. Ich hoffte, ich hatte ihr ein wenig davon mitgegeben. Wenn ich ihr so etwas sagte, war es vielleicht ein Unterschied, als wenn ihr Vater ihr das sagte.

Und ich selber musste irgendwann auch ein Problem lösen, und zwar auch genau so, wie es sich stellte. Ein Wundermittel gab es leider auch hier nicht. Mehrere Male träumte ich in Oruro wieder von Viktoria, einmal davon in Lindau am Bodensee. Was hatte Viktoria denn am Bodensee zu tun? Jedesmal, wenn ich von ihr träumte, hatte ich dieses total angenehme Gefühl. Schade, so ein schönes Gefühl als Problem sehen zu müssen.

Ich schrieb Fred Teickert eine Postkarte nach Mainz. Bolivien, das würde sich gut anhören.

Am 19. Januar machte ich mich wieder auf den Weg.

Zu Fuss, die Strasse nach Pisiga raus.

32

Meinetwegen bis zum Südpol -

Strassen ans Ende der Welt

Brief Forum 15 (Januar 1989)

Die Sandpiste, die über den vertrockneten Salzsee über den Altiplano nach Pisiga führt... und siehe da, der erste Lkw, der die Strasse entlanggefahren kommt, hält an und nimmt mich mit. Zu irgendeiner Kreuzung, ab da gehe ich zu Fuss weiter, eine Stunde in der Sonne, dann kommt wieder ein Lkw, der nimmt mich bis Ankarabe mit.

Ankarabe ist so eine Art Truck stop, von da geht es weiter mit einem anderen Lkw bis Huachacallo, wir kommen in der Dämmerung an. Hier am Fuss der Berge haben wir den Altiplano hinter uns. Diese kleinen Lkws vom Altiplano fahren nicht weiter, ich muss im Militärhäuschen warten. Um Mitternacht sollen die grossen, robusten Trucks hier durchkommen, die einzigen Fahrzeuge, die der harten Tour durch die Berge standhalten.

Also warte ich im Militärhäuschen. Schon lange ist es dunkel.

Hier in dieser Gegend fahren nur Lkws. Sie transportieren Waren von der chilenischen Küste über die Pässe in den Anden und über die Salzebenen in das Innenland von Bolivien. Huachacallo liegt schon über viertausend Meter hoch, ein bisschen am Hang, so dass die Ebene ganz gut zu überblicken ist.

Mitternacht. Lichter in der Ferne.

Da kommen die ersten Trucks. Einer, zwei, drei, da ganz hinten noch zwei... ein ganzer Konvoi, mit weissen und bunten Lichtern. Ein Konvoi, der sich bedächtig über die Ebene dem kleinen Ort nähert. Vor der Schranke müssen sie anhalten. Grosse alte Laster mit verbeulten Blechschnauzen, der ganze Lade-Aufbau aus Holz, in bunten Farben angemalt, violett und blau einige, gelb und grün andere, alle über und über mit Dreck bespritzt, und überall leuchten rote, grüne oder blaue Lichter von den Seiten. Sie kommen aus dem Hinterland, viele hundert Kilometer aus dem Osten, und sind bestimmt alle schon viele Stunden, Tage und Nächte unterwegs.

Hier müssen sie alle anhalten, die Papiere und die Ladung werden kontrolliert. Die Motoren hören sich trotz ihrer Lautstärke nicht aggressiv an, das haben sie gar nicht nötig. Sie klingen eher wie sich konzentrierende Raubtiere, die genau wissen, dass sie gleich dran sind. Sie beziehen das widerhallende Echo der Berge in ihr Ritual mit ein. Ohne jede Diskussion scheint ihnen die Stille der Nacht respektvoll den Vorrang zu lassen.

Die ersten, die vorbeikommen, nehmen die Leute mit, die schon am längsten gewartet haben. Irgendwann bin ich auch an der Reihe, es ist ein ehemals weisser Lkw, aber über und über voll mit lehmiger Erde. Die beiden Fahrer nehmen mich zu sich nach vorne in die Kabine.

Und los, Huachacallo bleibt hinter uns.

Sie finden es ganz interessant, sich mit mir zu unterhalten. Später merke ich, dass ich vergessen hatte, sie zu fragen, bis wohin sie eigentlich genau fahren. Ich hoffe mal, bis runter an die Küste. Soll ich sie fragen oder nicht? Nein, ich frag sie lieber nicht, das wäre nicht meine Art, sowas zu fragen. Ich kann mir denken, dass sie irgendwo hinfahren, und mehr brauch ich auch nicht zu wissen. Ich hoffe einfach mal, dass sie nach Chile fahren.

Der eine ist kein Fahrer, sondern ein Geschäftsmann aus Cochabamba, der nach Iquique an die Küste reisen will. Das bedeutet, dass der Fahrer alleine fährt, und zwar schon seit Cochabamba. Und das sind vielleicht dreihundert Kilometer von hier. Bei diesen Strassen.

"Ach, zwei Tage, das ist nichts, das bin ich gewohnt. Es ist ja nur eine Tour von Cochabamba. Die Strassen von da gehen ja noch. Oft bin ich ja schon die Strecken hinter Cochabamba in den Osten gefahren, nach Santa Cruz de la Sierra und noch weiter, mit voller Ladung, das ist richtig hart."

In Deutschland dürfen die Trucker nicht länger als vier Stunden oder so am Steuer sitzen, mich würde mal interessieren, wie das hier ist.

"Wieviele Stunden fährst du denn so an einem Stück?"

"Das längste sind vier Tage, kommt aufs Wetter an. Ich selber fahre ungern länger als drei Tage, ich finde, das ist ungesund..."

"Wow, vier Tage! - Nein, ich meinte, wieviele Stunden fährst du an einem Stück, ohne zu schlafen?"

"Ja, wie gesagt, ich fahr drei Tage. Ich fahr nicht gerne länger."

"Aber ich meinte, von einer Schlafpause zur anderen, wie lang du da fährst, das meinte ich."

"Ich sag doch, drei Tage."

Er lächelt mich an.

Jetzt versteh ich erst. Er sitzt also schon seit zwei Tagen ununterbrochen am Steuer, und fährt die zweite Nacht durch. Das muss mit dem Koka-kauen zusammenhängen.

"Warum wirst du nicht müde?"

"Ich weiss nicht, wir werden nicht so schnell müde, wir sind das gewohnt. Der hier", er deutet auf meinen Nachbarn, "ist mir schon zweimal eingeschlafen! Die meiste Zeit vom Weg hat der verschlafen! Mit wem soll man sich denn unterhalten, wenn er alle vier Stunden wieder einschläft... ich hätte mir einen anderen Nachbarn aussuchen sollen..."

"Ja, das stimmt, ich werde so leicht müde in der Kabine... auch jetzt bin ich schon wieder ganz müde..."

"Weisst du, warum der immer einschläft? Der mag die Koka nicht. Hier, magst du? Das ist Magenmedizin, hier, versuch mal ein paar Blätter. Das ist keine Droge, das sind nur die Blätter von der Koka. Die machen nicht süchtig."

"Na gut, ich probiers mal", sieht aus wie Lorbeerblätter, die nach fast nichts schmecken, "Ist das wirklich nicht schädlich?"

"Du darfst das nur nicht Tag und Nacht machen, das ist schädlich, da hast du recht. Ich versuch, das möglichst wenig zu machen. Man darf sie nicht dauernd kauen, es ist besser, sie länger im Mund zu behalten. Einen Tag lang geht es auch ohne. Ich sag ja, länger als drei Tage fahre ich ungerne am Stück..."

Die Natur ist bezaubernd. Planet pur.

In der Truck-Kabine in Bolivien, das ist wirklich der Logenplatz für den Tramper. Auch wenn es Nacht ist - wir haben hellen Mond und können sie gut sehen, diese Einöde aus felsigen Bergen, mit trockenem Gras bewachsenen Hochebenen und glänzend weissen, im Mondlicht schimmernden, ausgetrockneten Salzseen. Je höher wir kommen, desto mehr wird das Gras von einer schwarz-grün-weiss gefleckten Flechtenvegetation abgelöst, in der ab und zu ein paar rote oder gelbe Punkte hervorscheinen, wenn die Scheinwerferlichter drauf fallen.

Aber es wird auch feuchter, je höher wir kommen. Die Schotterstrasse ist schon lange nicht mehr befestigt, der Boden oft schlammig... der Konvoi der sechs oder acht Lkws sucht die Spuren des Vorgänger-Konvois von vor ein paar Tagen, die sich zwischen die fahl dunkelgrünen Silhouetten der hügelartigen Berge schlängeln. Jeder Hügel ein Fünftausender.

Einmal müssen wir eine Pause machen - einer der Trucks ist im Schlamm steckengeblieben, sie haben es aber schon geschafft, ihn wieder herauszuziehen. Die Trucks fahren oft mitten durchs Gelände, wenn die Piste zu tiefe Pfützen hat. Jeder Fahrer sucht sich seine eigenen Spuren, von der Nacht in den Morgen.

Es hat angefangen zu dämmern. Die Berge bekommen Konturen. Sie erscheinen viel grösser als im fahlen Mondlicht, viel majestätischer, sie sind viel weiter weg. Die Vegetationsgrenze liegt nur wenige hundert Meter höher, darüber sind die Berge dann in einem gräulich rotbraunen Ton gefärbt. Der Himmel ist im Westen noch tiefblau, aber im Horizont wird er schon grün, bald gelb, bald geht er in ein fahles Orange über. Im grossen Salzsee vor uns spiegelt sich dieses faszinierende Naturschauspiel.

Eigentlich, wenn ich es so betrachte, ist es doch ein wunderschöner Planet.

Ich stubse meinen Nachbarn an, deute auf den leuchtend roten Kreisansatz am wolkenlosen Himmel, hinter den schneebedeckten Gipfeln im Osten:

"Die Sonne, da, endlich!"

Kalt: viertausendsechshundertfünfzig Meter über dem Meer. Trotzdem liegt hin und wieder ein Ort an der Piste.

"Von was leben die Leute hier?", frage ich den Geschäftsmann aus Cochabamba.

"Weiss nicht. Quinoa. Die Leute leben schon seit immer hier in dieser kargen Einöde, das ist der einzige Grund, warum die hier leben..."

Der Fahrer, während er weiter seine Koka-Blätter kaut: "Die ham Lamas. Und bauen habas an. Verkaufen ausserdem Salz."

Habas sind dicke Bohnen. Bei den ganzen Salzseen könnte man meinen, Salz gebe es hier jede Menge. Das sind aber meist Sulfatsalze, das essbare Kochsalz ist relativ selten.

Am Vormittag erreichen wir die Passhöhe. Die Feuchtigkeit ist verschwunden. Wir kommen erst nach Colchrane, die bolivianische Seite der Grenze, erledigen dort die Papiere, dann geht es nach Pisiga, Chile.

Die erste Überraschung kommt, als ich erfahre, dass die bolivianischen Trucks gar keine Erlaubnis haben, die letzten hundert Kilometer bis zur Küste auch noch runterzufahren.

Es läuft so, dass vom Küstenort Iquique chilenische Laster die Waren bis auf den Pass fahren, dort alles abladen, und die bolivianischen holen sich die Sachen dann ab. Da es hier am Eingang zur chilenischen Küstenwüste nie regnet, werden alle Waren einfach unter freiem Himmel deponiert. Also bin ich wieder auf der Strasse, muss mir einen neuen Tramp suchen, denn auch unser Truck fährt nur bis hier.

Der Fahrer muss lachen, als ich ihn frage, ob ich mit Kugelschreibern bezahlen kann. Kopfschüttelnd steckt er sich ein paar von Vollraths Parker-Stiften ein.

Der Geschäftsmann aus Cochabamba und ich gehen gemeinsam zum Grenzübergang. Chile braucht nicht stolz zu sein auf seinen Stempel in meinem Reisepass.

Der Militärtyp, der mir jetzt eigentlich einen Einreisestempel in den Pass geben sollte, anstatt rumzulabern:

"So, du willst also hier rein. Weisst du schon, mit was für einem Lkw du nach Iquique fährst?"

"Nein, noch nicht, Señor, ich werde die gleich mal fragen, ob mich von denen einer mitnimmt. Es sind ja viele Wagen hier."

"Ja, dann mach das mal."

Der Bolivianer: "Die nehmen aber in der Regel fünfzehn Dollar."

"Ach so. Ach was, ich glaube, ich gehe einfach mal zu Fuss los, hab ja ne gute Landkarte, und Dörfer sind ja auch am Weg."

Nix zu Fuss.

"Nein, die Einreise geben wir hier nur, wenn du jemand vorweist, der dich runter nach Iquique fährt." - weils ja so kalt wär in der Nacht, "das können wir nicht verantworten."

Wir finden einen Fahrer, ders für fünf Dollar macht. Gut, mich lässt er rein. Gnädigst, nachdem ich noch gut rumgeschleimt hab. Dass er ja wirklich ein sehr verantwortungsvoller Coronel sei. Den Bolivianer will er nur reinlassen, wenn er ihm ausserdem noch eine ziemliche Menge Geld umtauscht. Hilft ihm nichts.

Die Fahrt an die Küste war ganz nett. Unterwegs hielten sie bei einer kleinen Herberge zum Essen an. Es gab Lamafleisch. Ich glaube, ich habe noch nie so gutes Fleisch gegessen. Viertausend Meter tiefer landete ich dann wieder auf der guten alten Panamericana.

Die Militärs müssen hier in der Gegend sowieso eine ganze Menge verantworten. Aber nur bis Antofagasta, fünfhundert Kilometer weiter südlich, ab da soll sich das ein bisschen ändern. Weil es hier immer noch nicht richtig Chile zu sein scheint, erklärt mir eine Frau, unten nahe der Küste an einem Militärposten an der Panamericana, sie will auch wie ich Richtung Süden weitertrampen:

"Hier wohnt keiner, hier gibt es nur die Wüste und ein paar Küstenorte. Antofagasta und Iquique waren bis vor hundert Jahren noch bolivianisches Gebiet, bis wir den Krieg mit Bolivien hatten, danach wars chilenisch."

Chile liegt in diesen Tagen noch in den letzten Zügen der Militärdiktatur, die das Zeitliche zwar schon gesegnet hat, dessen Apparat aber noch überall präsent ist. Sie glauben anscheinend immer noch, dass, wenn sie nicht wie die Schiesshunde aufpassen und hier nicht überall Strassensperren einrichten und den ganzen Verkehr von Nord-Chile penibel kontrollieren, dann kommen eines Tages die Bolivianer und holen sich das Gebiet wieder zurück.

Um zehn Uhr nachts nimmt mich ein Lkw mit, bei Vollmond durch die Tamarugal-Wüste, bis Antofagasta. Am Morgen kommen wir an, nachdem wir kurz vorher die Panamericana verlassen haben. Antofagasta ist eine Hafenstadt. Ich lande erst bei den grossen Lagerhallen, wo der Trucker sein Gemüse abladen muss, gehe dann an der Küste entlang zum Hafen.

Die Panamericana geht nicht direkt durch die Hafenstadt, sondern am Ort vorbei, hält sich oben in der Wüste, und so warte ich am Ortsausgang von Antofagasta erstmal darauf, dass mich einer die zwanzig Kilometer nach oben zum Truck stop La Negra an die Panamericana mitnimmt. Zwei andere Tramper warten an derselben Stelle, schon seit acht. Aber es ist wenig Verkehr, es kommen nur paar Container-Trucks, die fahren nicht bis La Negra, und Kieslaster, die fahren nur zur Kiesgrube. Mal die beiden fragen, vielleicht trampen sie die Strecke ja öfters:

"Seid ihr Chilenen?"

"Nein, wir sind Argentinier."

Schade, sie kennen sich hier auch nicht aus. Kommen gerade aus Peru runtergetrampt. Meine Karte finden sie gut.

"Hier, bis kurz vor Santiago fahren wir die Panamericana runter, und dann über diesen Pass, nach Argentinien..."

Genau in dem Moment, als ich mich entschliesse, zu Fuss die zwanzig Kilometer durch die Wüste zu gehen, hält ein Pkw an, der nach La Negra fährt und noch einen Platz frei hat. Da die beiden Argentinier zusammenbleiben wollen, komme ich mit dem Wagen mit, bis zum Truck stop von La Negra.

La Negra, das ist ein staubiges Zementwerk in der Wüste, eine Militärkontrolle, eine Tankstelle und die Panamericana. Erstmal müssen alle Autos beim Militärposten anhalten und ihre ganzen Papiere zeigen, und die Trucks fahren dann meistens zur Tankstelle, gleich dahinter. Dort kann man dann mit den Fahrern reden. Kommen aber recht wenig, und die fahren entweder "nicht weit", oder "die Firma erlaubt nicht", dass sie Anhalter mitnehmen. Diese Ausreden, die ich aus Europa kenne, gab es in Bolivien oder Peru nicht. Es ist staubig, ich habe bald einen trockenen Mund. Von Zeit zu Zeit weht ein sandiger Wind.

Nach drei Stunden kommen auch die Argentinier mit ihren Rucksäcken. Ja, das ist gut, dann übernehmen sie die Tankstelle, und ich stell mich bei der Strasse hin. Das hat mich nämlich schon die ganze Zeit genervt, manche fahren ja nicht auf die Tankstelle, sondern gleich wieder auf die Strasse, die sind mir dann natürlich immer ausgerissen.

Noch eine Stunde, dann haben sie es wohl geschafft, der Tankwart winkt mich her:

"Hier, frag den Fahrer da, der nimmt die beiden anderen mit!" - Welchen Fahrer meint er? Ach, den da.

"Ja, also, ich komme aus Deutschland und will nach Süd-Chile... nehmen Sie mich ein Stückchen mit, Chef?"

"Ja - kletter hinten drauf."

Yeah, super. Geschafft! Lkw mit Anhänger. Er nimmt uns alle mit. Die Argentinier sind natürlich auch total happy.

"Hey, bis wohin fährt er eigentlich, habt ihr ihn das gefragt?"

"La Serena!"

"Wow! Das sind neunhundert Kilometer!!!"

Wir unterhalten uns ein wenig, hinten auf der Ladefläche des Lastwagens, der halbvoll mit weissen Säcken ist, Reis aus Uruguay, steht drauf. Den Argentiniern haben sie in Peru das Geld geklaut, deshalb fahren die wieder heim.

Auch der Anhänger ist halbvoll mit den weissen Säcken. Da ist gar kein Reis drin, sondern Salz. Die beiden haben sogar ein Zelt mit, das spannen wir über die vordere erste Hälfte des Laderaumes, wegen der Hitze, die Mittagssonne ist ja mörderisch.

Sie hatten es sich in der Hafenstadt gespart, den Lastwagen mit Planen abzudecken, sie haben die Planen zusammengefaltet und nur einfach hinten reingelegt. Es wäre auch sinnlos gewesen, den Lkw extra noch abzudecken: er wird jetzt einen Tag und eine Nacht durch die Atacama-Wüste fahren, das ist die trockenste Wüste der Erde, da braucht er keinen Regenschutz.

Der Fahrtwind bringt ein bisschen Kühlung, gegen Abend wird es angenehmer. Der Lkw fährt angenehm ruhig und monoton, die asphaltierte Strasse durch die Wüste ist gut instand. Für die Nacht richte ich mir etwas aus Schlafsack und Lkw-Plane her und nehme den Rucksack als Kissen. Allzu kalt wird es nicht werden, es bilden sich sogar ein paar Wolken. Es ist natürlich nicht besonders gemütlich, pennen wir hier auf den Salzsäcken, aber was solls jetzt. Ich bin noch müde von gestern, ach ja, stimmt ja, das war ja in Bolivien, ich habe ja die Nacht durchgemacht.

Es sind tatsächlich Wolken am Himmel, das ist interessant... ich schlafe aber schnell ein. Jaja, die Wolkenzeit. Die Küstenwüsten von Peru und Chile haben eine Sommerzeit und eine Wolkenzeit. Die Wolken sind aber auch hier nur da und regnen nie ab.

Die Salzsäcke sind auf die Dauer sehr hart; immer, wenn ich mich umdrehe, wache ich auf. Aber eine Federkernmatratze haben sie leider nicht mit reingepackt in den Lkw. Die ersten paar Male fahren wir noch, irgendwann steht der Wagen dann.

Ist aber danach wieder weitergefahren. Das Aussenzelt wird noch abfetzen, wenn das so weiterflattert. Wieso nehmen die das denn nicht rein?, das sind doch Trottel. Ach, egal. Ich penn wieder ein.

Jetzt stehn wir. Ich geh kurz pissen. Die beiden murksen irgendwo bei ihren Sachen rum. Der eine macht das Aussenzelt wieder fest. Sind wohl auch grad erst aufgewacht.

"Wieviel Uhr?", fragen sie mich.

"Weiss nicht... vier vielleicht...", sind ja Wolken da, ich kann nicht sehn, wo der Mond steht.

Ach, weisst was, ich leg mich wieder pennen. Vier war das zu diesem Zeitpunkt wohl doch noch nicht.

Warum sollten die Bolivianer denn da einmarschieren in Nord-Chile? Das ist doch der grösste Schwachsinn. Bolivien erhebt in seinen Landkarten auch gar keinen Anspruch auf das Gebiet, ebensowenig Peru auf Arica, das ist die nördlichste Küstenstadt von Chile, die war vor hundert Jahren peruanisch. In Bolivien haben sie mir das mit den ehemaligen bolivianischen Küstengebieten auch erklärt, haben aber immer gesagt, dass das jetzt chilenisch ist, weil die doch den Krieg gewonnen haben und es wurde ein Vertrag unterzeichnet.

Ecuador dagegen erhebt in allen offiziellen Landkarten Anspruch auf einen guten Teil von Nord-Peru, und Guatemala reklamiert für sich das ganze Land von Belize. Ecuador bezieht sich im Ernst auf irgendson Vertrag von 1830... Guatemala auf einen von 1859... die Briten hätten diesen Vertrag gebrochen, indem sie es unterlassen haben, irgendeine bestimmte Strasse in einer festgesetzten Zeit zu bauen... wahrscheinlich hätte sich Belize also gar nicht unabhängig erklären dürfen. Komisch, aber die USA erkennen sie alle an, obwohl deren Geschichte erst recht nichts anderes als eine Aneinanderreihung von gebrochenen und völkerrechtlich ungültigen Verträgen ist...

Ich wache wieder auf, dreh mich nochmal auf den Rücken, oh, es ist schon hell. Aber der Lkw steht immer noch. Ich mache ganz kurz die Augen auf. Toll. Ich kann gar nichts sehen.

Das Aussenzelt haben sie jetzt doch losgemacht, endlich haben sie das gecheckt, dass das sonst noch zerreisst im Fahrtwind. Jetzt habe ich es als zweite Zudecke, und über dem Gesicht. Steh ich auf oder schlafe ich weiter? Ich glaube, ich werde nicht mehr weiterschlafen. Ich bin viel zu gespannt, wo wir schon sind.

Neunhundert Kilometer... bis jetzt ist das mein weitester Tramp in Südamerika. Nur von Griechenland nach Österreich bin ich einmal eine längere Strecke mitgenommen worden, von einem französischen Trucker. Jean-Claude, von Polikastron bis Salzburg-Walserberg.

Er hat den Motor angelassen. Fährt aber noch nicht los. Ich dös weiter... miese Salzsäcke... ich bin, wie nennt man das, wenn die Muskeln auf die Grosshirn-Befehle nicht ansprechen wollen... desagil würde Jochen sagen, nein, noch besser, dezentralisiert. Der Rücken..., die Schultern... mann, bin ich fertig. Dös...dös... das machen die immer, die Trucker, lassen den Motor erst eine Weile laufen, bevor sie losfahren... dös... dös... da, jetzt ist er losgefahren.

Es dauert mindestens noch zehn Minuten, bis meine Beinmuskeln sich endlich mal mit einer positiven Antwort melden. So, die Beine sind also da. Ein Bein, ein anderes Bein. Stimmt, beide bewegen sich. Hab ich voll unter Kontrolle jetzt. Ich sollte es nun mal mit meiner Hand versuchen.

Also, los. Erstmal dieses blöde Aussenzelt von der Fresse - ah, es ist immer noch bewölkt. Und jetzt hinsetzen... oh, Leute, ich sag euch, wenn ihr mal die Wahl habt zwischen einer weichen, flaumigen Matratze und Salzsäcken zum Pennen - nehmt die Matratze. Ihr werdets nicht bereuen...

Was mich erstmal nervt, ist, dass der Typ da neben mir gar nicht mehr daliegt, Gemeinheit. Einfach nicht mehr dazuliegen. Extra mit Rücksicht auf ihn hab ich mich immer besonders umständlich und vorsichtig umgedreht, um ihm nicht meine Knie an den Kopf zu hauen. Und jetzt liegt er gar nicht mehr da.

Hey, der andere ist ja auch nicht da. Wo sind denn die? Ihre Schlafsäcke sind noch da, ihre Rucksäcke auch, da hinten, das kann ich sehen... bei denen sind sie aber auch nicht. Ich bin zwar vollkommen fertig, aber soviel check ich auch so: ich bin der einzige auf der Ladefläche.

Ah - natürlich, ganz klar, das ist nicht schlecht, die werden vorne beim Fahrer in der Kabine sein. Ja, das ist gut, dann unterhalten sie sich mit dem, dann wird der vielleicht etwas gesprächiger. Viel mehr als "Ja - kletter hinten drauf" hat er uns gestern ja wirklich nicht berichtet. Fährt mit seinem kleinen Sohn.

Nein, der Gesprächigste war er gestern wirklich nicht. Beim zweiten Truck stop, als er weiterfuhr: steigt ein, lässt den Motor an, fährt los. Andere sagen ja noch "hopp, geht weiter" oder sowas, aber da war nix - wenn wir nicht schnell raufgeklettert wären, wären wir da stehengeblieben... Komisch, wieso lässt er dann auf einmal beide zu sich nach vorne in die Kabine... das verstehe ich nicht... eh, halt mal, es gibt ja ein ganz einfaches Mittel, rauszukriegen, ob sie wirklich in der Kabine sind oder nicht. Ich bräuchte mich dazu nur umdrehen und vorne in seinen Rückspiegel schauen.

Ach ja, Umdrehen... nein, wart mal, noch liege ich, erstmal überlegen, nur nichts übereilen. Könnte Energieverschwendung sein. Also: wenn sie da vorne nicht drin sind, wäre die Sache langsam spannend, weil dann könnten sie praktisch nur noch im Anhänger sein. Ja. Ja. - Ja, mann, also los jetzt, umdrehn.

Rückspiegel hat er. Aber da sehe ich nur den Jungen und den Fahrer in der Kabine. Das gibts doch nicht. Jetzt bin ich aber wach. Hopp - hinter zum Anhänger. Hinten sind sie jedenfalls nicht, aber ich muss noch warten bis eine Kurve kommt, dass ich in den toten Winkel kucken kann.

Tatsächlich - im Anhänger sind sie auch nicht. Aber ihre Rucksäcke sind doch noch da! Ich versteh das nicht. Meine Sachen sind auch noch alle da. Wo sind wir eigentlich? Irgendwo in der Wüste.

Aha, da sind wir: Kilometerstein achthundertzwanzig. Also ich seh da keinen Sinn drin.

Eine Stunde später hält er wieder an einem Truck stop, Frühstück. Ich frag den Fahrer. Der hat tatsächlich keine Ahnung, was mit denen ist!

Ich kletter nochmal rauf, schau in den Rucksäcken nach - und finde beide Reisepässe, "República de Argentina". Ihre Landkarte und ihre Jacken sind aber nicht da. Obwohl der Fahrer natürlich auch nichts anderes kann als lachen - er ist ganz schön erschrocken.

"Die müssen da bei dem letzten Truck stop runter sein!"

Ja, anders gehts nicht. Aber warum? Das sind doch Trottel, da nimmt man doch seine Papiere mit, ihre Karte haben sie ja auch mit. Ausserdem hatte er den Motor lange laufenlassen, bis er dann abfuhr, das hätten sie doch mitkriegen müssen.

"Und was machen wir jetzt?"

"Mal in ihren Papieren rumlesen."

Ihr Geld ist ihnen in Cusco tatsächlich geklaut worden - sind sie extra zur Polizei. Beide heissen sie Nestor, sind Studenten an der Uni von La Plata, das liegt am Atlantik, bei Buenos Aires. Der eine ist auch aus La Plata, der andere ist aus Villa Maria, eine Stadt bei Córdoba, mitten in Argentinien.

Der Fahrer ist ziemlich ratlos:

"Was machen die jetzt ohne Reisepässe?"

"Wie, was sollen die machen?"

"Na, die gehn doch zur Polizei, am besten, wir geben die Sachen bei der Polizei ab."

Glaube ich nicht. Wer geht denn freiwillig zur chilenischen Polizei?

"Ach, nix werden die machen, die fahrn zur Grenze, haben paar Probleme, und fahren heim."

Villa Maria liegt gar nicht so weit weg von der Grenze, vielleicht tausend Kilometer von hier. Denk, denk.

"Weisst du was? Am besten, wir fahrn einfach erstmal weiter. Ich selber weiss nämlich auch nicht, wo ich hinsoll. Dann fahr ich eben nach Villa Maria und bring die Rucksäcke zu dem seiner Familie, und die Reisepässe kann ich ja an der Grenze den Beamten geben. Die Polizei von hier wird mit denen ihren Pässen jedenfalls auch nichts anfangen können."

"Naja, gut, fahrn wir erstmal weiter."

Fahrn wir erstmal weiter, ich kletter wieder hinten rauf. Dem einen sein Rucksack ist ziemlich schwer, die beiden anderen sind aber leicht. Mann, das ist ja der absolute Witz. Jetzt muss ich mir das erstmal in der Karte anschauen.

Kurz vor Santiago muss ich von der Panamericana runter und in die Anden, über einen Pass, vorbei am Aconcagua, dem mit fast siebentausend Meter höchsten Berg der Gebirgskette, und nach Mendoza. Und dann noch ein paar hundert Kilometer weiter... ich weiss nicht, wie ich das mit dem ganzen Gepäck schaffen soll. Tausend Kilometer durch den Kontinent mit vier Rucksäcken, die werden mich alle für bescheuert halten.

Aber mir gefällt die Aussicht, bei seiner Familie in Villa Maria mit dem ganzen Gepäck anzukommen - freuen sie sich bestimmt und spendieren mir ein ganz dickes Essen. Doch, das lohnt sich, die Idee gefällt mir.

Es macht Spass, hinten auf dem Truck zu stehen, nach vorne zu schauen und den Wind in den Armen zu halten. Oh, was ist das da hinten für eine grosse weisse Kugel auf dem Berg? Das ist doch bestimmt diese eine berühmte Sternwarte, die grösste für den südlichen Sternenhimmel.

Ja, isses tatsächlich, La Silla, stehen Schilder dran. Der Lkw hält wieder an, am Truck stop, wo die Schotterstrasse zur Sternwarte abzweigt. Es ist Mittag geworden, die Sonne brennt heiss vom Himmel. Ich setz mich in den Schatten vor das eine Haus und betrachte die Panamericana, an der hin und wieder einige Trucks entlangfahren. Und die fünfzehn Kilometer entfernte Sternwarte, im Osten auf einem der Hügel vor der Andenkette.

Die Sternwarte haben sie mit Absicht hier in die Wüste gebaut, wegen der guten Sicht. Hier sind nur sehr selten Wolken und die Luftfeuchtigkeit ist sehr gering.

Es kommt ein Truck von Norden an, mit sehr grosser Geschwindigkeit. Die Trucks von Norden sind immer schon über zehn Kilometer zu sehen. Oh, er fährt wirklich sehr schnell, schneller als die anderen, kommt ganz schnell angefahren, aber jetzt bremst er, fährt auf unseren Truck stop... - zwei Typen steigen aus und kommen zu mir rübergelaufen... oh nein, es sind die beiden Argentinier, diese Witzbolde!

"Hallo Nestor! Wie gehts?!"

"M - ähh - was ist mit - den Reisepässen?"

"Na, das ist mal gut, dass wir die nicht zur Polizei gebracht haben...!"

Sie sind da tatsächlich an der einen Tankstelle vom Wagen runter, hatten im Lokal gefrühstückt und erst zu spät gemerkt, dass der Lkw losfuhr. Bei den Bullen seien sie zwar gleich gewesen, die hatten aber anscheinend auch keinen grossen Bock, ihnen weiterzuhelfen. Aber dieser Trucker hat sie mitgenommen und sich überreden lassen, den Salztransport einzuholen - mensch, ham die ein Schwein gehabt.

Der Rest der Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, am Nachmittag hatten wir die Wüste hinter uns und waren wieder an der Küste, nach sechsundzwanzig Stunden Fahrt, in La Serena. Dort trennten sich unsere Wege wieder.

23. Januar 1988

Ich war mit einigen kleinen Tramps weiter nach Süden gekommen und stand ziemlich lange an einer Tankstelle bei Los Vilos. Ich überlegte, ob ich an eine andere Stelle gehen sollte. Aber es lag nicht an der Stelle. Die Autos konnten sehr gut anhalten. Es lag daran, dass sie nicht wollten. In so einer Situation war es manchmal besser, stehenzubleiben.

Und genau das zahlte sich aus. Ein Pickup hielt an. Juan und Eugenia.

- Erst haben wir dich da stehen sehen, und als du nach ner Stunde immer noch da an der Tankstelle standst, sind wir nochmal zurück.

Sie fuhren nach Viña del Mar. Die Kassette schalteten sie ab, als wir an einer Militärkontrolle vorbeikamen.

Viña del Mar war ein beliebter Ferienort an der Küste, bei Valparaiso. Viña kam mir vor wie eine Mischung aus Monaco und Timmendorfer Strand. Auch die anderen Küstenorte konnten sich gut mit der Ostsee vergleichen. Chile schien ganz wohlhabend zu sein. Juan und Eugenia hatten bald das Gefühl, mir ein falsches Bild von ihrem Land zu vermitteln.

- Nicht dass du jetzt denkst, das sei typisch für Chile. Das hier ist nur - ich mein, es gibt auch viel Armut in Chile.

- In Kolumbien hatte ich den Eindruck, die Reichen wollten von ihrem Reichtum gar nichts abgeben.

- Hier ginge das schon - nur sowas darf man ja nicht sagen.

- Wieso nicht?

- Die schuldigen dich an! Die sind so, die Militärs. Ein kleiner Hinweis, du könntest kein Mitläufer sein, das ist die Katastrophe!

Jetzt verstehe ich, die Kassette von eben, Protestlieder...

- Weisst du, wieviele Chilenen ins Exil gehen mussten?

Oh ja, das mussten sehr viele gewesen sein. Überall in Lateinamerika gab es Vereinigungen von Exilchilenen.

- Ja, stimmt, ich weiss noch, als ich in Ecuador war, die Erleichterung bei den Exilchilenen, als das No gewonnen hatte.

Sie hatten die Abstimmung absichtlich so formuliert, dass, wer für den Wechsel zu einer Demokratie war, nicht mit ja, sondern mit nein abzustimmen hatte. Die Meinungsforscher hatten den Militärs erklärt, dass die Chilenen sehr viel leichter ja als nein sagen würden.

- Die Militärs haben einen Fehler gemacht. Sie haben vor der Abstimmung die Exilchilenen wieder ins Land gelassen. Da konnte jeder sehen, wie viele das waren, die die ganze Zeit über im Exil waren. Die Leute haben gemerkt, dass sie da tatsächlich die Wahl hatten.

Bis heute konnte ich mir es kaum erklären, wie das No in Chile gewinnen konnte. Im Norden sah ich fast ausschliesslich Si-Parolen an den Mauern, hier in der Gegend war nur ab und zu mal ein No dazwischen. Sonst blieben in der Regel die Parolen der Siegerparteien stehen, wie in Ecuador. In Peru standen immer noch die Slogans Alan-Perú von 1985 an den Wänden, als Alán García die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte. Wieviel mehr Geld musste hier für das Si in den Wahlkampf gesteckt worden sein als für das No?

Die Militärs hatten unterschätzt, dass die meisten Chilenen, misstrauisch und eingeschüchtert von der brutalen Diktatur, den Meinungsforschungsinstituten bis kurz vor der Abstimmung nicht verrieten, dass sie gegen die Pinochet-Militärdiktatur stimmen würden. Bis zum Schluss mussten die Militärs fest damit gerechnet haben, die Abstimmung zu gewinnen. Sie hielten es offenbar gar nicht für nötig, Wahlbetrug in grossem Stil vorzubereiten. Am Ende mussten sie zugeben, dass siebenundfünfzig Prozent der Bevölkerung gegen ihr Regime gestimmt hatten.

Viña del Mar.

- Also, danke für mitnehmen!

- Willst du nach Santiago? Pass auf, da kuckst du bei Inge und Martín vorbei- wart mal- ich geb dir ihre Telefonnummer. Inge ist Deutsche und arbeitet in Santiago im Goethe-Institut...

Ich schlenderte noch ein wenig durch Viña, bis es Abend wurde. In den Aussenvierteln der Stadt stand ein Haus im Bau. Kurz entschlossen ging ich hinein, niemand hatte mich gesehen, und ich verbrachte eine ruhige Nacht.

Am Morgen ging ich noch ein paar Strassen nach oben und kam hinten auf einem Pickup nach Santiago. Eine richtige Autobahn gab es hier zwischen der chilenischen Hauptstadt und Valparaíso am Meer.

In Santiago stand ich im Zentrum, sah mir die Parks und die Innenstadt an und fand schliesslich sogar das Goethe-Institut, von wo aus ich Inge anrief.

Inge und Martín wohnten in Puente Alto, einer Art Nobel-Vorort im Süden der Stadt. Sie beschrieb mir, welchen Stadtbus ich nehmen musste. Ich konnte es nicht glauben, sie hatten im nobelsten Viertel tatsächlich das nobelste Haus. Mit drei grossen Hunden.

Sie waren keine Industriellen oder Politiker - sie waren Lehrer: das einzige, was sie hatten, war Bildung. Und das war gefährlich in Chile. Martín hatte nach 1973 lange Jahre in Schweden und Deutschland im Exil verbringen müssen, war erst vor kurzem zurückgekehrt und sprach sieben Sprachen. Chile war eindeutig ein Land, dass zu wenige Menschen mit Bildung hatte. Wer studiert hatte und es wagen konnte, in Chile zu wohnen, wurde hoch bezahlt.

Und es war immer noch ein Wagnis. Immernoch waren sie verdächtig. Martín hatte seinen Job als Lehrer verloren, weil er in einer sozialdemokratischen Partei aktiv war. Ab und zu gab es Besuch von der Polizei, meinte Martín.

- Kommen die einfach so hier rein?

- Nein, die klingeln - was meinst du, wozu wir die drei grossen Hunde hier haben?

Ich war Inge und Martín sehr dankbar, dass ich eine Woche bei ihnen bleiben und mich ein wenig erholen konnte. In den Regalen standen schöne Bücher in exotischen Sprachen. Italienisch, Deutsch, Schwedisch, Norwegisch, Niederländisch. Ein Gedichtband von Margot Bickel. Lyrik von Garcilaso Inca de la Vega. Ein Buch eines deutschen Arztes, der Patienten hypnotisiert hatte. Und sie in die Frühkindheit zurückgeführt hatte. Aus therapeutischen Gründen.

Als die Patienten dem erstaunten Arzt sogar Details aus ihrer eigenen Geburt schilderten, kam er auf die Idee, sie einfach zu fragen, ob sie sich an noch weiter zurückliegende Ereignisse erinnern könnten. Taten sie auch und erzählten aus irgendwelchen vorherigen Leben, viele Jahrzehnte vorher. Nichts von Napoleon. Völlig unspektakuläre Szenen aus dem Alltag eines Pferdestalljungen im Elsass.

Er wollte niemanden beeinflussen und erst recht keiner Religion widersprechen, schrieb der Arzt, aber das seien die Ergebnisse seiner Untersuchungen und er glaubte, er sollte sie aufschreiben. Sie seien auch therapeutisch nicht uninteressant. Eine Frau hatte eine Rattenphobie. Er hypnotisierte sie und fand heraus, dass sie im ausgehenden Mittelalter wohl in einem dunklen Verlies in Baden eingeperrt worden sein musste, wo sie buchstäblich von den Ratten gefressen wurde. Er liess sie beschreiben, wie sie den Moment ihres Todes empfand. Eine Erleichterung, antwortete sie. Endlich nicht mehr kalt und nicht mehr diese scheusslichen Ratten. Warum die Ratten scheusslich seien, fragte sie der Arzt. Sieh dir die Ratten doch noch einmal an, jetzt, wo du tot bist. Was machen die Ratten? Sie fressen an meinem Körper. Und macht dir das was aus? Nein, jetzt nicht mehr, die müssen ja irgendwas fressen, die haben wahrscheinlich Hunger. Warum sind sie denn dann scheusslich? Ihre Schwänze sind eklig, die haben keine Haare. Aber die Körper der Menschen haben doch auch keine Haare, sind die dann auch eklig? Na gut, eigentlich sind die Schwänze auch nicht so eklig. So, und jetzt sieh sie dir nochmal an mit ihren kleinen Schnäuzchen. Sind sie nicht auch putzig und niedlich mit ihren kleinen Tasthäärchen? Der Arzt schrieb, das so etwas nicht immer funktionierte, dass die Therapie aber in diesem Fall erfolgreich und die Patientin hinterher von ihrer Rattenphobie geheilt war.

Was ich davon halten sollte, wusste ich nicht, aber mich beeindruckte die experimentelle Herangehensweise. Dass das Leben nicht so funktionierte, wie es uns langläufig beigebracht wurde, und dass in Deutschland wohl kaum jemand viel vom Leben verstehen konnte, hatte ich schon lange begriffen. Ob die Inder und Tibeter mehr Ahnung davon hatten, konnte ich nicht beurteilen. Die Bibel sagte nicht, wie das Leben wirklich funktionierte, soviel war klar. Sie diente offenbar nur als eine Art Einstieg in die Thematik.

Sie werden es nicht finden, was sie suchen. Da können Sie bis ans Ende der Welt gehen, hatte Rüdiger Klaue gesagt. Ich hatte sofort widersprochen. Nur was suchte ich? Die Sache mit Viktoria schien festgefahren. Irgendwas war schiefgelaufen. Möglich, dass ich ihr einen Brief schreiben sollte. Mit südamerikanischen Briefmarken.

Vielleicht wurde es mal Zeit, das Thema von einer anderen Seite zu betrachten. Vielleicht sollte ich mal versuchen herauszubekommen, wie das Leben wirklich funktionierte? In Inges Buch standen Antworten. Trotzdem blieb ich sehr skeptisch. War ich aus solchen Gründen ans Ende der Welt unterwegs?

Der verunsicherte Arzt hatte irgendwann Gefallen an der Sache gefunden und die hypnotisierten Patienten nach der Schilderung von Todeserlebnissen gefragt, wie sie ihr jeweils vergangenes Leben beurteilten. Daraufhin beschrieben sie in wenigen Worten, was sie gelernt hatten. Das deckte sich zufällig mit einem anderen Buch, das bei Inge im Bücherregal stand. Erlebnisse von Menschen, die nach schweren Unfällen kurzzeitig klinisch tot waren. Sie waren ins Leben zurückgekehrt und berichteten, ihnen sei in diesen todesnahen Minuten vor Augen geführt worden, in welchen Bereichen sie noch mehr lernen könnten. Leben um zu lernen?

Es war mein Naturell, skeptisch zu sein. Mir in Chile ein deutschsprachiges Buch in die Hand zu spielen, in dem solche Antworten drinstanden, konnte nicht ausreichen.

Ich schrieb den fünfzehnten Brief ans Forum und kurierte mich ein bisschen aus. Irgendwas mit dem Magen hatte ich. In weniger als einer Woche hatte ich schon wieder über zweitausend Kilometer hinter mir und war in ein völlig anderes Klimagebiet gekommen. In Santiago war Sommer, die ersten Äpfel und Weintrauben waren reif, das Land war grün.

Lange

kurze Zeit

dasein

jeden Moment

wieder

gehen

können

nichts

für

immer

- Margot Bickel

Ende Januar machte ich mich wieder auf den Weg. Die Panamericana war die einzige Strasse, die Chile von Norden nach Süden durchquerte. Ich brauchte ihr nur zu folgen. In zwei Tagen war ich bis hinter Freire bei Temuco gekommen, das waren schon wieder siebenhundert Kilometer. Ich ging die Strasse entlang, hielt bei ein paar Büschen am Strassenrand an und pflückte in der Nachmittagssonne Brombeeren. Hinter den Büschen standen ein paar Zelte.

Die Brombeeren waren gut und ich setzte den Rucksack ab. Ein paar Leute waren bei den Zelten und sahen mich. Das kann doch nicht verboten sein, hier am Strassenrand Brombeeren zu pflücken, dachte ich. Nein, ich pflückte weiter und hatte keine Lust, mich verjagen zu lassen. Sie holten eine ältere Frau, die auf mich zukam. Sie sprach nicht ganz perfekt Spanisch und wollte meine Hände sehen.

Mist, dachte ich mir, die hatten jetzt laurter Brombeerflecken - es war zwecklos, es abzustreiten.

Ich sagte ihr, dass ich heute noch nichts gegessen hatte und mir deshalb ein paar Brombeeren geplückt hatte. Nein nein, sie wollte meine Hände sehen. Offenbar hatten sie mich beim Pflücken gesehen, das brauchten sie mir doch jetzt nicht zu beweisen. Ich gab es ja auch zu. Aber das war nicht das Problem. Das Problem war, dass sie immer noch meine Hände sehen wollte. Ich musste lächeln. Jetzt erst verstand ich. Eine Wahrsagerin. Cool. An der Panamericana.

Sie war keine Indianerin, sondern Roma. In Chile gab es Roma. Geld wollte sie nicht, sie sei nur neugierig auf meine Hand. Als ob sie hin und wieder was zum Training brauchte.

Ich hielt nicht viel von Wahrsagerinnen, obwohl es mir verdächtig vorkam, dass sie kein Geld dafür haben wollte. Also willigte ich ein. Natürlich machte ich mir keine Illusionen, dass sie mit Sicherheit hinterher doch Geld verlangen würde, aber ich dachte mir, wenigstens hat sie sich bemüht. Ausserdem war da noch die Sache mit den Brombeeren. Ich war nur gespannt, wieviel sie hinterher haben wollte. Wenn es zuviel wäre, könnte ich dann immer noch sagen, wir hatten ausgemacht, dass es umsonst war.

Und so fing sie an, meine Hand zu untersuchen. An meinen blöden Kommentaren störte sie sich irgendwie nicht. Aber sie konnte ja nicht ahnen, wie blöd sie waren, denn ich brachte sie ja auf Deutsch.

- So, jetzt wollen wir aber was sehn. Also, wo habe ich gearbeitet? Wieviele Wochen, mit welchem Werkzeug und in welchem Land?

- Bueno... (murmel murmel, schlau klingende spanische Wahrsagerinnen-Fachbegriffe...), aha, diese Linie hier, das bedeutet ein langes Leben.

- Kein Wunder, laut Jesus von Nazareth haben wir ein ewiges Leben, und das kann ne verdammt lange Zeit sein. Ham Sie mal was von Wowbagger dem Unendlich Verlängerten aus Per Anhalter durch die Galaxis gehört?

- In der Liebe- wart mal, ja, du wirst viel Glück in der Liebe haben, das sehe ich hier, sehr viel Glück in der Liebe-

- Ja, kann ich bestätigen-

- Aber bis jetzt hast du ziemlich wenig Glück in der Liebe gehabt, nein, wirklich, sehr wenig Glück.

- He, denkste, sagt dir wohl die Hand. Musst nicht alles glauben, was-

- Aber die Mädchen mögen dich. Die mögen dich sehr, die Mädchen.

- Jawoll, höhö, wundert mich nicht- aber danke für den Tip-

- Von materiellem Glück da sehe ich auch was hier, aber du hältst nicht sehr viel davon. Materielles Glück ist dir nicht wichtig.

- Na allzu schwer zu erraten dürfte das jetzt auch nicht gewesen sein... ich bin ganz zufrieden mit meinen Tramps seit Santiago.

- Und du wirst eine grosse Reise machen.

Jetzt musste ich wirklich lächeln über soviel Scharfsinn.

- Claro, bin schon dabei. Jeden Tag gehts weiter. Aquí, con estes pies. Hier, mit diesen Füssen.

- Nein, nicht zu Fuss. Gross, eine weite Reise, nicht zu Fuss, so- in- vehículo, Fortbewegungsmittel.

Mit einer Geste deutete sie ein Flugzeug an, das von West nach Ost flog. Offensichtlich kannte sie das spanische Wort für Flugzeug nicht. Ein Flugzeug über den Atlantik? Wie könnte ich das denn bezahlen?

Die Überraschung war, dass sie wirklich kein Geld haben wollte. Oh, damit hatte ich ja gar nicht gerechnet. Sie bedankte sich freundlich und verschwand wieder im Zelt.

Erleichtert pflückte ich mir noch ein paar Brombeeren ab und machte mich bald wieder auf den Weg über die Brücke des Río Toltén nach Pitrufquén. Schöne hellgrüne Alleebäume säumten die schattige Strasse hinter dem Fluss. Ich dachte noch ein paar Tage über das nach, was die Wahrsagerin gesagt hatte. Irgendwann schrieb ich es auf.

Wenn es eine vorbestimmte Zukunft gab, dann konnte es durchaus möglich sein, dass Leute wie solche Roma-Frauen tatsächlich Methoden entwickelt haben, Ereignisse in der Zukunft abzulesen. Meinetwegen aus einer Hand. Besonders dann, wenn sie kein Geld dafür verlangten und nur hin und wieder eine Hand zum Training brauchten. Das war zwar kein Beweis, aber es war verdächtig.

Ein langes Leben. Mein blöder Kommentar war schwachsinnig, natürlich hatte sie das jetzige Leben gemeint. Die Idee gefielt mir trotzdem nicht so gut. Wenn ich eine Lebensgarantie hatte, würde das indirekt bedeuten, es könnte also sein, dass ich Viktoria erst am vorletzten Tag heiraten würde. Und damit eine beschissen lange Zeit ohne Viktoria vor mir hätte. Das Leben war manchmal so strukturiert, dass man grundsätzlich immer die mieseste Variante vorgesetzt bekam. Na, das konnte ja heiter werden.

Am nächsten Tag kam ich mit Carlos, einem Trucker, der Öl geladen hatte, etliche hundert Kilometer weiter nach Süden mit. Carlos war guter Laune und fragte mich in Osorno, ob ich mit ihm nicht nach Chiloé kommen und ein bisschen die Insel kennenlernen wollte, anstatt gleich nach Argentinien an die Grenze zu fahren. Da er hinterher sowieso wieder zurückfuhr, konnte er mich auch dann noch an der Kreuzung bei Osorno absetzen.

So nahmen wir die Fähre und fuhren auf die Insel. Chiloé sah so ähnlich aus wie Dänemark. Im Sommer war alles grün. In Chonchi gab es eine Fischfabrik, wo er abladen musste. Danach besuchten wir noch Castro und Ancud. Das Wetter war schön. Ancud war eine nette kleine Hafenstadt und hatte südskandinavisches Flair.

In dieser Gegend endeten die chilenischen Strassen. Das Land zog sich in einer von Fjorden zerfurchten Küste zwar noch locker über tausend Kilometer weiter nach Süden, aber die chilenischen Strassen endeten irgendwo südlich von Puerto Montt und Chiloé.

Auf seiner Rückfahrt setzte mich Carlos in Osorno ab und ich nahm die Strasse nach Westen. Vorbei am Vulkan Osorno, den mir Carlos schon auf der Hinfahrt gezeigt hatte. Noch nie hatte ich einen so schönen Vulkan gesehen. Ein völlig perfekter, regelmässiger Kegelvulkan. Der Osorno stand dem Fujiyama in nichts nach.

Während wir in Chiloé noch durch Dänemark gefahren waren, landete ich hier auf einmal mitten in der Schweiz. Urige Holzhäuser mit Balkonblumen zwischen Seen, Wäldern und grünen Bergwiesen, vor einer grandiosen Kulisse schneebedeckter Vulkane. Hinter Entre Lagos nahm mich eine Frau im VW-Bully mit, bis zur Abzweigung Antillanca. Diese Gegend war von Schweizern besiedelt worden, erklärte sie mir. Es hätte nicht anders sein können.

Die Wälder, in die ich nun kam, waren wunderschön. Kein Wunder, dass sie das Gebiet von Puyehue zum Nationalpark erklärt hatten. Überall Vogelstimmen. Am Strassenrand lag ein kleiner metallisch grün glänzender Vogel, der leider überfahren worden war. Ich nahm mir ein paar Federn mit.

Einen Tag später war ich an der Grenze von Argentinien. Hier gab es endlich einmal gar keine Probleme mit der Einreise. Und ich durfte die ersten Kilometer in Argentinien auch gerne zu Fuss gehen. Offensichtlich waren sie hier um einiges zivilisierter als im Norden von Chile. Nach vielen Kurven kam ich ein paar Stunden später an das Ufer des Nahuel Huapi, des grossen Sees, an dem Bariloche lag. Ich war im Neuquén. Erst viel später erfuhr ich, dass der Neuquén eine der ursprünglichsten und geschichtsträchtigsten Provinzen Argentiniens war. Es war die Heimat der Mapuche-Indianer.

Bariloche war eine schöne und sympatische Stadt am Seeufer, vor einer beeindruckenden Kulisse bewaldeter Berge. Ich verliess die Stadt auf der Strasse nach Süden und kam mit einem Transporter nach El Bolsón mit, hundert Kilometer weiter südlich. Ich war froh, dass sie mich mitnahmen, obwohl sie kaum Platz in ihrem Wagen hatten. Schade war nur, dass ich fast nichts von der schönen Landschaft sehen konnte.

El Bolsón war landesweit bekannt als die wohl freundlichste Stadt Argentiniens. Es tat mir fast leid, wieder aus dieser kleinen Stadt rauszulaufen. Wenn ich trampte, grüssten mich fast alle oder gaben mir ein Zeichen, sie würden nicht weit fahren oder die nächste Strasse abbiegen. Es fiel mir sofort auf, dass diese Stadt etwas ganz Besonderes in Südamerika sein musste.

Eine Frau nahm mich ein paar hundert Meter bergauf bis zum Ortsausgang mit. Sie fragte mich, wo ich wohl heute Nacht übernachten würde. Natürlich konnte ich das noch nicht wissen. Sie bot mir an, die Nacht bei ihnen in ihrem neuen Haus zu verbringen.

Auch ihr Mann und die Kinder waren sehr nett und aufgeschlossen. Er hatte einen grauen Bart und freute sich über den Besuch. Erst vor wenigen Tagen waren sie aus Buenos Aires hier hergezogen. Heute verbrachten sie die erste Nacht gemeinsam im neuen Haus. Die Strapazen der letzten Wochen waren ihnen zwar noch anzusehen, aber auch die Freude, es endlich geschafft zu haben.

- Da habt ihr euch aber eine wirklich sehr freundliche Stadt ausgesucht. So eine aufgeschlossene Stimmung in einer Stadt habe ich noch nie kennengelernt. Und ich bin wahrhaftig nicht wenig herumgekommen, das kann ich euch sagen.

- Was denkst du wohl, warum wir unsere Existenz in Buenos Aires aufgegeben haben und hierher gezogen sind?

- Besonders für Kinder muss es schön sein, hier aufzuwachsen.

- Gerade für die Kinder haben wir das getan. Dass du unsere Einladung angenommen hast, ist eine Ehre für uns. Wir glauben, dass es Glück bringt, wenn man gerade frisch in ein neues Haus gezogen ist und man einen fremden Gast für die Nacht einlädt.

Am Morgen gab es noch belegte Brote und ich begab mich wieder auf den Weg. Wie zu erwarten dauerte es nicht lange und ich kam schon wieder weg. Ein paar Tramps weiter war die Gegend nicht mehr so dicht besiedelt. Die nächste Stadt hundert Kilometer weiter im Süden an den östlichen Ausläufern der Andenkette hiess Esquel. Esquel lag jedoch abseits vom Weg, der Chilene liess mich schon ein paar Kilometer vorher an der Abzweigung der Strasse an die Atlantikküste raus. Er selbst fuhr wieder nach Chile. An der chilenischen Südküste lagen noch ein paar Orte zwischen den Fjorden, und wenn die Chilenen dorthin fahren wollten, mussten sie ein paar hundert Kilometer durch Argentinien fahren und dann wieder die Grenze überqueren.

Ich wollte nach Feuerland. Früher oder später, das wusste ich, musste ich jetzt auf die Ruta tres kommen, die Nationalstrasse 3, die lange Strasse an der Atlantikküste von Buenos Aires nach Feuerland. Südamerika war hier im Süden zwar schon schlank, aber so schlank, dass die Kontinentalquerung ein Kinderspiel wäre, nun auch wieder nicht.

Abzweigung Esquel, schrieb ich in mein Tagebuch. Nichts war los. Der chilenische Pickup war davongefahren. Im Westen und Süden ein paar karge Berge, im Osten breitete sich eine fahle, ockerfarbene Ebene aus bis zum Horizont. Kilometerweit konnte ich die Landschaft überblicken.

Ich hatte keine Ahnung, an was für einer Stelle ich hier war. Später würde ich erfahren, dass genau diese Stelle vielen Trampern bekannt war. Viele hatten hier schon gestanden, eine Landkarte mit vielversprechenden gelben und roten Strassen in der Hand, und gehofft, sie würden von hier leicht an die Ruta tres trampen können. Und genau hier waren sie steckengeblieben. Manche standen hier eine Woche. Niemand hatte sie mitgenommen.

Es war nicht schwer zu erraten, dass die Pampas von Patagonien, durch die die Strasse nun führen würde, nur sehr dünn besiedelt waren. Ein paar Estancias mit Rindern oder Schafen. Lokalverkehr gab es praktisch nicht. Und die Autos, die die weiten Strecken an die Atlantikküste fuhren, waren voll und konnten niemanden mehr mitnehmen. Über diese Effekte machte ich mir gar keine Gedanken. Ich war es gewohnt, in den Andenländern als Weisser sofort aufzufallen und von jedem gerne mitgenommen zu werden. Dass hier ganz andere Regeln galten, war mir noch gar nicht klar.

Nach einer Viertelstunde war immer noch kein einziges Auto vorbeigekommen. Ich steckte mein Tagebuch wieder ein und ging ein bisschen die Strasse entlang, in die ruhige Ebene. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Wie ein Pfeifen. Ungewöhnlich.

Nochmal. Eine Lokomotive? Ich sah nach Süden. Und tatsächlich, aus dem Tal im Südwesten kam tatsächlich ein Zug mit Dampflok angeschnauft. Langsam und bedächtig näherte er sich einem Bahnübergang, der noch fast einen Kilometer vor mir lag, den ich zwar schon gesehen, aber nicht ernst genommen hatte. Natürlich weder mit Schranke noch mit Lichtern. Der Zug war immernoch zehn Kilometer entfernt, aber ich blieb trotzdem vor den Gleisen stehen. Ein Zug in Südamerika. Mit Dampflok.

Warum blieb ich auf dieser Seite der Gleise stehen? Warum ging ich nicht über die Gleise und noch ein Stückchen weiter? Ausgerechnet hier vor den Gleisen blieb ich stehen.

Zwei Autos kamen mir entgegen und hielten auch vor den Gleisen an. Auch sie warteten die paar Minuten gerne ab und wollten sich das Schauspiel nicht entgehen lassen. Die Züge kamen hier wohl nicht gerade im Stundentakt vorbei. Deshalb konnten sie sich die Lichter und Bahnschranken hier also sparen. In dieser Gegend hielten die Autos auch ohne Schranken an.

Und dann kam ein Auto auf meiner Seite an, das erste seit einer halben Stunde. Es war voll beladen, drei Leute, und Gepäck. Natürlich hatten sie mich gesehen, und wer weiss, ob sie angehalten hätten. Genau in diesem Moment aber hatte die schwarze Dampflok es nun doch noch geschafft und schnaufte über die Strasse, so dass der Wagen anhalten musste. Ein Tramper mit Rucksack, ein Auto, eine Dampflok, ein Zug und die karge Landschaft.

Der Zug fuhr vorbei. Tja, weiter.

Der Fahrer lächelte mich an. Es war mir vollkommen klar, dass er mich nicht mitnehmen konnte. Trotzdem fragte er.

- Wo willst du hin?

- Auf die Ruta tres.

- Hm, wartmal- ja, wir können dich mitnehmen.

Sie schafften hinten ein bisschen Platz und fuhren mich in die Nacht, fünfhundertsechsundneunzig Kilometer quer durch den ganzen Kontinent bis nach Trelew an die Atlantikküste. Ich wusste gar nicht, was für ein Schwein ich hatte. Nur eine halbe Stunde hatte ich an der Abzweigung Esquel gewartet.

Die Schotterstrasse durch Patagonien war sehr schwer zu fahren. Stellenweise standen provisorische Schilder auf der Strasse, die darauf hin deuteten, dass es besser sei, neben der Strasse direkt durch die Pampa zu fahren. Was dann in der Regel auch stimmte. Trucks kamen hier wohl kaum durch.

Um vier Uhr morgens setzten sie mich an der Ruta tres bei einer Tankstelle ab.

- Also tschau, wir sehn uns in Italien!

- Italien???

- Na, bei der Fussball-WM 1990!

Oh, ich hatte ja ganz vergessen, ich war ja Vizeweltmeister. Hinter Argentinien...

Nun war ich an der Ruta tres. Zweitausendeinhundert Kilometer hatte ich noch vor mir bis Ushuaia, der südlichsten Stadt in Feuerland. In den Morgenstunden nahm mich ein Trucker in einem weissen, klapprigen Sattelschlepper mit. Er hatte Möbel geladen und fuhr dreihundertachtzig einsame Kilometer bis Comodoro. Der nächste Ort an der Küste hiess dann Caleta Olivia, weitere achtzig Kilometer durch eine vollkommen unbesiedelte Gegend nach Süden. Auf dem Weg zum Ortsausgang traf ich einen argentinischen Tramper. Er war ganz gut drauf und wir gingen in eine Apotheke. Er wollte irgendwas fragen.

Eine alte Waage stand an der Wand und wir kamen spontan auf die Idee, uns wiegen zu wollen. Wir waren uns reichlich uneinig, wieviel Kilo wir noch an Kleidung abziehen mussten. Auf keinen Fall sei er schwerer als ich, meinte er, und ich entgegnete, mehr als neunundfünfzig Kilo konnten es bei mir nicht sein, er sei viel schwerer mit seinen fünfundsechzig Kilo. Die Apothekerin nahm die Sache viel ernster als wir selber und sagte in ihrem lieblichen Tonfall De toda manera, ambos no pesan mucho - wie auch immer, ihr wiegt beide nicht viel. Und wir sollten mehr essen.

Als wir wieder draussen waren, mussten wir grinsen über die verbissene Apothekerin. Sie hätte vielleicht mal ein paar tausend Kilometer durch Argentinien trampen sollen, dann hätte sie andere Probleme gehabt als auf ihr Idealgewicht zu achten. Irgendwo fanden wir einen Rohbau und legten uns auf dem Dach des Hauses schlafen.

Eine grosse Reise, hatte die Chilenin gesagt. Das war nachprüfbar. Ich würde eine grosse Reise machen, in einem Flugzeug, auch wenn ihr das Wort dafür nicht eingefallen war. Von West nach Ost. Also nach Europa oder Afrika. Davor, dass ich hier tausende von Kilometern per Anhalter zurücklegte, hatte sie offenbar weniger Respekt als vor einer Flugreise, die am Ende nicht nur schneller, sondern auch kürzer wäre.

Ich hielt die Idee einer Flugreise für ziemlich abwegig. Hier in dieser Gegend war es ausgeschlossen, dass ich nach Europa zurückflog. Nicht nur, weil ich einen Flug von Buenos Aires nach Italien nicht annähernd hätte bezahlen können. Wozu hätte ich das machen sollen? Was hätte ich in Europa anfangen sollen? Hier im Süden Argentiniens begann ich mich langsam wohler zu fühlen.

Langsam war ich weit genug weg von Viktoria. Wenn ich ihr noch einmal einen Brief schreiben wollte, dann vielleicht aus Feuerland. Vielleicht wäre das weit genug weg und ich hätte dort nicht mehr das Gefühl, ich würde mich ihr aufdrängen.

7. Februar 1989

Der Argentinier wollte ausschlafen. Na gut, dann ging ich eben alleine los. Ich war es gewohnt, sehr früh mit dem Sonnenaufgang aufzustehen. Hinter Caleta Olivia lief ich die lange Kurve nach Süden raus. Was für ein weites Land. Fitz Roy, der nächste Ort, war wieder achtzig Kilometer entfernt. Die Ruta tres war gut instand.

Tramp dreihundertzehn sollte eigentlich fünfhundert Kilometer weiter bis Piedrabuena gehen, aber der Lieferant hatte im übernächsten Ort nach Fitz Roy, also im gut dreihundert Kilometer entfernten San Julián, ein paar Kisten bei einer Bäckerei abzuladen, bevor er nach Piedrabuena weiterfuhr.

Panaderia La Pancha. Während er die paar Kisten mit bedruckten Plastiktüten für die Bäckerei in den Laden schleppte, unterhielt ich mich ein bisschen auf Englisch mit der Verkäuferin... wo kommst du her, wo willst du hin... naja, ich will wohl runter nach Feuerland und dort vielleicht auf einer Estancia Arbeit suchen...

- Wir kennen jemanden, der unten in Feuerland auf einer Estancia arbeitet, Jonathan, der ist gerade zufällig hier auf Urlaub. Why don't you talk to him?

Britisches Englisch. Jonathan würde nachher vorbeikommen, zum five o'clock tea. Ich willigte ein, obwohl das bedeutete, dass ich damit den sehr lukrativen Tramp nach Piedrabuena ausschlug, da der Typ weiterfuhr. Und beinahe vergass ich Mechthilds Pullover im Auto. Ich hätte mich sehr geärgert, wenn mir das passiert wär.

Jonathan kam und es gab Tee mit facturas, richtig leckeren Keksen. Ja, ich könnte bei ihnen auf der Estancia in Feuerland arbeiten. Zwar nur ein paar Wochen, und Geld könnten sie nicht zahlen. Aber wenn ich als Abenteurer für Kost und Logie arbeiten wollte, würde das gehen. Die Hauptsaison, in der die Schafe geschoren wurden, war zwar gerade vorbei. Aber es sei noch genug Arbeit liegengeblieben und ich könnte dabei helfen. In zwei Wochen sei er wieder da und ich könnte gerne vorbeikommen und anfangen. Estancia Sara, auf der argentinischen Seite der Feuerland-Insel.

Britisches Englisch. Richtig schönes britisches BBC-London-Englisch. Sowas hatte ich doch schon seit Jahren nicht mehr gehört. In der Schule lernten sie hier kein Englisch. Sie lernten es tatsächlich aus dem Radio, BBC London.

- Darf ich mal fragen, ich meine, was war das für ein Gefühl gewesen, als Nachkommen britischer Einwanderer hier im Süden Argentiniens, vor paar Jahren, we das war, im Falkland-Krieg?

- Ach, das war nicht so schlimm, da war keine offene Feindschaft oder so. Obwohl, ein bisschen mulmig war uns ja schon. Die Militärjets hoben genau vom hiesigen Flugplatz ab.

Irgendwo besorgten sie mir ein Quartier für die Nacht. Ich machte einen halben Tag Pause, besuchte noch den Hafen und erfuhr, dass hier öfter Wale vor der Küste gesichtet wurden und sich hin und wieder sogar welche in der Hafenbucht des Fischerortes verirrten. Es gab sogar ein Touristenbüro.

Am nächsten Morgen ging ich zur Ruta tres und wartete genau sieben Stunden, bevor mich der achtundzwanzigste Wagen, der in meine Richtung fuhr, nach Piedrabuena mitnahm. Alle anderen Autos waren voll gewesen, und Trucks hielten auf freier Strecke nur sehr ungerne an. Hier hatte sogar ich eingesehen, dass es gefährlich war, zu Fuss loszugehen. Der nächste Ort war wieder über hundert Kilometer entfernt.

Auch wenn es Sommer war, war es schon ziemlich kalt. Am Abend war ich in Río Gallegos und froh, mit ein paar anderen Trampern in einem alten halbverschrotteten Bus übernachten zu können, den sie aufgetrieben hatten. Mochileros nannten sich die Tramper in Argentinien, erklärten sie mir. Schien eine richtige Kultur zu sein. Mochila hiess Rucksack. Río Gallegos war die südlichste argentinische Stadt auf dem Kontinent.

Die Entfernungen waren hier im extremen Süden nicht mehr so weit wie in der Gegend, durch die ich gekommen war, und so konnte ich durchaus auch mal ein paar Kilometer zu Fuss gehen. In Puerto San Julián hatte mir das richtig gefehlt. Ich ging gerne zu Fuss los, besonders morgens, wenn ich mich nach einer kalten Nacht warmlaufen konnte und wie an diesem Morgen noch ein bisschen den Traum der letzten Nacht Revue passieren lassen konnte. Mit Viktoria und Stefanie Bordeaux. Die fernen Horizonte, die bunten Wolken und die klare Luft im Süden Patagoniens gaben den Gedanken eine schwer in Worte zu kleidende Weite. Die weite Landschaft wirkte regelrecht meditativ.

Ein Pickup hielt an und nahm mich bis Chimen Aike mit. Von hier war es nicht mehr weit bis zur chilenischen Grenze. Die Magellanstrasse, die die Feuerland-Insel vom Kontinent trennte, war beiderseits chilenisch. Feuerland war zwischen beiden Ländern aufgeteilt: im Osten Chile, im Westen Argentinien. Der Grenzverkehr zwischen beiden Ländern war eine problemlose Routinesache. Wer von Río Gallegos nach Argentinisch-Feuerland wollte, musste also ab hier durch Chile, die Magellanstrasse mit der Fähre von Kimiri Aike nach Bahia Azul überqueren und in Feuerland nach zweihundert Kilometern wieder über die Grenze.

Langsam hatte ich begonnen, mir die Frage zu stellen, wo ich überhaupt noch hinwollte. Seit Monaten war ich mit dem Reiseziel Feuerland unterwegs - aber was genau wollte ich dort am Ende der Welt? Arbeiten, hatte ich spontan zu Jonathan in San Julián gesagt. Ich war auch froh über diese Perspektive in zwei Wochen. Und was sollte ich bis dahin tun?

Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich sollte nach Punta Arenas. Die südlichste Grossstadt der Welt lag an der Magellanstrasse, direkt am Wasser. Die Strasse, der ich von Río Gallegos kommend folgte, führte zunächst über die Grenze. Dreissig Kilometer weiter zweigte die Strasse zur Fähre nach Feuerland ab, geradeaus ging es weiter die südamerikanische Küste entlang nach Punta Arenas.

Beides waren Sackgassen - und für eine musste ich mich entscheiden. Es wäre einfacher, wenn mich der nächste Wagen einfach dorthin mitnehmen würde, wo ich hinsollte. Nach Feuerland oder nach Punta Arenas?

Nach Punta Arenas, wie mir der Fahrer des nächsten Wagens, der anhielt, freundlicherweise mitteilte. Mehrere Stunden ging es über schnurgerade Schotterstrassen durch die kalten Steppen Patagoniens. Ein paar Ñandus liefen über die Pampa. Die Schafzüchter mochten sie nicht. Aber sie standen unter Naturschutz. Das war auch nötig, denn wie die Schafe frassen sie Gras. Die Guanacos waren schon viel zu selten geworden.

Punta Arenas war eine sympatische Hafenstadt, die von Fischerei und Erdölförderung lebte. Am Hafen hatten sie ein bestimmtes Gebiet als Freihandelszone ausgewiesen, in der sich viele Firmen niedergelassen hatten und steuerfrei Geräte herstellen konnten. Die Regierung wollte die drohende Abwanderung der Bevölkerung verhindern. Argentinien hatte aus dem gleichen Grund ganz Argentinisch-Feuerland zur Freihandelszone erklärt. Die Japaner stellten in Ushuaia ihre Fernseher her.

Anders als bei jeder anderen Grossstadt gab es in Punta Arenas ausser ein paar Estancias kein besiedeltes Umland. Es war praktisch ein Dorf mit hunderttausend Einwohnern. Die wenigen Orte im Umkreis von hundert Kilometern konnte man an einer Hand abzählen. Es schien, als würden sich in Punta Arenas alle Leute irgendwie kennen. Fast wie auf einer Insel.

Ich verliess die Stadt nach Süden. Viel zielsicherer als ich erwartet hatte. Auf einmal hatte ich ein ganz bestimmtes Gefühl. Nach Süden. Irgendein Auto würde anhalten und mich zu sich nach Hause einladen. Und dort würde ausserdem eine Antwort auf mich warten, eine Antwort auf ein paar Fragen, die ich offensichtlich haben musste. Das muss der Grund gewesen sein, warum ich hier nach Punta Arenas sollte.

Von hier nach Süden. Es gab eine Strasse, die nach den Karten noch etwa sechzig Kilometer an der Küste entlangführte. Na gut, dann ging ich eben nach Süden. In Kreta hatten wir den südlichsten Strand besucht. Eigentlich hatten wir damals den südlichsten Punkt der Insel machen wollen, aber die Berge waren steil und unzugänglich gewesen, also hatten wir uns mit dem südlichsten Strand begnügt. Mal sehen, wie weit ich hier käme.

Nach zwei Stunden hielt ein Wagen an und nahm mich ein paar Kilometer mit. Es nieselte ein wenig. Die flache kalte Steppe war abgelöst worden von einer abwechslungsreicheren, hügeligen Landschaft, zunehmend bewachsen mit Büschen und Bäumen. Saftigeres Gras. Die Strasse zog sich immer weiter nach Süden und ich fragte mich, wie weit sie sich noch halten würde. In einer Karte stand Fuerte Bulnes als letzter Ort an der Strasse, in einer anderen San Juan. Ob es noch südlicher ging? Nach zwanzig Kilometern war die Fahrt zuende und ich ging weiter. Nein, dieser Fahrer schien es nicht gewesen zu sein.

Ich kam an Puerto Hambre vorbei. Ein paar Fischer waren in der Bucht. Ein Denkmal wies auf das Schicksal der spanischen Siedler hin, die 1584 versucht hatten, hier eine Stadt zu errichten. Miese Geschichte.

Puerto Hambre. König Felipe von Spanien hatte 1581 eine aufwendige Expedition unter Sarmiento de Gamboa mit dreiundzwanzig Schiffen und hunderten von Soldaten und Siedlern zur Kontrolle der Magellanstrasse nach Südamerika geschickt, von denen immerhin noch fünf Schiffe im Süden Patagoniens ankamen. Mehr als zweitausend Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt gündeten sie 1584 am Nordeingang der Magellanstrasse in der kalten und unfruchtbaren patagonischen Steppe eine Siedlung, Nombre de Jesús. In der Nähe der heutigen Stadt Río Gallegos.

Es konnte nicht gutgehen. Sagte sich auch einer der Admirale, machte sich eines Tages unauffällig mit allen Schiffen bis auf einem davon und liess Gamboa mit seinen dreihundert Leuten zurück. Darunter dreizehn Frauen und zehn Kinder.

Als hätten sie nicht schon genug Probleme, setzte sich Kapitän Gamboa in den Kopf, mit seinem letzten verbliebenen Schiff zweihundert Kilometer weiter noch eine weitere Siedlung zu gründen, die er stolz Ciudad del Rey Don Felipe nannte. Immerhin gab es hier sogar Holz.

Eine steinerne Kirche, Holzhäuser und militärische Anlagen hatten die hundert armen und kaum noch bekleideten Spanier schon gebaut, als Gamboa mit dem maroden Schiff wieder zurück nach Nombre de Jesús fuhr, um dort nach dem Rechten zu sehen. Doch auch dort sah es nicht sehr rosig aus. Handys gab es nicht, also versuchte Gamboa nach Brasilien und später nach Spanien zu fahren und Hilfe für die armseligen Siedlungen zu organisieren.

Bis Brasilien kam er noch, verlor zwei weitere neue Schiffe im Sturm, wurde dann auf der Fahrt nach Spanien von englischen Korsaren überfallen und nach England gebracht. Zeitweilig fristete er sein Dasein monatelang nackt in Ketten und fensterlosen Kerkern eines dunklen Europa, oder er fand sich mit Reichtum und Ruhm überschüttet am Tisch von Königinnen und Königen. Jahre später wieder in Spanien, wollte niemand mehr etwas von ihm wissen, schon gar nicht König Felipe. Dessen grosse Armada war 1588 vor England vernichtend geschlagen worden. Gamboas Spur verlor sich und die Siedlungen an der Magellanstrasse waren längst vergessen.

Und das wären sie bis heute, wenn 1587 nicht zufällig der englische Korsar Thomas Cavendish, dem als dritten nach Fernando de Magallanes und Francis Drake die Weltumsegelung gelang, bei den Resten von Nombre de Jesús noch einige wenige Spanier angetroffen hätte. Im Ort Rey Felipe, den Cavendish Port Famine nannte - Hungerhafen oder Puerto Hambre - fanden die Piraten im Auftrag ihrer Majestät nur noch halbverweste Leichen an den Galgen hängen oder in den Häusern liegen. Einen Überlebenden nahmen die Piraten in Nombre de Jesús mit, ihm gelang in Chile die Flucht vom Piratenschiff und er konnte die Geschichte erzählen.

Als Gamboa sich davongemacht hatte, hatten die fast zweihundert verzweifelten Bewohner von Nombre de Jesús eingesehen, dass sie in der patagonischen Steppe nicht überleben konnten und waren in einem wochenlangen Fussmarsch nach Rey Felipe gegangen. Eine Strecke, die ich gestern in einem Tag per Anhalter bewältigt hatte. Doch auch dort war ein Grossteil der Bewohner schon tot. Also machten sie sich wieder auf den langen Weg zurück. Als Ende 1585 die letzten hoffnungslosen fünfzehn Männer und drei Frauen in Nombre de Jesús eintrafen, trafen sie nur noch auf die Leichen ihrer Vorgänger.

Einen nahm Cavendish mit, der Rest lebte nicht mehr lange. Als der Pirat Andrew Merrick Ende 1590 in Nombre de Jesús vorbeikam, traf er nur noch einen einzigen Überlebenden an. Und der starb bald danach auf der Fahrt.

Im Gegensatz zu den Indianern in Nordamerika hatten die hiesigen Indianer den Siedlern nicht geholfen. Vielleicht beruhte es auf Gegenseitigkeit, vielleicht hatten die Tehuelches aber auch selbst genug damit zu tun, in dieser sensiblen Region das Kunststück fertigzubringen zu überleben. Die meisten Bewohner waren offenbar verhungert. Oder sie hatten sich gegenseitig umgebracht.

In den jahrhundertelang mündlich überlieferten Legenden der Tehuelches gab es auch noch Hinweise auf diese Episode in der Geschichte Patagoniens.

Hier zu überleben schien alles andere als einfach zu sein. Als es dunkel wurde, legte ich mich etwas abseits der Strasse ins Gras und war froh, dass es in der Nacht nicht regnete.

10. Februar 1989

Antonio schlug wie jeden Morgen sein kleines Büchlein auf und las sich den Spruch des heutigen Tages durch.

Auch wenn wir heute schon gut gegessen haben, gibt es Menschen, die heute noch überhaupt nichts gegessen haben.

Diese Sorte von Sprüchen hätte auf mich heute keinen allzu grossen Eindruck gemacht. Wenn ich nachgedacht hätte, wäre ich drauf gekommen, dass ich in den letzten drei Wochen genau einmal gut gegessen hatte. Auch an diesem Morgen gehörte ich wieder mal zu denen, die überhaupt nichts gegessen hatten, aber das war ich ja gewöhnt und es störte mich nicht. Im Gegenteil, mit leerem Magen fühlte ich mich Gott näher, und das war mir heute ganz recht. Was mich eher störte, war, dass es bewölkt war und sogar ein wenig zu nieseln anfing.

Kilometerstein 50 lag hinter mir. Zielsicher ging ich weiter nach Süden. Es wurde richtig spannend. Manchmal hatte ich kein Gefühl für den Weg und musste mich an Gott wenden oder mich mit anderen Tricks behelfen. Doch hier hatte ich auf einmal komischerweise das sichere Gefühl, ich musste nach Süden. Ausgerechnet hier nach Süden. Ich liess es gar nicht zu, dass ich an meinem Gefühl zu zweifeln begann. Welche Fragen es wohl waren, für die hier eine Antwort auf mich wartete?

Bei Kilometer 51 erreichte ich eine Stelle, die sich Cuesta Carrera nannte. Die Schotterstrasse nahm eine steile Steigung auf einen Hügel, um sich auf der nächsten Anhöhe noch etwas weiter nach Süden zu kämpfen. Autos trampte ich jetzt keine mehr an - wohin auch? Irgendwann würde die Strasse sowieso enden.

Ein klappriges Auto überholte mich und meisterte bravourös hinter einem langsamen Lastwagen die Steigung von Cuesta Carrera. Ich sah kurz den Fahrer an, der mit dem Finger nach vorne deutete und oben, am Ende der Steigung, auch tatsächlich stehenblieb. Ich ging hin, er öffnete das Fenster und sah mich fragend an.

- Wo willst du denn hin?!

- Wohin? Ich weiss nicht. Al Polo Sur tal vez, si quieres... meinetwegen bis zum Südpol.

- ¿¿?? - Steig ein. Aber ich kann dich nur ein kleines Stück mitnehmen-

Ich stieg gerne ein. Das warme Auto tat gut.

Ich musste lächeln. Nur ein kleines Stück - das war doch vollkommen klar, weil die Strasse nach fünfzehn Kilometern sowieso zuende war. Warum glaubten die Fahrer immer, sich dafür entschuldigen zu müsen, wenn sie nicht weit fuhren? Wenn ich an der Strasse entlanglief, war ich doch schon dankbar, wenn mich einer auch nur einen einzigen Kilometer mitnahm. Und er fuhr mich immerhin bis ans Ende von Südamerika.

Bei Kilometer 60 lag Fuerte Bulnes am Ufer des ruhigen Wassers der Magellanstrasse. Diese Siedlung war knapp dreihundert Jahre nach Puerto Hambre entstanden, diesmal hatten sich die Chilenen hier mit einer Siedlung versucht. Nicht mehr wegen der Kontrolle der Seefahrt, nun ging es um das Land. Chile wollte in Südamerika keine englische Kolonie sehen. Noch immer lebte hier niemand ausser den Indianern.

Fuerte Bulnes bestand aus ein paar historischen Holzgebäuden und Palisaden von 1843, zur Besichtigung restauriert. Auch diese kleine Siedlung hielt gerade mal fünf Jahre. Danach mussten die Siedler ihren verzweifelten Kampf gegen Hunger, Wind und Wetter aufgeben. In Punta Arenas gründeten sie eine neue Siedlung. Sie hatten Glück, dass dort die Wetter- und Bodenverhältnisse etwas besser waren.

Antonio fuhr nach San Juan, wo die letzte Strasse bei einer kleinen Wochenendsiedlung mit ein paar Hütten und einem Grillplatz endete. Ein paar Freunde von Antonio warteten schon, arbeiteten etwas an ihren Häuschen, bereiteten empanadas und etwas zum Grillen vor. Sie waren überrascht, dass er nicht alleine kam.

- Hey, wo hast du denn den hier aufgegabelt?!

- Eben grade hier vorne bei Cuesta Carrera - hat gesagt, dass er zum Südpol will!

- Wow, cool! Was, zum Südpol willst du? Wo kommst du denn gerade her?

- Aus New York. Jetzt kommt, so weit kann der Südpol von hier auch nicht mehr sein!

Antonio wusste im ersten Moment auch nicht, was er mit mir anfangen sollte. Ich erfuhr immerhin so viel, dass hier die letzte Strasse zuende war und man nach Süden nur noch am Strand entlanggehen konnte. Und er erfuhr, dass ich noch nichts gegessen hatte. Und ich wiederum, dass sie genug Brot da hatten.

- Wirklich genug?

- Ja, du kannst dir alles nehmen-

- Danke, echt nett von euch. Brot. Echt ne gute Sache. Hätt ich jetzt gar nicht erwartet.

Südlich von hier sei nur noch ein Strand, meinten sie, und danach ein ziemlich undurchdringlicher Dschungel von Nadelgebüsch. Eingeschlossen ein paar ziemlich tiefe und kalte Flüsse, die ins Meer flossen.

- Und südlich davon, gibt es da noch andere Strände?

- Südlich von hier nicht mehr, das ist nur steile Felsenküste.

Ich liess meinen Rucksack bei ihnen, nahm ein bisschen Brot mit, ging ein paar Stunden zum Strand und sammelte Muscheln für Vollrath. Vom südlichsten Strand Südamerikas. Als ich am Nachmittag zurückkam, waren sie immer noch da. Und sie hatten immer noch Brot übrig.

- Wir lassen das Brot sowieso da, also meinetwegen kannst du alles haben.

Ich musste vorhin zu bescheiden gewirkt haben. Na gut, dann konnte ich das ja mal sein lassen. Sie wussten wohl sowieso schon, was Sache war, und waren ganz zufrieden, als ich kurz danach auch das letzte Stück Brot verdrückt hatte. Antonio musste grinsen.

- Wenn du magst, kannst du mit mir mitkommen. Ich wohne mit meiner Familie in einem Haus in Punta Arenas, du kannst bei uns übernachten. Dann kannst du uns ein bisschen was erzählen.

Punta Arenas. Ein Abstellzimmer war noch frei in ihrem Haus und ich konnte mich auf ein paar weiche Teppiche legen. Selma war hochschwanger und hatte eine zwölfjährige Tochter, Penny.

Am Abend klingelte es überraschend und ein mochilero stand vor der Tür. Makey. Er wurde freudig begrüsst, war gross, hager und hatte kurze braune Haare. Antonio musste lachen, seit zwei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen, und ausgerechnet heute kam er hier an.

- Wie bist denn du hier hergekommen?!

- Zu Fuss.

- Was, zu Fuss? Ich denke du wohnst in Río Gallegos!?

- Ja, stimmt genau, und von genau dort komme ich ja gerade gelaufen.

- Zu Fuss, wow, Respekt! Du bist immer noch der Alte! Wie lang hast du denn gebraucht?

- Zwei Wochen...

Das entsprach der Strecke. Auch ich hatte sofort hohen Respekt. Wir mussten beide lächeln, als ich ihn enttäuschen und zugeben musste, dass ich, wenn auch nicht in zwei Wochen zu Fuss von Río Gallegos gekommen, so doch immerhin schon seit anderthalb Jahren von New York unterwegs war.

Seit er zwölf Jahre alt war, war Makey immer unterwegs gewesen. Und fast immer zu Fuss. Irgendwas in der Luft hatte ihn dazu angehalten, zu Fuss zu gehen. So ging es sein ganzes Leben lang, und er kam viel herum, bis dieses Gefühl vor fünf Jahren auf einmal aufgehört hatte. Er schien ihm plötzlich, als müsse er sich einen Ort suchen, an der er etwas ruhiger leben würde, und er fand diesen Ort in Río Gallegos.

Bis vor wenigen Wochen, als ihn auf einmal dieses Gefühl von neuem überkam, er müsse losgehen. Er gehorchte seiner inneren Stimme, nahm seinen Rucksack, den er immer noch bei sich im Haus hatte, und machte sich wieder auf den Weg. Irgendwo nach Süden, aber, wie er betonte, ohne zu wissen, wohin genau er gehen sollte.

Vielleicht genau hierher, meinte ich vorsichtig. Makey war Chilene und in Punta Arenas aufgewachsen, hatte nach langem Fussmarsch die Stadt erreicht und ein paar alte Freunde besucht, darunter heute Abend Antonio. Grosse Überraschung.

- Es gibt Menschen, die anscheinend dafür geboren werden, dass sie das ganze Leben in einem Haus leben. Erst mit ihren Eltern, dann mit ihrer Familie, und sie gehen nie weg. Das heisst, wenn sie das Haus verlassen, dann nur für kurze Zeit, und dann kehren sie zurück. Es scheint ihre Bestimmung zu sein. Niemand drängt sie aufzubrechen. Wir mochileros gehören nicht zu denen. Wir ziehen weg. Wir müssen losgehen, mit Rucksack - und wenn wir nicht unterwegs sind, haben wir nichts vom Leben. An dieser Bestimmung können wir nichts ändern, es ist eben unser Weg, es ist das Leben. Es hat keinen Zweck, wenn du deine Gefühle negierst - wenn sie mich rufen loszuziehen, dann gehe ich los. Vor zwei Wochen hat mich dieses Etwas gerufen. Also bin ich losgegangen. Es hat keinen Zweck, diese Gefühle zu ignorieren.

Jetzt fiel es mir wieder ein. Die Bücher von Inge und Martín in Puente Alto. Die Patienten, die schon klinisch tot gewesen waren, und die angegeben hatten, sie sollten auf den Gebieten Liebe und Weisheit noch etwas dazulernen. Ich hatte das Gefühl, dass etwas kurz davor war, Sinn zu geben. Wenn ich eine Frage an das Leben zu haben schien, dann war es vielleicht diese. Ich fragte Makey.

- Und was meinst du, wozu leben wir hier auf der Erde? Glaubst du, es gibt eine Antwort?

- Claro que hay una respuesta. Estamos aquí - para aprender. - Natürlich gibt es eine Antwort. Wir sind hier - um zu lernen.

So einfach konnte das Leben sein.

Ich war immer noch alles anderes andere als gut darin, meine Gefühle zu verstehen. Aber manchmal wusste ich, ich war zumindest gut genug. Was für eine einfache Antwort.

Makey war Buddhist. Wir sassen in Antonios Küche, in der die Flamme des Gasherdes etwas Wärme gab, assen noch ein paar Brote mit dulce de leche und unterhielten uns noch bis spät, als die anderen schon lange zu Bett gegangen waren. Dulce de leche war eigentlich eine argentinische Erfindung und hiess dort maní. Wie Schokocreme, nur aus Milch und ohne Schokolade. Makey erzählte nicht sehr viel über seine Religion, nur ein paar Fragmente.

- Weisst du, unser Körper ist nichts ausser eine Art Fahrzeug für unseren Geist. Unser Geist trägt unsere wahre Identität. Wir müssen lernen, den Geist zu vervollkommnen. Wenn wir sterben, löst sich der Geist vom Körper und geht weit weg, bis er schliesslich wieder in einen menschlichen Körper hineingeht, um ein neues Leben zu beginnen.

- Und was soll das genau sein, das wir lernen sollen?

- Weiss nicht. Aber wir müssen irgendwas lernen. Es scheint so zu sein, dass es nicht immer dasselbe ist.

- Meinst du nicht, es könnte Liebe und Weisheit sein? Diese zwei Sachen?

- Weiss nicht genau, aber kann durchaus sein.

Kurz danach blockte er das Gespräch ab mit dem Hinweis, dass er eigentlich gar nichts wisse. Es war überhaupt nicht Makeys Art, über solche Themen zu sprechen. Das erfuhr ich auch erst viel später. Am nächsten Morgen machte er sich wieder auf den Weg zurück, nach Río Gallegos. Ich könnte ihn gerne dort besuchen, meinte er noch. Ich brauchte mich nur nach seinem Haus durchzufragen. Ich fragte ihn, ob er mir dafür seine Adresse aufschreiben könnte. Er nahm einen Zettel und schrieb darauf ein einziges Wort.

Makey.

Ich sah Antonio fragend an. Sicher, dass das die vollständige Adresse war?

- Haha, mehr als den Namen brauchst du bei dem nicht als Adresse! Den kennt jeder!

Ich wusste ja noch nicht, dass derjenige, der auf diesem Planeten den Sinn des Lebens kannte, in Río Gallegos auf der städtischen Müllhalde in einer selbstgebauten Hütte wohnte. Und davon lebte, dass er jeden Morgen den Müllplatz nach neuem Schrott durchsuchte und aus alten Elektrogeräten und Kabeln Kupfer und andere Metalle sammelte und sie im Rohstoffhandel verkaufte.

Die folgenden zehn Tage verbrachte ich bei Selma und Antonio in Punta Arenas. Ich sei nicht laut genug, meinte Antonio einmal zu mir.

Ich lernte noch ein bisschen über Politik in einer Diktatur und Chiles Opposition. Vor einem halben Jahr hatte also das No bei der Abstimmung gewonnen und nun befand sich das Land in einer Übergangsphase, nach der demnächst ein Präsident demokratisch gewählt werden sollte. Die Strukturen der langsam abdankenden Militärs waren zwar noch überall spürbar, doch den Chilenen schien die Demokratie jetzt schon Spass zu machen. Immer mehr Chilenen kehrten aus dem Exil zurück. Gorbatshovs Bücher sah ich öfter in den Auslagen der Buchhandlungen. Glasnost, Perestroika.

In Puente Alto hatte ich Martín immer fragen wollen, ob der Radiosender, den sie drin hatten, irgendein linkes Untergrundradio war. Ständig spielten sie einen spanischsprachigen Song mit dem englischen Refrain free Nelson Mandela, set him! Aber auch in Punta Arenas brachten sie das Lied im Radio. Sogar auch im argentinischen Radio, das in Punta Arenas auch reinging, und wo sie dazusagten, es sei ja unglaublich, dass sich gerade dieser Song schon seit Wochen in den vordersten Rängen der Hitlisten in Santiago de Chile hielt. Free Nelson Mandela, das sei wirklich unglaublich.

Selma erklärte es mit dann.

- Die das singen, das ist eine politische Band, die vor fünfzehn Jahren ins Exil mussten, nach Madrid. Und jetzt sind sie aus dem Exil zurück und haben zufällig momentan dieses Lied drauf.

Der spanische Text hatte dabei gar nichts mit Nelson Mandela und Südafrika zu tun. Ein niveauvolles Liebeslied über zwei, bei denen das Zusammenleben auch nicht mehr so richtig klappt, und am Ende meint er zu ihr:

Vielleicht wird es ja kein Morgen mehr geben

und die Welt wird nur noch eine Ruine sein,

können wir die Zeit heut doch noch bisschen nutzen

und ein bisschen zärtlich zueinander sein.

Freeeee - Nelson Mandela, set him!...

Bei einem Schlagersong aus Kolumbien wiederholte die Sängerin nach jeder Strophe zweimal den Refrain Mama ¿que será lo que quiere negro? - Mama, was will der Schwarze von mir? Wobei natürlich völlig klar war, was der Schwarze von ihr wollte. Die Melodie hatte Erfolg in Südamerika und war in allen Ländern aus den Radios zu hören - bis auf in Chile. Dort war es von den Militärs verboten worden, dieses Lied öffentlich zu spielen.

Nein, nicht wegen des Textes. Sondern weil bei den Konzerten das Publikum sehr genau wusste, was der Schwarze wollte, und jedesmal im Chor antwortete que se vaya Pinochet - dass Pinochet geht. Das Beste war, am Tag danach kam das im Radio leise durch, beim Internationalen Liederfestival in Viña del Mar, wo sich einmal im Jahr die High Society des Kontinents im Monaco Südamerikas an der chilenischen Küste traf. Und nachdem die Fernsehübertragung beendet war, die kolumbianische Gruppe dieses Lied gespielt hatte, ¿Mama que será lo que quiere negro? Und fünfundzwanzigtausend Leute die einmalige Gelegenheit ergriffen und im Chor gebrüllt hatten Que se vaya - Pinochet!

Und noch eine andere niedliche Geschichte erzählte Selma. Irgendeine von ihren Freundinnen ihr Kleines, sollten sie im Kindergarten eine Fahne - bandera - malen. Setzte sich hin, nahm die bunten Stifte, zeichnete die Umrisse einer Fahne, malte einen Regenbogen rein und schrieb in dicken schwarzen Strichen daneben No. Konnte weder lesen noch schreiben, wusste auch gar nicht, was es bedeutete, aber hatte die Fahne eben immer bei den Leuten in den Wohnungen gesehen. Und schön war sie ja auch. Die Fahne vom No, Symbol der gesamten chilenischen Opposition.

18. Februar 1989

Göttingen, fünfzehntausend Kilometer weiter in Europa. Beim grossen Ärzte-Tanzball in der Stadthalle wurde nicht im Chor dazwischengerufen. Aber dass sie eine einmalige Gelegenheit hatte, sah Melanie Franke auch ohne kolumbianische Musik. Sie fragte ihren Mann, ob er ihr nicht einen Gefallen tun wollte - und für ein Weilchen eine gewisse Frau Domrös ablenken. Ich werde es versuchen, sagte er, und ging auf das Ehepaar Domrös zu. Dr. Domrös hatte nichts dagegen einzuwenden, dass ihm sein Kollege Dr. Jens Franke aus der Anästhesie seine Frau entwendete.

Die regelmässigen Termine im Orchester des Krankenhauses hatten sie nicht näher gebracht. Jetzt oder nie, dachte sich Melanie Franke und tanzte eine Runde nach der anderen mit Albrecht Domrös. Irgendwann schien er endlich begriffen zu haben, was sie wollte. Als Melanie zu Jens zurück kam, war der schon ganz ungeduldig.

- Mann, hast du lange gebraucht. Ich wusste schon gar nicht mehr, was ich mit der Frau Domrös noch alles anfangen sollte. Die wurde schon ganz unruhig-

Melanie ahnte nicht, dass Jens selbst durchaus ein eigenes Interesse daran hatte, seine Frau in den Armen seines gutaussehenden Kollegen zu sehen.

20. Februar 1989

Die zwei Wochen waren um. Am heutigen Morgen nahm ich die Fähre von Punta Arenas nach Bahía Chilora bei Porvenir in Feuerland. Als Tramper auf dem Weg von New York nach Ushuaia liessen sie mich sogar kostenlos mitfahren. Im Anschluss trampte ich im Nebel am Nordufer der Bahía Inútil - Nutzlose Bucht - entlang nach Westen. Die Bucht konnte für die Seefahrer vergangener Jahrhunderte nicht besonders nützlich gewesen sein, weil sie sich breit nach Osten öffnete und sich ein Schiff in dieser Bucht nicht vor den stürmischen Westwinden schützen konnte.

Am Abend hatte ich zweihundert Kilometer zurückgelegt, war wieder in Argentinien und kam bei der Estancia Sara an, achtzig Kilometer nördlich von Río Grande. Río Grande lag an der Atlantikküste und war die Hauptstadt von Argentinisch-Feuerland. Ich hatte das Gefühl, mit meinen Tramps ziemlich Glück gehabt zu haben auf dieser kaum besiedelten Insel. Der Trucker, der mich die letzten vier Kilometer bis zur argentinischen Grenze gefahren hatte, nahm sogar Geld.

33

Caballuno - Pferdefleisch -

Eine Estancia in Feuerland

Jonathan freute sich, mich wiederzusehen. Ja, ich könne gerne ein paar Wochen hier arbeiten. Sie gaben mir ein kleines Zimmer in einem der Holzhäuser. Wie warm es hier war. Überall Heizungen. Unter der Estancia gab es Erdgas.

Jonathan war der zweite Chef der Estancia, derjenige, der die Arbeiter anwies. Er schlug mir vor, bevor ich zu arbeiten anfing, erstmal nach Ushuaia zu fahren. Noch sei Sommer, aber schon in einigen Wochen könnte es zu kalt für die Tour sein. Alle, die hier aus Alaska oder sonstwo her ankamen, wollten in die südlichste Stadt der Welt. Er und die zwanzig Arbeiter auf der Estancia, die mit ihren vielleicht zehn Häusern direkt an der Ruta tres lag, nur noch dreihundert Kilometer von Ushuaia entfernt, schienen das schon zu kennen.

21. Februar 1989

Da ich jetzt mehrere Wochen an einem Ort bleiben würde, bot sich zum ersten Mal seit Bogotá die Gelegenheit, Post aus Deutschland zu bekommen. Ich fragte Jonathan nach der Adresse und machte mich auf den Weg nach Río Grande.

Wie in Chile wurde auch auf der argentinischen Seite der Feuerland-Insel Erdöl und Erdgas gefördert, und wenn ich als Tramper mitkam, dann oft von den Arbeitern der Erdölfirmen. Copec in Chile oder Ypf in Argentinien. Sie sprachen das i-pe-efe aus. Ein Ypf-Bus nahm mich mit nach Río Grande.

Dort setzte ich mich ans Atlantikufer in die Sommersonne, vor mir dreihundertvierundfünfzig Breitengrade Meer, und schrieb eine Postkarte an Mechthild und Gerwin nach Neustadt. Argentinisches Geld hatte ich nicht und war froh, dass ich mit chilenischen Pesos bezahlen konnte. Schien ihnen recht zu sein, die hatten wenigstens nicht so eine hohe Inflation. Jonathan hatte geschätzt, ein Brief aus Deutschland sei etwa zehn Tage unterwegs. Zu rosig geschätzt, wie sich später herausstellte. Manche Briefe sollten bis zu acht Wochen brauchen.

Überlandstrassen wie die Ruta tres waren in dieser Gegend schon lange nicht mehr geteert, hinter Menéndez verwandelte sich die Strasse ans Ende der Welt in eine ziemliche Schlammpiste. Nach über hundert Kilometern ging es auf die bewaldeten Berge zu, die letzten Ausläufer der Anden, deren höchste Berge auch in Feuerland immer noch locker über zweitausend Meter hoch waren. Die Ruta tres schlängelte sich um den langgestreckten romantischen See Lago Fagnano, der wie ein norwegischer Fjord zwischen den Bergen ruhte, hielt sich noch ein wenig an dessen Südufer und bog irgendwann nach Süden in die Berge. Nach ein paar Kurven ging es über die Pässe der Sierra Alvear und bald lag an der Küste die kleine, verschlafene Stadt, auf derem zentralen Platz ein paar nützliche Hinweisschilder standen. Buenos Aires 3580 km.

Die japanischen Fernseher-Fabriken im Industriegebiet der Küstenebene schienen schon bessere Zeiten gewesen zu haben. Ein Gebäude war ausgebrannt. Brandstiftung aus Steuergründen.

Auf der gegenüberliegenden Insel gab es noch zwei chilenische Orte, die aber nur langweilige Basen der Militärs darstellten und für die Öffentlichkeit gesperrt waren. Vor ein paar Jahren hatte es beinahe einmal einen Krieg um ein paar südöstlich von hier gelegene Inseln gegeben, die beide Staaten für sich reklamierten. Als die Erben der spanischen Kolonialmacht die Grenzen ihrer jungen Staaten in Verträgen absicherten, wurde der Grenzverlauf in dieser uninteressanten Gegend nur in wenigen Worten abgehandelt. An einer Stelle hiess es und von dort ab dann nach Süden. Wo genau dort war, begann beide Staaten erst dann zu interessieren, als in Feuerland Erdöl entdeckt wurde. Und dann war es zu spät, sich zu einigen, wo dort war.

Ushuaia war also die südlichste Stadt der Welt - wenn eine Stadt dadurch definiert war, dass öffentlich zugänglich war und Zivilbevölkerung beherbergte. Die kleine Stadt am Beagle-Kanal machte mit seinen sympatischen bunten Häuschen den Eindruck eines norwegischen Küstenortes. Nicht sehr geschäftig, aber auch nicht leblos. Und es gab fast ein wenig Tourismus. Mit den Radlern, die jedes Jahr aus Alaska hier ankamen. Tramper waren wohl eher selten.

Ich schlenderte ein bisschen durch die Gassen, sah mir den Ort an und ging zum Hafen. Es war schon Nachmittag und ich überlegte mir, wo ich übernachten sollte. Ein Bus Terminal gab es hier nicht. Egal, dachte ich mir, ich werde erstmal ein paar Schnecken sammeln, am Ortsausgang, hinter dem Industriegebiet, und unter ein paar Bäumen schlafen.

Bäume war zuviel gesagt. Sehr hoch wuchsen sie in dieser Gegend nicht mehr, es waren eher Büsche. Ich folgte der Strasse noch ein paar Kurven nach oben und suchte ein wenig abseits der Ruta tres noch ein paar kleine Schnecken für Vollrath in Cismar. Das war alles andere als einfach. Aber ich hatte einen Ehrgeiz.

Sie werden es nicht finden, was sie suchen. Da können sie bis ans Ende der Welt gehen.

Natürlich fand ich, was ich suchte. Gut, sie waren nicht grösser als ein paar Millimeter. Aber wenn ich Schnecken suchte, dann fand ich die auch. Zufrieden suchte ich mir noch etwas rockenes Gras als Unterlage und legte mich in meinen Schlafsack. Die südlichste Nacht, die ich je verbringen würde. Unter freiem Himmel, am Ende der Welt. Über mir die Sterne.

22. Februar 1989

Und die Wolken. Als ich am Morgen aufwachte, fing es leicht an zu nieseln. Ich sah zu, dass ich schnell meine Sachen zusammenpackte und machte mich auf den langen Weg zurück. Ich war noch nicht lange an der Strasse entlanggegangen, hielt ein weisser Pickup-Truck an und nahm mich mit. Tramp dreihundertsiebenundzwanzig.

- Wohin wollen Sie?

Der Fahrer hatte Mut, mich auf Deutsch anzusprechen.

- Estancia Sara, zweihundertsiebzig Kilometer weiter.

Er hatte nur einmal die südlichste Stadt der Welt besuchen wollen. Wirtschaftler, hatte in München gearbeitet und später für das Wirtschaftsministerium in Santiago de Chile.

- Unter Pinochet?

- Die chilenischen Militärs haben einen Fehler nicht gemacht, den die argentinische Militärdiktatur begangen hatte. Die Militärs unter Pinochet hatten das Wirtschaftsministerium Zivilisten überlassen. Wir hatten da eine weitgehende Handlungsfreiheit. Zumindest am Anfang. Während die Generäle in Argentinien ihr Land nach wenigen Jahren in den Ruin gewirtschaftet hatten, florierte die Wirtschaft in Chile. Die Leute sind in Chile heute noch der Meinung, den wirtschaftlichen Aufschwung hätten sie Pinochets Politik zu verdanken. Doch das stimmt nicht. Wir waren dafür verantwortlich. Militärs haben keine Ahnung von Wirtschaft, die können nur Befehlen gehorchen, was anderes kennen die nicht. Wirtschaft funktioniert diametral entgegengesetzt. Die Argentinier dachten, sie könnten der Wirtschaft befehlen zu florieren.

Ich fragte mich, wie man für so ein bestialisches Regime auch noch freiwillig arbeiten konnte.

- Hast du schonmal gesehen, wenn in der Bundesrepublik ein Haus von der Polizei durchsucht wurde? Ich sag dir, das sieht hinterher auch nicht besser aus als wenn das in Chile passiert. Ich mag diese Moralprediger nicht.

- Und wie lange haben Sie für Pinochet gearbeitet?

- Vier oder fünf Jahre. Danach hatte ich keine Lust mehr.

- Warum nicht?

- Ach, denen kannst du doch erzählen, was du willst, da rennst du doch gegen die Wand. Da holen sie sich extra Leute aus Deutschland, um sie zu beraten, wie man so ein Land aus der Armut holen kann. Und wenn man anfängt, ihnen mal ein paar Takte zu erzählen, was für simple Massnahmen sie ergreifen müssten, dann blocken sie ab und wollen nichts davon wissen. Am Ende bist du sogar noch verdächtig in solchen Diktaturen.

- Ach so, höhere Löhne, Sozialversicherungen und so?

- Das ist in ganz Lateinamerika dasselbe. Da kannst du hingehn, zu den Fabrikbesitzern, und denen erzählen, wenn sie den Arbeitern ein bisschen mehr Lohn zahlen, dann können die sich doch mehr kaufen, und dann können sie gleich nochmal davon profitieren. Oder der Regierung sagen, wenn sie soziale Sicherungssysteme einführen, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe - gut, wenn das irgendwelche Kommunisten sagen, kann ich verstehen, dass die Militärs da skeptisch sind. Aber Leute wie ich sind doch keine linken Spinner!

- Würde ich auch nicht erwarten, dass die dann freiwillig unter Pinochet arbeiten würden.

- Die hören genausowenig zu, wenn ihnen das Ökonomen aus reichen Industrieländern erzählen. Dabei kann jeder doch den Unterschied sehen. Die Länder in Europa haben doch solche sozialen Netze. Das ist ja nicht umsonst! Wenn die Krise kommt, behält die Bevölkerung ihre Kaufkraft, und die Krise wirkt sich nur minimal aus. Aber hier will jeder nur möglichst schnell möglichst reich werden, was anderes kümmert die hier doch nicht. Und deswegen kommen die auch nicht weiter.

- Hätten die denn überhaupt die Möglichkeit, von dem, was sie hier erwirtschaften, soviele Steuern zu bezahlen, dass soziale Netze eingerichtet werden könnten?

- Natürlich, was denkst denn du, wieviel Geld die haben?! Bei den niedrigen Löhnen? Die stecken sich das ganze Geld in ihre Tasche oder auf Schweizer Konten und das Land hat nichts davon. Die denken nicht daran, etwas davon abzugeben. Deshalb dachte ich ja, in einer Militärregierung wie in Chile, wo dieser Klüngel der Reichen nicht das Sagen hat, dass man wenigstens da was verändern könnte. Aber die Militärs sind ja noch schlimmer mit ihrem blinden Hass gegen alles, was nach Sozialismus riecht. Ich hatte keine Lust mehr, denen was von den Vorteilen von Sozialsystemen zu erzählen und die wollen das gar nicht begreifen.

Bis dahin hatte ich wie viele andere in den Kreisen der Friedensgruppe oder bei den Grünen immer geglaubt, die Armut der Entwicklungsländer hänge mit dem Reichtum der Industrienationen über Ausbeutungsmechanismen unmittelbar zusammen. Deutschlands Gewerkschaften konnten ihre Lohnforderungen nur deswegen stellen, weil sie von Rohstoffen lebten, die aus den Entwicklungsländern für billiges Geld importiert wurden. Doch so einfach schien es nicht zu sein.

Würden wir die Steuer- und Sozialgesetze von Dänemark oder Schweden im klimatisch vergleichbaren Chile anwenden, wäre das Ergebnis vielleicht einfach nur ein reiches Land. Und sie könnten sofort ihre Grenzen gegen argentinische Einwanderer dichtmachen. Aber die Bevölkerung würde sich wehren. Allen - auch den Armen - wäre die Möglichkeit entzogen, übermässig reich zu werden. Und die Militärs würden putschen, weil sie soziale Absicherung nicht von Sozialismus unterscheiden könnten.

In dem Moment, als er sagte, und deswegen kommen die auch nicht weiter, wollte ich ihm noch etwas von Kolonialismus und Ausbeutung der dritten Welt entgegensetzen. Aber ich konnte es mir sparen. Waren sie noch Kolonien? Wirtschaftskolonien? Die Estancias lieferten Schafswolle auf den Weltmarkt. Angebot und Nachfrage regelten den Preis. Es war dem Preis egal, ob die Wolle aus Neuseeland, Schottland oder Argentinien kam. Der Unterschied musste darin liegen, was die jeweiligen Produzenten in ihren Ländern mit dem Geld anfingen.

Bis in den Mai blieb ich jetzt auf der Estancia Sara, bei zwanzig Arbeitern und fünfundsiebzigtausend Schafen. Sara war mit einer Fläche, die grösser war als Westberlin, die grösste Estancia in Feuerland. Im kontinentalen Patagonien gab es noch welche, die wesentlich grösser waren und noch mehr Tiere hatten.

Fünfundsiebzigtausend reichte aber so auch schon aus, um sich vorstellen zu können, was es dort jeden Tag zu Essen gab. In einer Gegend, in der ein Kilo Schafsfleisch billiger war als ein Kilo Nudeln, Reis oder Kartoffeln. Frühstück, Mittag, Abend: asado de carnero, gebratenes Schafsfleisch. Ich war zunächst noch skeptisch, denn ich hatte Mexico noch gut in Erinnerung, wo ich gezwungen war, jeden Tag dasselbe zu essen. Aber zwischen Tortillas aus Mais und Schafsfleisch schien es einen Unterschied zu geben. Das täglich frisch geschlachtete Fleisch vertrug ich erstaunlich gut. Es hatte auch nicht diesen Hammelgeschmack, den es bekam, wenn es ein paar Tage lagerte.

Morgens um acht Frühstück, danach versammelten sich alle Arbeiter vor der Scheune und warteten auf Jonathan, der die Arbeit verteilte. Zäune reparieren, Wege ausbessern, Schafe sortieren, markieren und zählen, Ausbesserungsarbeiten an den Gebäuden. Um zwölf gab es Mittagessen, nachmittags um fünf - wie es sich für ein englisches Landgut gehörte - five o'clock tea. Dann noch ein paar Stunden Arbeit, Abendessen und Fernsehen. Am Sonntag war frei. Und am Montag hatten die Pferde frei, da konnten bestimmte Arbeiten nicht durchgeführt werden.

Bis auf Isidro waren alle Arbeiter Chilenen. Die meisten kamen von der Insel Chiloé, wo die Arbeitslosigkeit besonders hoch war. Argentinier arbeiteten nur selten auf Feuerlands Estancias. Jonathan meinte zu mir, Argentinier würde er grundsätzlich nicht nehmen. Sie seien faul und unzuverlässig. Ich hielt es für ein Vorurteil. Die Chilenen schienen es schon lange gewöhnt zu sein, sich im Ausland Arbeit zu suchen.

Isidro kam aus Bolivien. Der vielleicht fünfzigjährige Mechaniker arbeitete als Schmied in der Werkstatt - und mit besonderer Hingabe verarschte er Leute. Isidro konnte den grössten Stuss mit total ernstem Gesicht erzählen. Wenn ich mir irgendeinen Blödsinn ausdachte, musste ich spätestens dann lächeln, wenn ich dabei war, den Müll, den ich mir auf Deutsch ausdachte, auch noch auf Spanisch zu übersetzen. Seit fünfzehn Jahren arbeitete er schon in Argentinien, immer woanders. Er sprach auch Kechua.

Die chilenischen Arbeiter schienen auf den Estancias oft unter schlechten Bedingungen zu leben. Sara sei eine Ausnahme. Es war fast ein Drei-Sterne-Hotel hier, richtig vorbildlich. Fliessend Warmwasser, Duschen, überall geheizt, Aufenthaltsraum mit Fernseher. Auch die Löhne waren in Ordnung und wurden auch ausbezahlt. Einmal im Monat am Zahltag kam ein Wagen mit Waren vorbei, vor allem mit Kleidung, Mate und Zucker, damit die Arbeiter ihren Lohn möglichst sofort wieder ausgeben konnten. Bei der hohen Inflation war das ein praktischer Service - schon ein paar Tage später waren die Preise schon wieder gestiegen.

Göttingen. Drei Wochen waren nach dem Tanzball vergangen, als Melanie den Kollegen ihres Mannes anrief. Albrecht Domrös war schnell klar, was gespielt wurde. Zumindest was den Teil betraf, den er selber mitspielte. Sie trafen sich in einem persischen Lokal am Kornmarkt. Am Karfreitag sei sie alleine zuhause. Aha. Ja, ist gut.

Albrecht wusste nicht, dass kein Zufall war, dass sie an diesem Tag alleine zuhause war. Niemand anderer als Jens Franke selber hielt seiner Frau den Rücken frei. Die beiden älteren Kinder waren bei ihren Grosseltern untergebracht, und mit dem Jüngsten hatte Jens einen Ausflug zum Segelflugplatz nach Gandersheim unternommen.

Sie erlebte eine der erotischsten Nächte seit einer ganzen Reihe von Jahren. Im Prinzip seit der Geburt ihres ersten Kindes hatte sie so gut wie keine Lust mehr gehabt.

Der einzige, der wirklich wusste, was gespielt wurde, war Jens Franke. Melanie wusste nicht, dass noch eine dritte Person auf dem Ausflug nach Gandersheim dabei war. Eine Person, die schon seit geraumer Zeit auf derartigen Ausflügen dabei war.

Jens konnte sich glänzend amüsieren, als er sah, wie eigenartig sich sein Kollege am nächsten Tag ihm gegenüber plötzlich verhielt. Der Chirurg würde nie erfahren, dass Jens nicht nur von seiner Affäre wusste, sondern darüber hinaus alles geschickt eingefädelt hatte und auch fortan seiner Frau an solchen Tagen die Wohnung freihielt.

Für einige Zeit fand sogar Jens Franke seine Frau wieder attraktiv. Eine glücklich verliebte Frau am Ziel ihrer Wünsche hatte immer eine erotische Ausstrahlung. Schade eigentlich, dachte er, und verplapperte sich fast einmal mit so einer Gefühlsäusserung. Wer sich am Ende tatsächlich einmal verplappern sollte, war der vierjährige Sohn.

Ende März bekam ich zum ersten Mal seit einem halben Jahr Post aus Deutschland. Norbert hatte Marion geheiratet, weil sie schwanger geworden war, und war mit ihr nach Pinneberg bei Hamburg gezogen. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass sie heiraten mussten, weil sie schwanger geworden war.

Sie hatte eine Stelle als Lehrerin in Schleswig-Holstein, die sie bei der hohen Lehrerarbeitslosigkeit nur deswegen bekommen hatte, weil sie eine Lehrbefähigung für katholische Religion hatte. Sie gehörte im hohen Norden zur verschwindend kleinen Minderheit von Katholiken. Das war auch in Pinneberg so. Aber die Schule musste für einzelne katholische Schüler eine Lehrkraft theoretisch zur Verfügung haben. So bekam sie den Job.

Dadurch war sie aber gleichzeitig auch von der katholischen Kirche abhängig und musste sich genau an die Regeln halten. Wie christlich diese waren, erfuhr sie nun. Wenn sie ein uneheliches Kind zur Welt brachte, würde ihr umgehend die Lehrbefähigung entzogen.

So stand sie eines Tages tränenüberströmt in Neustadt bei Norberts Zivildienststelle und beichtete ihm, dass sie schwanger sei und die katholische Kirche sie praktisch dazu zwang abzutreiben. Im gegenteiligen Fall müsste er sie heiraten, und zwar vor der Geburt des Kindes, und zwar kirchlich, und zwar nach katholischem Recht. Und das Kind müsse wenn, dann katholisch getauft werden. Wenn auch nur eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt sei, bekäme sie die Lehrbefugnis entzogen und wäre ihren Job los.

Norbert protestierte, holte Landkarte und Kalender und kam zurück mit dem Ergebnis, Bundesrepublik Deutschland, 1989. Das konnte nicht sein. Doch er verschwendete nur wertvolle Zeit.

Bundesrepublik Deutschland, 1989. Ausgerechnet die katholische Kirche zwang Frauen, die von ihr abhängig waren, zur Abtreibung ihrer ungeborenen Kinder. Was für ein verlogener Verein. Was für verlogene Politiker, Bischöfe, die heuchlerisch für den Schutz des ungeborenen Lebens eintraten, Abtreibung zu einer Sache des Strafgesetzbuchs machten - und selbst mit solchen Erpressermethoden arbeiteten! Doch was half das Lamentieren? Marion hatte keine Wahl. Was hätte sie machen sollen?

Die junge Lehrerin hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon entschieden abzutreiben, fand es aber fair, den Vater vorher und nicht nachher darüber zu informieren. Die Schwangerschaftstests waren wochenlang negativ geblieben, deshalb stand sie jetzt unter Zeitdruck.

Abtreibung komme nicht in Frage, erklärte Norbert kategorisch. Half aber nichts, sie liess sich nicht umstimmen.

Dabei haben wir sooo aufgepasst. Mit Pariser, das wollten wir zwar immer machen, aber irgendwie ist das mies, auf Pille hatte Marion kein Bock, schon allein der Pharmaindustrie wegen, so haben wir halt die fruchtbaren und unfruchtbaren Zeiten ausgerechnet, aber irgendwie muss sich der Eisprung verfrüht haben...

Sie hatte schon einen Termin im Krankenhaus, soziale Indikation. Völlig haltlos an sich, psychische Indikation wär treffender, schrieb mir Norbert, der immer noch nicht nachgeben wollte und ihr am Ende sagte, lieber heirate ich dich. Und wenns sein muss, auch katholisch. Er machte solange Druck, bis sie nachgab.

Eine Nothochzeit. Mit Matthias, Jochen, Andreas und einer Freundin von Marion gingen sie zum Standesamt. Der Standesbeamte soll sich sogar ganz gut gehalten haben. Bei der kirchlichen Trauung kam sogar Kurt aus Recklinghausen als Trauzeuge. Soll sogar eine ganz nette Feier gewesen sein, mit dem Pfarrer, der ansonsten die Knastbrüder in Fuhlsbüttel betreute. Noch besser dann die Fete im Forum, die ein paar Wochen später stattfand, mit über hundert Leuten. Am 16. Dezember 1988. Alle waren gekommen. Alle, bis auf einer. Wenigstens hatte ich ein paar gute Ausreden. Erstens war ich krank und zweitens an dem Abend schon in Cajamarca eingeladen.

Eckhart hatte die Fotos gemacht und selbst entwickelt, Norbert schickte mir die Kontaktabzüge. Ich schnitt sie aus und klebte die Bilder der Leute ganz vorne in mein Tagebuch.

Ich träumte davon, einmal mit dem Pferd zum Strand zu reiten. Etwa zwei Stunden von der Estancia war der lange Sandstrand, von dem ein vielleicht zehn Kilometer langes Stück zur Estancia Sara gehörte. Mit Wirbelknochen von Walen, die so gross waren, dass sie als Hocker benutzt wurden. Ich fragte Jonathan, ob ich einmal mit dem Pferd zum Strand reiten durfte.

- Kannst du denn reiten?

- Äh, ja.

- Bist du schonmal geritten?

- Ja, natürlich.

Es war klar, dass der Chef der Arbeiter weder Zeit noch Lust hatte, Reitunterricht zu geben, und wenn ich jetzt nein gesagt hätte, der Traum vom Reiten ganz schnell zuende gewesen wäre. Ganz gelogen hatte ich nicht, denn in Mexico hatte mich der kleine Junge in Benito Juárez ja auf seinem Pferd mitgenommen. Oder Maultier. Jonathan war also prinzipiell einverstanden. Es gab nur noch eine Hürde.

- Aber heute nicht, heute ist Montag, und da haben alle Pferde frei.

Am nächsten Morgen ging er mit mir in den Stall, suchte eine besonders liebe Stute aus, sattelte sie und brachte die Leinen an. Dann gab er mir noch ein paar Anweisungen, wann ich zurück sein sollte und wohin ich nicht reiten durfte, führte die Stute nach draussen und half mir auf den Sattel des grossen braunen Pferdes.

- Okay, du kommst klar?

- Ja, danke! Bis heute Abend!

Ich war sehr froh, als er um die Ecke verschwunden war. Das einzige Problem, das ich jetzt noch hatte, war, dass ich absolut keine Ahnung vom Reiten hatte. Da sass ich nun auf diesem grossen Pferd und streichelte erst einmal den Hals und die wuschelige Mähne des Tieres. Ich fand das Pferd süss und wollte erstmal sein Vertrauen gewinnen. Mal sehen, ob es loslaufen würde. Irgendwie musste der Befehl gehen. Hü!

Keine Reaktion. Ri! Kechua konnte es auch nicht. Schieben am Hals funktionierte auch nicht. Reiten schien komplizierter zu sein als es immer aussah. Ziehen an der Leine hatte einige unkontrollierte Bewegungen zur Folge - ich beruhigte das Pferd sofort wieder indem ich es am Hals streichelte und ihm gut zuredete. Auch Klopfen auf dem Sattel brachte nichts.

Hallo Pferdchen, bitte loslaufen! Ich erzählte dem Pferd ein bisschen auf Deutsch, dass ich gerne losreiten würde und dass es vielleicht ausnahmsweise auch mal gehen würde, wenn einer die Befehle nicht wusste. Die deutsche Sprache war dazu erfunden worden, mit den Pferden zu sprechen, aber viel half das nicht. Einer der chilenischen Arbeiter kam vorbei und sah mich fragend an.

- Und wie funktioniert das Pferd jetzt? Ich mein, wie läuft das denn los? Und wie bremst man dann wieder?

- Kannst du nicht reiten?

- Doch, aber ich will nur testen ob du das kannst - komm, jetzt sag mal, wie macht ihr denn das?

- Wie bist du denn da auf das Pferd gekommen?

- Hat mir Jonathan bei geholfen.

- Obwohl du nicht reiten kannst?!

- Doch, ich kann schon reiten- jetzt sag schon, wie geht das denn hier?

- Ach so, du kannst nur europäische Pferde reiten - haha, diese hier funktionieren anders! Das sind hier echte Gaucho-Pferde!

- Ja genau, bei diesen ist das anders. Wie geht das denn bei den patagonischen Pferden?

In wenigen Worten hatte er mir erklärt, wie Lenkung und Bremsen bei einem Pferd funktionierten. Komische Ideen hatte ich. Ohne jemals auf einem Pferd gesessen zu haben, hatte ich vor, kilometerweit alleine über das Land zu reiten. Und niemand durfte das merken. Und das Pferd? Ich machte mir nichts vor und war überzeugt, dass die Stute genau wusste, dass ich kein professioneller Reiter war. Ich wusste, dass Pferde Anfänger nicht ernst nahmen.

Ich drückte leicht mit den Füssen an den Bauch des Tieres und es lief wie versprochen tatsächlich los. Als allererstes probierte ich die Bremse aus. Zügel leicht anziehen. Okay, funktionierte. Glück gehabt. Als nächstes die Lenkung. Kurve links, linker Fuss gegen den Bauch drücken- okay, Kurve rechts - ging auch. Nochmal dasselbe. Dann hörte ich mit den Tests auf, sonst wären meine merkwürdigen Manöver den Arbeitern am Scherstall doch noch aufgefallen.

Ich ritt langsam aus dem Gatter und in sicherer Entfernung an den Arbeitern vorbei. Mein Pferdchen war ganz lieb und trottelte immer genau da hin, wohin ich es steuerte. Zunächst unauffällig möglichst weit weg von der Estancia und von irgendwelchen Leuten. Das Pferd wunderte sich zwar, wohin ich es steuerte, machte aber alle Kurven brav mit.

Ein paar Hügel hoch und wieder runter, dann über die Schotterpiste der Panamericana und immer weiter über das weite grasbewachsene Land nach Westen. Zum ersten Mal ein Pferd zu reiten war ein eigenartiges Gefühl. Für wie viele Generationen vor mir hatte das Pferd das einzige Fortbewegungsmittel bedeutet? Ich kam mir vor wie ein paar Jahrhunderte zurückversetzt. Ein Gefühl von Geschichte. Es war ein sehr sinnliches Erlebnis.

Alle Schafe, die ich sah, flüchteten schon aus grosser Entfernung. Die Schafe kannten die Pferde nur im Zusammenhang mit den Gauchos, die, wenn sie auf ihren Pferden auftauchten, die Aufgabe hatten, die Schafe zu bestimmten Stellen zu treiben.

Nach ein paar Kilometern über das einsame Land wurde das Pferd sicherer und begann schneller zu laufen. Ich fühlte mich dabei ein bisschen unbehaglich und versuchte zu bremsen. Aber das Pferdchen schien viel besser zu wissen, wo es hinwollte, liess sich nicht mehr so einfach bremsen und trabte immer schneller über die sanften Grashügel, bis es schliesslich in einen ziemlich rasanten Galopp fiel. Schien dem Pferd richtig Spass zu machen.

Die Grasbüschel flogen unter mir vorbei. Und wenn ich jetzt runterfiel? Wie schnell waren wir? Mist, ich hatte den Chilenen vergessen zu fragen, wo der Tacho war! Und der Sicherheitsgurt! Im Sattel konnte ich nicht sitzenbleiben, ich wurde total durchgeschüttelt.

Ich wagte auch nicht zu bremsen - vielleicht würde mich das Pferd dann wütend abwerfen? Es war deutlich, dass das Pferd von sich aus so schnell galoppieren wollte. Ich hatte gar keinen Befehl gegeben und die arbeitsfaulen Stiere in Ecuador hatten spätestens nach hundert Metern angehalten, wenn ich nicht ständig den Marschbefehl wiederholte.

Ich stellte mich halb in den Steigbügel, hielt mich halb nach vorne gebeugt am Sattelknauf fest und war froh, als irgendwann vor uns das verschlossene Tor im Zaun auftauchte. Das ganze Land war von Schafszäunen durchzogen, die die riesigen Flächen für die einzelnen Herden begrenzten. In einem Gebiet befanden sich nur die vierjährigen weiblichen Schafe mit roter Linie, im anderen die männlichen zweijährigen nichtkastrierten mit blauem Punkt und so weiter. Die Farbsprays schadeten der Wolle nicht. Auf dieses Tor war das Pferd zugelaufen und hielt nun an, damit ich absteigen und es öffnen konnte. Nicht ohne das Pferd zunächst angebunden zu haben, damit es nicht davonlief, während ich das Tor öffnete. Dann liess sich das Pferd brav durch das Tor führen und sich auf der anderen Seite wieder anbinden. Es versuchte nicht auszureissen. Vielmehr schien es zu wissen, was gleich folgte.

Denn ein paar Meter weiter waren wir schliesslich am Sandstrand, der sich nach Süden bis zur Grenze der nächsten Estancia erstreckte. Im Galopp über den Strand. Wie der Schimmelreiter flog ich auf meinem Pferd an den grossen Meeresschnecken und riesigen Walknochen vorbei. Genau davon hatte ich geträumt. Einmal wie im Film an diesem Strand entlangzureiten. Auch dem Pferd machte es richtig Spass. Wir ritten noch einmal zurück und wieder vor.

Wochenlang waren wir dabei, Zäune auszubessern. Weil ich keinen Lohn bekam, aber genauso fleissig wie die anderen arbeitete, konnte ich mir hin und wieder einige Extravaganzen leisten. An manchen Tagen gab es weniger zu tun und ich nahm mir eine alte Metallplatte, ein bisschen Holz und bastelte eine Art Strassenschild, das ich dann von beiden Seiten mit Synthetik-Farben bemalte. Drei Wochen sass ich daran. Eine sehr meditative Arbeit. Auf beide Seiten malte ich ein Landschaftsbild der Estancia mit einem Ortsschild. Vorne mit deutschem Ortsschild, hinten griechisch. Es wurde ein richtiges Kunstwerk. Bei den Wolken gab ich mir besonders viel Mühe. Die Wolken Feuerlands waren phantastische Kunstwerke.

Ich montierte es wegen der starken Stürme sehr stabil an eine Stelle neben der Panamericana, wo ich jeden Morgen sehen konnte, ob es noch stand. Ich war sehr enttäuscht, als sie drei Wochen später ihre paar tausend Rinder, die sie auf der Estancia hatten, unbedingt um das Schild treiben mussten, das der Stampede natürlich nicht gewachsen war. Es war schon erstaunlich, wie sehr wenig sie hier von Kunst oder Kultur hielten.

Trudie und Jacques waren zwei französische Radler, die auf ihrem langen Weg von Nordamerika nach Feuerland bei der Estancia Sara vorbeikamen. Wie die meisten Radler waren auch sie die Andenländer runter bis Argentinien gefahren. In welchem Land es am schönsten gewesen sei, fragte ich Jacques. Diese Frage wurde mir oft gestellt und ich wusste immer keine rechte Antwort. Alle Länder hatten irgendwie ihre schönen und ihre Schattenseiten. Doch Jacques musste kein zweites Mal überlegen.

- In Kolumbien natürlich.

- Kolumbien??

- Ja, klar. Gar keine Frage.

- Warum ausgerechnet Kolumbien?

- Jeder Radfahrer wird dir das sagen. In Kolumbien ist Radfahren doch Nationalsport. Du bist der König der Strasse, überall wirst du dort eingeladen. Was denkst du, was da los ist, wenn du sagst, du kommst mit dem Fahrrad von Kanada!

Wie hatte ich das vergessen können.

[pic]

Das einzige Foto von mir in Südamerika, bei der Estancia Sara an der Panamericana, neben dem selbstgemalten Ortsschild. Wenige Tage später liefen die Rinder gegen die Sturmabspannungen und rissen es um. Am Rand der Ruta tres Trudie und Jacques' Räder, mit denen sie danach nach Ushuaia fuhren.

Mit den Rindern gab es immerhin auch endlich Abwechslung in der Kost, in Form von Rindfleisch. Auf Spanisch vacuno, von vaca, die Kuh. Und weil die Chilenen nicht jeden Tag Isidro das Feld überlassen wollten, der alle so gerne verarschte, wollten sie mir natürlich gleich beim ersten Mal beibringen, das sei Pferdefleisch. Carne de caballo.

- ¿Carne de caballo?

- Ja, schau doch, hier, die grossen Knochen.

Da frisches Schafsfleisch nicht diesen charakteristischen Hammelgeschmack hatte, war es für mich gar nicht so leicht, Schaf von Rind zu unterscheiden. Für die anderen schon, die jedesmal den Gag mit dem Pferdefleisch brachten.

- Ui, heut gibt es wieder carne de caballo.

Dachte, das wär Schafsfleisch.

- Was, ist das vacuno?

- Nein, carne de caballo, schau doch, wie gross die Knochen sind.

- Ah, klar, carne de caballo. Das heisst, nee, wart mal, wenn es beim Rind vacuno und beim Schaf ovino heisst, müsste es beim Pferd dann - caballuno heissen.

Mussten sie lachen. Es war das erste Mal, dass ich in der spanischen Sprache selbst auf einen Wortwitz gekommen war.

- Ja, aber pass auf dass du nicht zuviel caballuno isst, sonst wächst dir hinterher so ne lange Schnauze und du kannst nur noch Ha-ppppphhh machen!

Das mit der neuen Vokabel caballuno gefiel ihnen. Es dauerte nicht lange und das Wort wurde allgemein für Fleisch benutzt. Almuerzo, cena, desayuno - siempre comemos caballuno. Mittag, Abend, Frühstück - immer essen wir caballuno.

Dieses Essen tat mir anscheinend richtig gut. Im April stellte ich mich einmal zum Gag auf die gute alte Arbeitswaage im Scherstall, nachdem wir dreihundert Kilo Wolle fertiggemacht hatten. Irgendwie kam ich mit dem Ding aber nicht zurecht. Auf sechzig rührte sie sich nicht, auf siebzig auch nicht, auch nicht auf fünfzig - bis Carlos dann das Gewicht nahm und auf achtzig schob. Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, dass ich mit dreimal täglich fettem Schafsfleisch in zwei Monaten dreissig Prozent meines Eigengewichts zugenommen hatte.

Brief Forum 17 (Mai 1989)

Jetzt also wieder aus der beliebten Serie Hart wie das Leben selbst.

Waren wir ausnahmsweise mal in der casa grande, dem grossen Haus vom Verwalter dabei. Wasserrohr war durchgebrochen und musste freigelegt werden, vier Leute. Einsam waren wir da aber auch nicht, immer wieder kamen welche an, die wenigsten kannte ich. Ging wieder irgendeine Tür auf - "¡¿José?!"

Die drei Chilenen schauten ihn an, drehten sich um, paar verlegene Blicke, kannten wohl keinen José. Der Typ verschwand wieder hinter der Tür. So hatten sie natürlich erstmal wieder ein Gesprächsthema.

"Wer ist José?"

"Keine Ahnung."

"Also ich kenn hier keinen José."

"Wen kann er denn damit meinen?"

Anderer Typ kam vorbei, Argentinier.

"Kennst du einen José?"

"Nee, wer ist das?"

"Wissen wir nicht, aber dahinten suchense einen, der José heisst."

"Weiss nicht, wer das sein kann."

Ging wieder.

"Oder vielleicht der von der Heizung?"

"Nee, der heisst anders."

"Nein, ich glaub, hier arbeitet gar kein José."

"Vielleicht wars das ja genau das, was er wisen wollte."

Lächeln in der Runde.

"Ich glaub, das gibt hier gar keinen."

Kleine Pause.

"Doch, das hat hier einen. Aber der heisst nicht José."

Ich verstand nicht, warum sie nicht gleich loslachten. Oder war der Gag alt? Oder hatte ich etwas falsch verstanden? Nein, der Typ hatte das offenbar selber gar nicht gecheckt. Langsam wiederholte ich den Satz.

"Si, hay uno por acá. Pero no se llama José." Ich runzelte noch einmal die Stirn. "Ja, so ein Schmarrn", setzte ich auf Deutsch hinzu und musste unwillkürlich anfangen zu lachen. Lucho dann auch.

"Si, hay uno por acá. ¡Pero no se llama José!"

"Ha, der war gut!"

"Haha, der war wirklich gut!"

Feuerland empfand ich als sehr wohltuend. Die Gedanken konnten vor der weiten Landschaft viele Kilometer zurücklegen, bevor sie wieder zurückkamen. Den Träumen ging es genauso. Ich habe nie so viel Ruhe zum Träumen gefunden wie hier auf der Estancia.

- Oder kennt ihr den? Bäckerlehrling soll kurz für die Verkäuferin einspringen. Kommen drei Kunden hintereinander rein und kaufen jeder ein Brötchen. Als der Bäckermeister wiederkommt, wundert er sich, warum in der Kasse drei verschiedene Preise registriert sind, obwohl er ja sieht, dass nichts weiter als drei Brötchen verkauft wurden. Sagt er zum Lehrling, er soll ihm die Liste geben, auf der steht, was er alles verkauft hat. Auf der Liste steht: "Eine Semmel, ein Weck, ein Brötli".

Ich wachte auf und musste lachen. Ich hatte wieder einmal von Viktoria geträumt und sie hatte mir tatsächlich einen Witz erzählt. Und er war gar nicht so schlecht.

In einem anderen Traum hatte ich Fahnen und Luftballons von Polens verbotener unabhängiger Gewerkschaft Solidarnosc von Häusern wehen gesehen. Ich war aufgewacht und hatte keine Idee, was dieser Traum wohl bedeuten mochte.

Ich hatte Ende April schon seit Monaten keine Zeitung mehr gelesen, aber am nächsten Tag schleppten die Arbeiter einige alte Zeitungen von vor ein paar Wochen an, deren Internacionales-Seiten ich gierig überflog. Und siehe da, es hatte sich tatsächlich etwas getan in der Welt. Clarin, Buenos Aires, 8.4.1989, eine kleine Meldung auf Seite 17:

Solidarität nach acht Jahren wieder legal.

Einen Monat vorher hatte ich auch grinsen müssen, als ich aufgewacht war. Ich hatte irgendeinen Typen, der gerade zufällig an der Hauswand lehnte, gefragt, wie der Film hiess, der hier gespielt wurde. Der Typ schaute mich an. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Film gedreht wurde.

- Weiss nicht, was fürn Film?

- Hier wird doch n Film gedreht.

- Von was für m Film sprichst du?

- Na, der Film, in dem wir hier alle mitspielen!

- Film??

- Mann, weisst du nicht, wo du auch Schauspieler bist, wo wir alle Schauspieler sind, hier wird doch n Film gedreht, checkst du das nicht? Es geht mir um den Namen dieses Films!

Mönche kamen aus der Kellertreppe gelaufen, irgendwo in einer europäischen Kleinstadt. Ob es Der Name der Rose war, wollte ich ihn noch fragen, liess es aber sein, der Kerl hatte ja überhaupt keine Ahnung.

Ein paar Szenen später stand ich in einem Haus und mir fiel ein, dass es schon sehr spät sein musste, bald müsste es halb acht sein und ich müsste dringend aufwachen. Ich öffnete das Fenster und fragte einen, der zufällig an der Strasse vorbeiging.

- He, wart mal kurz - wie spät ist es bitte?

Er sah auf die Armbanduhr und sagte mir, dass es neun Uhr sei.

- Son - las nueve.

- ¿Las nueve? ¿Ya son las nueve? Bueno, entonces... pero gracias.

Ich konnte gar nicht glauben, dass es schon so spät war. Na, dann war es auch egal, dann hatte ich das Frühstück natürlich verpennt. Aber egal, es war sowieso Sonntag. Ha, dachte ich mir dann noch, das war ja praktisch. Dann konnte man im Traum einfach jeden beliebigen Typen nach der Uhrzeit fragen, vorausgesetzt, er hatte eine Uhr an.

Im nächsten Moment wurde ich tatsächlich aufgeweckt - von der Frühstücksglocke, die wie jeden Tag pünktlich um halb acht bimmelte. Ich hatte genau gewusst, dass ich zu spät dran war und schon um sieben hätte aufwachen müssen, aber die miese Ratte hatte mir die falsche Uhrzeit gesagt...

Das ungewöhnlichste Ereignis in Feuerland ging auf ein paar Gedanken zurück, die mir am 14. April durch den Kopf gegangen waren. Feuerland war ein weites Land, das den Gedanken lange Reisen erlaubte. Und manchmal landeten sie bei den aussergewöhnlichsten Fragen. An diesem Tag hatte ich über eine Sache aus der Bibel nachgedacht.

Ich hatte im Waschraum mit Seife und Waschbrettern meine Hosen gewaschen, die bei der Arbeit mit den vielen Schafen schnell schmutzig wurden. Eine sehr meditative Tätigkeit. Das Leben in der Estancia hatte fast etwas von einem Kloster.

Die Bibel legte grossen Wert darauf, dass Maria von Nazareth Jungfrau gewesen gewesen sein sollte. Für meinen Glauben spielte dieser Punkt überhaupt keine Rolle - trotzdem fragte ich mich, was an einer Jungfrauengeburt göttlich sein sollte. Sie brauchte sich nur ungeschickt auf eine Bettdecke gelegt haben, auf der noch Sperma war. Den Weg zur Eizelle konnte das Sperma auch so finden. Der Heilige Geist musste nicht viel aktiver sein als anderswo auch. Irgendwie hatte ich schon immer etwas gegen Dogmatik.

Meine Gedanken kreisten noch ein wenig weiter um den Begriff Jungfrau und ich kam zu dem Schluss, dass ich nicht wissen konnte, ob es subjektiv von ihrem Empfinden her einen Unterschied machte, ob sie Jungfrau war oder nicht, weil ich ja gar nicht wirklich wusste, wie es war, wenn zwei Leute miteinander schliefen und was der Unterschied zu Selbstbefriedigung war. Und erst recht nicht, wie eine Frau dies empfand.

Velásquez, der neu aus Chile gekommen war, kam in den Waschraum und gab mir seinen Walkman. Das Lied hiess Give me peace on Earth. Wir wuschen weiter unsere Hosen, andere kamen hinzu, der Alltag ging weiter. Es war meditativ, mal alleine zu sein, aber manchmal waren die Gedanken schon ziemlich verworren. Besonders, wenn sie in Fragen endeten, die nicht zu beantworten waren.

Waren sie schon, was mich vollkommen überraschte. In der folgenden Nacht hatte ich einen erotischen Traum. Zunächst befriedigte ich mich selbst. Die deutsche Sprache ist leider ziemlich unromantisch, aber Benoîte Groult schrieb dasselbe über die französische, von daher dürfte es kaum Zweck haben, krampfhaft nach schöneren Worten zu suchen. In der nächsten Szene schlief ich mit einer Frau, was ich als ungleich viel intensiver empfand. Es passierte oft, dass ich erotische Träume hatte. So intensiv war es selten.

Dann wechselte auf einmal unmerklich die Ich-Perspektive. In der folgenden Szene war ich auf einmal eine Frau und schlief mit einem Mann. Ich hatte noch nie geträumt, ich sei eine Frau. Später erfuhr ich, dass ich nicht der einzige war, der sich einmal als Frau geträumt hatte. Schien aber selten zu sein.

Den Orgasmus erlebte ich als ein absolut überwältigendes Gefühl, jeder Quadratmillimeter meines Körpers bebte. Es war auch viel intensiver als ich es als Mann erlebt hatte. Danach versuchte ich als Frau, mich selbst zu befriedigen - es gelang zwar, war jedoch längst nicht so intensiv wie davor. Kurz danach wachte ich auf und blieb regungslos liegen.

Die Frage, die ich mir am Vortag gestellt hatte, war damit beantwortet. Es machte also durchaus einen Unterschied, auch für eine Frau. Doch als ich aufwachte, stellte ich mir eine ganz andere Frage: Wer war ich überhaupt?

Etliche Szenen lang war ich weiblich gewesen, was ich selbst im Traum nicht glauben hatte wollen. Daher hatte ich misstrauisch meinen Körper untersucht. Komplett weiblich, und zwar völlig eindeutig, hatte ich festgestellt. Und jetzt war ich aufgewacht, war offenbar weiblich und konnte mich nicht erinnern, wer ich war.

Ich konnte mir einfach kein Mädchen vorstellen, das ich sein konnte. Noch einmal ging ich die Traumszenen durch, wo ich meine dunkel behaarte Scheide betrachtete. Ich musste ein Mädchen sein, aber welches? War ich nicht männlich? Irgendwie musste meine Seele in dieser Nacht in einen weiblichen Körper gewandert sein, vielleicht den Körper getauscht haben? Ich hatte ja schon immer den Verdacht gehabt, dass das Leben nicht so war, wie es uns beigebracht wurde - aber gleich so krass?

Aber es war eindeutig dieses Schlafzimmer mit dem Holzbett in der Estancia Sara, Feuerland. Hier konnte es kein Mädchen geben. Wenn, dann musste ich in der Nacht mein Geschlecht umgewandelt haben. Oder es gab tatsächlich Parallelwelten.

Es dauerte noch eine ganze Zeit, bis ich langsam zu dem Schluss kam, dass ich Wilfried war und männlich. Einige Gedanken machte ich mir noch darüber, was ich wohl gemacht hätte, wenn ich tatsächlich eines Morgens aufgewacht und weiblich gewesen wär. Sofort nach Verlassen des Zimmers hätte ich enorme Probleme bekommen. Die Köchin. Ich hätte sofort zu der Köchin gehen müssen, ohne dass mich vorher jemand gesehen hätte. Zu gut kannte ich die chilenischen Arbeiter und wusste, wie sie unter sich über Frauen sprachen.

Ganz männlich war ich allerdings auch nicht geblieben. Noch über eine halbe Woche behielt ich ein für mich völlig ungewöhnlich intensives Körpergefühl. Wenn wir zu viert vorne im Pickup-Truck sassen und zum kleinen Stall fuhren, spürte ich meine enge Hose und jede Berührung darauf viel intensiver. Eine Frau musste Berührungen auf ihrer Haut intensiver spüren als ein Mann.

Es ging soweit, dass ich beim üblichen Schrubben mit der Bürste unter der Dusche auf einmal lauter rote Striemen über der Brust hatte - beim nächsten Mal war ich vorsichtiger. Noch eine Woche lang spürte ich die Bürste intensiver als normal.

Ende April kam die Zeit immer näher, wo ich mich wieder auf den Weg machen musste. Zehn Wochen hatte ich mit den chilenischen Arbeitern auf der Estancia Sara gelebt. Ich hatte mich ausruhen und ein wenig zu mir finden können. Darüber war ich sehr dankbar.

Doch ich wusste immer noch nicht, ob ich einen Brief an Viktoria schreiben sollte. Und wenn ja, was? Immer wieder nahm ich mir meinen Entwurf von Ecuador vor. Doch das einzige, was dabei herauskam, war, dass ich immer mehr Zeilen und Absätze strich und den kleinen Zettel am Ende wieder wegsteckte. Ich war mir immerhin schon soweit sicher, dass, wenn ich an Viktoria schreiben sollte, ich dies in dieser Gegend deutlich gesagt bekommen würde.

Ich war bei Viktoria in einem hellen Schlafzimmer mit Glaswänden. Unsere zwei oder drei Kinder waren aus irgendeinem Grund Tieflandindianer. Sie legte sich zu mir ins Bett und umarmte mich. Die Szene wurde plötzlich erotisch. Sehr schnell und sehr intensiv.

Ich wachte auf, hatte einen Orgasmus gehabt und hatte zum erstem Mal erotisch von Viktoria geträumt. Das gefiel mir überhaupt nicht. Nein, die realistischeren Träume gefielen mir besser. So schön es war, von Viktoria erotisch zu träumen - ich wollte etwas für das Leben lernen, Fragen lösen und nicht in einer wirklichkeitsfremden Traumwelt leben. Der Traum Tieflandindianer war zu weit gegangen.

Es blieb die Frage, ob ich ihr schreiben sollte. Oder war der Brief immer noch zu schlecht formuliert und ich sollte ihn nicht wegschicken? Sollte ich ihn einfach vergessen?

Am Abend des 1. Mai entschloss ich mich zu beten. Am nächsten Tag wollte ich nach Punta Arenas trampen.

Ein kleiner weisser Hund stand auf einer Ebene. Sah niedlich aus, bisschen struppiges Fell, sein Schwanz wedelte.

Eine Stimme sprach zu mir. Nicht direkt eine Stimme, sondern so wie ich es in Ecuador schon einmal erlebt hatte - Worte materialisierten sich in meinem Gehirn. Diesmal auf Deutsch. Auf der Estancia sprach ich viel mit den Tieren.

- Du siehst diesen Hund?

- Ja.

- Dieser Hund ist eine Beispielgeschichte.

Gemeint war Gleichnis. Ich weiss nicht, warum bei mir das Wort Beispielgeschichte rüberkam. Im nächsten Moment kam die Bedeutung des Gleichnisses völlig klar rüber.

- Verstehst du die Bedeutung?

- Ja, natürlich.

- Und?

- Ganzheitlichkeit. Die Bedeutung ist Ganzheitlichkeit. Ich muss lernen, die Dinge mehr ganzheitlich zu sehen. Wie diesen Hund - nicht nur separat Augen, Schnauze, Pfoten.

In der nächsten Szene hatte ich einige beschriebene Flächen vor mir und bekam die Aufgabe, Zahlen herauszuschreiben. Ich fing an mit der ersten Zeile.

1-2-3-4-5

5-6-7-8

8-9-10

10-11-13-14

12-15 -

- nee, nochmal.

Am Anfang schien es so leicht, doch am Ende schlichen sich immer mehr Fehler ein, bis ich es am Ende aufgeben musste. Ich versuchte es ein zweites Mal.

1 - 2 - 3 - 4 - 5

5 - 6 - 7 - 8

8 - 9 - 10

10 - 11 - 12 - 14 - 13

15 - 13 - 12

16

17

...

- hm, das is irgendwie, hm-

Es hatte nicht viel gebracht, die Zahlen noch übersichtlicher hinzuschreiben als ich es vorher getan hatte.

- Geh doch mal näher ran.

Ich ging noch näher heran und ordnete jeder Zahl nun ein Bild zu.

1 ( 2 ( 3 ( 4 ( 5 (

6 ( 7 ( 8 ( 9 ( 10(

11( 13( 15( 18( 20(

Immerhin, die ersten beiden Zeilen hatte ich richtig hinbekommen. Doch dann hatten sich wieder Fehler eingeschlichen. Da waren etliche Zahlen, die in der dritten Zeile nicht stimmen konnten.

- Noch näher.

Ich ging noch näher heran. Die Kästchen erschienen nun richtig gross, mit Motiven, wie kleine gerahmte Bilder.

- Gib den Ganzen mal Buchstaben.

Ich gab ihnen Buchstaben. In der letzten Szene des Traums ging ich ganz nahe an die zweite Zeile heran. In die sechs Kästchen der zweiten Reihe hatte ich geschrieben e - f- g - h - i - j.

Dann wachte ich auf. Es war nicht zu übersehen, da waren Dinge, die ich einfach nicht konnte und die ich noch lernen musste. Und möglicherweise hatte es was mit dem Begriff Ganzheitlichkeit zu tun. Einzelne Bestandteile zueinander zu sortieren und am Ende die Ganzheit zu erkennen. Den Anfang konnte ich vielleicht schon ganz gut. Aber ich hatte offenbar noch eine Menge Lektionen zu lernen.

Bis San Sebastián kam ich per Anhalter mit, lief dann die vierzehn Kilometer nach Chile zur Grenze und von dort nochmal zweiundzwanzig Kilometer, bis mich ein Auto nach Cullen mitnahm. Es war sehr kalt geworden in Feuerland. Ich liess den Ort Cullen auf der rechten Seite liegen, ging noch ein Stück die Strasse entlang und suchte mir in der Dämmerung bald eine Stelle zum Übernachten.

Das war ein Problem. Die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt und von Westen wehte ein eiskalter Wind. Die Schotterpiste führte durch eine grasbewachsene Landschaft flacher Hügel. Erst hatte ich gefürchtet, es könnte schneien, doch das Wetter stabilisierte sich und es klarte auf. Allerdings hatte das zur Folge, dass es noch kälter wurde. In dieser Gegend gab es meilenweit keine Bäume oder auch nur einen Felsen, wo ich mich vor dem eisigen Wind hätte schützen können. Am Rand der Strasse stand eine vollkommen verfallene Wellblechhütte. Ich ging noch ein Stück weiter und konnte noch genug sehen um zu erkennen, dass die Piste von hier ab kilometerweit ungeschützt durch eine völlig einsame Graslandschaft führte. Ich legte mich auf die windabgewandte Seite des Blechhaufens und zog mir sämtliche Kleidungsstücke an, die ich besass. Ich wagte mich kaum zu bewegen, aus Angst, irgendwo ungewollt ein Loch für die erbarmungslos eisige Luft zu öffnen.

Mehrmals in der Nach wachte ich auf, drehte mich vorsichtig um und schlief weiter.

Fussball. Ich stritt mich mit einem Mitspieler, ob es ein Tor war oder, wie ich meinte, nicht.

- Tor!

- War kein Tor!

- Doch, ganz klar, Tor.

- Nein, war daneben.

Viktoria kam hinzu.

- Tor oder nicht, das ist doch egal. Darum gehts doch gar nicht. Zwei zu eins.

Irgendwann wachte ich wieder auf und es war bereits hell. Ich wusste, dass ich jetzt aufstehen musste. Obwohl ich im Windschatten lag, hatte der eisige Wind meine Füsse einfrieren lassen und eine Schneeschicht über den Schlafsack geweht. Ich hätte die schweren Schuhe vielleicht im Schlafsack anlassen sollen.

Auch die Hände waren gefroren. Ich versuchte, die Finger wenigstens für fünf Minuten wieder im Bewegung zu bekommen. Keine Chance. Ich steckte sie in den Mund. Langsam tat sich etwas. Nach einer Viertelstunde hatte ich die Finger soweit, dass sie sich für wenige Sekunden bewegen liessen, bevor sie wieder zu Eis erstarrten. Das reichte aus, um die Schuhe zuzubinden und die Sachen zusammenzupacken. Nach einer halben Ewigkeit richtete ich mich auf, nahm Rucksack und Schlafsack auf den Rücken und ging mit vollkommen eingefrorenen Füssen los.

Ich musste sehr vorsichtig gehen, um mich nicht unbemerkt an den gefrorenen Füssen zu verletzen. Wie ein Anfänger setzte ich vorsichtig einen Fuss vor den anderen, und steltze die einsame Schotterpiste entlang. Na, wie lange dauerte es, bis die Füsse warm würden?

Lange. Nach zwei Kilometern begannen sie sich langsam zu melden. Erst nach einer guten Stunde waren sie aufgetaut. Als die Morgensonne aufgegangen war, kam auch bald das erste Auto.

Heute hatte ich mehr Glück mit dem Trampen und kam am Vormittag nach Bahía Azul, wo mich die Fähre als Tramper kostenlos auf den Kontinent mitnahm. Ein Truck fuhr mich bis Kimiri Aike. Er hielt kurz an. Eine kleine Herde Ñandus graste friedlich auf der Grassteppe.

34

Inspektor im Ausnahmezustand -

Río Grande, Feuerland

In einer Papierwarenhandlung in Punta Arenas kaufte ich mir ein neues kleines Notizbuch, denn nach fast zwei Jahren mein Tagebuch vollgeschrieben. Auf die erste des neuen Tagebuchs schrieb ich eine kleine Begebenheit mit Velázquez, bedeutsame Worte aus dem Waschraum der Estancia Sara.

- Weisst du, dass alle Fragen der Welt sich um drei grundlegende Fragen drehen. Die drei grundlegenden Fragen. Warum leben wir? Wohin gehen wir? Und wo kriegen wir den besten caballuno her? Die wichtigste Frage ist, selbstverständlich, die dritte.

- Claro. Weil ohne caballuno gehen wir nirgendwo hin.

- Genau.

Auf der zweiten Seite notierte ich einen Vers, den Norbert mir nach Feuerland geschrieben hatte.

To saddle down, find a girl... it's not easy.

But look at me, I am old, but I am happy.

So oder so ähnlich ist das.

So oder so ähnlich war das. Ich war am Ende der Welt und wusste nicht recht, was ich machen sollte. Viktoria einen Brief schreiben? Wenn überhaupt, dann nur von hier.

- Versuch ihr doch mal, einen Brief zu schreiben.

Ich begann, ihr einen Brief zu schreiben. Er wurde immer länger, bis ich am Ende selber einsah, dass es nicht gut wäre, ihr jetzt einen Brief zu schreiben. Es musste an meiner Entwicklung liegen. Es folgte eine Szene in einer Schule. Wir machten uns einen Spass, Kreidestückchen an die Tafel zu werfen. Spätestens nach neun oder zehn Mal wurde es alt - ich jedoch machte noch bis achtzehn weiter und merkte erst dann, wie peinlich ich mich verhielt.

Es musste an meiner Entwicklung liegen.

Ich nahm mir nochmal den Brief an Viktoria vor, stellte fest, dass ich fast sämtliche Absätze rausstreichen konnte und gab das Vorhaben auf. Wenn sie mich heiraten würde, würde sie es auch so - auch ohne dass ich ihr schrieb.

Selma und Antonio in Punta Arenas hatten nicht viele Bücher. Ich glaube, es waren nur drei. Darunter die Bibel und ein kleines Büchlein, dessen Autor ich nicht kannte.

Khalil Gibran: El profeta - der Prophet. Antiyal Verlag, Santiago de Chile 1986. Ich wusste nicht, dass der Autor aus dem Libanon kam und das zeitlose Buch 1923 verfasst hatte.

Eine Stadt irgendwo im Orient. Ein Prophet erwartet nach zwölf Jahren in der Fremde das Schiff, das ihn in seine Heimat zurückbringen soll. Bevor er die Stadt und seine Einwohner verlässt, befragen sie ihn noch ein letztes Mal zu den Dingen, die ihr Leben bewegen. Erzähl uns von der Liebe, der Ehe, von den Kindern, der Schönheit, dem Schmerz, der Zeit, vom Tod. Seine Antworten sind kurze Reden voll zeitloser Weisheit und Tiefe.

Die sprachliche Schönheit der kurzen und tiefgründigen Kapitel war faszinierend. Ich schrieb mir die Kapitel über Liebe und Ehe heraus. Das Kapitel über die Ehe begann mit einer interessanten Passage.

Nacisteis juntos y juntos permaneceréis para siempre.

An die zweite Person Plural musste ich mich erst gewöhnen, weil sie in Lateinamerika nicht verwendet wurde. Hier hatten die Zeilen den Beigeschmack einer katholischen Bibelsprache.

Ihr seid zusammen geboren und zusammen werdet ihr für immer bleiben.

Ihr werdet zusammen sein, wenn die weissen Flügel des Todes eure Tage scheiden.

Und auch in der stillen Erinnerung Gottes werdet ihr zusammen sein.

Nacisteis juntos y juntos permaneceréis para siempre. Wenn das so wäre, dann würde das bedeuten, dass schon vorher klar war, wer wen heiratete. Schon bei der Geburt eines Kindes wäre festgelegt, ob und wen es einmal heiraten würde.

Wie kam ein Philosoph wie Khalil Gibran auf solche Ideen? Gut, er schrieb nicht explizit hin, dass die Zukunft vorherbestimmt war. Dennoch, der Schritt zu dieser Schlussfolgerung war klein. Anders konnte der orientalische Denker wohl kaum verstanden werden. Ob er auch den Schluss zog, dass wir durch unser Handeln auf der Erde nichts mehr bewirken oder verändern konnten, was nicht schon unausweichlich festgelegt war?

Diese Gedanken deckten sich mit meinen eigenen letztes Jahr in Panamá, nach dem beeindruckenden Déjà-vu-Erlebnis auf dem Urwaldpfad bei Púcuru. Wenn die Zukunft acht Jahre vorherbestimmt war, dann war sie wohl auch achtzig Jahre vorherbestimmt.

In so einer Welt würde ich auch gar nicht leben wollen, hatte Viktoria gesagt, vor zehn Jahren in Lorscheid. Aber warum nicht? Auch daran konnte man sich gewöhnen. Dann war die Zukunft eben vorherbestimmt, und dennoch musste es einen Grund geben, warum wir hier lebten. Interessant und spannend war das Leben auch so - in der Regel wusste ja niemand, was da vorherbestimmt war.

Ich hatte immer darauf vertraut, dass ich Viktoria heiraten würde. Es war eine Art Gottvertrauen gewesen, eine Art nachtblinde Glaubensfrage, die vor allem deswegen eine so schwere Prüfung darstellte, weil der zugrunde liegende Gedanke, die Zukunft sei in unserer modernen Industriewelt vorherbestimmt, so vollkommen absurd klingen musste. Aber so dunkel schien die Nacht nicht mehr zu sein.

Alles war also vorherbestimmt. Die ganze Zukunft, jedes einzelne Detail, jede Sekunde.

Also gut. Auf diese Weise musste demnach schon bei meiner Geburt vorherbestimmt gewesen sein, dass ich am 11. Mai 1989 wieder aus Punta Arenas nach Norden trampen würde. Ebenfalls musste schon 1965 festgelegt gewesen sein, dass es vierundzwanzig Jahre später in Südamerika einmal orangefarbene Scania-Trucks mit Schnauze und gelben und braunen Streifen geben würde, von denen mich an diesem Tag einer bei der Abzweigung Posesión mitnehmen und bis Río Gallegos fahren würde.

Die vorherbestimmte Strecke dieses Trucks bei dieser Tour würde hinter Río Gallegos noch dreitausend Kilometer weiter nach Buenos Aires führen. Aber ich hatte ein gutes Gefühl, als ich schon in Río Gallegos ausstieg. Offensichtlich war es nicht vorherbestimmt, dass ich bereits mit diesem Truck nach Buenos Aires kommen würde.

Río Gallegos.

51,4° Süd, südlichste Stadt des argentinischen Festlandes.

Nächste Orte: Punta Arenas 230 km, Piedrabuena 235 km.

Soziale Situation: mittelmässig.

Einwohner: 100 000.

Vorherbestimmtes Ziel: rauskriegen, wo Makey wohnte.

Wenn ein Besuch bei Makey vorherbestimmt war, konnte es nicht schwer sein, ihn zu finden. Ich fragte einfach den nächstbesten Typen, den ich auf der Strasse traf, ob er wisse, wo Makey wohnte.

Makey? Ja, den kenn ich, das ist so n langer Dünner mit Bart, aber ich weiss nicht, wo der wohnt, antwortete er zu meiner völligen Überraschung, ich war absolut baff, aber ich kann dich zu jemandem bringen, der das weiss. Tatsächlich, es war wirklich kaum zu glauben. Den Kerl kannte hier wohl tatsächlich jeder.

Ich landete bei der Familie eines Dachdeckers, Juan Guala, der selber auch nicht genau wusste, wo Makey wohnte, mir aber anbot, bei ihm im Schuppen zu schlafen und am nächsten Tag mit ihm zur Arbeit zu gehen. Es war offenbar vorherbestimmt, dass sie morgen ein Dach decken würden.

Guala wusste genau, wo Makey wohnte, hatte aber nur keine Lust, mir das zu zeigen. Er war froh, wenn die vorherbestimmte Zukunft ihm eine weitere billige Hilfskraft beim Dachdecken zugespielt hatte.

Drei Tage später standen die argentinischen Präsidentschaftswahlen an. Hier bedurfte es keiner besonderen Hellsichtigkeit, wessen Wahlsieg hier unabwendbar vorherbestimmt war. Niemand bezweifelte, dass Carlos Menem der Nachfolger von Raúl Alfonsín werden würde.

Wie schön waren doch die guten alten Zeiten mit der Tagesschau. Die Nachrichtensendung von Canal 13 dauerte hier eine glatte Stunde, wurde ständig von vorherbestimmter Werbung unterbrochen und hatte praktisch null Informationswert. Aha, immerhin eine Meldung, Alfonsíns Kandidat Angeloz bekam seine vorherbestimmten zweiunddreissig Komma x Prozent - Carlos Menem hatte die Wahl gewonnen, mit siebenundvierzig Prozent der Stimmen. Viel änderte das auch nicht. Der vorherbestimmte Machtwechsel war sowieso erst in ein paar Monaten.

Ich bekomme Probleme mit der Druckkostenrechnung, wenn ich jetzt jedesmal dazuschreibe, dass alles bis ins letzte Detail vorherbestimmt war. Wir werden diese Hinweise in Zukunft also aus Platzgründen weglassen, was nicht bedeutet, dass (a) irgendetwas vielleicht doch nicht vorherbestimmt gewesen sein könnte und (b) wir uns damit dem Druck irgendeiner jeweils die Präsidentschaftswahlen verlierenden Parteien oder Kandidaten beugen würden, die uns und vor allem sich selbst Vorwürfe machen könnten, sie hätten sich das ganze Geld für den Wahlkampf auch sparen können.

So lebte ich also bei Gualas Familie im ärmsten Stadtviertel und arbeitete als Dachdecker. Mit alten Holzbalken vom Schrott, Spanplatten und Wellblech. Eine willkommene Abwechslung. Guala zahlte hin und wieder sogar ein paar Australes - zwar viel zu wenig, aber es war auch egal, denn die argentinische Währung verfiel mittlerweile alle paar Wochen auf die Hälfte ihres Wertes. Auch Menems Wahl schien da wenig zu helfen. Sie überlegten, ob sie den Machtwechsel nicht vorziehen sollten.

Eines Tages träumte ich davon, ich müsste nach Brasilien. Ich sah eine richtige Landkarte mit einigen Orten im nördlichen Südamerika. Dieser Traum würde für Brasilien sprechen, sinnierte ich, und malte mir die Landkarte ins Tagebuch. Ich hatte von Gerwin in Neustadt eine Adresse in Brasilien mitbekommen. An der Mündung des Amazonas. Vielleicht wäre das ein Ziel?

Makey lebte auf der Müllhalde in einer phantasievollen Holzhütte und sagte zwar, Typen wie Guala würden billige Arbeitskräfte ausnutzen. Doch so schlimm fand ich es auch nicht. Das Essen, das mir als Lohnarbeiter gestellt wurde, war okay und ich fand Zeit, einen langen Brief an Jochen zu schreiben. Eine Antwort auf seinen langen Brief nach Feuerland.

Jochen.

Jochen hatte eigentlich nie viel von mir gewusst. Wir hatten darin auch nie ein Problem gesehen. Doch nun, als er nach zweijährigem Dienst als Bundeswehr-Zeitsoldat seine Kriegsdienstverweigerung durchbekommen hatte, hatte er sich zu fragen begonnen, warum ich nie versucht hatte, ihn angesichts meiner pazifistischen Standpunkte zu beeinflussen. Das war richtig, das hatte ich tatsächlich nie.

Ich schrieb ihm von meinen Gedanken, die ich mir um eine vorherbestimmte Zukuft machte.

Am Anfang dachte ich, daß vielleicht nur ich selber existiere und die anderen nur sowas wie Teil eines unheimlich gut inszenierten Films sind.

Jochen würde mir auf diese Zeilen ein halbes Jahr später antworten, er habe früher genauso gedacht. Und wie ich hatte auch er die Film-Theorie nicht lange aufrecht erhalten. Mit dem Gedanken, dass wir eine exakt festgelegte Zukunft hatten, wollte ich mich nicht so recht anfreunden. Irgendetwas schien schon vorprogrammiert zu sein - aber wirklich jede einzelne Sekunde?

Ich glaube nicht, daß wir eine vorprogrammierte Zukunft haben. Es geht vielmehr in die Richtung, daß jede/r von uns vielleicht eine Art vorprogrammierte Ideal-Zukunft hat, und je nachdem wie weit wir dieser vorprogrammierten Ideal-Zukunft nahe kommen, desto besser ist das für uns.

Wenn das zutraf, dann hätte ich die Frage, ob ich Viktoria heiraten würde oder nicht, letztlich selbst in der Hand. Langsam begann ein Verdacht zu keimen, dass ich den Weg dieser Ideal-Zukunft bereits in Neustadt verlassen hatte. Beispielsweise dadurch, dass ich ihr ungefragt Briefe geschrieben hatte, noch vor wenigen Jahren, als schon lange kein Kontakt mehr bestand. Briefe, die ihr unangenehm gewesen sein könnten, und wenn es nur Glückwünsche zum Geburtstag waren.

Ich vermutete bald, dass ich dadurch an der Zukunftsschraube gedreht und mich sozusagen in eine Parallelwelt hineinmanövriert hatte. Eine Parallelwelt, in der ich vielleicht doch nicht mehr Viktoria heiraten würde?

Ich kam nicht weiter und ich könnte mich genausogut auch mit anderen, sinnvolleren Themen beschäftigen. Das Tagesgeschehen in der Welt hatte so viel zu bieten. So endete der Brief am 18. Mai mit den denkwürdigen Worten:

Und wieder 20.00 Uhr, und wieder die "Nachrichten"-Sendung Kanal 13 informiert, du kennst sie schon, heute: Gorbatshov besucht die chinesische Mauer, Maradona ist Europameister, die dramatische Geschichte des Jungen, der (vor 2 Jahren) durch eine Lungentransplantation wundersam gerettet wurde, der Papst ist 69 Jahre alt und Gabriela Sabatini hat - ja - sie hat endlich einen Freund!

Neben den philosophischen Fragen beschäftigte mich vor allem, wohin mich mein Weg in den nächsten Monaten führen sollte. Und das war schwer genug rauszukriegen. In Feuerland war ich gewesen. Wohin jetzt? Brasilien?? So wie es die Landkarte aus dem Traum angedeutet hatte?

Zu manchen Zeiten war das Leben sehr intensiv, jeden Tag passierten bedeutsame Ereignisse. Wie in jenen Tagen vor dem 6. Mai 1980. Auch jetzt war so eine Zeit. Inzwischen wusste ich, ich war nach Südamerika gekommen, um mich zu verändern. Die nächste Frage, die sich hier in Río Gallegos bald fast von alleine stellte, war die, ob ich nicht doch mit einer Frau schlafen sollte, die ich nicht heiraten würde. Lina war damals vehement dagegen gewesen, und ich bis jetzt eigentlich auch.

Wenig Gedanken hatte ich mir darüber gemacht, wie Viktoria sich vorgekommen wäre, wenn sie erfahren hätte, dass ich eigens für sie noch mit keiner Frau geschlafen hatte. Vor allem, wenn es, wie bei mir, weniger um Gefühle als um die reine Lehre zu gehen schien. Ich hatte mir nur Gedanken um die reine Lehre gemacht. Abstinenz galt als Tugend. Sie half bei der Suche nach Gott. Wurde gesagt. Stimmte vielleicht auch. Zumindest eine Zeitlang. Oder war die Sache komplizierter? War es unter bestimmten Umständen doch erlaubt, mit einer Frau zu schlafen und nicht nach der reinen Lehre zu leben?

Gott im Gebet persönlich eine solche Frage zu stellen war immer eine sichere Methode. Eines Abends entschloss ich mich dazu.

In der folgenden Nacht bekam ich im Traum einen Satz gesagt, der die Frage vollkommen zufriedenstellend beantwortete.

Es ist nicht schwer. Wenn ich wirklich gut bin oder werden will, dann ist alles erlaubt und die Sache offen, aber nach der Zeit werde ich gut sein, und dann ist es egal ob die Sache zu oder verboten ist.

Den Satz schrieb ich unmittelbar nach dem Aufwachen auf. Die Erinnerung an die Details des Traums verflog bereits wenige Momente später.

Der Satz war bemerkenswert. Er gab grammatisch kaum Sinn. Der Sinn, der völlig klar und verständlich rüberkam, schien eher in einer sprachunabhängigen Komponente zu liegen. Das Problem, ob es mir gut täte, mit einer Frau zu schlafen oder nicht, würde sich mit der Zeit automatisch nicht mehr ergeben. Mit anderen Worten, selbst wenn ich mit einer Frau schlafen wollte, würde ich es nicht wollen.

Bemerkenswert auch, dass der Satz in der Ich-Form formuliert war. Die Antwort hatte ich mir selber gegeben. Wer auch immer ich war.

Und noch eines war deutlich geworden. Ich hatte mit der Zeit gelernt, mehr als nur ja/nein-Antworten zu bekommen.

Am Nachmittag nach der Arbeit auf den Dächern ging ich in die Innenstadt und wollte mir im Touristenbüro einen Stadtplan organisieren. Doch das Personal im Touristenbüro war im Streik und ich lernte einen Künstler kennen, José Francisco Velázquez, der nebenan eine kleine Werkstadt hatte und mit Leder arbeitete. Er bewunderte meine Ledertaschen, die ich mir in Kolumbien genäht hatte und gab mir für eventuelle Reparaturen meines Rucksacks einen besonderen Garn für Lederarbeiten mit.

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Río Gallegos, Innenstadt in der Dämmerung mit Blick ins Hinterland. Foto von einer Postkarte, 1988.

José Francisco fertigte hauptsächlich Souvenirs für Touristen an. Momentan lebte er davon, dass im Touristenbüro gestreikt wurde und die Leute alle zu ihm in den Laden kamen und sich erkundigten, was los war. So auch zwei junge sympatische Leute aus Buenos Aires.

Eine Italienerin und ihr japanischer Freund. Ihnen war in Bahía Blanca ziemlich viel Geld geklaut worden. Sie wollten nach Feuerland und hatten kein Geld mehr, um den Flug zu bezahlen. Wenn mir in Südamerika Leute mit solchen Geschichten kamen, versuchte ich erst einmal zu prüfen, wie fundiert die Stories waren.

- Warum fahrt ihr nicht per Anhalter? Die Trucker sind so nett in dieser Gegend, die nehmen euch bestimmt mit. Das Trampen in dieser Gegend bringt richtig Spass.

- Nein, che, über die Strasse können wir nicht nach Feuerland, das geht nicht.

- Natürlich könnt ihr per Anhalter fahren, da ist recht viel Verkehr. Hier nimmt dich jeder mit! Die freuen sich alle über eine Begleitung. Hier ist doch nichts los sonst.

- Nein, che, es geht nicht, weil sie zwanzig ist und erst in vier Monaten einundzwanzig wird, und sie darf noch nicht alleine ins Ausland. Wir müssten doch in Monte Aymond über die Grenze nach Chile, und da werden sie uns nicht rüberlassen, weil sie nicht in Begleitung ihrer Eltern ist.

Das mit dem che kannte ich schon lange. In Argentinien sagten sie nach jedem dritten Satz che. In der Sprache der Mapuches hiess che Mensch. Es sei schon seit über hundert Jahren eine argentinische Eigenart, stand in einem Lexikon. In Mexico und Mittelamerika sagten sie hombre (Mann/Mensch), in Kolumbien hermano (Bruder).

Was als eine harmlose misstrauische Prüfung ihrer Aussage begonnen hatte, entpuppte sich jedoch schon bald als der Beginn einer bizarren Geschichte.

- Ach was, das kann doch nicht sein. Ihr könnt doch nach Feuerland, das ist doch Argentinien.

- Doch, das ist so, che. Sie bräuchte eine notariell beglaubigte Erlaubnis ihres Vaters, mit Stempel der Gemeinde, in der sie wohnt. Und die hat sie nicht.

- Weisst du, wir sind von Buenos Aires abgehauen, weil wir uns verliebt haben und die haben uns das Leben unmöglich gemacht. Weil er doch von der japanischen Gemeinde ist und ich bin von der italienischen. Mich wollten meine Eltern mit einem Italiener verheiraten.

- Was, echt ?

- Ja, und an dem Tag, an dem das passieren sollte, haben wir uns entschlossen, einfach zusammen abzuhauen.

- Was, das glaub ich nicht, dass es sowas hier noch gibt. Das klingt ja verrückt. Wo kommt ihr denn her, Buenos Aires? Aus der Stadt?

- Ja, aus einem Vorort der Hauptstadt.

Das musste in Argentinien immer extra gefragt werden, wenn Buenos Aires erwähnt wurde. Es konnte die Hauptstadt oder die Provinz gemeint sein. Die Provinz Buenos Aires war eine Region südlich der Hauptstadt, die halb so gross wie Deutschland war und in der halb Argentinien wohnte. Von daher war die Angabe Buenos Aires immer etwas schwammig. Ich hatte mir bei der Hauptstadt Buenos Aires bis jetzt immer eine moderne westliche Millionenstadt vorgestellt.

- Aber du wirst doch selber entscheiden dürfen, mit wem du zusammen sein willst und wen du heiraten willst. Es gibt doch sowas wie - das Selbstbestimmungsrecht der Persönlichkeit, oder das Recht auf -

- Ja, che, wie denkst du, wie das läuft? Ich bin zwanzig! Die entscheiden das, ich hab da nicht mitzureden.

- Hm. Das ist ja cool. Und wie ist das bei den Japanern? Wollten sie auf dich auch Druck ausüben?

- Als sie erfuhren, dass ich mit einer Italienerin zusammen war, haben sie mir zweimal eine Japanerin zum Heiraten angeboten. Danach haben sie mich von meiner Arbeitsstelle entlassen.

- Und wo hast du gearbeitet?

- In einem Supermarkt.

Als Warenhausdetektiv hatte er dort gearbeitet, er konnte nebenbei alle asiatischen Kampfsportarten. Sah man ihm gar nicht an.

- Aber warum, irgendwo seid ihr doch beide Argentinier. Man kann doch auch mal zwischen den Rassen heiraten. In anderen Ländern ist das ganz normal.

- Ja, aber nicht hier in Argentinien, che. Das ist das schlechte hier an diesem Land! Die Argentinier halten nicht zusammen, weisst du. Hier lebt nur jede Gemeinde für sich. Die Italiener leben unter sich, die Deutschen, die Japaner, die Basken - alle leben nur unter sich, das Land ist hier nur eine Ansammlung von Kolonien, die alle in ihre eigene Tasche wirtschaften. Das ist schlecht, aber das ist so. Dazwischen heiraten wird nicht akzeptiert. Naja, manchmal gibts das schon, und wenn ich sie geheiratet hätte, das hätten einige auch stillschweigend akzeptiert. Aber einfach so zusammenleben, das ist noch viel schlimmer. Ausserdem ist Claudia grösser als ich, darüber haben sie sich auch tierisch aufgeregt.

- Was, bist du echt grösser als er?

- Na klar bin ich grösser als er! Er steht nur auf der Treppe. Hier, che, stell dich mal hier hin, Leo.

Es stimmte, Claudia war grösser.

- Aber das ist doch vollkommen egal wer grösser ist, darum kanns ja wohl nicht im Ernst gehen.

- Ha! Was denkst du, was da los war!

- Was - und die hatten echt schon alles angesetzt, um dich mit diesem Italiener zu verheiraten?

- Ja, das war alles fertig. Ich hab am Morgen meine Oma angerufen und gesagt, dass ich nicht komme.

- Und was hat die gesagt?

- Sie wusste das schon, oder sie hats geahnt. Sie sagte, dass ich mich jetzt zuhause nicht mehr blicken lassen kann. Aber ich versteh mich ganz gut mit ihr. Sie hat mich nochmal heimlich reingelassen, damit ich meine Sachen holen konnte.

- Haben die dich eigentlich nicht gefragt, ob du den Italiener auch wirklich heiraten willst? Ich mein, nur mal so, interessehalber.

- Das war etwa ein oder zwei Jahre nach unserer Geburt von den beiden Familienclans abgemacht worden. Alles hatten sie von Anfang an so eingefädelt. Es war richtig auffällig. Ich wollte es immer rauszögern. Aber sie akzeptierten nicht, dass ich über einundzwanzig wär und noch nicht verheiratet. Ja, klar, che, sie wussten, dass sie es gegen meinen Willen machen. Wenn Leo nicht gewesen wär, hätte ich es auch gemacht. Naja, das ist jetzt sechs Tage her.

Sie schauten sich an.

- Nein, fünf Tage. Erst sind wir nach Bariloche, mit dem Zug, dann nach Bahía Blanca...

Das mit der vorprogrammierten Zukunft schienen einige in diesem Land anders zu verstehen. Erstaunlich war vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden die Details aus der Geschichte erzählten. Ich sah zur Sicherheit nochmal auf den nächstbesten Kalender. Tatsächlich: 1989. Stand da drauf. Im Reisebüro. Das musste stimmen. Die mussten pünktlich sein. Zumindest soweit.

- Ja, dann ist mir klar, dass du diese Erlaubnis von deinem Vater nicht kriegen wirst.

- Erst wenn ich einundzwanzig bin, darf ich gegen den Willen meines Vaters über die Grenze.

- Aber du willst doch nur nach Feuerland! Das ist doch argentinisch! Was ist denn das für ein komisches Land hier!?

- Das macht nichts, che, Grenze ist Grenze. Mit den Scheiss-Grenz-milicos ist da nichts zu handeln. Wieso wundert dich das so? Ist das in Europa anders? Kannst du da einfach ohne Erlaubnis ins Ausland, wenn du noch nicht einundzwanzig bist?

- Ja, das wär ja noch schöner, wenn die da so drauf wären. In Deutschland bist du mit achtzehn volljährig, aber che, auch vorher darfst du doch schon alleine über die Grenzen. Jedenfalls musst du nicht erst dick aufs Rathaus, wenn du sechzehn bist und mal nach Österreich willst!

- Hier musst du zum Notar und zur Gemeinde - mit deinem Vater, der muss persönlich anwesend sein, che. Sonst ist nix mit Österreich. Einmal wollte ich nach Paraguay, die hätten mich da nicht rübergelassen, wenn wir diesen Zettel nicht gefunden hätten.

- Warum wollt ihr eigentlich nach Feuerland? Ich mein, was treibt euch dahin? Einfach nur weit weg zu sein? So weit wie möglich weg von Buenos Aires?

- Naja, vielleicht auch das. Ein Onkel von mir wohnt in Río Grande, da werden wir erstmal bleiben. Hoffe ich zumindest.

Geld für den Flug hatten sie schon noch, aber nur Kanada-Dollars, und die konnten sie hier nicht eintauschen. In Buenos Aires waren die Kurse beim Kanada-Dollar wesentlich günstiger als beim US-Dollar, wo die Spannen teilweise enorm waren. Ankauf 650 Austral, Verkauf 240 Austral war bei der stark gefragten US-Währung nicht ungewöhnlich. In Patagonien schienen sie eher auf chilenische Pesos auszuweichen, wenn sie einen Geldbetrag eine Woche halten wollten, Kanada-Dollars waren offenbar unüblich.

- Die hier im Reisebüro haben sogar gedacht, das wär gefälscht oder sowas, weil da eine Frau auf dem Geldschein ist.

- Eine Frau? Auf den kanadischen Geldscheinen? Was denn für eine Frau? Zeig mal her.

Nun, welche Frau war auf den kanadischen Geldscheinen?

- Oh, denen fehlt ganz augenscheinlich der nötige Respekt vor der Königin von England!

- Ja.

- Wieso wundert die das, sind auf den ganzen argentinischen Scheinen, die alle paar Jahre mit neuen Motiven rauskommen, nicht auch mal Frauen drauf?

- Auf den argentinischen Scheinen sind doch immer nur irgendwelche bescheuerten Militärs drauf, auf was anderes kommen die hier doch nicht. Uns hat das sehr gewundert, dass die hier den Kanada-Dollar nicht kennen. In Buenos Aires geht das immer ohne Probleme.

- Ja, aber das hier ist nicht Buenos Aires, che. In den meisten Gegenden wissen sie nicht mal, das es andere westliche Währungen gibt ausser US-Dollar. Na, was ist die Währung von Deutschland?

- Was, Deutschland? Was war das noch, Franco, Corona..., nein, Marco war es, genau, Marco Alemán.

- Ha, ihr wisst das sogar! Die meisten Leute sagen nämlich Dollar.

- Genau, wir wissen das. So, und wissen die in Deutschland auch, was die Währung von Argentinien ist?

- Welche? Die von diesem Jahr oder die vom letzten?

- Stimmt, den Austral gibt es ja erst seit einem halben Jahr, davor waren es die Pesos. Che, was war der Austral am Anfang noch wert. Und jetzt... -

- Hier im Reisebüro tauschen sie das bestimmt nicht. Warum geht ihr nicht mal zur Bank?

- Ja, waren wir schon, das hat nichts gebracht, das ist ja unser Problem. Dort sagen sie, sie wissen den aktuellen Kurs nicht.

- Ach was, die sollen sich nicht anstellen, die rufen einmal bei ihrer dummen Bankzentrale in Buenos Aires an und dann haben sie den Kurs!

- Ja, aber das geht nicht, überleg doch mal, die Telefone sind doch kaputt.

- Was - ?

- Ja, denk doch mal nach. Seit zwei Tagen kann man hier doch nicht mehr nach Norden telefonieren.

- Was - ??

- Weisst du das echt nicht?

- Nein, ich weiss das echt nicht. Erzählt doch mal.

- Che, du bist der erste, den wir hier treffen, der das nicht weiss! Die Telefongesellschaft streikt doch seit vier Wochen, weil sie denen die Löhne nicht gezahlt haben, und die Inflation so hoch ist, und die keine Zinsen kriegen. Und jetzt ist da was an der Leitung kaputtgegangen, und keiner ist da, der es repariert.

Ich wusste, dass die Lehrer seit Monaten streikten und die Schulen alle geschlossen waren, weil auch dort keine Löhne mehr gezahlt wurden. Ich bezahlte ihnen den Flug in US-Dollar und chilenischen Pesos und sie gaben mir sechs Kanada-Dollar. Der aktuelle US-Dollarkurs wurde inzwischen alle zwei Stunden im Radio durchgesagt, was immer so ziemlich die wichtigste Meldung war.

- Und du? Wo willst du eigentlich hin?

- In paar Tagen wollte ich nochmal nach Punta Arenas, danach nochmal nach Feuerland.

- He, wir können dir unsere Adresse in Río Grande geben.

- Ja, du musst uns unbedingt mal besuchen, wenn du da bist! Wann kommst du denn nach Feuerland?

- So in zwei Wochen. Vorher will ich noch auf der einen Estancia vorbeischauen, auf der ich gewesen bin. Die ist in der Nähe von Río Grande.

Ich verabschiedete mich von den beiden und stellte mir am Abend vor dem Einschlafen die Frage, ob ich doch noch nicht nach Buenos Aires sollte.

In dieser Nacht träumte ich wieder mit Landkarten, was praktisch war, denn so wusste ich genau, wo der Traum spielte. Heute: auf der Panamericana zwischen Monte Aymond und Kimiri Aike, wobei ich die Strasse in Richtung Kimiri Aike entlanglief. Perfekter Service. Also nochmal nach Süden.

Nicht ganz perfekt, denn erst bei Kimiri Aike würden sich die Strassen nach Punta Arenas und Feuerland gabeln. Nett war die letzte Szene des Traums, in der ich in ein Haus eingeladen worden war und mein Blick sich zum Schluss auf einen kleinen beschrifteten Stein in einem Regal richtete. Auf dem Stein stand in spanischer Sprache:

Gott vertraut in Liebe und wünscht gute Reise.

Die Zeit der Gebete war damit zuende - bald war ich wieder auf mich selbst gestellt. Schade, dass ich den ganzen Rest, was ich noch alles im Leben lernen sollte, nicht einfach auch Gott fragen und einfach ganz schnell lernen konnte. Ich hatte noch ein paar weitere Träume in Río Gallegos, in denen mir vorgeführt wurde, wie wenig perfekt ich war und wieviel ich noch dazuzulernen hatte.

Vor allem hatte ich eine ziemlich negative Einstellung zum Thema Verlieben. Vielleicht stand mir das im Weg? Was Liebe war, hatte ich tatsächlich nie gelernt. Aber wie konnte ich dann Viktoria lieben? Ich kam zu dem Schluss, dass ich vielleicht noch lange brauchen würde, bis ich soweit wäre, ihr einen Brief schreiben zu können.

Ende Mai brach die argentinische Wirtschaft endgültig zusammen und Gualas Leute konnten nicht weiterarbeiten. Ich machte mich auf den Weg nach Süden, lief zwanzig Kilometer an der Panamericana entlang und wurde hinter Monte Aymond überraschend von einem Reisebus mitgenommen. Er fuhr mich zweihundert Kilometer direkt nach Punta Arenas.

Ich blieb ein paar Nächte bei Selma und Antonio, bevor ich noch einmal über die Panamericana - also den langen Umweg über Bahía Azul - zur Estancia Sara trampte. Zehnmal Umsteigen und ich war in einem Tag dort.

Am nächsten Tag brach ich am Morgen nach dem Frühstück nach Río Grande auf. Oh, dieses wundervolle Frühstück auf der Estancia. Für den Rest des Lebens hätte ich asado de carnero frühstücken können.

Río Grande. Alles, was ich hatte, war ein Zettel mit einer Adresse. Cabo De Hornos, mit einer Nummer.

(Text formuliert 1994)

Ein Pick-up von der YPF fährt mich nach Río Grande rein, morgens, Viertel vor elf, und lässt mich bei der Islas Malvinas Ecke Viedma raus. Ich soll mich mal durchfragen, wo die Cabo de Hornos ist.

Die argentinischen Strassennamen sind einfallslos, die Namen wiederholen sich in jeder Stadt. Kommen wie es scheint von irgendeiner zentralen Militär-Liste. Sie sind selten an der Gegend oder der Natur ausgerichtet, sondern meist nach irgendwelchem Militärkram. Entweder irgendwelche Generäle (wie Belgrano, San Martín, Rivadavia oder Viedma oder wie sie alle heissen), oder Gebiete, die oft gar nicht zu Argentinien gehören, auf die die Militärs aber Anspruch erheben, wie das Kap Horn (Cabo de Hornos), das chilenisch ist, oder die Islas Malvinas (Falkland-Inseln), die britisch sind, oder die Antártida Argentina, die den Pinguinen gehört.

Die Cabo de Hornos sei in der Chacra dos, meinte der Fahrer, der sich aber auch nicht so gut auskannte. Chacra 2, das ist das Neubauviertel im Norden von Río Grande. Feuerlands Hauptstadt hat vielleicht dreissigtausend Einwohner.

Die Islas Malvinas ist die Ruta tres, also die Panamericana, geht im Westen nach Ushuaia raus und sie teilt das Zentrum im Süden von der Chacra 2 im Norden ab.

Mist, ist das mies organisiert hier, überall irgendwelche Neubaublocks, wie leergefegt, und kaum ein Schild an den Strassen... ah, da hinten, ein Taxistand. Mal fragen.

"Entschuldigen Sie, ich suche die ...- Cabo de Hornos, Nummer - C S eins -"

"Wo willst du denn hin, zeig mal her... ach, das, ja, dahinten ist das, ungefähr sieben Blocks weiter, links rein, und nochmal links... was du suchst, ist ein hellblaues Haus."

Erstmal merke ich mir den Strassennamen hier vom Taxi-Stand: Santa Rosa. Gut, und jetzt sieben Blocks weiter... sieht alles ziemlich gleich aus hier... und jetzt eine Querstrasse links... hellblaue Häuser gibt es hier überall... Links. Meinte er jetzt diese oder diese hier... Jetzt such ich schon zwanzig Minuten nach dieser dummen -

"Hey, warte mal, kannst du mir sagen, ob das hier die Cabo de Hornos ist?", frage ich einen Blonden, der mir gerade dahinten um die Ecke entwischen wollte.

Er weiss es auch nicht so genau, ist auch nicht von hier, wir kommen ein wenig ins Gespräch.

"Deutscher bist du? - Ich habe doch auch deutsche Vorfahren! Ich heisse Hormann. Omar Hormann. Ich wohne in einem Haus da hinten an der Aeroposta, ein gelbes Haus."

Ich soll heute Nachmittag mal vorbeikommen. Gut, mach ich gerne, aber erstmal Claudia und Leo finden.

Zwölf Uhr. Endlich hab ich dieses Haus in der Cabo de Hornos gefunden. So, jetzt wird's spannend. Dingdong.

Ihre Tante ist da. Sie ist alleine.

"Ach, die Claudia? Ja, vor paar Tagen müssen die mal hier gewesen sein, da war mein Mann hier, der hat die wohl einmal übernachten lassen hier. Ich weiss da nichts von, ich war nicht da..."

"Und wo könnten die beiden jetzt sein?"

"Das weiss ich nicht, mein Mann wüsste das vielleicht, aber der ist jetzt nicht da. Wenn du glaubst, du könntest hier übernachten, dann sag ich dir gleich, dass das nicht geht hier."

"Nein, nein, ich bin nur auf der Durchreise. Ich würde nur gerne wissen, was aus den beiden geworden ist und ob sie noch in Río Grande sind."

"Ja, ich weiss von nichts, wir haben seitdem nichts wieder gehört. Du kannst es ja mal beim Radio oder beim Fernsehen versuchen."

"Naja, dankeschön jedenfalls für die Auskunft."

"Ja, tut mir leid, aber du siehst ja, ich muss wieder an die -"

"Ja, aber natürlich. Auf wiedersehen, Frau Andreotti."

Tür zu, tschüss.

Ach, so eine Scheisse. Übernachten kann ich jederzeit auch auf der Estancia. Ich kann auch gleich nach Brasilien. Mich würde aber schon interessieren, was aus den beiden geworden ist.

Na gut, aber es ist eine Spur. Die waren tatsächlich hier. Hm. So gross ist die Stadt auch nicht. Es müsste doch möglich sein, die trotzdem zu finden, wenn sie noch hier sind... ich kann es zumindest mal versuchen.

Ich wollte schon immer mal Privatdetektiv sein. Jetzt hab ich die Chance dazu. Ausgerechnet in Feuerland. Inspector Columbo.

Gut, erste Handlung: Zusehen, dass ich unauffälliger aussehe. Mit Rucksack und Schlafsack auf dem Rücken, das ist wirklich schlecht. Vielleicht kann ich den bei Omar lassen.

Also zur Aeroposta, zu der Wohnung von Omar Hormann. Gelbes Haus, das hier könnte es sein. Ein Typ ist da.

"Ist Omar gar nicht da?"

"Omar? Nein, der war heute noch nicht hier... wieso, was willst du von ihm?"

"Ich habe ihn vorhin getroffen, und er meinte, dass er kommen wollte und dass ich ihn hier treffen sollte."

"Du hast ihn getroffen? Was hatte er denn an?"

"Na, seinen blauen Anorak natürlich, bei der Kälte. Ach, dann kommt er wohl gleich noch. Ich bin Deutscher, weisst du, Ausländer. Bin erst gerade hier angekommen, und wollte bei ihm meine Sachen lassen, für paar Stunden. Ich muss kurz noch in die Stadt."

"Ach so, deine Sachen hierlassen, ja, das ist bestimmt kein Problem. Stell sie hier hin. Du kommst ja heute Nachmittag wieder."

"Ja, klar. Er sagt, er kommt ja spätestens am Nachmittag."

"Ja, tschüss bis dann."

Gut, die Sachen sind sicher. So, was mach ich jetzt.

Erst mal schaun, ob ich in meinem Notizbuch noch irgendwelche Adressen von Río Grande habe. Als Tramper schnappt man immer lauter Adressen auf. - Oh, da, tatsächlich, die von diesem Ringo, den ich mal vor vier Monaten beim Trampen getroffen hatte, das ist in der Rosales, das hörte sich aber nicht sehr solide an... und hier steht die von Eusebio, der wohnt in der Fagnano.

Ach ja, und stimmt ja, hier, der Künstler aus Río Gallegos, José Francisco, der hatte mir ja die Adresse von diesem Dichter Julio Leite gegeben, der ihm noch ein Schachspiel schuldet. Warte mal, José Francisco hatten Claudia und Leo doch auch gekannt, vielleicht hat er denen ja dieselbe Adresse gegeben... Julio Leite, da muss ich unbedingt hin.

Sargento Cabral heisst die Strasse. Am besten, ich gehe zum Taxi-Stand und frage die wieder, wo das ist. Santa Rosa war das, also hier die Cabo de Hornos runter. Tatsächlich, hier ist er, der Taxistand.

"Na, hast du's immer noch nicht gefunden?"

"Doch, das ist erledigt, aber ich brauche jetzt eine andere, die heisst Sargento Cabral."

"Uii, du bist nicht schlecht. Du wirst immer besser, che. Das ist wirklich eine von den ganz komplizierten. Das ist 'ne Nebenstrasse."

"Ja, ich bin hier der Taxifahrer-Tester. Ich werde dafür bezahlt."

"Pass gut auf, du musst jetzt ins Zentrum, über die Islas Malvinas, und dann ..."

Diesmal hatte er es sehr gut beschrieben. Um eins bin ich bei dem Mietshaus in der Sargento Cabral. Ich treffe eine Nachbarin, die mir bestätigt, dass das hier die Wohnung von Leite ist, zur Zeit ist aber leider niemand da.

"Wissen Sie, wo Julio Leite arbeitet?"

"Genau weiss ich's nicht, aber du kannst es mal bei der Municipalidad versuchen."

Das muss das Rathaus sein.

"Wie komm ich denn da am schnellsten hin von hier?"

"Ach, das ist ganz einfach. Du gehst einfach die San Martín runter, und wenn du über die Belgrano bist, fragst du nochmal jemanden."

San Martín runter, Belgrano... hätt ich mir denken können.

Ich sammel Militärs. Bald hab ich sie hier alle beieinander. Diese Strassennamen wiederholen sich wirklich in jedem Ort. Mal schauen, wo hier die Rivadavia und die Piedrabuena sind... ach nein, das gibt es doch nicht, die sind ja tatsächlich hier alle, eine Querstrasse nach der anderen.

Als guter Detektiv muss ich mir erstmal einen Stadtplan machen. Das geht ganz schnell. Karo-Papier hab ich dabei. Es ist alles ganz schachbrettartig angeordnet in Río Grande. Wie überall. Man weiss nur immer vorher nicht, auf welche Linie man Belgrano, San Martín oder Rivadavia schreiben soll.

[pic]

Es ist alles ganz schachbrettartig angeordnet in Río Grande. Blick über die Innenstadt nach Süden. Links die San Martín, rechts die Perito Moreno. Der Fluss Río Grande mündet etwa in der Bildmitte in den Atlantik. Foto von einer Postkarte, 1988.

Halb zwei. Ich klopfe an eine bestimmte Tür im ersten Stock der Casa de Cultura an (gehört zum Rathaus), wo ich eben die freudige Entdeckung machte, dass sie hier zwei Türen weiter sogar ein sauberes Klo mit warmem Wasser haben!

Das hatte ich mir auch redlich verdient. Immerhin habe ich sechs verschiedene Leute in drei verschiedenen Häusern Löcher in den Bauch gefragt, und das Ergebnis, dass das hier Julio Leites Zimmer ist, kann sich sehen lassen.

"Julio Leite? Ja, das ist hier sein Zimmer, das ist richtig... er war bis um neun hier. Heute nachmittag ist er vielleicht nochmal hier. Ist es denn dringend?"

"Ja, das ist nichts Dienstliches, wissen Sie, ich bin ein Freund von ihm, und er sagte mir, er wäre hier und ich sollte unbedingt versuchen, ihn hier irgendwo zu erreichen, und ich solle seine Kollegin fragen."

"Ach so, ich dachte, das war dienstlich."

"Nein nein, das ist es bestimmt nicht."

"Ja, aber ich weiss auch nicht, wo er jetzt ist. Das tut mir jetzt leid... Vielleicht ist er im Haupthaus... geh mal zum Haupthaus, vielleicht können die dir weiterhelfen. Also ich würde es beim Haupthaus versuchen, wenn ich ihn jetzt kriegen wollte."

"Ich versuch das mal. Und besten Dank!"

Mehr war beim besten Willen nicht drin. Alles, was sie wusste, hab ich aus ihr rausgeholt.

So, ab zum Haupthaus.

"Julio Leite? Ja, der war hier, der ist wohl zum Holzhacken, frag am besten mal in der Casa de Financias nach. Das ist gleich hier um die Ecke, das Haus."

Casa de Financias. Eine Ecke weiter. Der vierte Typ weiss Bescheid.

"Julio Leite? Ja, der ist mit denen da zum Holzhacken rausgefahren, der ist jetzt erstmal weg. Pass auf, ich sag dir, wie du den erreichen kannst. Um fünf ist hier eine Auszahlung, hier im Foyer, da kommen alle, die Geld haben wollen. Da kommt Julio Leite auch. Du kommst um fünf hier her, und fragst dich einfach durch. Den kennt jeder."

Gut. Halb drei ist es inzwischen. Noch weiss ich auch nicht, wo ich schlafen soll, mal ganz nebenbei. Letzte Nacht waren es minus fünfzehn Grad, und erst jetzt über Mittag fängt es ein bisschen an zu tauen. Ich hoffe, ich muss hier nicht draussen schlafen. Wenn ich bis um fünf warte, komme ich auf keinen Fall mehr zur Estancia zurück. Soll ich es wagen?

Ach komm, wollen wir mal nicht so sein, so spannend wie das hier ist. Irgendwo werd ich schon was finden hier.

Jetzt muss ich meine beiden Adressen abklappern, die von Ringo und Eusebio, ich habe noch Zeit.

Die Rosales ist zufällig gleich in der Nähe, und die Pension von Ringo hab ich auch gleich gefunden. Das ging verdächtig schnell.

"Ringo? Ach so, der eine Chilene. Nein, der ist nicht mehr hier, der ist vor zwei Monaten schon nach Viña del Mar..."

Das ging auch verdächtig schnell. Viña del Mar liegt bei Santiago, das ist dreitausend Kilometer von hier. Mal sehen, ob Eusebio sich in der Fagnano länger gehalten hat. Der war auch so drauf, dass er mich bei sich übernachten lassen würde.

Die Fagnano ist die Parallelstrasse zur Rivadavia, welche wiederum die zur Belgrano ist... ich bin mir sicher, dass die armen Kinder in der Schule die ganzen Militärs auswendig können müssen. (Kein Wunder, dass die Lehrer streiken!) Dieses Haus muss es sein, die Nummer stimmt.

Eine ältere Frau öffnet mir die Tür.

"Ja, weisst du, der Eusebio wohnt nicht mehr hier. Der ist schon vor zwei Monaten umgezogen. Die Mieten sind hier ja auch so teuer, stell dir mal vor, wir müssen hier für eine kleine Wohnung mit zwei kleinen Zimmern schon viertausend - nein, jetzt sind es ja schon sechstausend Australes -"

"Ja, die Mieten sind hier in der Fagnano besonders teuer, das ist bekannt, da erzählen Sie mir wahrhaftig nichts Neues. Wissen Sie denn, wo der Eusebio hingezogen sein könnte, wo ich ihn vielleicht treffen könnte?"

"Ja, der ist doch in die Begrano Ecke Obligado gezogen, aber das ist jetzt auch schon zwei Monate her..."

"Na, ich werde es einfach mal da versuchen. Recht schönen Dank... und wissen Sie... wegen den Mieten hier, da würde ich mich wirklich einmal bei der Stadt beschweren."

Ich werde mich gleich revanchieren.

Belgrano, also zwei Strassen weiter, und Ecke Obligado muss ich jetzt noch... noch zwei Strassen quer, und irgendwo am Eckhaus klingeln. Es gibt nur eine Klingel.

"Guten Tag, Señora, einen Eusebio suche ich, wohnt der zufällig hier?"

"Wer? Eusebio??"

Das hat nichts tolles zu bedeuten.

"Einen Chico, der vorher in der Fagnano gewohnt hat und da ausgezogen ist, weil da doch die Mieten so teuer geworden sind, wissen sie, die müssen da jetzt viertausend, nein, sechstausend Australes für ein -"

"Ach so, der Eusebio, jetzt weiss ich, wen du meinst. Ja, der hat wohl mal hier gewohnt."

"Und jetzt ist er nicht mehr hier?"

"Nein, nein, schon seit Monaten ist der nicht mehr hier... ich weiss auch nicht genau, wo er jetzt wohnt..."

Gut, vergessen wir das auch.

Das Wasser auf den Strassen ist schon wieder zu Glatteis gefroren. Ich stehe auf der Belgrano und geniesse für einige Momente diesen unbeschreiblich schönen Himmel über Feuerland, heute ist es wieder einmal wie aus dem Geo-Magazin. Mit den ganzen bizarren, bald orange, rot, violett und sogar grün gefärbten Cirrus-Wolken ganz hoch über uns... und der Himmel hat auch ganz exotische Farben, komplementär zu den teils sogar von unten von der Sonne angeleuchteten Wolken. Ein Naturschauspiel, dass sich hier jeden Abend wiederholt.

Was mache ich jetzt noch? Soll ich zuerst zu Omar in die Chacra 2, oder zur Casa de Financias wegen Julio Leite? Bei beiden habe ich eine kleine Chance, da übernachten zu können. Ich muss aufs Klo, das spricht erstmal für die Casa de Cultura.

Mist, muss mich ausgerechnet die Sekretärin da erwischen. Na, was solls. Ich habe es wenigstens noch geschickt überspielt und nochmal bestätigt bekommen, dass da um fünf tatsächlich eine Auszahlung ist. Es ist schon halb fünf, also geh ich rüber und warte im warmen Foyer der Casa de Financias.

Diese Auszahlungen müssen sie wirklich alle paar Tage ansetzen, immer in bar, weil doch die Inflation so hoch ist. Das Geld hält zur Zeit etwa drei Tage bis eine knappe Woche, bevor es wieder im Wert sinkt. Holzhacken waren sie übrigens, weil die, die die Erdgas- und Wasserversorgung instandhalten sollen, auch streiken, und auf der anderen Seite vom Fluss haben sie kein Gas mehr. Die Wirtschaftskrise hat einen neuen Tiefstand erreicht. Auch die Wasserversorgung wird immer kritischer. Bei der Kälte brechen die Rohre.

Das Foyer beginnt sich langsam zu füllen. Mein Job ist es hier zunächst, überall möglichst laut rumzuerzählen, dass ich Julio Leite suche und dass ich den nicht kenne. Und es stimmt tatsächlich, Julio Leite scheint hier bekannt wie ein bunter Hund zu sein - jeder will ihn mir genauer beschreiben. So, ab jetzt dürfte sichs von alleine weiter rumsprechen, ich setze mich mit einer druckfrischen Zeitung zu ein paar Leuten auf die Treppe. Tatsächlich, es gibt noch Zeitungen.

Gelangweilt lese ich die Titelmeldung - Regierung kündigt estado de sitio an - überfliege die anderen Überschriften... sinniere noch ein bisschen über die Titelzeile nach... was heisst eigentlich estado de sitio... - und plötzlich bin ich hellwach.

Was, die spinnen wohl, die wollen den Ausnahmezustand verhängen! Das ist ja das Letzte! Wie war das jetzt noch, es gibt estado de sitio und estado de guerra, Ausnahmezustand und Kriegszustand. Wo die Unterschiede sind, weiss ich auch nicht, hängt wohl nur mit der Mobilisierung zusammen. Es bedeutet in jedem Fall, dass die gewählten Politiker die Macht freiwillig wieder an die Militärs abgeben und die Bürgerrechte massiv eingeschränkt werden, wie zu Zeiten der Militärdiktatur.

Paar Supermärkte haben sie geplündert, in einigen nordargentinischen Städten. In Buenos Aires nicht. Die Inflation wird inzwischen tagesweise angegeben - gestern zwölf Prozent, vorgestern acht. Innerhalb von einer Woche ist der Geldwert auf die Hälfte gesunken.

Ein paar Leute kommen zu mir auf die Treppe, sie haben ein Radio dabei, und versuchen, einen Sender reinzukriegen. Sie sind ziemlich aufgeregt, diskutieren, sind auf einmal aber ganz still und hören zwei Minuten dem Radio zu.

Tatsächlich, sie haben vor einer Stunde den estado de sitio verhängt, landesweit. Einer regt sich besonders darüber auf.

"Bloss weil sie in Rosario und Córdoba ein paar dumme Supermärkte geplündert haben, wird landesweit der estado de sitio verhängt! Die ham sie doch nicht mehr alle! Unsere Politiker, che, das ist doch nichts als ein Haufen Schwachköpfe, die sind doch alle unfähig, man sollte sie alle zusammenpacken und auf den Mond schiessen!"

"Che, nicht so laut, hinter dir steht der Bürgermeister", meint einer lächelnd.

"Der kann das ruhig hören!"

"Warum soll ich das nicht hören? Er hat doch recht."

"Nun ja - "

"Wir sind doch ein freies Land, hier kann doch jeder laut sagen, was er denkt. Mich kann er ja damit nicht meinen. Ich hab ja nichts zu sagen hier."

Oh, Respekt.

"Wieso verhängen sie den Ausnahmezustand? Ist das wirklich so gefährlich hier?", frage ich einen.

"Ja, merkst du das denn nicht? Du brauchst doch nur auf die Strasse zu gehen, da ballern sie doch rum wie die Cowboys!"

"Che, der kann das nicht wissen, der ist Ausländer."

"Ach so."

"Der sucht Julio Leite, deswegen ist der hier."

"Was heisst denn das jetzt genau für uns, estado de sitio?"

"Sonderrechte für die Militärs. Das heisst, dass alle ab zehn im Bett sein müssen. Ausgangssperre. Wer dann noch auf der Strasse ist, kann erschossen werden."

"Und warum haben sie die Supermärkte geplündert?"

"Na, weil sie alle arbeitslos geworden sind, und weil sie kein Arbeitslosengeld und nichts hier kriegen, und die Banken kommen mit den Zinsen natürlich auch nicht mit der Inflation mit. Was sollen die denn anderes machen, als die Supermärkte zu plündern?"

"Und hier in Feuerland, ist es also nicht gefährlich jetzt?"

"Naja, man kann es nie wissen -"

"Ach, der grösste Schwachsinn ist das! Südlich von Chubut passiert doch nie was! Das ist nur Schikane hier. Quatsch, hier in Feuerland wird nichts passieren, das ist vollkommen ruhig hier. Da brauchst du keine Angst zu haben. Trotzdem solltest du dich nach elf nicht mehr auf der Strasse blicken lassen."

"Offiziell ist es glaub ich schon ab zehn, aber hier machen sie's ab elf. Du kannst ja nie wissen, wo hier irgendwelche besoffenen Militärs rumfahren..."

Chubut ist eine Provinz tausend Kilometer weiter nördlich. Der Bürgermeister hat deswegen nichts zu sagen, weil Feuerland kein gleichberechtigtes argentinisches Gebiet ist, sondern Militärterritorium und die Verwaltung direkt den Militärs untersteht. Die Wahlplakate von Menem fordern, hier eine Provinz zu schaffen[88].

Julio Leite kommt auf mich zu und erwähnt, dass ihm mindestens acht Leute gesagt haben, dass ich ihn suche. Ein kleiner, lieber Dichter, mit Halbglatze, der mit seiner Insel verbunden ist. Er ist mir auf den ersten Blick sympatisch.

Sie haben ihm auch erzählt, dass ich von José Francisco käme, und er will genau wissen, wie es ihm so geht in Río Gallegos, alle möglichen Einzelheiten... na klar, das Telefon ist ja kaputt.

"Ja, das Schachspiel, ich weiss, ich hätte ihm das schon längst mal zurückgeben sollen. Das hab ich aber selber zur Zeit gar nicht, das hat ein anderer Typ, dem ich das..."

"Was ich noch fragen wollte, José Francisco kannte auch zwei chicos aus Buenos Aires, hast du von denen vielleicht mal was gehört? Claudia und Leo hiessen die."

"Ach, diese beiden. Ja, die waren so vor einer Woche da, die haben einmal bei mir - ich wollte sagen, die haben sich einmal kurz bei mir gemeldet. Seitdem hab ich sie leider nicht mehr wieder gesehen... Stell dir vor, heute haben sie den estado de sitio verhängt, da siehst du mal, was wir für unfähige Politiker haben..."

Schade. Er hat sich versprochen, er wollte fast sagen, sie hätten zuhause bei ihm übernachtet. Er muss vermutet haben, dass ich auch nicht weiss, wo ich schlafen soll, und hat sich zurückgehalten, das Thema zu erwähnen. Damit ich nicht auf die Idee komme, ihn auch danach zu fragen. Doch, das war ganz klar. Gut, dass mir das aufgefallen ist.

Oder hat er aus einem anderen Grunde so reagiert? Fest steht, aus irgendeinem Grunde scheint er das eben gemacht zu haben. Verschweigt er etwas? Was? Warum bloss?

Wir unterhalten uns über die Wirtschaftskrise, über die Telefongesellschaft und über den estado de sitio. Ich sehe, er fühlt sich sicher, dass ich seinen Versprecher eben nicht herausgehört habe. Ich spreche mit Absicht etwas schlechteres Spanisch als sonst, mit deutschem Akzent. Währenddessen überlege ich, wie ich in der Frage weiterkomme. Wo kann ich zum Beispiel übernachten?

Direkt werde ich ihn nicht fragen, ob es bei ihm geht. Wenn ich rauskriegen will, warum nicht, muss ich sehr vorsichtig sein. Ich habe ein komisches Gefühl. Von irgendwoher spüre ich, dass seine Reaktion eben irgendwas mit Leben und Tod zu tun hatte. Ich kann mir nicht helfen, es ist nur so ein Gefühl, dass mich auch im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht loslässt.

Von Natur aus misstrauisch ist er nicht, das muss ein anderer Grund sein. Es scheint da etwas zu geben, das ich nicht wissen soll, etwas, das er nicht erzählen will. Ich muss sehr vorsichtig sein. Nach etwa fünf Minuten Gespräch entscheide ich mich, dass ich das Thema wieder anschneiden kann, ohne ihn auf den Gedanken zu bringen, ich könnte Verdacht schöpfen. Ich erzähle ihm ein wenig von den Kanada-Dollars und dass ich ihnen das Geld für den Flug geliehen habe.

"Wo könnten die beiden eigentlich jetzt sein? Ich mein, wenn sie hier in Río Grande waren, was haben sie hier gemacht?"

"Ja, ich weiss nicht genau, was sie hier gemacht haben. Er wollte arbeiten... er wollte im Blanco y Negro arbeiten, kennst du das?"

"Nein, ich bin das erste Mal in Río Grande, ich kenne mich überhaupt nicht aus. Ist es ein Restaurant?"

"Ja, eine Art Restaurant."

"Wo ist das?"

"Die Adresse ist Don Bosco 1200. Da kannst du es ja mal versuchen."

"Ich war bei ihrer Tante, bei denen sind sie auch nicht, sodass ich vermute, dass sie auf der Strasse sind. Weisst du, wo die Leute schlafen, die kein Geld für das Hotel haben?"

"Ja, bueno, jetzt im Winter, damit die nicht erfrieren, lassen sie die von der Strasse immer im Ortskrankenhaus schlafen. Da könnten sie sein. Aber die Stadt ist gross, sie könnten überall sein. Ich habe sie seitdem auch nicht wieder gesehen. Ich würde nicht weiter nach ihnen suchen. Wenn es dir gefällt, kannst du ja im Blanco y Negro nachfragen."

Ich verabschiede mich kurz, drehe mich um, gehe ein paar Schritte Richtung Tür und weiss, er schaut hinter mir her. Dann drehe ich mich noch einmal um, erfasse seinen Blick, drehe mich endgültig zur Tür um und grüsse ihn dabei gleichzeitig mit der rechten Hand, und gehe dann zur Tür raus.

Genau wie Inspector Columbo. Wenn er so tut, als würde er sich endgültig verabschieden, aber in Wirklichkeit sagen will: "Du glaubst, du wärst mich jetzt los, aber wir sehen uns nochmal wieder".

Das Ortskrankenhaus. Das kann sein. Vielleicht wollte er aber nur ausweichen. Einerseits ist es ein ganz lieber Mensch, durch und durch sympatisch. Andererseits habe ich dieses beunruhigende Gefühl... sein Verhalten passt irgendwie nicht zu ihm. Argentinien ist ein komisches Land.

Ich muss zum Blanco y Negro, was das auch immer sein mag. Don Bosco 1200, das ist eine der Strassen, über die ich eben rüber bin und die ich schon in meinen Stadtplan eingezeichnet habe. Ich muss da sofort hin. Noch bevor ich zu Omar gehe.

Es ist weit und die Strassen sind schlecht beleuchtet. Die Nummer 1200 ist eine Art Etablissement oder sowas, auf dem Haus steht Aquelarre, aber nicht Blanco y Negro. Es sieht sehr verdächtig aus. Ich gehe einmal daran vorbei, komme dann von der anderen Seite. Es sieht wirklich sehr verdächtig aus. Aber die Adresse stimmt. Na, vielleicht meinte er das ja trotzdem. Ich gehe rein.

Oh nein, das ist ja tatsächlich genauso, wie ich mir immer einen Puff vorgestellt habe! Alles in weinroter Seide und Samt ausgekleidet, überall rote Lampen, und um die verhangenen Fenster hängen kleine grüne, rosa und blaue Lichter. Der Raum ist leer, nur zwei Frauen sind hinter der Bar. Ich gehe zum Thresen zu einem der samtbezogenen Barhocker, spiele Inspector Columbo und frage die ältere der beiden, ob sie eine gewisse Claudia aus Capital Buenos Aires hier kennen würde, die würde ich suchen, es sei wegen etwas Dringendem. Ich versuche, geschäftig oder wie ein Privatdetektiv zu erscheinen, damit sie nicht auf andere Gedanken kommen. Kommen sie aber trotzdem.

"Was für eine chica meinst du denn? Hier, im Aquelarre? Aus Buenos Aires, bist du da sicher?"

"Ja, aus der Hauptstadt Buenos Aires, da bin ich mir ganz sicher."

"Nee, unsere sind meistens aus Córdoba und der Gegend. Aus Capital Buenos Aires haben wir hier nur eine einzige, die heisst Claudia Liliana, eine moracha, meinst du die?"

Mist, was heisst denn moracha? Argentinien hat so viele italienische und portugiesische Elemente in seiner Sprache. In wenigen Millisekunden jage ich durch zweitausend Jahre Mittelmeergeschichte. Moracha kommt von moro, der Maure, das wiederum dürfte von Griechisch mávros kommen, schwarz, vor zweitausend Jahren in Griechenland mauros, dürfte sich vor tausend Jahren in Spanien aber nicht auf die Hautfarbe bezogen haben, eher auf die Haarfarbe, weil die Mauren keine Schwarzafrikaner waren - heute in Argentinien also vielleicht Südländerin mit dunklen lockigen Haaren.

"Ja, genau, eine moracha, hat so etwas längere Haare, schwarz, bisschen lockig, eine Italienerin, ist ein bisschen kleiner als ich...", ich stelle mich blöd an, aber anders geht es irgendwie nicht.

Meine exakte Beschreibung passt nämlich locker auf über fünfzig Prozent aller Argentinierinnen. Vielleicht sollte ich noch die Begriffe nett, jung, gutaussehend und sowas bringen, ich lass es mal sein.

Aber warte mal, sagte sie nicht Claudia Liliana? Hatte meine Claudia nicht auch einen Zweitnamen? Ich hole meinen Zettel mit der Adresse schnell hervor - tatsächlich, Claudia Liliana. In diesem Milieu. Ich bin überrascht.

"Die ist aus Buenos Aires, das ist richtig, die ist aber erst seit drei Tagen hier. Ja, weisst du, bei uns gibt es viele schöne Mädchen...-"

"Seit drei Tagen erst hier? Die ich suche, kam vor etwa einer Woche hierher nach Río Grande..."

"Ja, wann sie genau hier ankam, weiss ich jetzt auch nicht, es kann sein etwas früher... Aber kann das denn so wichtig sein?"

"Ja, das ist sehr wichtig für mich."

"Aber warum denn? Siehst du, morgen oder an einem anderen Tag wirst du sie bestimmt wieder sehen. Warum möchtest du es heute nicht mal mit einer anderen versuchen? Mit mir zum Beispiel. Schau, ich bin wenigstens hier. Und ich bin bestimmt auch nett zu dir."

"Das glaub ich dir ganz bestimmt, dass du auch so nett bist wie sie, ihr seid ganz bestimmt alle gleich nett. Aber ich wollte eben trotzdem gerne die Claudia."

"Was hat die Claudia, das ich nicht habe? Komm schon, mit mir kannst du doch auch -"

Ihre Kollegin schaltet sich ein und hat offenbar etwas mehr Respekt vor dem Inspektor.

"Lass ihn doch, du siehst doch, er will es nicht."

"Na gut. Also im Moment ist sie nicht da, sie kommt erst um zwölf hierher."

"Um zwölf erst? Aber es ist doch estado de sitio."

"Ja, das nehmen die hier im Viertel nicht so genau."

Die andere amüsiert sich über meine Frage. Das ist hier wohl das Ausnahmeviertel zum Ausnahmezustand. Wirklich peinlich, sowas nicht zu wissen, Inspector Columbo.

Claudia Liliana können immer noch viele heissen. Ich kann es mir trotzdem irgendwie nicht vorstellen, dass Claudia als Prostituierte arbeitet. Gut, so komm ich aber nicht weiter. Ich versuchs mal mit einer anderen Tour.

"Die ich meine, die ist mit einem Japaner zusammen. Deshalb bin ich hier. Dieser Japaner ist mein Freund. Wir sind zusammen in die Schule gegangen. Gestern habe ich erfahren, dass er auch hier in Río Grande ist. Ich würde gerne wissen, wies ihm geht. Ich krieg nur nicht raus, wo er wohnt. Claudia könnte seine Adresse wissen."

"Ach, jetzt versteh ich. Ja, das tut mir leid, ich kenne ihre amigos auch nicht so genau... aber sie wohnt hier, du kannst sie ja mal selber fragen. Aber erst nach zwölf."

So, jetzt aber ab zur Wohnung von Omar Hormann zur Aeroposta in der Chacra 2. Es ist sechs Uhr. Hoffentlich finde ich das in der Dunkelheit noch. Hierum muss ich erstmal gehen. Nein, ich geh zuerst hoch zur San Martín, das wird sicherer sein.

So, was haben wir jetzt rausgekriegt? Erstmal ist es verwunderlich, dass dieser Julio Leite die exakte Adresse von diesem Bordell wusste! Er machte auf den ersten Blick nicht den Eindruck, als würde er sich damit so genau auskennen. Das ist verdächtig.

Andererseits ist noch etwas verdächtig. Er sagte Blanco y Negro, und so hiess das Ding eindeutig nicht. Ausserdem meinte er, der Japaner habe da arbeiten wollen, und nicht Claudia. Und wo sollte er hier arbeiten? Ich hatte Julio so verstanden, irgendwie als Kellner oder sowas. Das gibt keinen Sinn.

Hier ist die San Martín, jetzt links.

Die müssen mit Julio Leite längere Zeit als nur ein paar Minuten Kontakt gehabt haben. Die müssen Julio Leite immerhin über ihre Probleme erzählt haben, und es hatte möglicherweise etwas mit diesem Milieu zu tun. Und dann ist da noch mein komisches Gefühl von vorhin... Leben und Tod...

So, jetzt überquere ich die Islas Malvinas, ab jetzt hab ich keinen Stadtplan mehr, und es ist schwierig, weil die Chacra 2 so chaotisch organisiert ist, nicht im strengen Schachbrettmuster. Hoffentlich finde ich diese Aeroposta.

Eines scheint sich herauszukristallisieren. Meine beiden Leute von Río Gallegos scheinen in einem Milieu zu verkehren, das ich am Anfang nicht vermutet hatte. Ich bin etwas überrascht.

Nein, in meinen Gefühlen kann ich mich aber doch nicht so täuschen. Claudia war nett zu mir, und Leo auch, sie haben sich ganz lieb mit mir unterhalten, und ich sollte sie besuchen kommen. Das hatten die auch ehrlich gemeint. Nein, Claudia Liliana, auch wenn du eine Prostituierte bist oder zumindest so tust, da gibt's nichts, ich werde auch weiterhin zu dir halten.

Scheisse, dieses Neubauviertel sieht nachts ganz anders aus als tagsüber. Nichts erkenne ich wieder, aber auch gar nichts. Ich irre irgendwo herum, auf der Suche nach einer bekannten Ecke. Es ist wie in einer völlig fremden Stadt. Wie finde ich meine Sachen wieder? Wie bin ich hierhergekommen? Bin ich überhaupt die richtige Querstrasse gekommen, von der Islas Malvinas? Wart mal, keine Panik. Immer ruhig bleiben. Im Notfall gehe ich zurück zur Islas Malvinas, und suche mir dort die Viedma.

Was steht auf dem Strassenschild dahinten? - Cabo de Hornos steht hier drauf. - Wow, ich habe die Cabo de Hornos gefunden! Die Aeroposta war eine der Querstrassen davon. Welche, das haben wir gleich, da gabs nur sechs oder sieben.

Vielleicht hat Julio Leite sie einmal bei sich übernachten lassen, und dann hat er sie anscheinend nicht mehr bei sich übernachten lassen. Schlecht auf sie zu sprechen war er nicht. Trotzdem stimmt irgendwas nicht, und das muss ich rauskriegen. In Río Grande scheinen sie auch noch zu sein. Bloss wo?

So, da hab ich sie, die Aeroposta, und da hinten ist Omars Haus. Na, war das nichts? Es ist zwanzig vor sieben.

Omar ist wieder nicht da. War er den ganzen Tag wohl nicht.

"Ja, Junge, ich bin hier der dueño von dem Haus, Omar wohnt hier nur zur Untermiete, und der darf auch gar keine fremden Leute hier übernachten lassen. Das weiss er aber auch."

"Kommt er morgen nochmal?"

"Das weiss ich nicht. Kann ich nicht sagen. Hier sind deine Sachen -"

"Naja, dann grüss ihn nochmal schön, mein Name ist Francisco. Und vielen Dank, dass ich hier meine Sachen lassen durfte heute nachmittag."

"Ja, keine Ursache. Tschüss."

Und wieder auf der Strasse. Das war vorauszusehen.

Die ersten paar Schritte gehe ich recht zielstrebig irgendwohin, einfach nur, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wüsste nicht, wohin. Das habe ich mir schnell angewöhnt in Lateinamerika, es ist langsam so eine Art Paranoia. Nur nicht den Eindruck erwecken, ich wüsste nicht genau, wohin. Nur nicht nachdenklich erscheinen, nur nicht verdächtig erscheinen.

Wie durch einen Zufall, der so tut, als ob er keiner wär, stehe ich auf einmal vor einer Häusergruppe in diesem Neubauviertel, die mir komischerweise bekannt vorkommt.

Ach ja, sehr verdächtig, hier war doch die Wohnung von der Tante von Claudia, wo war das jetzt noch genau... Hier, Nummer neun, genau, das war's. Es brennt Licht. Was mach ich eigentlich jetzt noch? Bald wird es sieben. Ja genau, was mach ich überhaupt?

Auf einen blöden Gedanken kommen, das mache ich. Ich könnte den Rucksack irgendwo verstecken, und einfach nochmal bei der Frau Andreotti klingeln, vielleicht ist ihr Macker ja da. Vielleicht verrät der mir noch ein paar Einzelheiten, ein paar Puzzleteile, die ich noch brauche. Vielleicht fügt sich ja endlich mal was zusammen.

Doch, das wäre noch eine Chance. Es könnte sein, dass der Typ etwas besser drauf ist als die Tante. Immerhin steht fest, dass die bei ihm mindestens einmal übernachtet haben. Er hat sie offensichtlich nicht gleich hochkant rausgeschmissen. Was die Tante aber garantiert getan hätte, und zwar sofort, daran habe ich keinen Zweifel. Wenn an der Geschichte wirklich etwas faul ist, dann werden sie sich früher oder später verraten. Eines ist ganz klar: in dem Haus wissen sie mehr, als die Tante mir gesagt hatte.

Umdrehn, ob keiner schaut... und schon sind Rucksack und Schlafsack im Bauschutt versteckt. Sieben Uhr. Und jetzt hoffentlich nicht wieder sie. Dingdong.

Leider doch.

"Ja, guten Abend, Frau Andreotti, entschuldigen Sie nochmal die Störung, so spät noch. Wissen Sie, ich habe da einen Verdacht, was die Claudia angeht. Irgendetwas scheint ihr passiert zu sein. Vielleicht könnte ich Ihren Mann sprechen, wenn das möglich ist?"

Eins zu null für mich. Wenn sie zumacht, hat sie verloren.

"Was willst du denn noch? Hier kannst du auch nicht mehr erfahren als vorhin. Mein Mann ist nicht da. Hier ist keiner da ausser mir."

Eins zu eins. Ausgleich. Wenn mir jetzt nichts einfällt, kann sie zumachen.

"Ich hatte nur noch eine Sache vergessen zu fragen, und dachte, vielleicht könnte er mir da weiterhelfen. Aber vielleicht wissen Sie das ja auch. Es tut mir ja ausgesprochen leid jetzt, das müssen Sie mir glauben, wenn ich damit Ihre kostbare Zeit so sehr in Anspruch nehme, es ist ja auch schon spät und ich komme auch sicher sehr ungelegen für Sie-"

"Ja, du kommst wirklich sehr ungelegen, wir sind gerade am Abendessen."

Juhuuu, sie hat sich verraten! Sie hat wir gesagt! Zwei zu eins für mich!

"Ah, ist ihr Mann inzwischen da? Das ist ja gut, vielleicht könnte ich mit ihm ja mal sprechen, er weiss doch sicher mehr als Sie."

"Na, wenn du meinst, dass das was bringt... - Paco! Kommst du mal - ?!"

Wie ich fast schon vermutet hatte, ist der Typ zehnmal lockerer drauf als sie. Fast tut er mir ja leid. Ich erzähle ihm von Río Gallegos, den Kanada-Dollars, und schon sind wir beim Thema Wirtschaft und Politik. Irgendwann wird es ihr zu dumm, neben uns zu stehen und zuzuhören, wie wir uns über den estado de sitio im besonderen und die Probleme Argentiniens und Deutschlands im allgemeinen unterhalten. Vor allem, uns macht es beiden langsam Spass. Und sie geht in die Küche. Und bleibt da auch. Er schaut nochmal um die Ecke. Die Luft ist rein.

"Die waren insgesamt vier Nächte hier, die beiden. Dann mussten sie gehen - du verstehst vielleicht, warum."

"Ja, klar, nur wo sind sie dann hin? Zu Julio Leite?"

"Ja, eine Nacht haben sie bei Julio Leite geschlafen. Ihre Sachen haben sie noch längere Zeit bei Leite gelassen."

"Warum mussten sie da weg, bei Leite?"

"Bei Leite? Das kann ich dir nicht sagen. Aber die mussten da weg. Aus irgendeinem Grund, ich weiss nicht."

"Wo sind sie jetzt?"

"Das weiss ich nicht, seit einer Woche haben sie sich nicht wieder gemeldet hier."

"Seit einer Woche jetzt?"

"Ja, seit ziemlich genau einer Woche jetzt."

"Kennst du irgendwelche Leute, die mir sagen könnten, wo ich sie jetzt finden kann?"

"Ja. Pass auf, du gehst zur Anónima, das ist der Supermarkt, das ist drei Blocks von hier. Hier die Cabo de Hornos hoch - Gobernador Cambaceres heisst die Strasse. Drei Blocks von hier, ein grosser Supermarkt, kannst du nicht verfehlen. Da sind Leute, die dir weiterhelfen können -"

"Hat der Supermarkt nicht geschlossen? Es ist doch schon nach sieben."

"Die Anónima hat bis um neun auf. Das ist in ganz Argentinien so. Da arbeiten immer ein paar pibes, weisst du, die Kinder, die Einkaufswagen zusammenstellen, Leuten beim Tragen helfen und so-"

"Ja, ich verstehe."

"Gut, momentan sind da Pedro und Luis. Luis ist mein Sohn. Und dann ist da noch ein dritter pibe, dessen Namen weiss ich nicht. Aber der arbeitet da auch. Ich war eben kurz da, der war da nicht, aber der Pedro kennt die Adresse von dem."

"Und der kann mir da weiterhelfen?"

"Ja, Claudia und ihr Freund haben mindestens einmal bei ihm im Haus übernachtet, und er dürfte auch wissen, wo sie sich jetzt aufhalten. Vielleicht sind sie immernoch bei ihm."

"Sie sind also noch in Río Grande?"

"Ja, und soweit ich weiss, sind sie auch noch hier in der Chacra 2."

Ein gutes Match. Paco hat sich gut gehalten. Es könnte sein, dass das stimmt, was er sagte.

Meine Sachen habe ich wirklich sehr gut versteckt. Wirklich, unter welche Bretter hatte ich sie denn jetzt hin? Der Countdown gegen den estado de sitio läuft, ich muss doch zur Anónima. Ich muss den mutmasslichen dritten pibe finden. Wenn der die beiden übernachten hat lassen, lässt er mich bestimmt auch nicht draussen erfrieren. Das ist meine Chance. Trotzdem - ich habe seine Adresse noch nicht. Na endlich, da ist ja der Schlafsack.

Drei Blocks weiter, tatsächlich, riesengrosser Supermarkt. Halb acht ist es inzwischen.

"Ihr beiden, seid ihr Pedro und Luis?"

"Ja. Woher weisst du, dass ich Luis heisse?"

Ich bin versucht, auf so eine Frage irgendeinen Mist zu antworten, aber ich darf es mir jetzt mit den Jungen nicht verscherzen. Ich erzähle ihm von seinem Vater, und von Claudia... erstmal muss ich testen, wieviel die beiden wissen, besonders Luis. Und ob das stimmte, was Paco sagte.

"Ja, Claudia ist meine prima, na klar kenn ich die, die war bei uns -"

Prima heisst Kusine oder sowas. Das stimmt also.

"Die hat bei euch geschlafen, eine Nacht, stimmts?"

"Nee, paar Nächte war die bei uns, irgendwie, ich weiss nicht mehr so genau, nicht nur eine -"

"Ich will rauskriegen, wo die jetzt ist. Wisst ihr, wo die jetzt sein könnte? Dein Vater sagte, du weisst das recht gut, er wusste das nicht so gut."

"Weiss ich jetzt nicht mehr, die sind zu som Dichter -"

"Ach, und dann sagte er noch, dass mit euch noch ein dritter pibe arbeitet, von dem wusste er den Namen nicht."

"Ach, Beto meint er wohl -"

"Ja, Beto heisst der? Von dem sollt ihr mir die Adresse geben. Er sagte, Pedro, du wüsstest die Adresse von dem. Der Beto weiss, wo die Claudia ist."

"Der Beto?"

"Ja, genau, der Beto."

"Hm, der Beto. Soll der das wissen?"

"Ja, sagt dem Luis sein Vater. Der sagt auch, dass du weisst, wo der Beto wohnt."

"Der Beto. Also ich glaub nicht, dass der das weiss."

"Sag mir halt mal, wo der wohnt, da kann ich ihn ja selber fragen."

"Ja, Pedro, dann sag's ihm doch."

"Weiss nicht, che."

"Komm, dann kann er die endlich finden. Du kannst es ihm doch ruhig sagen."

"Che, ich weiss das echt nicht!"

"Weisst du das wirklich nicht?"

"Nein, ich hab wirklich keine Ahnung, wo der wohnt!"

"Scheisse."

"Woher soll ich das denn wissen? Luis weiss das."

"Che, das war doch Prefectura Naval, wart mal, 1162 oder 1152, ich weiss das jetzt nicht mehr so genau..."

Mehr war nicht drin. Und das hörte sich überhaupt nicht an, als ob es viel wär. Mehr kommt aber nicht raus, es hat keinen Sinn.

Ja, dieses Match habe ich anscheinend verloren. Die Prefectura Naval geht hinten beim Supermarkt lang und geht einmal ganz quer durch die Chacra 2. Als erstes stelle ich ziemlich schnell fest, dass die 11er-Serie bei dieser Strasse gar nicht bebaut ist. Also nichts mit 1152 oder 1162. Schade.

Der 10er-Block ist bebaut. Es sieht echt aus wie in einer Trabantenstadt, lauter sechs- bis achtstöckige Hochhäuser, eins neben dem anderen, Wohnklos, einige sind offensichtlich überhaupt nicht bewohnt. Sehr verdächtig das alles. Niemand geht auf der Strasse. Ein fast vollkommen totes Stadtviertel.

Ich finde ein Haus mit der Nummer 1052. Vielleicht meinte er ja das. Oh nein, hier sind acht Klingeln dran, wo soll ich denn jetzt klingeln? Ach, vergiss es doch. Es hätte auch keinen Sinn, nach Beto zu fragen, weil das ein Spitzname ist und die Erwachsenen ihn im Haus, wenn überhaupt, dann unter einem anderen Namen kennen. Es ist acht Uhr.

Ein paar hundert Meter weiter finde ich im Parterre in einem der grossen Hochhäuser eine Art Laden, dahinter sind Leute. Oh, es sind Bullen. Es ist tatsächlich ein Bullenrevier. Militär oder Polizei oder Militärpolizei, was weiss ich, Bullen sind alle gleich. Vielleicht funktioniert es ja wie in Texas und man kann eine Nacht im Knast schlafen. Das mit dem Ortskrankenhaus hörte sich nicht sehr solide an. Ich will ja nur nicht erfrieren. Es wird immer kälter.

"Na, was willst du?"

"Naja, ich wollte eigentlich zwei Freunde finden heute, aber das habe ich nicht geschafft, bei denen hätte ich halt schlafen können. Ihr wisst nicht zufällig, ob es bei der Prefectura Naval eine 1162 oder 1152 gibt?"

"1162 oder 1152?"

Oh nein, sie haben einen dicken Stadtplan von der Chacra 2, voll perfekt jedes einzelne Haus genau eingezeichnet, und brauchen fast zehn Minuten und vier Leute um rauszukriegen, dass die 11er-Nummern in dieser Strasse nicht vergeben sind. Trotzdem, langsam wird mir ein bisschen wärmer. Ich erzähle ihnen von Texas und von den Trampern und frage sie, ob es hier sowas ähnliches gebe.

Nein, gibt es nicht. Später werden mir alle mild lächelnd sagen, dass die Bullen und milicos hier andere Aufgaben erfüllen als sich um die Leute von der Strasse zu kümmern.

"Ich meine, ich frage nur so, ich bin Ausländer, ich kann das ja nicht wissen hier. Wo könnte ich denn schlafen, wenn es hier so kalt wird in der Nacht?"

"Nein, hier geht das nicht, du könntest höchstens zum Ortskrankenhaus gehn und es da versuchen."

Oh, dann scheint da ja doch was dran zu sein.

Um halb neun bin ich wieder an der Anónima. Es ist nicht mehr viel los, Pedro ist schon weg, Luis weiss noch weniger als vorhin... aber ein Angestellter, der uns vorhin schon beobachtet hatte, kommt hinzu und interessiert sich für meine Geschichte. Ich erzähle ein bisschen von Río Gallegos, wo ich die beiden kennengelernt habe, dass ich sie finden wollte, dass die Sache an diesem Beto hängt, und dass ich jetzt ausserdem bei minus fünfzehn Grad auf der Strasse sitze mit einem besonders gut an tropische Temperaturen angepassten Schlafsack.

Und das Blatt wendet sich wieder.

"Ich heisse Adalberto, ich arbeite hier. Die kennen mich alle. Wenn du willst, kannst du heute nacht bei mir schlafen, das ist kein Problem. Für eine Nacht geht das. Weisst du was, die findest du noch, mach dir mal keine Sorgen. Wir warten jetzt noch bis neun, dann fahre ich zu mir, und wenn du willst, kannst du mitkommen."

"Ja, klar."

Er wohnt in der Belgrano, aber ziemlich weit draussen. Wir unterhalten uns ein wenig auf der Fahrt und es stellt sich heraus, dass er den Dichter Julio Leite zufällig auch kennt.

"Die Stadt ist gross, sie könnten überall sein", fällt mir unweigerlich ein..., aber die Stadt scheint alles andere als gross zu sein. Hoffentlich kann ich im Ausnahmeviertel zum Ausnahmezustand heute Nacht noch etwas herauskriegen.

Es ist schon lange dunkel und er fährt wie selbstverständlich über alle roten Ampeln. Sowas muss mir natürlich auffallen, als Deutscher.

"Macht das nichts, wenn dich die milicos jetzt erwischen würden? Müsstest du nicht immer anhalten, wenn rot ist?"

"Aber es ist doch nichts los hier, das wäre doch Schwachsinn."

"Und die milicos sagen da nichts?"

"Nein, dann müssten die doch selber auch anhalten, die sind doch nicht blöd! Wieso, halten die in Deutschland etwa an, nachts, wenn es so leer ist wie hier?"

"Ja. Wenn die Ampel rot ist, müssen die immer anhalten. Die Bullen machen das auch."

"Was, auch nachts, wenn echt nichts los ist?! So wie hier jetzt, an dieser Kreuzung?"

"Ja. Auch wenn du zehn Kilometer siehst, das ist egal. Wenn rot ist und da steht irgendwo n Bullenwagen, musst du Strafe zahlen. Sogar mit dem Fahrrad, du musst anhalten und solange warten, bis es grün ist. Auch nachts."

"Was - ?? Auch mit dem Fahrrad - ?!!"

"Ja, auch mit dem Fahrrad."

"Was - ?! Sowas hör ich ja zum ersten Mal! Che, jetzt mal ohne scheisse: die halten dich an, wenn du bei Nacht mit dem Fahrrad bei rot über eine leere Kreuzung fährst?"

"Ja klar. Auch wenn Totenstille ist."

"Ist das in den anderen Ländern in Europa auch so?"

"Nein, nein, das ist nur in Deutschland. In den anderen Ländern ist das nicht. Das ist wirklich kein Scheiss, den ich dir erzähl. Das ist echt so."

"Ich habe gelesen, die Deutschen seien so wenig stolz auf ihr Land. Das würde mir jetzt dazu einfallen."

"Vielleicht verstehst du jetzt, warum."

Er sinniert darüber nach.

"Also gut. Ich glaub dir das. Du bist Deutscher und ich sehe keinen Grund, warum du mit Absicht dein Land schlechtmachen solltest. Aber ich sag dir, ich kann das nicht weitererzählen. Wenn ich das irgendwem weitererzähle, werden die alle denken, dass ich was gegen die Deutschen hab. Dabei wundert es mich. Deutschland ist doch das Land, das so grosse Leute hervorgebracht hat, Goethe und Mozart und alle, und die ganze Technologie, die Erfindungen-"

"Naja, das waren ja andere Leute. In jedem Land gibt es solche und solche. Die Nazis waren auch Deutsche."

"Naja, Argentinien ist ja auch nicht besser. Du weisst, dass sie heute den estado de sitio verhängt haben?"

"Ja, ich habe es mitgekriegt."

"Diese Politiker sind alle Idioten. Da denkt man, wir wären die Scheiss-milicos endlich los, und jetzt lassen die die auch noch freiwillig ran! Wird Zeit, dass die Peronisten endlich drankommen, ich bin für Menem."

Auch in Feuerland gibt es überall Parteibüros von der Justizialistischen Partei (den Peronisten) von Menem. Die wenigen Anhänger der Radikalen Partei, der von Raúl Alfonsín, die zur Zeit noch regiert, haben hier das Handtuch geworfen.

Wir kommen bei Adalbertos Wohnung an, ich lasse meine Sachen hier, wir essen ein wenig, Adalberto selber muss noch woanders hin. Er gibt mir einen Schlüssel und sagt mir nochmal eindringlich, dass ich mich nicht erwischen lassen darf, und ich solle sofort sagen, dass ich Deutscher sei und vom estado de sitio noch nichts gehört habe.

Um halb zwölf gehe ich los. Es ist weit, eine halbe Stunde bis zum Aquelarre. Auf den Strassen ist nichts los. Zwei Blocks hinter mir fuhr eben ein Militärjeep um die Ecke. Hat mich zum Glück nicht gesehen. Hoffentlich kommt hier keiner vorbei. Wenn ja, dann darf ich keine auffälligen Bewegungen machen. Auf keinen Fall versuchen, mich zu verstecken. Sonst schiessen sie.

Ab der Don Bosco 1400 gehen doch noch einige auf der Strasse. Hier fängt also das Bordellviertel an. Doch, das scheint hier tatsächlich eine Art Oase zu sein, wo es lockerer zugeht.

Im Aquelarre ist die eine Frau von heute nachmittag wieder da. Sie sagt, im Sol de Mayo sei auch eine Claudia aus Buenos Aires. Ihre Claudia Liliana sei noch nicht da, ich könne es später aber nochmal versuchen. Sie beschreibt mir, wo das Sol de Mayo ist, zwei Blocks von hier.

Das Sol de Mayo ist eine Art Lokal, wie eine Pommesbude, es ist mir sympatischer als dieses Bordell in der Don Bosco 1200.

"Ja, das gibt hier eine Claudia Liliana, die arbeitet im Aquelarre, das ist richtig. Die ist jetzt noch nicht da. Im Chi-Chis arbeitet aber auch eine Claudia aus Buenos Aires, hast dus da schon probiert?"

Oh gut, gehe ich zum Chi-Chis. Das ist eine kleine Bude, stehen drei oder vier Tische drin, es ist nichts los. Nicht, weil estado de sitio ist, sondern einfach, weil es noch zu früh ist. Ein Mädchen ist da, das muss Claudia sein, und siehe da, es ist - nicht Claudia.

"Heisst du Claudia?"

"Ja, warum?"

"Ach, schade. Ich suche eine, die hat den selben Namen wie du. Die kommt aus Capital Buenos Aires."

"Ich komme auch aus Buenos Aires, aber aus der Provinz. Kennst du Necochea? Das liegt zwischen Mar del Plata und Bahía Blanca."

"Kenne ich leider nicht, ich war noch nie in Buenos Aires."

"Bist du Chilene?"

"Europäer, weisst du, aus Deutschland."

"Oh, und was machst du hier?"

"Nicht viel. Ich suche diese eine Claudia aus Capital Buenos Aires, und man hat mir heute nachmittag gesagt, dass ich sie im Blanco y Negro in der Don Bosco 1200 finden würde."

"Don Bosco 1200? Aber da ist doch das Aquelarre."

"Ist das nicht dasselbe?"

"Nein, das ist nicht dasselbe. Das Blanco y Negro und das Aquelarre sind verschiedene Unternehmen."

Sie beschreibt mir, wo das Blanco y Negro ist, ich gehe hin. Es ist dicht. Offenbar schon seit einiger Zeit. Muss auch eine Art Bordell gewesen sein. Der Besitzer hat wohl pleite gemacht.

Julio Leite wusste die Adressen von den einzelnen Bordells hier also doch nicht so genau. Vielleicht war das Blanco y Negro früher ein ganz renommierter Laden, und Leite hatte Leo vorgeschlagen, es da zu versuchen, ohne zu wissen, dass es diesen Betrieb nicht mehr gab.

Oder Leite wusste ganz genau, was er mir sagte, und wollte mich loswerden. Mich zum Aufgeben bringen. Ich sollte nicht weiter nachforschen.

Ich gehe nochmal zum Sol de Mayo, wo sie mir einen gewissen Padrino beschreiben, der in einem Lokal Thorne arbeiten soll, und der wisse, was für Leute hier im Viertel arbeiten. Scheint irgendso ein Zuhälter oder sowas zu sein.

Es ist inzwischen schon nach zwölf, ich komme wieder zum Aquelarre. Sie sagen mir, inzwischen sei sie da, ich klopfe an ihrer Tür, und ist sie's? - Nein. Es ist eine andere Claudia Liliana.

Später werde ich erfahren, Claudia ist tatsächlich einer der häufigsten Namen in Argentinien. Sogar Claudia Liliana sei schon so häufig, dass es in den Schulklassen oft mehrere davon gebe. Ich habe eine andere Idee und gehe zum Thorne. Der Japaner müsste doch auffälliger sein als sie. Der Padrino ist tatsächlich da.

"Nein, die du beschreibst, die arbeiten hier nicht. Hier arbeitet auch kein Japaner. Überhaupt im ganzen Viertel arbeitet kein Japaner zur Zeit. Das würde ich wissen."

Eine der Frauen, die um uns herumstehen, schaltet sich in das Gespräch ein, das ansonsten schnell damit geendet hätte, dass mich der Padrino mehr oder weniger elegant vor die Tür gesetzt hätte. Schliesslich ist das hier kein Auskunftsbüro.

"Ein Japaner, sagst du? Wart mal, hier war doch so ein Japaner gewesen, vor einer Woche. Der war eine Nacht da, mit einem Mädchen. Die wussten nicht, wo sie schlafen sollten. Haben hier aber nicht gearbeitet, aber die waren einmal hier."

"Wo wollten sie denn noch hin? Wo könnten sie heute sein?"

"Das weiss ich nicht, das ist ja auch schon eine Woche her. Sie wollte Babysitten oder sowas machen. Versuch es doch mal bei der Zeitung oder beim Radio."

Auch beim Rückweg zur Belgrano hatte ich zum Glück keine Probleme. Die Nacht tat gut und war angenehm warm.

Es war eine Überraschung, dass sie auf einmal doch von dem Japaner wussten im Thorne. Ich hatte am Ende geglaubt, einer Geisterspur hinterherzulaufen, aber dann war die Spur urplötzlich doch wieder real da. Sie habe es mit Babysitten versucht, das hörte sich realistischer an. Ich werde es morgen bei den Zeitungen versuchen. Warum hat eigentlich die Prostituierte von ihnen gewusst und der Padrino nicht?

Doch, stimmt, es fügt sich noch etwas zusammen. Die meisten Prostituierten haben hier Kinder und sind alleinstehend. Es liegt nahe, bei den Prostituierten nachzufragen, wenn du Babysitten willst. Dazu kommt, dass in Zeiten einer Wirtschaftskrise die Prostituierten zu den wenigen gehören, die weiterhin regelmässig an Bargeld kommen. Ich sollte Volkswirtschaft studieren.

Aufstehen nach einer kurzen Nacht um zwanzig vor sechs, Adalberto muss früh raus. Meine Sachen kann ich nicht bei ihm lassen, und wie er schon angekündigt hatte, es ging nur für diese Nacht, weil sein Mitbewohner heute nacht nicht da war.

Um zwanzig nach sieben bin ich beim Ortskrankenhaus. Diesen Raum, wo die Obdachlosen übernachten können, gibt es tatsächlich. Es ist eines der Wartezimmer im Eingangsfoyer, das sie nachts auflassen. Ein paar Obdachlose sind da, aber sie alle haben nie einen Japaner hier gesehen.

Gleich zwei Blocks weiter, in der El Cano, der Strasse, die unten an der Atlantikküste entlangführt, ist das grosse Truck-Terminal. Ich frage zwei Arbeiter, aber einen Japaner haben sie hier nicht gesehen. Der im Kiosk gibt mir die Adresse von der Zeitung El Tiempo und meint auch, ich könne es beim Radio versuchen.

Um zwanzig nach neun stehe ich vor der Wohnungstür von Julio Leite, diesmal ist jemand da.

Es ist Ana Leite, seine Frau. Sie ist sehr nett und lädt mich zu einem Tee ein. Sie spricht nicht laut, und bittet mich, ich solle auch nicht so laut sein.

"Warum denn nicht? Werden wir hier abgehört? Hat es was mit der Militärregierung zu tun? Wir können uns auch Zettel schreiben, wenn dir das sicherer ist."

"Aber nein... -", meint sie, lächelt über meine komischen Gedanken, "komm, ich zeig es dir."

Leise öffnet sie eine Tür. Oh. Ein kleines Baby schläft in der Wiege.

"Wie alt?"

"Vierzehn Tage. Vor einer Woche hatten wir noch sehr grosse Angst, es hatte sich erkältet. Aber jetzt ist es vorbei. Zur Zeit schläft es sehr viel. Der Arzt sagt, das sei ein gutes Zeichen."

"Lassen wir es lieber schlafen."

Das war also der Grund gewesen. Leben und Tod. Ein kleines Baby! Deshalb konnten sie nicht weiter bei Leites bleiben. Ana sagt, es tat ihnen so leid, dass sie die beiden vor die Tür setzen mussten, aber es ging um das Leben des Babys.

"Ja, der Leo wollte doch als Kellner im Blanco y Negro arbeiten."

"Aber das existiert doch gar nicht mehr."

"Ja, irgendwie wurde da nichts draus. Ach, das hat dichtgemacht?"

"Es sieht aus, als hätte es pleite gemacht. Wo mögen sie jetzt sein?"

"Sie sind bestimmt noch in der Chacra 2. Die wollten hier bleiben und arbeiten. Ich glaube, sie haben über eine Unidad Básica der Peronisten ein Zimmer bekommen. Irgendwie eine kleine 2-Zimmer-Wohnung. Ich bin mir aber nicht sicher."

"Was ist das, eine Unidad Básica?"

"Das sind die Parteibüros der Peronisten, die von Menem. Seitdem sie die Wahl gewonnen haben, spriessen die Unidades Básicas hier wie die Pilze aus dem Boden. Gibt es bald in jedem Stadtviertel. Ich weiss jetzt auch nicht, an welche die sich gewendet haben, frag halt mal rum."

"Ach du meinst, diese Büros, an denen immer die Plakate von Menem hängen?"

"Ja, genau."

"Aber das sind doch tierisch viele. Die gibts ja alle drei Blocks eins."

"Oder versuch, sie über das Radio zu finden..."

Meine Sachen könne ich selbstverständlich bei ihr lassen. Den ganzen Nachmittag sei sie da. Gestern sei sie nur kurz einmal beim Arzt gewesen mit dem Baby. Deswegen war sie nicht da. Ich bin froh.

Die Anzeigenannahme der Zeitung El Tiempo war mir schon vorher aufgefallen und ich hatte es in meinen Stadtplan eingetragen, in der Perito Moreno. Der Angestellte ist hilfsbereit.

"Ein Japaner, sagst du? Ach ja, stimmt, da war einer dagewesen. Das ist aber schon gut eine Woche her jetzt. Stimmt, der war mal hier, mit einer chica, so einer -"

"Italienerin? Einer moracha?"

"Ja, genau. Ja, die taten mir leid. Sie sagten, sie wussten nicht, wo sie schlafen sollten. Sie wollten eventuell zurück nach Buenos Aires mit Aerolineas."

"Haben sie hier eine Anzeige aufgegeben?"

"Nein, ich glaube nicht, aber ich kann ja zur Sicherheit noch mal nachsehen. - Nein, haben sie nicht. Ich glaube, sie sagten, sie hätten kein Geld."

"Warum hatten sie kein Geld?"

"Ja, die kamen ja aus Buenos Aires. Und die Banken hatten die ganze letzte Woche für Giros dicht. Wir sind praktisch abgeschnitten von Buenos Aires. Sie hätten hier ein Konto haben müssen."

"Gibt es hier Unidades Básicas in der Nähe?"

"Unidades Básicas? Hier in der Nähe? Ja, sicher, allein in der Perito Moreno gibt es schon zwei, eine ist hier gleich nebenan, eine andere ist drei Blocks hier runter."

Heute liegen die Dinge besser. Werde ich sie heute finden? Ich habe mehrere Chancen.

Ich gehe zur ersten Unidad Básica, dort ist nur eine Person, die sagt mir, sie kenne keinen Japaner. Die Idee, es an den Unidades Básicas zu versuchen, ist schlecht. Das sind zu viele.

Die andere ist auf dem Weg zum Reisebüro der nationalen Linienfluggesellschaft Aerolineas Argentinas, und dieses Reisebüro interessiert mich jetzt mehr. Denn der Typ bei El Tiempo hat mir gesagt, sie wollten wieder zurück nach Buenos Aires fliegen. Alle hatten bisher gesagt, sie wären noch in Río Grande, und zwar in der Chacra 2.

An der zweiten Unidad Básica weiss auch keiner was von einem Japaner. In der Chacra 2 gebe es eine Unidad Básica, die hiesse Juan Perón. Vielleicht würden die da mehr wissen.

Im grossen, modernen Reisebüro von Aerolineas suchen sie mir die Namen aller Passagiere raus, die in der vergangenen Woche nach Norden geflogen sind. Die Nachnamen der beiden seien nicht sehr geläufig, das müsste rauszukriegen sein, meint die Angestellte. Nach einer Weile und mehreren Überprüfungen meint sie zu mir:

"Also, von hier sind sie diese und vergangene Woche mit Sicherheit nicht weg."

Sehr gut, das wollte ich wissen.

Es gibt noch zwei andere Reisebüros, Lade und Austral, die sind auch im Zentrum, da gehe ich auch hin und bekomme dasselbe Ergebnis. An einen Japaner können sie sich nicht erinnern. Da sie nicht über Land aus Río Grande wegkönnen, habe ich damit eine ziemliche Sicherheit, dass sie noch in der Stadt sind. Jetzt muss ich sie nur noch finden.

Viertel nach zehn ist es. Jetzt kommt meine Stunde, jetzt gehe ich zum Radio.

Die Sendestation von Radio Nacional ist auch mitten in der Stadt. Inzwischen bin ich schon gut darin geübt, mein Problem in wenigen Worten vorzutragen - auch der Moderator der laufenden Musik-Sendung versteht schnell, worum es geht. Wir sitzen im Senderaum, er spielt leichte Musik. Am Ende des Liedes sagt er mir, ich solle jetzt still sein, und gibt einen Aufruf an die Bürger raus, wer den Japaner und seine Freundin gesehen habe, solle beim Radio anrufen.

Er selber meint, die Chancen seien wohl nicht so gross, dass sich da jemand meldet. Zwanzig Minuten später macht er es nochmal und bezieht mich sogar ins Gespräch mit ein. Mein erster Radioauftritt live...

Leider meldet sich niemand.

In einer anderen Unidad Básica sagen sie mir, sie kennen auch keinen Japaner, aber in der Chacra 2 gebe es zwei Unidades Básicas. Was da auch immer stimmen mag. Toll, jetzt darf ich erstmal rauskriegen, wieviele Unidades Básicas es in der Chacra 2 gibt. Als erfahrener Anhalter höre ich es heraus, wenn die Angaben der Leute über die hiesige Mikrogeographie nicht viel taugen. Hier im Zentrum scheint sich niemand in der Chacra 2 auszukennen.

Und wieder in die Chacra 2, ich muss diesen Beto finden. Von einer Unidad Básica, die Juan Perón heissen soll, weiss hier in diesem Wohnviertel jedenfalls keiner. Ich habe gestern in der Chacra 2 auch keine Menem-Plakate gesehen, nur im Zentrum sind sie an jeder Ecke.

Um zwölf bin ich wieder an der Anónima. Der Laden ist fast leer. Aber die pibes sind da - oh, ja, drei, der dritte muss Beto sein, tatsächlich. Jetzt wird es nochmal spannend. Jetzt oder nie. Luis und Pedro haben ihm schon erzählt, warum ich hier bin.

"Hey, Beto, du bist der einzige, der mir weiterhelfen kann. Du weisst die Adresse von denen. Die sind doch noch in der Chacra 2, oder?"

"Ja, die sind noch hier, glaub ich."

"Kannst du mir die Adresse geben?"

"Hm. Weiss ich jetzt nicht, die Adresse."

"Aber du weisst, wo die wohnen?"

"Ja, kann sein. Aber den Strassennamen weiss ich jetzt nicht."

"Che, ich häng hier auf der Strasse rum, und weiss nicht, wie ich die finden soll. Seit vierundzwanzig Stunden such ich die jetzt schon, bin bei allen möglichen Leuten gewesen, war beim Radio, bei der Zeitung, den Reisebüros, die haben mir alle nicht weiterhelfen können, und du weisst, wo die wohnen, dann kannst du mir es doch wenigstens mal zeigen."

"Ja, gut. Komm am Montag mal vorbei."

Dieser Kerl! Ich fass es nicht! Adalberto kommt hinzu.

"Was ist denn, che? Weisst du jetzt, wo die wohnen oder nicht?"

"Ja, er weiss es."

"Nein, ich selber weiss es nicht. Mein Vater weiss es, aber ich weiss es nicht."

"Ja, dann bring ihn doch zu deim Vater!"

"Ja, ich hab ja gesagt, er soll am Montag mal vorbeikommen. Hab keine Zeit jetzt -"

"Was, du hast keine Zeit?! Wie lang soll der denn noch warten?! Che, du bringst den jetzt zu deim Vater, und zwar auf der Stelle, sonst gibts hier Zoff, ja?! Du gehst mit ihm zu deim Vater, fragst, wo die wohnen, und bringst ihn dann dahin, ja? Er kennt sich hier nicht aus. Und vorher brauchst du hier gar nicht wiederzukommen."

Mann, das hat jetzt aber gebraucht, bis dieser Junge in die Latschen kam. Ich sag mal lieber nichts auf dem Weg, ist sicherer. Jetzt oder nie.

Wir kommen bei seinem Haus an, es ist die Prefectura Naval 1052. Genau vor diesem Haus stand ich gestern und konnte mich nicht für eine der acht Klingeln entscheiden. Er klingelt. Dritte Klingel von unten. Und ist sein Vater da?

Ja, er ist da! Noch einmal muss ich die ganze Geschichte erzählen, nicht von vorne, sondern alles durcheinander, solange, bis es ihm zuviel wird und er mich möglichst schnell wieder los sein will.

Wir gehen ein paar Blocks weiter durch die Trabantenstadt und zu einem Wohnblock, wo ich gestern nacht den Eindruck hatte, hier würde keiner wohnen. Goytisolo 684. Zwanzig nach zwölf. Er klingelt an einer Tür. Wer macht auf?

Claudia und Leo! Ich habe sie gefunden!

Sie waren nicht schlecht überrascht. Zwei Wochen blieb ich bei ihnen. Wir hatten uns viel zu erzählen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung im Neubauviertel hatten sie tatsächlich über den Kontakt mit einer Unidad Básica bekommen - natürlich einer im Zentrum und einer von denen, die ich nicht besucht hatte.

Ich erfuhr, dass es in Argentinien sehr wohl erlaubt war, ein leerstehendes Haus oder eine leerstehende Wohnung zu besetzen, man durfte sogar das Schloss dazu aufbrechen. Genau das hatten sie hier gemacht. Sie lebten mit drei anderen Leuten aus dieser Unidad Básica hier.

Miete brauchten sie nicht zu zahlen, weil das Haus leerstand. Gas (Heizung) und Wasser stehen ihnen auch zu, brauchten sie auch nicht zu bezahlen. Nur Strom. Weil keiner Geld hatte, gab es also auch keinen Strom. Wasser lief nur zwei Stunden am Tag, die Wasserwerke streikten. Wenn das Wasser kam, drehten sie alle Wasserhähne auf, stellten Eimer drunter und warteten. Die Wasserwerke würden noch wochenlang weiterstreiken und die Temperaturen würden so kalt bleiben.

Claudia arbeitete tatsächlich als Babysitterin bei einer Prostituierten, Susana, die ebenfalls hier im Haus wohnte. Auf die Weise war Claudia die einzige, die Bargeld in den Haushalt einbrachte. Wirklich fast die gesamte restliche Wirtschaft lag brach, keiner fand auch nur für fünf Minuten einen Gelegenheitsjob.

Abends gingen wir manchmal zu Susana runter, unterhielten uns mit ihr über die Probleme des Alltags. Ihr amigo kam jeden Tag um drei betrunken nach Hause und passte entgegen seinen Versprechungen nicht auf die Kinder auf. Deswegen musste Claudia einspringen.

Leider zahlte sie Claudia auch nur am Anfang zuverlässig aus. Claudia, Leo und ich wechselten uns im Babysitten ab, freundeten uns mit den Kindern an und machten es am Ende vor allem, weil uns die Kinder leidtan. Schade, dass Susana am Ende anfing, das auszunützen.

Essen mussten wir uns organisieren. Jeder ging woanders hin. Beim Supermarkt gaben sie uns ein wenig Gemüse oder ein paar Konserven. Es war ihnen lieber, wenn die armen Leute im Supermarkt fragten, als wenn sie klauten. So bekamen wir oft das, was sonst sowieso weggeworfen wurde und über dem Verfallsdatum war.

Manchmal gab es Reis, Mehl, Tee oder sogar Zucker bei einem der Lager, wo die Trucks ankamen. Claudia schnappte sich eines der Kinder und ging zur Caritas. Dort gab es Rationen, die an die armen Leute, vor allem an die Frauen mit kleinen Kindern, vergeben wurden.

Alles, was reinkam, wurde geteilt. Am meisten mangelte es an Zucker. Doch schon bald gab es Probleme.

Die zwei Jungen von der Menem-Partei waren auch noch nicht lange in Río Grande. Irgendein frisch gewählter Politiker der peronistischen Partei hatte ihnen versprochen, ihnen in der Verwaltung später einen Job zu verschaffen, falls Feuerland eine eigene Provinz würde.

Ich fragte mich schon lange, was denn in Argentiniens Zweiparteiensystem links und rechts war - ich bekam es nicht heraus. Es gab Radikale und Justizialisten - was war links? Die Peronisten waren links, antworten die beiden im Chor, fast um einen Anspruch durchzusetzen, die Guten zu sein, einen Anspruch auf höhere Ideale. Doch die Radikalen unter Raúl Alfonsín behaupteten von sich dasselbe, als sie 1983 an die Macht kamen - sie hatten sich offenbar noch lauter als die Peronisten gegen die Militärs ausgesprochen.

Doch die idealistischen Ansprüche unserer frisch gebackenen justizialistischen Politiker mit dem Traum von einer neuen Welt fanden in der engen Wohnung schon nach wenigen Tagen eine Ernüchterung. Schnell mussten sie erkennen, dass es offenbar doch nicht ganz so einfach war, die Welt zu verbessern.

Die Konflikte drehten sich vor allem um den Zucker. Zucker war eine ganz eigenartige Ware. Etwas Zucker wurde zum Kochen gebraucht. Der meiste Zucker aber wanderte in den Tee. Zucker als Luxusgut. Ein Rest von Luxusgefühl in einem Leben am Rande des Existenzminimums.

Am Anfang wurde er geteilt. Aber Zucker war immer knapp. Dann regten sich die einen auf, die anderen würden sich zuviel Zucker in den Tee nehmen. Es kam dazu, dass Zucker versteckt wurde. Daraus entwickelten sich Cliquen. Claudia, Leo und ich hatten immer genug Zucker, weil wir weniger verbrauchten und wir ihn uns gut einteilen konnten - während die beiden anderen nicht so viel organisierten und mehr verbrauchten, sodass sie selten genug hatten. Was dann zu Neid und Konflikten führte. Politik im Kleinen.

Einmal fuhr ich auf die Estancia und brachte jede Menge Schafsfleisch mit, soviel ich tragen konnte. In der Mackinlay entdeckten wir eine Art Sperrmülllager und organisierten uns Möbel.

Der Ausnahmezustand wurde beibehalten, wirkte sich auf das Leben aber kaum aus. Nachts nach zehn ging bei der Kälte sowieso niemand freiwillig auf die Strasse. Und die Inflation bekamen sie wie erwartet auch nicht in den Griff - jede Woche sank der Wert des Austral um die Hälfte. Es wurde bald üblich, Waren in Naturalien zu bezahlen.

Irgendwie schienen mir die Leute in Argentinien oftmals tiefgründiger, spiritueller als Europa. In unserer Wohnung diskutierten wir lange Abende über Glaubensfragen oder den Sinn des Lebens. Sergio, offenbar überzeugter Atheist und einer der beiden Peronisten, vertrat während eines abendlichen Gesprächs die Ansicht, Jesus von Nazareth sei nicht gekreuzigt worden, sondern habe das Land verlassen und sei in Kashmir gestorben. Es schien einige Anhänger dieser Version zu geben.

Am folgenden Abend befand ich mich allein in der Wohnung und dachte über Sergios Argument nach. Wenn das so gewesen wäre, wie er es darstellte, überlegte ich mir, hätten die Frühchristen entweder gelogen oder sich zumindest etwas vorgemacht - doch aus welchem Grund hätten sie das tun sollen? In diesem Moment blickte ich zufällig auf die Fensterfront des drei oder vier Meter breiten kahlen Raumes - und erschrak.

Ein Gesicht! Ich wurde beobachtet!

Regungslos blieb ich stehen. Ein schauderliches Gesicht blickte mich an. Die Fensterfront, die auf den gespenstig beleuchteten Hof der Trabantenstadt zeigte, bestand aus drei hochkantigen Scheiben. Auf der rechten Scheibe leuchtete mir ein riesiger Schädel entgegen. Ich war alleine in der Wohnung und rührte mich nicht von der Stelle. Doch das furchterregende Gesicht blieb ruhig, bewegte sich nicht, sah mich immer nur an. Es dauerte eine Zeit, bis ich mich an den Anblick gewöhnt hatte.

Fürchtet euch nicht, ging mir durch den Kopf. Langsam begriff ich, was an diesem Winterabend vor sich ging.

Physikalisch war es ganz einfach zu erklären. Alle Fenster waren von innen stark beschlagen, mit kleinen Wassertropfen, die vom fahlen Licht der Strassenlampen beleuchtet wurden und weiss glänzten. Die rechte Fensterscheibe war jedoch nicht ganz dicht - am Rand strömte unablässig kalte Luft herein, sodass die Wassertropfen am Rand verdunsteten und der Luftstrom diese Stellen vor dem Hintergrund der Nacht tiefschwarz scheinen liess. Hier konnte das Wasser nur an einigen Flächen in der Mitte kondensieren. Zusammen mit alten Fingerspuren und heruntergelaufenen Wassertropfen sah das entstandene Muster, aus einem bestimmten Winkel des Zimmers betrachtet, einem Gesicht mit grosser weisser Schädeldecke erschreckend ähnlich.

Es war natürlich der reine Zufall, dass ich ausgerechnet über den Gekreuzigten nachgedacht hatte, als ich den Schädel am Fenster aus dem genau richtigen Winkel bemerkte. Wie eine Bestätigung meiner skeptischen Überlegung. Eben, schien es zu sagen.

Nach einiger Zeit hatte ich mich wieder beruhigt und holte Claudia von unten, die in Susanas Wohnung mit Leo auf die Kinder aufpasste. Sie sah zwei Tränen aus einem Auge laufen, die ich aus meinem Winkel nicht gesehen hatte, und meinte, das Bild erinnere sie an Che Guevara. Leo, den Japaner, erinnerte das Bild an Jesus mit seiner Dornenkrone und Bluttropfen am Kreuz, den er sich immer so vorgestellt habe, auch wenn er vom christlichen Glauben wenig wusste. Ich fand es eine nette Begebenheit, setzte mich hin und malte das Bild ab.

Claudia und Leo wollten nach Chile. Sie hatten Probleme, aus Feuerland wegzukommen, weil sie kaum noch den Rückflug aufs argentinische Festland bezahlen konnten. Allerdings kannten sie sich mit den Gesetzen nicht aus und wussten nur, dass sie als zwanzigjährige keine vollen Bürgerrechte hatte, dass aber Ausnahmen möglich seien. Ich bot ihnen an, mich zu erkundigen.

Und musste bald erkennen, es war gar nicht so einfach, an eine juristische Auskunft in Río Grande zu kommen. Ich erfuhr im Rathaus den Namen eines Richters, Dr. Bassanetti, der dem Mädchen eventuell eine Sondergenehmigung ausstellen könnte. Wieder fand ich mich im Foyer der Casa de Financias wieder. Bassanetti würde nach einer Sitzung die Treppe herunterkommen, wurde mir gesagt. Wie er aussah, konnten sie mir nur schlecht beschreiben. So beliebt wie Julio Leite schien er nicht zu sein. Egal. Ich hatte mich perfekt vorbereitet.

Hier kommt er, sagte mir einer, und im selben Moment kamen mehrere Herren mit Anzügen und Aktenkoffern die Treppe herunter. Mist, welcher war es jetzt?

Ich stellte mich vor die Treppe und richtete mich mit deutlicher Stimme an die Männer, die die Treppe herunterkamen.

- ¿Doctor Bassanetti?

- Ja? Was kann ich für Sie tun?

War ich froh, dass das geklappt hatte. Ein freundlicher Richter mit Halbglatze wandte sich mir zu. In wenigen Worten erklärte ich ihm Claudias Problem.

Nein, eine solche Sondererlaubnis könne er nicht ausstellen, ihr Vater könnte Probleme machen. Etwas anderes wäre es, wenn sie heiratete. Sie durfte heiraten, auch ohne Kenntnis und gegen den Willen ihres Vaters, und dann wäre sie auch frei. Eine verheiratete Frau wurde als selbständig genug betrachtet und brauchte den Schutz des Vaters nicht mehr.

Immerhin, eine stichhaltige juristische Auskunft in Argentinien, vom Richter persönlich. Ich war sehr zufrieden. Was nicht alles möglich war.

Claudia war überhaupt nicht zufrieden. Sie wollte nicht heiraten müssen, nur um einmal durch Chile fahren zu können. Leo hätte es gemacht, aber Claudia war erst vor wenigen Tagen zu einer Heirat gezwungen worden und hatte vorerst keine Lust mehr. Was für ein Scheiss-Land, ärgerte sie sich. Damit traf sie die Stimmung in ganz Argentinien ganz gut. Es gab wenige Länder in Südamerika, in denen sie auf ihr Land so schlecht zu sprechen waren wie hier.

Das schönste Ereignis spielte sich mitten in der Nacht im gespenstisch beleuchteten Neubauviertel ab. Wir waren gerade beim Babysitten in der Parterrewohnung von Susana. Wochenlang war es schon bitterkalt gewesen, aber wenigstens ohne Stürme und Schnee. Doch an diesem Abend war es stürmisch, als zu allem Übel auch noch Schneeflocken an die Scheiben klatschten und die geteerten Höfe im Nu von einer weissen Schneeschicht überdeckt waren. Was für ein Sauwetter, sagte ich mir. Claudia zog sich nicht einmal an, sah nur die Schneeflocken, rannte raus und jubelte eine halbe Stunde vor Freude.

Sie war in Buenos Aires aufgewachsen und hatte noch nie in ihrem Leben Schnee gesehen.

Die Woche darauf war Río Grande unter einer dicken Schneedecke versunken, ganz Feuerland war weiss. Die Strassen der Stadt waren eine Woche lang mit einer festgefahrenen Glatteis-Schicht bedeckt, einen Streudienst gab es in Río Grande nicht. Irgendwie hatte ich die Stadt liebgewonnen, auch wenn es keine Zukunft gab.

Eines Abends ging ich mit Claudia ans Meer, während Leo auf die Kinder aufpasste. Der Strand war nur eine Viertelstunde entfernt. Über dem Meer war der Vollmond aufgegangen. Claudia erzählte mir von sich und ihrer Oma, mit der sie sich auf einer transzendentalen Ebene zu verstehen schien. Ihre Oma schien spüren zu können, wenn es Claudia schlecht ging, wenn sie krank war, auch wenn sie hunderte von Kilometern entfernt wohnten. Die Kommunikation gehe über den Mond, meinte sie. Der Mond habe für sie eine ganz besondere Bedeutung.

Ich war skeptisch. In Büchern hatte ich gelesen, dass es so etwas geben konnte, aber an den Mond zu glauben war lange aus der Mode. Der Mond sei einfach ein Himmelskörper, eine Kugel mit dreitausend Kilometer Durchmesser, kein Ort der Geister und Götter. Ja, aber das ging irgendwie trotzdem, meinte sie.

Wir kamen am Strand an. Sie machte einen Vorschlag.

- Ich gehe in die Richtung und du in die andere. Du gehst solange wie du willst. Irgendwann wirst du umkehren und wieder zurückgehen. Ich auch. Und dann werden wir sehen, wo wir uns treffen. Wichtig ist, dass du immer gleich schnell gehst. Wie schnell du gehst, ist egal, aber du musst immer gleich schnell gehen.

Sie ging nach Norden, ich nach Süden. Schon nach wenigen Schritten in die Dunkelheit konnte ich Claudia nicht mehr sehen. Kleine Wellen schwappten im fahlen Mondlicht an den Strand. Ein paar Algen und Miesmuscheln lagen am Wasser. Wie lange ging ich vor mich hin? Vielleicht eine halbe Stunde. Es war wie im Winter an der Ostsee. Ich mochte den kalten Sandstrand, das Meer wirkte beruhigend. Wann ich wohl umdrehen sollte?

Plötzlich hielt ich an. Der Mond. Ich sah den Mond am wolkenlosen Himmel. Mond. Hoch über dem Meer. Ich betrachtete ihn eine Zeitlang. Ob ich umdrehen sollte? Wie klar der Mond war. Und eine Art Wärme strahlte er aus. Nun gut, dann drehte ich eben um.

Der Mond begleitete mich auf meinem Rückweg. Komischer Mond. Als ich Claudia traf, stellten wir fest, dass sie ein paar Kilometer weiter nördlich im selben Moment umgedreht haben musste, denn wir trafen uns fast genau an der selben Stelle wieder, wo wir auseinandergegangen waren.

- Siehst du, das meinte ich mit dem Mond. Mich überrascht nicht, dass wir uns hier wieder getroffen haben. Ich habe das auch schon mit anderen gemacht. Einmal sogar über mehrere Stunden.

Die Zeit in Río Grande endete damit, dass ich mich, besonders nach dem Erlebnis am Strand, ein bisschen in Claudia verliebte. Genauer, sie hatte sich zuerst in mich verliebt. Ich fand das selber nicht gut, vor allem, weil es Leo gegenüber unfair war. Meine Gefühle kamen ganz durcheinander. Aber manchmal half es nichts, nachzudenken. Das Leben wollte offenbar auch gelebt werden. Mir gefiel auch nicht, dass sie Raucherin war. Ich ging zum Strand, schwamm eine Runde im eiskalten Wasser des Atlantik und sah die Welt danach vielleicht ein wenig klarer und weniger verbissen.

Irgendwann eskalierte es auch zwischen Leo und den beiden Peronisten, die sich inzwischen in einem eigenen Zimmer eingerichtet und sich von uns abgesetzt hatten. Sie fühlten sich von der ruhigen Art des kleinen Japaners provoziert - unterschätzten jedoch, dass der sensible Supermarkt-Bodyguard seine Selbstverteidigungstechniken zwar nur ungerne, aber dennoch gut gelernt hatte.

Claudia war selber auch kein Engel. Eines Morgens wachte sie auf und klagte über Bauchschmerzen. Die anderen hatten keine Ahnung von Medizin - so holte ich meinen kleinen Zettel aus Honduras, abgeschrieben von Donde no hay doctor, mit sämtlichen Krankheitssymptomen, ging die Liste durch und blieb bei peritonitis stehen. Symptome: starke Schmerzen, Patient lässt Berührung der Bauchdecke nicht zu. Erste Hilfe zwecklos, Patient sofort ins Krankenhaus, Verdacht auf Bauchfellentzündung.

Panisch rannte ich die Strassen der Chacra 2 herunter zur Panamericana, hielt das nächstbeste Auto an, liess mich am Ortskrankenhaus absetzen und stürzte in die Notfallstation. Das argentinische Gesundheitswesen war nicht schlecht organisiert - kaum hatte ich Claudias peritonitis-Symptome geschildert, brausten sie mit mir auch schon im Krankenwagen in die Chacra 2.

Claudia wurde umgehend ins Krankenhaus gebracht, die Notärzte hatten meinen Verdacht auf peritonitis bestätigt. So musste ich mir am Ende wenigstens keine Vorwürfe machen, das argentinische Gesundheitswesen ausgenutzt zu haben - Notfälle wurden in Argentinien kostenlos behandelt. Denn als Claudia erfuhr, dass sie im Krankenhaus nicht rauchen durfte, hatte sie auf einmal wundersamerweise keine Bauchschmerzen mehr und kurze Zeit später war sie mit Leo aus dem Krankenhaus verschwunden.

Leo konnte mit ihr nicht besonders glücklich sein - er war sensibler als sie und litt sehr darunter, wenn sie ihm sagte, sie fühle sich austauschbar oder er verstehe sie nicht. Sie selber wusste auch nicht, was sie wollte, wirkte sehr unruhig. Zwei Selbstmordversuche schien sie schon hinter sich zu haben. Ob Leo die Kraft hatte, sie aufzufangen? Leo mochte ich sehr gerne. Ich sei etwas durcheinander, meinte er zu mir.

Als ich Claudia sagte, ich würde abreisen, sagte sie regungslos aha. Julio Leite und die Leute aus dem Anónima-Supermarkt waren herzlicher. Irgendwie habe ich die Stadt liebgewonnen, auch wenn es keine Zukunft gab.

Von Claudia und Leo habe ich nie wieder etwas gehört.

Schade eigentlich.

35

El pero del sábado -

Ein Lächeln in Buenos Aires

Tramp dreihundertfünfundsechzig zur Estancia Sara, wo ich noch einmal eine Nacht verbrachte, um am nächsten Tag ein letztes Mal nach Punta Arenas aufzubrechen. Wieder wanderte ich stundenlang an der Panamericana über die einsame Graslandschaft, und wieder kam ich am Abend bis Cullen. Doch diesmal bot mir angesichts der kalten und verschneiten Winterlandschaft einer der Mitarbeiter der Erdölgesellschaft Copec an, die Nacht in einem ihrer warmen Gebäude zu verbringen. Ich fühlte mich wie in einem Fünf-Sterne-Hotel.

Norbert hatte nach Punta Arenas geschrieben - die chilenische Post war sicherer als die argentinische in der Wirtschaftskrise. Norbert schrieb mir alles von der Geburt ihres Kindes. Auch Marion hatte mir ein paar nette Zeilen geschrieben.

Ich besuchte die Luftwaffenkaserne in Chabunco und bekam sogar einen Termin mit dem dortigen Luftwaffengeneral persönlich - nein, Besucher könnten sie auf ihren Kontrollflügen in die Antarktis wirklich nicht mitnehmen. Der Service-Bereich der chilenischen Militärs befand sich offenbar immer noch im Umbruch.

Als ich am 27. Juni 1989 zum letzten Mal aus Punta Arenas heraustrampte, ein langer Weg nach Brasilien lag vor mir, nahm mich ein deutschstämmiger Chilene mit, der hier für eine Kühlschrankfirma arbeitete.

- Ich könnte dich mitnehmen in die Antarktis, ich fliege da alle ein-zwei Monate hin und könnte dich als Beiflieger mitnehmen, das wäre kein Problem.

Wartung von Kühlschränken auf den Forschungsstationen in der Antarktis... auf was für ungewöhnliche Ideen die Leute nicht alles kamen. Wenigstens den Namen dieser Geräte hätten sie hier ändern können, deren Innentemperatur locker fünfzig Grad über der Aussentemperatur liegen konnte. Doch nun war ich endgültig auf dem Weg nach Norden.

Ein Lkw nahm mich bis Kilometer sechzig mit. Im Radio spielten sie ein deutschsprachiges Lied. Es war das einzige Mal in Südamerika, dass ich ein deutschprachiges Lied im Radio hörte. Nena: Neunundneunzig Luftballons...

In Río Gallegos machte ich noch einmal ein paar Tage Pause und wohnte in Makeys Holzhütte. Morgens ging ich mit ihm über die Müllhalde und sammelte mit ihm Kupferdrähte aus alten Fernsehern, Aluminium und andere brauchbare Metalle. Geil, Turnschuhe!, meinte er plötzlich. Ich sah ihn fragend an. Gut zum Heizen, erklärte er mir.

Ganz so perfekt wie es in Punta Arenas den Anschein gehabt hatte, war Makey auch nicht. Mir gefiel die Art nicht, wie er mit seinem grossen schwarzen Hund umging. Sehr ausgeglichen und mit sich selbst zufrieden schien er nicht zu sein. Aber wer war das schon.

An der Panamericana stand reichlich monumental das grosse gusseiserne Denkmal von Eva Perón. Die Mutter Argentiniens, die ihre Kinder zum Sieg führte. Oder in die Zukunft. Mit entschlossenem Blick auf das Binnenland Patagoniens - und Makeys Müllhalde.

Wo momentan auch Argentiniens Zukunft angesiedelt zu sein schien. Ein paar cuadras weiter hatten andere Argentinierinnen auf einer langen weissen Mauer ein Graffiti hinterlassen.

Pueden cortar todas las flores - pero no impedirán que llega la primavera.

Madres Plaza de Mayo

Ihr könnt alle Blumen pflücken - aber ihr werdet nicht verhindern, dass der Frühling kommt. Es waren Frauen gewesen, die die argentinische Militärdiktatur besiegt hatten. Immer mehr Mütter der ermordeten und verschwundenen Regimegegner hatten sich Woche für Woche auf der Plaza de Mayo vor dem Regierungsgebäude in Buenos Aires versammelt - solange, bis die Militärs dem immer stärkeren Druck nachgeben und in die Kasernen zurückkehren hatten müssen.

Sie hatten es ausgenutzt, dass in der argentinischen Gesellschaft die Mutter traditionell einen derart hohen Respekt geniesst, dass selbst Soldaten nicht dazu gebracht werden konnten, gegenseitig ihre Mütter zu töten. Nur aufgrund dieser besonderen Situation konnten die Frauen es überhaupt wagen, schon in den siebziger Jahren mitten in Argentiniens Hauptstadt ihre Stimme zu erheben. Alle anderen riskierten die sofortige Verhaftung.

Die meisten Regierungen Europas, auch die SPD-Regierung in Deutschland, sahen tatenlos zu, wie unbeteiligte Touristen verhaftet, gefoltert und ermordet wurden. Nur Frankreich setzte sich für seine Bürger ein. Als 1978 die Fussball-Weltmeisterschaft ausgetragen wurde, war der französische Fussballverband der einzige, der es ablehnte, in Stadien wenige Meter von den Folterkasernen zu spielen, in denen tausende junger Menschen qualvoll umgebracht wurden.

Nur die Mütter Argentiniens hatten den Mut aufgebracht, die Täter anzuklagen. Allerdings konnten sie nicht verhindern, dass sämtliche Massenmörder von den Peronisten kurze Zeit nach dem Machtwechsel per Generalamnestie freigesprochen wurden. Menems Partei war keinesfalls besser als die von Alfonsín. In keinem Land waren die Menschen so schlecht auf ihr Land zu sprechen wie in Argentinien.

In der Wirtschaftskrise fuhren kaum noch Trucks die Panamericana entlang. Am nächsten Tag kam ich bis San Julián, danach bis Caleta Olivia. Von dort bis Comodoro waren es achtzig Kilometer. Ich entschloss mich zu gehen. Irgendein Auto würde schon anhalten. Doch als es dunkel wurde, ging ich immer noch die Strasse entlang, die sich an der Atlantikküste hielt. Sehr abwechslungsreich war sie nicht.

Nach zwölf Kilometern kam ein Hund vorbei.

Und nach vierzehn Kilometern hielt neben mir völlig überraschend eine klapprige alte Ente an. Der Fahrer des Citroën 2CV hiess Rafael. Er lud mich zu seiner Familie ein.

Rafael und Gloria wohnten mit ihrem Kind in Diadema, einem Vorort von Comodoro. Hinterher stellte ich überrascht fest, dass ich mehr als zwei Wochen bei ihnen geblieben war. Sie besuchten viele Bekannte und Verwandte und erzählten mir viel über ihr Land. Glorias Familie waren Mapuche-Indianer aus dem Andenvorland. Sie hatten sehr interessante Bücher über die Geschichte Patagoniens vor einem Jahrhundert. Die Indianer waren hier nicht weniger grausam verfolgt worden als zur gleichen Zeit in den USA.

Und die Auswirkungen waren bis heute zu spüren. Als Gloria und Rafa ihrem Kind einen Mapuche-Namen geben wollten, mussten sie das erst gerichtlich durchsetzen. Auf dem Amt war argumentiert worden, das Gesetz erlaube nur argentinische Namen. Und das waren per Definition spanische Namen. Um die Argentinier endlich zu einer Nation zu einigen, weil sonst die Italiener in ihren Kolonien ihre Kinder Giorgio und nicht Jorge nennen würden, die Deutschen Heinrich und nicht Henrique und die Japaner Kaoru und nicht Carlos. Nur die Engländer in Patagonien durften englische Namen haben.

Es dauerte zwei Instanzen, bis sie die Gerichte davon überzeugt hatten, dass wenn hier irgendjemand das Recht hatte zu definieren, was argentinische Namen waren und was nicht, dann die einheimischen Indianervölker. Die hier schon Namen vergeben hatten, als es diesen komischen Staat noch gar nicht gab.

Mit katholischer Staatsreligion. Widersprüchlicher konnte sich ein Land wohl kaum darstellen. Der Präsident des Landes musste per Gesetz katholisch sein, er musste verheiratet sein, und zwar nach katholischem Recht. Nur die Anzahl der Kinder war offenbar nicht vorgeschrieben.

Carlos Saúl Menem war aber als Sohn syrischer Einwanderer Moslem, genauso wie seine Frau Zulema Fátima, mit der er auch moslemisch getraut war. Um zum Präsidenten Argentiniens gewählt werden zu können, musste er nicht nur offiziell zum Katholizismus konvertieren, sondern sich auch nachträglich katholisch trauen lassen. Relikte einer Geschichte, deren Wurzeln noch viel weiter zurück lagen als die barbarische Militärdiktatur der letzten Jahrzehnte, mit deren kaltblütigen Generälen katholische Würdenträger sanft lächelnd Tennis gespielt hatten.

Die Gegend im Andenvorland, in der die Mapuches wohnten, hiess Neuquén. Ich hatte die Provinz Neuquén vor einem halben Jahr nur kurz im Süden gestreift, als ich am See von Bariloche vorbei und weiter nach Süden getrampt war. Was für unmenschliche Szenen sich vor hundert Jahren im Neuquén abgespielt haben mussten, als den Indianern das Land abgenommen wurde, liess sich zwar erahnen, wenn man die Schönheit der Landschaft betrachtete und sich vorstellte, mit welcher Energie die Weissen damals herangegangen sein mussten, die Indianer von diesem Land zu vertreiben. Und wie sich die Indianer gewehrt haben mussten. In Büchern schwarz auf weiss nachzulesen, dass die Geschichte tatsächlich so abgelaufen war und mit wieviel Leid und Massengräbern die Ereignisse verbunden waren, war eine andere Sache. Nicht nur die USA, auch Argentinien stand schwer in der Schuld seiner Indianer.

Und dennoch hatten die Mapuches etwas, was die Nachfahren eingewanderter Europäer nicht hatten. Sie konnten stolz sein auf ihre Geschichte, auf ihre mutigen Vorfahren und auf ihr ureigenes Land. Sie hatten barbarische Zeiten überlebt und sie mussten sich bei niemandem entschuldigen. Schriftsteller wie Curapil Curruhuinca konnten in einer beneidenswerten Einfachheit den Blick über das weite herbstliche Land streifen lassen und sich in einer zeitlosen und ausdrucksvollen Sprache mit ihrer Provinz vereinigen[89].

Aber meine Augen schweifen wieder und wieder dorthin, wo das Licht am Horizont eintritt und zeigen mir eine einzigartige Natur, wild, vielfältig und reichhaltig, wunderschön, fabelhaft, unglaublich, so verschieden, ungewöhnlich, einmalig meine Natur. Im Buch einer grossen Liebe.

Ich bin im Neuquén. Ich bin aus dem Neuquén. Ich lebe den Neuquén.

Ich werde ziemlich viel Brennholz unter den Überständen stapeln müssen. Vieleicht zwanzig Meter.

Wird es reichen?

Die Blattränder der lenguas im Vorandenland haben sich rot verfärbt. Und ich weiss, dass es Herbst ist. Chomun Nguen. Inchechalineimi.

Inche Mapu che. Ich bin der Herbst.

Der Neuquén nieselt. Er nieselt Schnee. Inchepoyeneimi[90].

In ihrem Bücherregal fand ich auch ein Buch von Emilio Salgari. Sandokan. Der Tiger von Malaysia. Einfühlsam beschrieb der italienische Autor, wie sich Lady Marianna in Sandokan verliebte. Khalil Gibran hatte in seinem Buch Der Prophet geschrieben, die Liebe habe keinen anderen Wunsch als den, sich selbst zu verwirklichen. Lady Marianna und Sandokan unterhielten sich über belanglose Themen, über ihr Heimatland, die Piraten in Mompracem oder die Insel Labuan. Dabei verliebten sie sich.

Vielleicht ein bisschen schade, mühsam aus Büchern herauslesen zu müssen, wie Menschen sich verliebten. Aber manchmal ging es eben nicht anders. So wie ich aufgewachsen war, konnte ich mich in diese Thematik nur schwer hineinversetzen. Ich wusste nur, dass ich immernoch in Viktoria verliebt war. Damit umgehen konnte ich nur schwer. Auch aus Feuerland hatte ich ihr keinen Brief geschrieben. Wenn die Liebe sich selbst verwirklichen wollte, und wenn Gott Liebe war, würde sich ein Kontakt anscheinend irgendwann von alleine ergeben. Und wenn es durch einen Zufall wäre.

Sie gaben mir die Adresse von Glorias Schwester Estela in der Hauptstadt Buenos Aires. Sie sei schüchtern und ausserdem etwas verklemmt, sagte Rafael, aber daraus sollte ich mir nichts machen. Fast schien es, als seien sie nicht ganz so gut auf sie zu sprechen, und gaben mir gerade deswegen ihre Adresse?

Mitte Juli fuhr ich weiter, mit einem Truck vierhundert Kilometer nach Trelew, trampte von dort nach Puerto Madryn und wanderte, wie ich es gewohnt war, wieder einmal einfach die Panamericana entlang. Ich stand ungerne stundenlang an einem Ortsausgang. Gerne ging ich zu Fuss los und erarbeitete mir meine Tramps. Das war in dieser Gegend jedoch, wie ich wenig später einsehen musste, gar nicht so wenig riskant. Tramptechnisch war es sicherlich ein klarer Fehler.

Denn die Panamericana führte auch in dieser Gegend von Patagonien über zig Kilometer durch eine einsame Grassteppe. Heute hatte ich Pech und es hielt niemand mehr an. Hin und wieder rauschten Trucks vorbei, die auf freier Strecke jedoch grundsätzlich nicht anhielten. Kurz bevor ich losgegangen war, hatte ich zum Glück noch etwas richtig gemacht. Ich hatte meine Wasserflaschen aufgefüllt und noch einmal genug getrunken.

Nach vierzig Kilometern Fussmarsch legte ich mich in ein Rohr der unter der Strasse führenden Kanalisation und verbrachte eine ruhige Nacht. Über tausend Kilometer nördlich von Feuerland war der Winter nicht mehr ganz so kalt.

Auch am folgenden Tag lief ich noch zehn Kilometer - bis völlig überraschend ein Trucker auf freier Fahrt anhielt. So etwas war sehr selten. Er hatte wohl Respekt vor den fünfzig Kilometern, die ich gewandert war. Kam mit einem leeren Sattelschlepper aus Trelew und fuhr noch zweihundert Kilometer weiter bis nach Bahía Blanca.

Zwei Leute im Bus Terminal von Bahía Blanca - dort, wo ich die Nacht verbracht hatte und wo sie Claudia und Leo das Geld geklaut hatten - gaben mir eine Adresse von einem guten Freund in der Hauptstadt, Willy Moral. Bei ihm könnte ich jederzeit übernachten. Als Tramper schnappte man immer lauter Adressen auf.

Es hatte die ganze Nacht geregnet und hörte auch am Morgen nicht auf. Ich ging trotzdem los und verlief mich zunächst fürchterlich, als ich den Ortsausgang nach Buenos Aires finden wollte, die falsche Strasse entlang lief und riesige Pfützen umrundete. Ein Regenschirm hätte gar keinen Zweck gehabt - der Wind heulte um die Ecken und ich war froh, als der Regen im Lauf des Vormittags langsam nachliess. Niemand war bei diesem Wetter auf der Strasse. Ich verliess mich auf meinen Orientierungssinn und landete irgendwann bei einer YPF-Tankstelle am Rand der Stadt.

Ein Truck stand da. Ich fragte den Fahrer, ob er mich in die Hauptstadt mitnehmen würde. Trucker waren oft nicht sehr begeistert von der Idee, völlig durchnässte Tramper mitzunehmen. Andererseits machte ein fünfhundert Kilometer weit entferntes Ziel auch Eindruck.

- Wo kommst du denn her?

- Jetzt gerade aus Feuerland. Davor aus New York.

- Und wie ist das Wetter in Feuerland?

- Kalt und alles verschneit. Hätte ich mal bleiben sollen, dann wär ich jetzt nicht so nass.

- Kannst du Mate zubereiten?

- Na klar, das hab ich ja wohl inzwischen gelernt.

Ein Stück könne er mich mitnehmen, meinte er, und ich war froh, im Trockenen zu sitzen.

Mate war das Nationalgetränk in Argentinien - jeder Überlandtrucker hatte es gern, wenn einer ihm während der Fahrt Mate zubereiten konnte. Das war nicht unkompliziert - die Argentinier hatten eine richtige Kultur daraus gemacht. Ich mochte Mate lieber als Kaffee oder Tee. In der Estancia Sara gab es zusätzlich zum Lohn jeden Monat für die Arbeiter eine Ration Klopapier, Seife und ein paar Päckchen Mate der Marke Piporé.

Es war wieder eine der Fahrten, wo ich mich ständig fragte, wie weit er mich noch durch die verregnete grüne Landschaft fahren würde. Noch zehn Kilometer weiter, noch zehn Kilometer... am Ende waren es zu meiner grossen Freude über fünfhundert, als er in San Miguel del Monte vor den ersten Vororten des grossen Ballungsgebietes der Hauptstadt Buenos Aires den Motor seines Sattelschleppers abschaltete. Mit zwei weiteren Trucks kam ich in die Hauptstadt und fuhr mit ein paar micros zu Estelas Adresse.

Die Stadt war riesig. Zwölf Millionen Einwohner, hiess es. Es dauerte Stunden, bis ich mit den Kleinbussen die Innenstadt erreicht hatte. Zunächst musste ich nach Retiro, das war so etwas wie der Hauptbahnhof, und von dort noch ein paar Kilometer weiter nach Westen in das Viertel Belgrano. Die kleine Nebenstrasse hiess Blanco Encalada und ich hatte sie schnell gefunden. Estela begrüsste mich freundlich.

Die Argentinier waren Lebenskünstler. Estela hielt sich in der Wirtschaftskrise als Privatlehrerin für Englisch und Französisch über Wasser. Sie sprach sogar ein paar Worte Deutsch und hatte im Neuquén Kassetten ihrer Grossmutter aufgenommen, alte Erzählungen auf Mapuche, die sie nun versuchte zu verstehen. Aber es war offenbar nicht einfach. Sie musste noch besser Mapuche lernen.

Sie liebte die Gegend, aus der ihre Vorfahren kamen. An der Wand ihres dunklen Ein-Zimmer-Appartments im dritten Stock eines achtstöckigen Wohnblocks, dessen einziges Fenster in der Küche den Blick auf eine zwei Meter entfernte Hausmauer zuliess, hing eine kleine Postkarte mit einem Landschaftsmotiv aus dem Neuquén. Dieses Bild mochte sie besonders.

In dieser Zeit sah ich das Leben immer mehr als eine Aneinanderreihung von Lektionen, die ich zu lernen hatte. Auch mein Besuch bei Estela stand von vornherein unter diesem Vorzeichen.

Ich ging gerne durch die Stadt spazieren und fand dabei auch die Wohnung von Willy Moral, der zufällig nur ein paar Strassen weiter wohnte. Buenos Aires durchströmte besonders an den Abenden eine ganz besondere Atmosphäre, die es nur in dieser Stadt gab. Die Parks, die warme Strassenbeleuchtung und das stadteigene Strassenpflaster fügten sich in einer liebevollen Komposition zusammen, die fast ein bisschen morbide wirkte. Wie der Glanz einer vergangenen Zeit.

Ein besonderes Erlebnis war ein Besuch in der öffentlichen Stadtbücherei, die bei der Plaza de Mayo im Herzen der Hauptstadt lag und in der ich tatsächlich Sandokan von Emilio Salgari fand. Eine öffentliche Bücherei in Buenos Aires.

Schüchtern war Estela sicherlich nicht. Etwas zurückhaltend vielleicht, aber als verklemmt oder schüchtern hätte ich sie nicht bezeichnet.

Nicht immer war ich sensibel und rücksichtsvoll genug und konnte mich nur schwer in die Empfindungen anderer hineinversetzen. Estela hatte mir spontan angeboten, einfach im Schlafsack neben ihr zu schlafen und sagte auch nichts dazu, dass ich nackt schlief. Ich hätte es nicht gemacht, wenn ich mich nicht bei ihr wohl gefühlt hätte - das musste sie gespürt haben, und auch, dass ich mir nichts dabei dachte. Aber sie musste auch gespürt haben, dass ich, ohne dass sie etwas sagen musste, in wenigen Monaten von alleine begreifen würde, dass ich sensibler hätte sein und sie vorher fragen können.

Sie mochte es genauso wie ich, Texte von einer Kassette abzuschreiben. Die Idee erinnerte mich irgendwie an meine eigene Geschichte vom Dezember 1982, wo wir M-K's lange Erzählungen auf Kassetten aufgenommen hatten. Die Mapuche-Texte waren kaum zu verstehen. Englisch war aber auch nicht viel einfacher. Wir hörten We are the champions von Queen und versuchten, den Text herauszuhören. Eine andere Kassette mit romantischer Musik gefiel uns auch sehr gut. Don't you know - they're talking about a revolution it sounds... Wir wussten nicht, von wem die Lieder gesungen wurden, aber es klang schön.

Tracy Chapman.

Claudia hatte mir in Río Grande die Adresse ihrer Eltern in Buenos Aires aufgeschrieben. Estela hatte wie ich diese Art, sich spontan eine knifflige Aufgabe in den Kopf zu setzen und zu versuchen, sie zu lösen. Perón Ecke Italia im Stadtviertel San Miguel hiess die Adresse. Ich wusste auch nicht, warum ich dorthin wollte, aber vielleicht interessierte mich einfach nur, aus was für einer Familie das Mädchen wirklich kam. Wir fuhren zu zweit mit S-Bahn und micros hin und irrten eine halbe Stunde durch das Wohnviertel, bis wir resigniert aufgaben. Die Adresse schien es nicht zu geben.

An einem Nachmittag hatte sie frei und wir fuhren mit der S-Bahn in den Vorort El Tigre. Auf einer humorvollen Ebene verstanden wir uns schon nach wenigen Tagen so gut wie ein jahrelang verheiratetes Ehepaar. Ich zog sie mit Menem-Sprüchen auf und sie mich mit denen von Angeloz, weil für die Radikalen war. In Argentinien klangen Wahlkampfsprüche wie se puede (es ist machbar) etwas weniger verbissen als in den Ländern, wo sich Sozialisten und Bürgerliche gegenüber standen. In Argentinien war von vornherein klar, dass es eigentlich nur um die Macht ging. Politisch aktive Menschen mit Idealen von sozialer Gerechtigkeit gab es nicht. Woher auch, sie waren ja alle ermordet worden.

Eigentlich konnten Frauen mit meiner Art von Humor eher wenig anfangen, doch bei Estela war ich überrascht, wie gut sie darauf eingehen konnte. Wie ich hatte sie oft verschiedene Dinge gleichzeitig im Kopf, wirkte häufig abwesend und konnte sich manchmal nur schwer auf ein Gespräch konzentrieren. Niemand konnte so etwas besser verstehen als jemand, dem es genauso ging.

Kurz vorher hatte sie mir professionell erklärt, dass r und rr im Spanischen zwei verschiedene Konsonanten waren. Pero (= aber) durfte nicht verwechselt werden mit perro (= Hund). Nun ging es darum, ob wir am Samstag etwas unternehmen wollten und wenn ja, was. Ich fand es niedlich, wenn sie nicht ganz bei der Sache war, und wiederholte geduldig noch einmal, dass es um den Samstag ging. Irgendwas hatte sie sagen wollen.

- Also am Samstag-

- Am Samstag. El sábado.

- Ja, am Samstag. Am exakten Samstag.

- Richtig, wir könnten etwas am Samstag machen, aber- aber-

- Aber?

- Aber-

- Jetzt kommt das Aber. Das Aber vom Samstag. El pero del sábado.

- El pero del sábado-

- Ja, was ist denn jetzt el pero del sábado?

- El pero del sábado... - el pero del sábado... - que no es el perro del sábado-

Nicht zu verwechseln mit dem Hund vom Samstag.

Ich sah sie kurz an, ob sie das wirklich gesagt hatte, und musste sofort loslachen. Sie wusste genau, dass ich lachen würde. Sie lächelte. Sie konnte sich nur noch gefragt haben, würde ich sofort loslachen oder erst in einer halben Sekunde.

Völlig aus dem Stehgreif meinen Humor so genau zu treffen, und mir auch noch zuvorzukommen, das war schon eine Kunst. Wie kam sie so spontan darauf? Ob sie darauf schon hingearbeitet hatte und mich sogar absichtlich dazu gebracht hatte, von el pero del sábado anzufangen? Wie gut sie mich inzwischen kannte. Mein Gehirn arbeitete wahnsinnig schnell und es störte mich selber oft sehr, dass mir bei jedem Satz solche Wortspielereien durch den Kopf gingen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie mir tatsächlich zuvorkommen könnte. Und mehr noch, sie hatte es darauf angelegt, mich auf diesem Gebiet zu übertrumpfen. Uneingeschränkt musste ich ihr Respekt zollen. Ein Lächeln in Buenos Aires.

Danach folgte ein kurzer Moment der Unsicherheit. Es ging nicht plötzlich mehr um den Samstag. In der Luft lag etwas anderes. Wenn wir uns jetzt nicht berührten oder wenigstens tief in die Augen sahen - dann würden wir es wohl nie tun. Wenn wir uns verlieben würden, dann entweder jetzt in dieser S-Bahn oder gar nicht.

Schade, dachte ich mir. Schade, und ausgerechnet an mir musste das jetzt liegen. Schon ein paar Tage vorher war mir klargeworden, dass es an mir lag. Ich würde mich nicht in sie verlieben können.

Als wir in El Tigre ankamen, wurde mir klar, dass sie dieses Ausflugsziel mit Absicht ausgesucht hatte. Es war ausgeschlossen, dass es in Buenos Aires einen noch romatischeren Ort zum Verlieben gab.

Ich war derjenige, der nicht offen für sie war. Warum nicht? Ein Mädchen, das noch besser zu mir passte, konnte es nicht geben! Sie schminkte sich nicht, sprach fünf Sprachen, war stolz auf ihre indianische Herkunft, dokumentierte auf Kassette Geschichten ihrer Grosseltern und war es wie ich gewohnt, ein völlig unabhängiges und eigenständiges Leben zu leben. Ich fand sie wunderschön mit ihren langen schwarzen Haaren, ihrer schlanken Figur und ihrem klaren Gesicht einer Mischung zwischen Europäern und hellhäutigen Mapuche-Indianern. Wir verstanden uns auf Anhieb und sie hatte sich mit dem Satz que no es el perro del sábado regelrecht gekrönt. Es war so schade, dass es an mir lag. Was war der Grund?

Wahrscheinlich wieder mal Viktoria. Ob ich wieder nach Europa sollte? Verloren gingen wir unter schattigen grünen Bäumen in El Tigre spazieren, eine alte eiserne zweistöckige Obsthalle am grünen Ufer des Río Luján, einem ruhigen Zufluss des Río de la Plata. Ein paar Holzboote lagen im Wasser.

Und noch eine Gemeinsamkeit hatte ich mit ihr. Sie beschäfttigte sich wie ich mit spirituellen Fragen, Fragen nach dem Leben und seiner Funktionsweise. Und wie bei mir losgelöst von den Dogmen der Weltreligionen. In ihrem Regal fand ich ein Buch, Sufismo en Occidente. Sufismus im Westen. Ich wusste nicht, was Sufismus war, vielleicht eine zeitlose philosophische Richtung aus dem Orient[91].

Keine Religion, wie betont wurde. Die Rede war davon, dass die Weltreligionen dem Einzelnen selten zutrauten, über einen direkten Kontakt zu Gott zu den letzten aller tiefgründigen Wahrheiten zu gelangen. Zu den Antworten auf die letzten aller Fragen über das Leben, das Universum und dem ganzen Rest. Dass es aber mit ein bisschen Training durchaus möglich sei.

Vorausgesetzt, man konnte perfekt Spanisch und verstand die ziemlich abgehobene Sprache. Der Grundgedanke stimmte gut mit meinen Erfahrungen überein. Auch ich hatte inzwischen gelernt, mehr als nur Ja/nein-Antworten zu bekommen. Und vor allem, ohne spirituelle Anleitung von irgendeiner Seite.

Genau darin lag jedoch auch an dieser Richtung das Problem, erklärte mir Estela, die etwas besser Spanisch konnte und den Sufismus zwar nicht als Rligion, aber enttäuscht als Lehre bezeichnete. Denn auch hier war es letztlich so organisiert, dass Schüler-Lehrer-Verhältnisse bestanden und Schüler die bereits vorgefertigten Dogmen von Lehrern akzeptieren mussten. Ähnlich wie bei den Zeugen Jehovas. Es schien auch Hierarchien zwischen Männern und Frauen zu geben. Von einem direkten Zugang zu göttlicher Erkenntnis im Do-it-yourself-Verfahren mit kurzer methodischer Anleitung konnte keine Rede sein.

Ein Gedanke aus diesem Buch blieb dennoch hängen, weil ich ihn gut nachvollziehen konnte. Trotz der eigenartigen und bildreichen Sprache. Die Anhänger der Lehre gingen davon aus, dass die Leute durch religiöse Vorstellungen und reglementierende Rituale vorbelastet waren, von denen sie sich erst befreien mussten, bevor sie zu direkter Erkenntnis kommen konnten.

Es gibt einen Zeitraum zwischen dem Nahrungsentzug der Gehirnhälfte, die eher zur Reglementierung neigt und der Öffnung der anderen Gehirnhälfte, die zur direkten Erkenntnis befähigt. Aber die Leute sind selten darauf vorbereitet, die Zeit durchzustehen, die das Fieber braucht, sich zu beruhigen.

Hier trat eine Zeitkomponente zutage. Es schien Leute zu geben, die wie ich ungeduldig waren und sehr schnell zu direkter Erenntnis gelangen wollten. Hier war von einem notwendigen Zeitraum die Rede. Zeit, die von einem Erkenntnisstand zum anderen offenbar vergehen musste. Einfach nur Zeit. In der Schule war es auch so. Sonst wäre es ja möglich, einem Kind in einem crash-Kurs innerhalb von vier Wochen die gesamte Mathematik bis zum Abitur beizubringen. Doch auch hier waren lange Pausen zwischen den einzelnen Mathe-Stunden nötig. Auch Schulferien waren wichtig für das Lernen.

In ihrer Freizeit ging Estela öfter auf Parties, nahm mich mit und brachte mit ihrem Gast aus Deutschland einen Hauch von Exotik in ihren Freundeskreis. Ich wollte ihre Freundinnen und Freunde nicht umarmen und küssen, die es locker sahen und schon wussten, dass die Leute in Deutschland sich etwas distanzierter begrüssten. Sie liehen mir Wasserfarben aus und ich besorgte mir etwas Papier, denn ich hatte mir vorgenommen, Bilder zu malen.

Es ging ganz gut, auch wenn die Lichtverhältnisse in Estelas Wohnung schlecht waren. Während Estela tagsüber arbeitete, malte ich ein paar ausdrucksvolle Bilder von feuerfarbenen Sonnenuntergängen vor filigranen Ästen herbstlich-kahler Bäume und weiten Ebenen. Estela war begeistert. Ich sagte ihr nicht, dass ich in Wirklichkeit nur wenige Minuten für diese Bilder gebraucht und meine Zeit eigentlich damit zugebracht hatte, ein viel grösseres Bild mit dem Motiv der stimmungsvollen Landschaft ihrer Postkarte zu malen. Jeden Abend, kurz bevor sie kam, schob ich das eindrucksvolle Bild mit dem Nebel, der sich sanft ins Tal zwischen die blaugrünen Berge bei Epuyén gelegt hatte, wieder unauffällig unter ihr Bett.

Auch in Buenos Aires gab es keine Zukunft und es näherte sich unweigerlich der Tag, an dem ich weitertrampen würde. Ich hoffte, ich würde das Bild von Epuyén noch fertigbekommen, bevor sie mich darauf ansprechen würde.

Die schönste Szene erlebte ich wenige Tage bevor das Bild fertig war. Zwei Freunde hatten sie besucht und sprachen sie auf die Postkarte an ihrer Wand an. Und noch einmal beschrieb sie in wunderschönen Worten ihre Gefühle, die sie mit dieser Landschaft verband und wie sehr sie sich wünschte, dass das Bild grösser wäre. Vollkommen unbeabsichtigt machte sie damit nicht nur deutlich, dass sie überhaupt keinen Verdacht schöpfte, sondern auch, wie sehr sie sich über so ein Bild freuen würde.

Ich hatte unterschätzt, wie lange ich für das Bild brauchen würde. Einen Tag zu lange, stellte sich am Ende heraus. Eines Morgens sprach sie die unausweichliche Frage an, wann ich wieder gehen würde.

Heute abend, wenn sie damit einverstanden sei, antwortete ich ohne zu zögern. Irgendeine Ausrede hatte ich mir spontan überlegt, warum ich erst am Abend weg konnte.

Ich war enttäuscht. Sie musste tatsächlich gedacht haben, ich hätte mir selbst keine Gedanken darüber gemacht, wann ich nach Brasilien los wollte. In diesem Moment war ich einfach nur traurig, dass sie so wenig Vertrauen in mich hatte, und dass sie mich tatsächlich so einschätzte, ich würde sie ausnutzen. Wenn sie noch einen Tag gewartet hätte, hätte ich ihr das Bild am Abend gezeigt und sie hätte gesehen, mit was ich mich die ganzen Tage in ihrer Wohnung beschäftigt hatte. Und ich hätte ihre Augen sehen können. Nun war das vorbei, ein solcher Augenblick stünde unter einem schlechten Stern. Ich überlegte kurz, ob ich ihr das Bild überhaupt schenken oder lieber mitnehmen sollte, liess diesen Gedanken aber glücklicherweise wieder fallen. Ich brauchte noch einen ganzen Tag, um das Gemälde fertigzustellen. Und das würde ich auch tun.

Ich konnte jederzeit auch bei Willy Moral übernachten. Wir verabredeten uns so, dass ich in dem Moment das Haus verlassen würde, wenn sie nach Hause kam. Dann ging sie aus dem Haus und ich malte das grosse Bild zuende. Auf den Rand schrieb ich ihr ein paar Zeilen auf Kechua. Ich hatte ihr erzählt, dass ich Kechua sprach und wir hatten überlegt, wie man hier Leute finden konnte, die Kechua sprachen. In der peruanischen Botschaft vielleicht, hatte ich vorgeschlagen.

Pani, maimanta shamungui cashca yachangui - maipi cangui cashca yachashangui. Chaillamanta.

Schwester, du weisst, woher du kommst - und so wirst du wissen, wohin du gehst.

Um kurz vor zehn kam sie nach Hause und klingelte. Sie hatte nur einen Schlüssel, den sie mir tagsüber überlassen hatte. Das grosse Bild von Epuyén hatte ich zu meiner Zufriedenheit ausgezeichnet hinbekommen und an der grossen weissen Wand gegenüber der Wohnungstüre angebracht, perfekt ausgeleuchtet mit ihren Lampen. Kerzen hatte sie gemocht. Ich zündete zwei an und stellte sie feierlich auf den Tisch.

Dann nahm ich meine Sachen, ging nach unten und gab ihr den Schlüssel. Ein paar Dinge waren noch zu besprechen.

- Roberto hat angerufen, Roxana hat angerufen. Sie rufen dich zurück.

Te llaman pa'tras. Argentinisches Spanisch war wirklich eine schöne Sprache. Paula und Horacios Pinsel und Farben waren in der grossen Tüte, auf der Cuori stand, was italienisch war und Herzen hiess, corazones. Sie sagte, sie wollte mir schreiben. Ich war überrascht. Sie wollte nicht einmal wissen, wo ich heute übernachtete - warum wollte sie mir schreiben? Ich sollte ihr eine Adresse aus Brasilien schreiben. Damit sie mir schreiben könne. Auf Deutsch oder Portugiesisch, meinte ich lächelnd.

- Ja, oder auf Spanisch.

Das war streng. Vielleicht wollte sie sich wirklich die Mühe machen und mir schreiben, was ich hier falsch gemacht hatte und wo ich hätte sensibler sein können. Aber wenn sie sich etwas überlegt hatte, was sie mir schreiben wollte - würde sie diese strengen Gedanken nicht wieder in Zweifel ziehen, wenn sie das fertige Bild von Epuyén sehen würde? Ich tat so, als hätte ich nichts herausgehört.

- Oder in Kechua. Dann kannst du dir das in der peruanischen Botschaft übersetzen lassen. Dir scheint du wirst Kechua nicht brauchen? Die Dinge sind nicht immer so wie sie scheinen.

Sie gab mir einen Kuss zum Abschied. Ich war überrascht, weil es offenbar ehrlich gemeint war. Ich bedankte mich stilvoll mit einem Menem-Plakat, das sie lächelnd entgegennahm und, dafür war es ja auch gedacht, wahrscheinlich ebenso lächelnd im nächsten Papierkorb im Treppenhaus entsorgte.

Als sie im Treppenhaus verschwunden war, ging ich los in Richtung der Avenida Cabildo. Vier Minuten waren es bis zur O'Higgins, in der Willy Moral wohnte. Ich war so dankbar für diese stilvolle Abschiedsszene vor einem Wohnhaus auf dem Bürgersteig der Blanco Encalada im Stadtviertel Belgrano, Buenos Aires.

Wie mag sie reagiert haben, als sie das Bild sah? Ob sie es behalten hat? Die Worte in den gepinselten Buchstaben der fremden Sprache, die sie las, mussten unzweifelhaft Kechua sein. Vielleicht war sie froh, dass sie sie nicht verstand. Ob sie sich vorstellen konnte, dass ich achtundzwanzig Stunden an diesem Bild gesessen hatte? Bei ihrer Musik von Tracy Chapman, die ich immer wieder von vorne gehört hatte. Die Dinge waren vielleicht wirklich nicht immer so, wie sie schienen.

Ohne mich umzudrehen, überquerte ich die Ampel der Avenida Cabildo und ging geradeaus weiter. Als ich links in die O'Higgins bog, schaute ich noch einmal zurück.

In der Blanco Encalada war niemand zu sehen.

[pic]

Nebel im Tal bei Epuyén, Neuquén, Argentinien, 1989.

In Willy Morals Wohnung ging es erfrischend chaotisch zu, worüber ich sehr erleichtert war. Übernachten war hier überhaupt kein Problem. Willy hatte ausserdem einen genauen Stadtplan. Perón Ecke Italia gab es doch, und Estela und ich hätten die Adresse auch beinahe gefunden. Ich überliess ihm einige Pullover und Wintersachen, die ich nun nicht mehr brauchen würde, legte mich erschöpft in meinen Schlafsack und träumte in dieser Nacht, eines Tages würde ich wieder zurück nach Buenos Aires kommen.

36

Truck-Tramp 399 -

Reise nach Brasilien

5. August 1989

Immer mehr Leute warteten auf dem Bahnsteig von Villa Ballester. Ich kaufte mir eine Fahrkarte nach Campana.

Nordwestlich von Buenos Aires mündeten der Río Paraná und der Río Uruguay in die grosse Trichtermündung des Río de la Plata, der die immensen Wassermassen der beiden grossen Flüsse dem Atlantik zuführte. Der Paraná war der grössere Fluss - das Sumpfland war an der Mündung fast hundert Kilometer breit. Und dennoch gab es hier eine Brücke, zwischen Campana und Zárate, fünfzig Kilometer flussaufwärts von El Tigre. Der Paraná kam von Paraguay und war einer der längsten Flüsse der Erde - die nächste Brücke landeinwärts lag fünfhundert Kilometer weiter bei Santa Fé.

Da es in Argentinien Züge gab, hatte ich mich stilvoll für den Zug entschieden. Er hatte allerdings Verspätung.

Die Leute in Buenos Aires kamen nicht zu einer bestimmten Abfahrtszeit eines Zuges zum Bahnhof, sondern zu irgendeiner beliebigen Zeit, die jeweils der ebenfalls völlig beliebigen Zeit der tatsächlichen Zugabfahrten beliebig nahe kommen sollte. Von Minute zu Minute kamen mehr Menschen auf den Bahnsteig. Was das wohl für ein langer Zug sein musste?

Als der kleine Nahverkehrszug mit der abenteuerlich aussehenden Diesellok - sie sah aus wie ein billiger Nachbau einer deutschen Rangierlok aus den sechziger Jahren - bereitgestellt wurde, ging es zu wie am 6. Mai 1980 im Hauptbahnhof von Köln. Mit einem Unterschied: als der Zug vollkommen überfüllt war, kamen keine Schaffner, die die Türen schlossen. Die Fahrgäste mussten selbst herausfinden, wann der Zug voll war. Und hatten sie das einmal getan, war es nur selten möglich, die Türen zu schliessen.

Ich stand da, mit Rucksack und Schlafsack, in Höhe der Lokomotive, schüttelte den Kopf und wusste nicht, ob ich lachen oder staunen sollte. In der Lok sassen vier oder fünf Leute, die unschwer errieten, dass ich Fremder sein musste und noch nie auf einem argentinischen Bahnhof gestanden haben konnte.

- Wie soll ich denn da jetzt reinkommen!? Ich wollte doch nach Zárate!

- Nein, da kommst du jetzt nicht mehr rein, das ist jetzt zu spät. Der Zug ist schon voll. Wir fahren auch gleich los, che..

- Ich komme aus Alemania, wir haben da auch Züge. Mein Vater ist Ingenieur, der baut Loks. Aber elektrische.

- Aus Alemania? Ganz schön weit weg, che. Wie schnell können die elektrischen Loks denn fahren?

- Zweihundert Stundenkilometer.

- Na, das erreichen wir hier wohl nicht ganz.

Sie kamen auf eine Idee.

- Wir können ihn ja hier mitnehmen. Hast du schonmal in einer Lok gesessen? In Alemania?

- Nein, noch nie. Echt, ihr würdet mich mitnehmen?!

Sie öffneten die Tür und schafften in der engen Fahrerkabine der Diesellok noch etwas Platz. Dass sie vierzig Minuten Verspätung hatten, wussten sie zwar, es schien aber noch gut im vertretbaren Rahmen zu liegen.

Langsam schlich der Zug übers Land. Bald erreichte er auf der schnurgeraden Strecke sogar rekordverdächtige vierzig Stundenkilometer. Schneller konnte er nicht fahren - angesichts dessen, dass viele Fahrgäste nur auf den Trittbrettern standen und sich festhielten.

- Was, du willst nach Brasilien trampen?! Alle Achtung!

- Ja, ich muss irgendwie diese Brücke über den Paraná bei Zárate finden, und von dort trampe ich dann weiter nach Norden.

- Die Brücke? Che, die kommt erst weit hinter Campana, kurz vor Zárate, da halten wir doch einfach an und lassen dich da raus.

Welche Ehre. Ich war gerührt.

Über dem flachen Land war die Brücke schon von weitem nicht zu übersehen. An der Stelle, die ihr am nächsten lag, drosselte der Lokführer die Geschwindigkeit, liess mich bei langsamer Fahrt von der Lok abspringen, drehte gedämpft wieder auf und fuhr weiter nach Zárate. Sie winkten mir nach.

Zwei Kilometer ging ich über die Wiesen zur grossen Brücke über den Río Paraná de las Palmas.

Lange stand ich nicht vor der grossen Hängebrücke, die den Paraná überquerte, als ein weisser Kleinwagen anhielt und mich mitnahm.

Der Fahrer machte einen netten Eindruck, ein Unternehmer, Holzhändler aus Rosario. Die Millionenstadt Rosario lag zweihundertfünfzig Kilometer entfernt am Westufer des Río Paraná in der Provinz Santa Fe. Wir fuhren über die imposante Hängebrücke und überquerten dabei die Provinzgrenze zwischen Buenos Aires und Entre Rios. Entre Rios, zwischen Flüssen, also die Provinz zwischen dem Río Paraná im Westen und dem Río Uruguay im Osten. Der Río Uruguay markierte die Grenze zwischen Argentinien und Uruguay.

Da es bei Rosario keine Brücke über den Paraná gab, musste er den Fluss hier überqueren und anschliessend noch ein paar hundert Kilometer nach Norden fahren. Im Norden von Entre Rios wuchsen die Eukalyptus-Wälder. Oder besser gesagt, dort wurden die Eukalyptusbaum-Felder angebaut und nach wenigen Jahren geerntet. Der Unternehmer war ein weiteres Opfer der Wirtschaftskrise.

Die Telefongesellschaft, deren Angestellte schon seit Wochen keinen Lohn mehr gesehen hatten, befand sich schon lange im Streik. Die Telefonleitungen waren zusammengebrochen und es fand sich niemand, der sie reparierte. Die einzige Möglichkeit herauszubekommen, wie die aktuellen Holzpreise waren, lag darin, selbst nach Entre Rios zu fahren und sich vor Ort zu erkundigen.

Auf der anderen Seite des Flusses, als wir nach vielen Kilometern die Brücke hinter uns liessen, stand eine Frau mit Kind an der Strasse. Der Holzhändler hielt an, nahm die beiden mit und setzte sie nach ein paar Kilometern an ihrem Ziel ab. Ein netter Fahrer.

Die Strasse führte über zig Kilometer strikt nach Norden. Sie näherte sich an einigen Stellen sehr dicht dem Río Uruguay. An einer solchen Stelle hielt er an und legte eine kleine Pause ein. Von hier konnten wir das andere Flussufer sehen. So würde ich wenigstens einmal sagen können, ich habe Uruguay live gesehen.

Die Strasse war in gutem Zustand und es ging immer weiter nach Norden. Die Vegetation änderte sich, das Land wurde subtropischer. Irgendwann sahen wir die ersten Eukalyptus-Felder. Sie sahen aus wie überdimensionale Getreidefelder. Die Erntemaschinen waren ebenso beeindruckend. Von Wäldern wie in Mitteleuropa konnte keine Rede sein - hier wuchs kein Wald, hier wurden Bäume angebaut, wie riesige Getreidehalme. Unterholz oder irgendwelches Leben gab es unter den Bäumen nicht.

Am späten Nachmittag hatten wir nach bald fünfhundert Kilometern Fahrt einen kleinen Ort erreicht, Nueva Federación, wo der Unternehmer einige Geschäftspartner aufsuchte. Sie waren nicht da und er musste extra auf einen Golfplatz fahren. Ich war noch nie auf einem Golfplatz gewesen. Auch ein besonderes Erlebnis. Sehr sportlich war der ziemlich überernährte Fahrer nicht gerade - aber das war auf dem Golfplatz offenbar nicht unbedingt gefragt. Gefragt waren die aktuellen Holzpreise, über die er sich mit seinen Geschäftspartnern unterhielt.

Dabei wurde es dunkel. Er bot mir an, mit ihm im Motel zu übernachten. Morgen könnte ich nach Norden weitertrampen. Er würde wieder nach Rosario, über die Brücke bei Santa Fe. Tausend Kilometer Fahrt für ein paar Holzpreise. Er war zufrieden, denn er hatte sie erfahren. Das war es, was er gewollt hatte.

Was er noch wollte, und zwar von mir, begriff ich erst, als ich im Zwiebettzimmer aus der Dusche kam und er nackt auf dem Doppelbett lag. Das konnte doch nicht wahr sein, dachte ich im ersten Moment. Nein, ich sei schon zu müde, und hätte heute keinen Bock mehr auf Sex, meinte ich und legte mich ermattet ins Bett. Ich hatte wenigstens etwas Glück, dass auch er nach siebenhundert Kilometern Autofahrt ziemlich fertig war, nach einer knappen halben Stunde ein Einsehen hatte und mit seiner ewigen Fragerei warum denn nicht? aufhörte. Es war gut, dass ich die Frauen-Kapitel in Rüdiger Nehbergs Survival-Büchern gelesen hatte und wusste, wie sich Frauen in solchen Situationen verhalten sollten. So tun als wäre man komplett müde und kaum noch ansprechbar.

Einschlafen konnte ich noch lange nicht. Warum hatte ich mich überhaupt darauf eingelassen, die Nacht mit ihm im Hotel zu verbringen? Ich hätte locker auch draussen schlafen können. Na gut, da hätte es keine Dusche gegeben.

6. August 1989

Am Morgen bat er mich, beim Frühstück und an der Rezeption bloss keinen Ton zu sagen. Ich tat ihm den Gefallen, schliesslich hatte er mich fünfhundert Kilometer durch Entre Rios gefahren. Ich war leichtsinnig gewesen, es hätte schlimmer kommen können.

Nach dem Frühstück brachte er mich zur Ruta 14, wo ich erst einmal zehn Kilometer zu Fuss nach Norden die Strasse entlangwanderte. Ein Auto nahm mich nach Chajarí mit.

Ein paar Kilometer hinter Chajarí überquerte ich in einem Truck die nächste Provinzgrenze und war in Corrientes. Die Provinzen waren in Argentinien allgegenwärtig, wegen der Autokennzeichen. B war die Provinz Buenos Aires, C die Hauptstadt, Q Neuquén, V Feuerland, S Santa Fe, E Entre Rios und W Corrientes. Corrientes war noch weniger dicht besiedelt als Entre Rios. Kilometerweit ging es an Eukalyptus-Feldern vorbei.

Ich musste an Viktoria denken. Schade, dass sie das nicht sehen konnte. Wie gern würde ich ihr das alles zeigen. Manchmal wünschte ich mir, sie sässe neben mir. Schau, so sieht die Welt aus. So sieht Corrientes aus. Das sind Eukalyptus-Plantagen. Das ist ein Feld mit zweijährigen Bäumen, hier eins mit fünfjährigen. Und dieses hier, schau, das ist schon reif für die Ernte. Was sie wohl sagen würde? Ob sie lächeln würde? Ob sie jemals in ihrem Leben nach Corrientes käme? Sicher nicht. Und ich wohl auch nicht wieder. Doch heute war ich in Corrientes.

Das nächste Etappenziel hiess Paso de los Libres, wo mich der Trucker bei einer Tankstelle an der Ruta 14 absetzte. Auf der anderen Seite des Río Uruguay lag nun schon Brasilien. Die Ruta 14 führte noch ein wenig weiter durch Argentinien Richtung Norden.

Paso de los Libres, Schritt der Freien, hiess der Ort auf der argentinischen Seite. Gegenüber lag die brasilianische Stadt Uruguaiana. Der argentinische Name stammte aus einer Zeit, in der in Brasilien noch die Sklaverei bestand und flüchtige Sklaven jederzeit umgebracht werden durften. Schwarze, die nach wochenlanger Flucht unter Todesgefahr hier über den Fluss schwammen, taten hier auf dem argentinischen Ufer ihren ersten Schritt als freie Menschen.

Ich musste vorsichtiger sein mit dem Trampen. Per Anhalter fahren war ganz schön gefährlich. Heute nacht hatte ich noch einmal Glück gehabt. Gut, ich war unsterblich, solange ich noch nicht mit Viktoria verheiratet war - aber es gab vielleicht noch andere Gefahren ausser der, ermordet zu werden.

Wie bei einer Fata Morgana war zuerst nur das Dach des Trucks zu sehen. Über der Teerstrasse spiegelte sich die heisse Luft. Langsam kroch der Sattelschlepper über den sanften Hügel in der Ferne auf der schnurgeraden Strasse, Kilometer für Kilometer näherte er sich der Tankstelle.

Nach und nach kam langsam die Frontpartie zum Vorschein, die über dem Asfalt flimmerte. Am Ende die Räder. Es dauerte lange, bis er die Tankstelle erreicht hatte.

Es war kaum Verkehr. Chancen, hier wegzukommen, hatte ich nur bei den wenigen, die hier Pause machten.

Subtropische Temperaturen. Ich holte mir Wasser.

Am Nachmittag fuhr ein Sattelschlepper mit Kennzeichen S aus Santa Fe auf die Tankstelle. Ein kurzer geübter Blick und ich hatte die Situation erfasst und meine Chancen ausgerechnet.

Oranger moderner Scania-Truck mit Schnauze, weisser Tiefkühlhänger, Firmensitz in Buenos Aires, Fahrer alleine, jung, stieg aus, schloss die Tür ab. Ich ging auf ihn zu und fragte ihn, ob er nach Brasilien fuhr. Nein, nach Posadas, brummte er, und verschwand erstmal Richtung Klo.

Trampen wollte gekonnt sein. Eine kleine Frage war erlaubt - nicht mehr. Er wusste jetzt, hier war ein Tramper.

Ich hatte nicht viel Hoffnung - der Truck war zu modern, zu teuer, ausserdem ein Firmenwagen, deren Fahrer in der Regel antworteten, sie dürften keine Tramper mitnehmen. Aber egal, einen Versuch war es wert. Auf meiner Karte sah ich nach, wo Posadas lag. In Misiones, ein paar hundert Kilometer weiter nördlich.

Der Trucker kam wieder. Ich nahm die Karte und sprach ihn nochmal an. Jetzt oder nie, und auf keinen Fall dem schlechten image der argentinischen Tramper entsprechen. Schlechtes Spanisch mit Akzent, nicht che sagen, die Fahnen mit allen meinen Ländern auf dem Rucksack sichtbar angebracht haben, sofort erwähnen, dass ich Ausländer war, gepflegtes Aussehen, nicht hochnäsig, aber auch nicht unterwürfig - inzwischen kannte ich die Regeln gut.

Und der Fahrer auch. Trucker gingen ein Risiko ein, wenn sie Tramper mitnahmen. Sie fuhren tausende Kilometer durch den Kontinent, und ein nerviger Tramper konnte die Fahrt zur Hölle machen. Es war nicht so sehr die Kriminalität, vor der sie sich fürchteten. Es war viel mehr das schlechte Benehmen vieler mochileros.

Ich sei ein bisschen als Tourist unterwegs und könnte die Iguazú-Wasserfälle besuchen, meinte ich, ich hätte gehört, die sollten ganz sehenswert sein.

Ja, die Iguazú-Fälle, stimmte er mir zu, die seien doch eins der sieben Weltwunder. Bis Posadas könne er mich mitnehmen. Zweihundert Kilometer. Das wäre ja gut, entgegnete ich, dann wäre ich ja schon ein gutes Stück weiter.

Auch das war eine professionelle Antwort. Ein Trucker, der den Tramper nicht kannte, verriet nie, wie weit er wirklich fuhr. Wenn ihm der Tramper nicht gefiel, konnte er dann ihn schon früh wieder loswerden.

Oscar erzählte mir viel über seinen Beruf und Erfahrungen mit Anhaltern. Und Anhalterinnen. Deutschen Anhalterinnen. Einmal habe er zwei mitgenommen und nach einer langen Fahrt durch die Hitze an einem einsamen See angehalten. Die beiden hätten sich einfach nackt ausgezogen und seien in den See gerannt um zu baden. Er habe sich sehr gewundert, dass sie sich einfach so ausgezogen hatten.

- Das ist in Deutschland durchaus so üblich. Warum hätten sie das nicht tun sollen? Hat es dich gestört?

- Nein, natürlich nicht, im Gegenteil-

- Eben, wenn Mädchen nackt baden, das ist doch was Schönes.

Und ausserdem habe er sich sehr gewundert, dass sie Haare an den Beinen hatten.

- Wieso, das haben doch viele Frauen.

- In Argentinien nicht.

- Nur die Indianerinnen nicht. Die Europäerinnen schon.

- Ja, aber die rasieren sich doch. Eine Frau mit unrasierten Beinen ist hier kaum vorstellbar. Hat das was zu bedeuten, wenn die sich in Deutschland die Beine nicht rasieren?

- Das hat nichts zu bedeuten. In Deutschland gibt es solche Zwänge nicht. Manche rasieren sich, andere nicht. Frauen, die natürlich aussehen, gelten in Deutschland durchaus auch als attraktiv. Ich finde, die Haare sehen sexy aus.

- Echt?

- Ja, wieso nicht, sieht doch gut aus. Viele haben gar keine Lust, sich die Beine abzurasieren. Wozu sollten sie das?

- Aber das ist doch unweiblich!

- Quatsch, die deutschen Frauen sind auch so schon weiblich genug. Nur Indianerinnen haben keine Haare an den Beinen. Genauso wie Indianer keine Bärte haben. Bei Europäern ist das eben anders. Bärte sind doch auch nicht unmännlich.

- Das hatten die mir auch gesagt, aber ich hab denen das nicht glauben können. Hier ist das eigentlich unvorstellbar. Auch in der Werbung oder im Fernsehen, wo man was über Deutschland erfährt, habe ich sowas noch nie gesehen.

- Da kannst du mal sehen, Werbung und Fernsehen bringen nur ein sehr verzerrtes Bild der Realität. Oder hast du im Fernsehen schonmal jemand sagen hören, Entschuldigung, ich muss mal aufs Klo?

Anhalterinnen nahm er gerne mit. Oscar war zwar verheiratet, aber das hinderte ihn nicht, in allen möglichen Gegenden Argentiniens Liebhaberinnen zu haben. Und da sich die Mädchen ihre Liebhaber offenbar nach der Grösse des Autos aussuchten, hatte der gutaussehende Trucker gute Karten. Argentiniens Mädchen schienen sich nichts sehnlicher zu wünschen, als dass endlich einer mit einem wirklich tollen Truck aufkreuzen und mit ihnen schlafen würde. Eines dieser Mädchen schien in Posadas zu wohnen. Inzwischen war es dunkel und wir hatten schon die Provinz Misiones erreicht.

- Ich kenne hier eine chica. Ich weiss, dass die auch paar Freundinnen hat. Wenn sie da ist, werde ich mit ihr auf ihr Zimmer gehen. Wenn ich dir eine von ihren Freundinnen organisieren könnte, hättest du Lust?

- Äh, ja-

- Dann würde ich dir die in den Truck schicken. Für ne Stunde oder so. Danach können wir weiterfahren.

So genau schienen es die Argentinierinnen nicht zu nehmen mit der Frage, ob es sich nun um einen Trucker oder einen Anhalter handelte. Ich hatte gleich das Gefühl, dass es sich um eine Luftblase handelte. Deshalb hatte ich spontan ja gesagt. Nein zu sagen wäre riskant. Es könnten stundenlange Diskussionen folgen und er würde es überall rumerzählen - in Lateinamerika sehr wenig erstrebenswert.

Er nahm eine Packung Käse aus einem Nebenkühlfach und ging in das Haus. Wohnhaus einer Familie. Eine Frau in den Vierzigern machte auf und bat ihn rein. Ich wartete im Truck.

Spannend wars ja schon. Was sollte ich machen, wenn er mir tatsächlich ein Mädchen in die Kabine schicken würde? Sollte ich ihr sagen, che, tut mir leid, ist nicht so gemeint, aber erzähl nicht weiter dass ich nicht mit dir schlafen wollte? Es kam mir reichlich übertrieben vor, dass ein Trucker wie Oscar, auch wenn er attraktiv aussah, einfach einem Mädchen sagen konnte, hier, geh mal in die Kabine, da wartet einer, mit dem kannst du schlafen. Ich hatte das Leben bis jetzt zwar so verstanden, dass es so nicht funktionierte, aber hier waren wir in der Welt der Trucker - wer konnte es wissen, ob das Leben hier nicht ganz anders lief.

Ich wartete zehn Minuten, dann kam Oscar wieder. Alleine. Püh, Glück gehabt. Das Leben der Trucker unterschied sich von meinem doch nicht ganz so krass. Er stieg auf seiner Seite ein.

- Sie ist nicht da. Ihre Mutter weiss auch nicht, wo sie ist. Dann fahren wir eben weiter.

In Misiones begannen die Tropen. Wir übernachteten irgendwo auf einem Parkplatz und erreichten am nächsten Vormittag die argentinisch-brasilianische Grenze. Nun stand der Sattelschlepper zwei volle Tage bei brütender Hitze an der Grenze in Foz do Iguaçu, um die Erlaubnis zu bekommen, von Argentinien nach Brasilien über die Grenze zu fahren. Zwei volle Tage in der Sonne. Für ein paar Papiere. Und Oscar hatte Käse geladen. Wie fortschrittlich war doch Europa.

Ich stieg schon vor der Grenze aus, nahm meine Sachen und besuchte die nur zehn Kilometer entfernt liegenden Iguazú-Wasserfälle. Ein beeindruckendes Erlebnis, das ich mir nicht entgehen lassen wollte. Ich war zwar nicht als Tourist hier, aber zehn Kilometer an diesen Wasserfällen vorbei zu fahren ohne sie mir anzusehen, brachte ich doch nicht übers Herz.

Die Niagara- und Sambesi-Fälle waren zwar grösser, doch diese hier waren wohl unbestritten die schönsten. Sie hatten einen richtigen Park angelegt, mit Holzstegen, und überall stürzten sich zwischen den tropischen Bäumen und Büschen grosse und kleine Wasserfälle in die Tiefe. Es gab keine Stelle, an der alle Fälle gleichzeitig betrachtet werden konnten - aus jeder Perspektive sahen sie anders aus und boten mit ihren vielen hundert Regenbögen ein glitzerndes Spektakel. Ich blieb den ganzen Tag hier und trampte am Nachmittag mit einem deutschstämmigen Argentinier an die Grenze.

Oscars leuchtend oranger Scania mit weissem Hänger stand immer noch zwischen den ganzen Trucks und wartete. Irgendwann durfte Oscar endlich nach Brasilien fahren, musste sich dort in Foz do Iguaçu aber umgehend wieder auf einen Parkplatz stellen. Auf dieser Seite der Grenze würde es noch länger dauern. Die brasilianischen Beamten wollten Bestechungsgelder, wenn es schneller gehen sollte, aber Oscar und seine Kollegen hatten dazu aus Prinzip keine Lust. Oscar reinigte gründlich seine Fahrerkabine.

- Viele denken, das Leben als Trucker sei mit viel Schmutz verbunden und in der Kabine eines Trucks sei es schmutzig wie auf einer Baustelle. Aber du siehst ja, die Kabine meines Trucks ist wie meine Wohnung, in der ich wochenlang lebe, und ich lege Wert darauf, dass meine Wohnung sauber ist. Das ist nicht nur ein schmutziger Arbeitsplatz. Viele Leute denken das immer.

Das war je nach Trucker anders. Ich war schon mit ziemlich klapprigen Trucks mitgefahren, die sahen von innen ganz anders aus. Oscar hatte aber einen supermodernen Komfort-Truck, wie ich sie von innen bisher nur südlich von Río Gallegos kennengelernt hatte. In so einem Truck fühlte man sich wirklich wie der King der Landstrasse. Der Scania fuhr sich wesentlich ruhiger und gemütlicher als die Trucks in Europa, die meist keine Schnauze hatten.

In Europa schien die Länge der Trucks durch irgendwelche bürokratischen Bestimmungen begrenzt zu sein, wodurch die Firmen an Länge sparen mussten und sich keine Schnauzen leisten konnten. In Südamerika war mehr Platz auf den Strassen, das Land war weniger dicht besiedelt und die Länge der Überlandtrucks regelte sich von selber. Ein unmöglich langer Sattelschlepper würde sich eben einfach nicht verkaufen, so einfach war das. Oscars Truck war etwa fünfundzwanzig Meter lang.

Ich nutzte die Wartezeit, liess am nächsten Morgen meine Sachen bei Oscar im Truck und trampte in die acht Kilometer entfernte Stadt Cuidad del Este. Die Stadt hatte nichts Besonderes - ausser dass sie in Paraguay auf der anderen Seite des Paraná lag. Ich setzte mich in ein Café. Es regnete.

Die paraguayische Grenzstadt hiess noch bis vor wenigen Jahren Puerto Presidente Stroessner - nach dem Diktator, der mit vierunddreissig Jahren die längste Amtszeit eines lateinamerikanischen Alleinherrschers hatte. Erst vor kurzem hatte sich das Volk gegen ihn erhoben und damit begonnen, die allgegenwärtige Erinnerung an den Diktator loszuwerden.

Portugiesisch hatte ich unterschätzt. Im ersten Moment dachte ich, die Leute sprachen hier Guaraní. Doch es hörte sich eher wie Niederländisch an. Sprachen sie hier in Paraguay Niederländisch? Auf der brasilianischen Seite der Brücke hörte ich jedoch dieselbe Sprache.

Ich musste lange hinhören, bis ich endlich ein paar portugiesische Wörter herausgehört hatte - Wörter einer Sprache, die fast genau wie Spanisch geschrieben, jedoch völlig anders ausgesprochen wurde. Cuidad del Este lebte vom Handel mit Brasilien - Portugiesisch war in der Stadt die Verkehrssprache.

Oscar brachte mir die Regeln bei. Die meisten Konsonanten wurden wie im Französischen ausgesprochen. Erstmal die Zahlen. Wie im Spanischen. Ausser seis, 6, dass hiess hier meia. Von meia duzia, ein halbes Dutzend.

Grünes Land, gerodete Wälder, brasilianisches Radio - das nächste Etappenziel hiess Curitiba. Sie waren nun zu zweit - ein Kollege derselben Firma Transfrigo war inzwischen hinzugekommen und fuhr mit seinem Truck hinter uns her.

Auf einem Parkplatz hielt Oscar an und legte eine kleine Pause ein. Ich hatte eine Idee, wie ich die Zeit nutzen konnte. Den Truck abmalen. Oscar war begeistert von der Idee und wollte ein Bild von seinem Truck haben. Ich bat ihn, den Scania-Truck in einem bestimmten Winkel auf den Parkplatz zu stellen, stellte mich davor und begann zu zeichnen.

Nach einer guten halben Stunde war ich fertig. Oscar wollte das Bild sehen. Was, das soll mein Truck sein? Das sieht aber nicht sehr professionell aus.

Ich musste lächeln. Nein, erklärte ich ihm, das sei nur eine Bleistiftskizze, eine Art Bauanleitung, wie der Truck zu konstruieren war. Ich hatte mir alle Details notiert, wie Malen nach Zahlen. Wenn ich einmal Zeit finden würde, dann könnte ich aus dieser groben Skizze einmal ein richtiges Bild von seinem Truck malen. Und das würde dann mindestens dreissig Stunden dauern. Er gab mir seine Adresse, damit ich ihm das fertige Bild später einmal schicken könnte.

In Curitiba musste er auf eine Art Zollhof fahren und wieder einen ganzen Tag lang in der Sonne warten. Offenbar wusste seine Firma selber noch gar nicht, wo genau der Käse hinsollte. Oscar meinte, ich könne ruhig noch bleiben, eventuell würde er noch weiter fahren. So standen wir auf dem Zollhof, wo der ganze Käse aus dem Truck ausgeladen und in einer Lagerhalle gestapelt wurde. Ich erzählte ihm, in Europa mussten die Trucker die Ware am Ende der Fahrt selbst abladen. Das wäre ja noch schöner, wenn das hier auch so wäre, meinte Oscar. Er fluchte schon genug auf die unfähigen brasilianischen Behörden mit ihren sinnlosen Vorschriften. Aber seine eigene Firma war auch nicht besser. Er versuchte vergeblich, sie über Funk zu erreichen.

So standen wir gelangweilt auf dem Zollhof, sahen dem Gabelstapler zu, bis Oscar auf einmal buchstäblich etwas um die Ohren flog. Flatter flatter - im nächsten Moment hatte er mit den Händen einen weiss-blauen Wellensittich gefangen.

Was wollten wir denn mit einem Wellensittich?! Oscar brachte ihm erst einmal in die Kabine. El loro, der Wellensittich, oder la lora, wenn er weiblich war. Jetzt mussten wir höllisch aufpassen, wenn wir die Türen öffneten, damit uns der Vogel nicht wieder entflog.

Wellensittiche kamen ursprünglich aus Australien und wurden auch in Brasilien gerne als Ziervögel gehalten. Auch dieser schien an Menschen gewöhnt zu sein. Oscar besorgte Vogelfutter und stellte dem dankbaren Tier Wasser hin.

Am Nachmittag hatte er schliesslich eine Order aus Buenos Aires erhalten. Der Käse sollte nach Rio de Janeiro geliefert werden. Was für ein Chaos. Jetzt musste der gesamte Truck wieder beladen werden. Wenn er das gleich gewusst hätte, wären wir jetzt schon da, ärgerte sich Oscar. Seinem Kollegen Luis ging es genauso, auch er sollte nach Rio. Also fuhren wir wieder gemeinsam. Luis hatte irgendwie zwei Frauen kennengelernt und verschwand mit ihnen in der Kabine.

Oscar spannte seinen Hänger ab und fuhr mit seiner Maschine ein bisschen durch Curitiba. Frauen aufreissen. Aber so einfach war das auch nicht.

Unsere Stimmung wurde immer besser. Ich musste bald lachen über die phantasievollen Flüche der argentinischen Trucker, wenn sie sich über die Organisation ärgerten.

Nein, meinte Oscar vergeblich, ich sollte nicht fluchen, das sei schlechtes Spanisch, schlechtes Benehmen, ich sollte auf keinen Fall la concha de su madre sagen. Aber sie selber machtens immer wieder. Trucker dürfen das, entgegnete er. Naja, eigentlich auch nicht. Er wusste, wie wenig überzeugend er klang. Amüsiert war ich auch über über die Vielzahl der Varianten dieser Flüche. La concha bedeutete die Scheide, de su madre seiner oder ihrer Mutter. Dasselbe ging auch mit der Schwester, de su hermana, der Jungfrau, de la virgen, oder, wenn gar nichts mehr half, de Dios, von Gott, der für so einen Fall auch mal weiblich sein durfte.

Gut, wir einigten uns darauf, dass ich auf keinen Fall in Anwesenheit der Trucker fluchen sollte, weil das überall den Eindruck machte, als hätten Trucker ein schlechtes Benehmen. Komm, meinte ich zu ihm, hier sind wir doch schon längst mitten in Brasilien, die verstehen hier doch schon längst die spanischen Flüche nicht mehr.

Das stimmte auch. Die Brasilianer hatten ihre eigenen Flüche, nicht ganz so kultiviert wie die Argentinier. Nein, trotzdem, ich sollte auf keinen Fall mehr la concha de su madre sagen. Na gut, auch wenns nicht einfach war. Ich hatte mir das schon bald richtig angewöhnt.

Auf der Strecke nach São Paulo fuhr ich streckenweise mit Luis mit. Als er anhielt und zwei junge Anhalterinnen mitnahm, wechselte ich wieder den Truck. Oscar war fast ein bisschen neidisch, dass Luis so viel Glück hatte.

Der Vogel verschmutzte Oscars Kabine und brauchte unbedingt einen Vogelkäfig. So ging das nicht weiter. Wie sollten wir denn jetzt an der Autobahn zwischen Curitiba und São Paulo an einen Vogelkäfig kommen?

Eine Art Heimwerker-Supermarkt lag bei einer Tankstelle und wir durchstöberten den Laden. Und tatsächlich, sie hatten Vogelkäfige. In verschiedenen Grössen. Allerdings wie überall ohne Preisschilder. Wir fragten die Verkäuferin, was die Vogelkäfige kosteten. Es war gar nicht so einfach, denn Spanisch verstand hier niemand mehr. Irgendwann hatte sie es kapiert und nannte den stolzen Preis. Ich dachte, ich fiel aus dem Häuschen. ¡La concha de la lora!

Oscar und sein Kollege drehten sich erschreckt um und wussten nicht, ob sie lachen oder mit mir schimpfen sollten. Aber mit mir zu schimpfen ging nicht, sie mussten selber lachen. Die Verkäuferin konnte sich zwar denken konnte, dass sich mein Kommentar auf den hohen Preis bezog, aber sie konnte nicht verstanden haben, was la concha und la lora bedeutete. Als wir wieder am Parkplatz waren, erzählten sie die Anekdote jedenfalls munter weiter. So peinlich schien es ihnen auch nicht zu sein.

São Paulo war eine riesige Millionenstadt. Bevor sie die Durchfahrt riskierten, hielten Oscar und Luis in einem Wohnviertel an und legten noch eine Pause ein. Dann ging es vorbei an den grossen futuristisch anmutenden Wolkenkratzern der grössten Stadt Südamerikas. Einmal verfuhr sich Oscar. Wir mussten uns sehr konzentrieren. Der Wellensittich brachte uns durcheinander. Doch dann hatten wir die Metropole hinter uns und befanden uns endlich auf der Autobahn nach Rio.

Südbrasilien war ein modernes Industrieland. Die Autobahnen waren in tadellosem Zustand. Keine Spur von Armut und dritter Welt. Ich kam mir vor wie im Ruhrgebiet. São José dos Campos. Taubaté. Die Autos waren modern, keine alten Schlitten wie in den USA, die Strassen und Fabriken abends hell erleuchtet. Oscar wollte nicht, dass ich falsche Schlüsse zog.

- Der Schein trügt. Du hast keine Vorstellung davon, wie niedrig die Löhne sind, die den Arbeitern hinter diesen Fassaden gezahlt werden. Dagegen sind die in Argentinien noch hoch.

- Jetzt, in der Wirtschaftskrise? Aber die zahlen doch fast gar nichts mehr!

- Eben.

Auch Rio dehnte sich kilometerweit ins Hinterland aus. Sieben Tage nachdem wir in Paso de los Libres aufgebrochen waren, erreichten wir die Millionenstadt am Zuckerhut, Brasiliens zweitgrösste Metropole. Oscar und Luis wurden zu einer Art Zollhof mit Waage im Vorort São João de Meriti zitiert, wo wir am Nachmittag ankamen. Es war Sonntag und so konnte die Ware erst am nächsten Morgen gewogen werden. Oscar hatte mir angeboten, noch eine Nacht im Truck zu schlafen. Wer konnte wissen, wohin er morgen noch fahren müsste. In der geräumigen Kabine hatte er zwei Etagenbetten.

Ein paar Frauen aus dem Vorort kamen an. Eine ältere wollte mit Luis schlafen. Er verschwand mit ihr in seinem Truck, während Oscar mit mir und drei weiteren Mädchen, die etwas zurückhaltender waren, in unserer Kabine wartete. Am späten Abend gingen sie wieder nach Hause.

Am Morgen des nächsten Tages konnten Oscar und Luis dann endlich auf die Waage. Und dann erlebten die beiden etwas, was sie zwar schon gehört, aber so noch nie selbst erlebt hatten.

Ein brasilianischer Unternehmer kam an und wollte Oscars Ware sehen. Oscar reichte ihm eine Fünf-Kilo-Packung Käse. Nein, aus dem Inneren der Ladung. Na gut, wenns sein musste. Der Kunde, ein ziemlich übergewichtiger Geschäftsmann, nahm ein Messer und schnitt die Packung auf. Dann meinte er zu Oscar, die Ware sei verdorben und er akzeptiere sie nicht. Kurze Diskussion, aber der Kunde blieb bei seiner Meinung.

Nein, das hatte Oscar wirklich noch nie erlebt. Ein Kunde, der Ware aus dem dreitausend Kilometer entfernten Argentinien anforderte und die Ware hinterher nicht akzeptierte.

Natürlich konnte die Ware nicht als verdorben bezeichnet werden - aber viel besser konnte sie auch nicht geworden sein, wenn sie tagelang bei brütender Hitze in der Sonne stand und in Curitiba völlig planlos aus dem Tiefkühlhänger ausgeladen und wieder eingeladen worden war. Oscar überlegte noch, ob er die Tiefkühlautomatik in Foz do Iguaçu lieber doch nicht eine halbe Nacht hätte ausschalten sollen, um Energie zu sparen, kam aber zu dem Schluss, dass die Reaktion des Kunden andere Gründe gehabt haben musste.

Von Transfrigo bekam er über Funk die Order, mit der Ware wieder nach Curitiba zu fahren und neue Instruktionen abzuwarten. Damit war unsere gemeinsame Zeit zuende. Ich wollte weiter nach Norden, Richtung Amazonas.

Es war der längste Tramp gewesen, den ich je hatte. Zweitausendachtundneunzig Kilometer.

Rio de Janeiro. Ich hatte Respekt vor der immensen allgegenwärtigen Kriminalität in brasilianischen Millionenstädten. Den Scherz, mir mit meinem ganzen Gepäck einen schönen Nachmittag in Rio zu machen und den Zuckerhut oder den Strand von Copacabana zu besuchen, konnte ich mir nicht erlauben. Es war bereits später Vormittag und ich musste in jedem Fall heute noch aus dieser Stadt kommen. Jemand erklärte mir, wie ich mit dem Bus nach Niterói kam. Oscar übersetzte es mir. Niteroi lag auf der anderen Seite der Bucht von Guanabara, gegenüber von Rio. Oscar und Luis verabschiedeten mich herzlich.

Dann setzte mich der Typ an der Bushaltestelle ab. Ab jetzt war ich wieder alleine. Alleine mitten in Brasilien. Ohne die Sprache zu sprechen. Im Bus bekam ich sogar einen Sitzplatz.

Oh, Viktoria. Wenn du das sehen könntest. Zehn Kilometer mit dem Stadtbus über die Niterói-Brücke.

Hinter dem Zuckerhut öffnete sich die unendliche Weite des Atlantischen Ozeans.

In Alcántara stieg ich in einen Bus nach Manilha um. Auch Niterói war eine wenig attraktive Grossstadt. Interessant waren die vielen bewaldeten hügelartigen Berge in dieser Gegend, die alle so aussahen wie kleine Zuckerhüte.

Brasilien war ein warmes Land. Und gross. Ich trampte immer weiter die Bundesstrasse BR 101 nach Norden, wobei ich die Erfahrung machte, dass das Trampen hier schwieriger wurde. Oft wurde ich nur über kurze Entfernungen mitgenommen. Weite Strecken ging ich zu Fuss. Auch das Übernachten war schwieriger. Nicht einmal bei Polizeikontrollhäuschen liessen sie mich übernachten.

Die Strasse war stark befahren. Immer wieder lief ich aus grösseren Orten raus. Macaé. In Campos ärgerte ich mich schwarz, als ich wenige Sekunden zu spät merkte, dass ich die Brasilien-Karte im Lkw vergessen hatte. Am nächsten Tag Vitória, danach Linhares, São Mateus. Nach vier Tagen war ich irgendwo im Bundesstaat Espiritu Santo, war an die Küste in den malerischen Ort Conceição da Barra mitgenommen worden, wo mich ein netter Einwohner, Otavio, in sein Haus eingeladen hatte.

Otavio arbeitete in der Stadtverwaltung. Er wollte mir helfen, in der örtlichen Landwirtschaft einen Job zu bekommen und lernte sein Land von einer Seite kennen, die selbst ihn überraschte. Auf einer Zuckerrohrplantage boten sie zwar an, ich könnte dort für ein paar Wochen arbeiten, aber der Lohn läge nur bei zwei Cruzados, was so wenig sei, dass ich mir mein Essen davon nicht selber bezahlen könnte. Der Tageslohn entsprach fünfzig US-Cents.

Ich konnte es kaum glauben. Ein Essen kostete in der Regel etwa acht Cruzados. Selbst in Bolivien und Peru hatte ein Tageslohn immer gereicht, um das Essen zu bezahlen. Wen konnte es da noch wundern, dass es massive Probleme mit Abwanderung in die Städte und hohe Kriminalitätsraten gab?

18. August 1989

Es war ein herrlicher Morgen. Ich legte eine kleine Pause ein, ging an den einsamen Strand hinter den wunderschönen Dünen von Itaúnas, sonnte mich, wusch meine Sachen im Atlantik und badete ausgiebig im blauen Meer. Während ich mich sonnte, trockneten meine T-Shirts auf dem Sandstrand.

Am Nachmittag bekam ich eine Mitfahrgelegenheit zurück an die Bundesstrasse 101, die etwas weiter im Hinterland verlief und über anderthalb tausend Kilometer von Rio nach Salvador da Bahia führte. Ich wartete erst lange an einer Bushaltestelle, bis ich angesichts des ungnädig vorbeirauschenden Berufsverkehrs resigniert losging. Achtundvierzig Kilometer bis zur Bundesstaatsgrenze von Bahia.

Es half auch wenig, die Fahnen mit den vielen Ländern an den Rucksack zu pinnen, in denen ich schon gewesen war. In den Andenländern hatten die Leute die Bedeutung schnell verstanden - hier in Brasilien wussten die meisten Menschen kaum, dass es andere Länder überhaupt gab. Im Süden des riesigen Landes gab es deutsche, polnische und italienische Kolonien, von daher fielen hellhäutige Leute mit blonden Haaren nicht auf. Trampen brachte keinen Spass hier.

Solange es nicht regnete, war ich zufrieden, dann lief ich eben immer weiter die BR 101 entlang und sammelte Kilometer. Brasiliens Bundesstrassen waren regelmässig mit Kilometerschildchen versehen. Ich hätte Lust, mit dem Fahrrad zu fahren.

Es war ein grauer, neuer VW-Lkw, der überraschend auf freier Strecke anhielt. Autokennzeichen aus São Paulo, also Fernverkehr. Ein älterer Fahrer sass am Steuer und schloss erst das Handschuhfach ab, bevor er mich reinliess. Kurze Frage, wo willst du hin, nach Bahia, okay steig ein. Ich war froh, dass endlich einer angehalten hatte, stieg sofort ein und er fuhr weiter.

- Ich bin auf dem Weg Richtung Amazonas, jetzt erstmal in den Süden von Bahia, dann Salvador, Recife... komm grad von Rio, bin jetzt eine Woche von Rio unterwegs.

Hatte er überhaupt gefragt, wohin ich wollte? Musste er ja.

Es gab viele Gründe, warum Lkw-Fahrer Anhalter mitnahmen. Mitleid mit dem Tramper, der nicht weiterkam, gehörte nur selten dazu. Viele hatten Lust auf ein wenig Unterhaltung während der langen Fahrt, ein wenig Abwechslung im Alltag. Oder sie waren früher selbst per Anhalter gefahren. Die wenigsten Fahrer unterhielten sich mit mir die gesamte Fahrt. Aber es kam nur selten vor, dass ein Gespräch so schnell zuende war und ich mir die Frage stellte, warum ein Fahrer mich mitgenommen hatte.

Viele unterhielten sich am Anfang der Fahrt mit mir allein schon deswegen, um einschätzen zu können, was für einen Menschen sie da mitgenommen hatten. Und ich natürlich auch. Doch er sagte nichts mehr. Auch kein Lächeln. Na gut, sagte ich mir, wenn ich trotzdem vorwärts kam. Ich fing automatisch an, auf die Kilometerschildchen am Strassenrand zu schauen.

Nach einer Viertelstunde setzte er plötzlich das Gespräch fort. Vielleicht hatte er solange gebraucht, um den bisherigen Informationsfluss zu verarbeiten?

- Bist du aus Rio oder kommst du jetzt nur aus Rio?

- Nein, momentan komm ich grad aus Buenos Aires, Argentinien. Daher spreche ich Spanisch, aber eigentlich bin ich Deutscher.

- Ah, deshalb, ich habe schon gedacht. Wegen dem Akzent, denn du hast keinen carioca-Akzent. Das hab ich gleich rausgehört.

- Ich spreche Spanisch, nicht Portugiesisch. Daran liegt das. Ich kann kein Portugiesisch.

- Doch, du sprichst Portugiesisch, du hast eben nur einen Akzent. Ich dachte, du wärst aus São Paulo.

Vielen Dank für die Blumen. Wo war ich hier denn? Er wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass Argentinien ein anderes Land war und dass es so etwas wie andere Länder überhaupt gab. Für einen älteren Überlandfahrer sehr ungewöhnlich.

Ich fand es erstaunlich, dass er es in Erwägung ziehen könnte, ich könnte ihm weismachen, ich wäre carioca. Cariocas hiessen die Einwohner von Rio. Die von São Paulo hiessen paulistas. Alemanha schien er nie gehört zu haben - für Fussball interessierte er sich nicht. In Europa, versuchte ich zu erklären. Ich sei Ausländer, nicht aus Brasilien.

- Aber du sprichst doch Portugiesisch!

- Nein, ich spreche Spanisch!

Ich gab es auf, diese komischen Vokale portugiesisch auszusprechen und verfiel in ein ganz normales argentinisches Spanisch. Schien ihn nicht weiter zu stören.

Argentinier und Brasilianer konnten sich verstehen und lernten die jeweilige Fremdsprache oft gar nicht. Einem solchen Gespräch zuzuhören, klang für unsere Ohren ungewöhnlich, weil wir es gewohnt waren, dass zwei Gesprächspartner sich auf eine Sprache einigten. Brasilianer wie er schienen Spanisch für einen portugiesischen Dialekt zu halten.

Von sich aus sprach er auch keine weiteren Themen an, also sassen wir schweigend nebeneinander. Irgendwann begann ich wieder die Kilometer bis zur Grenze von Bahia zu zählen.

Oft konnte ich hinterher, wenn ich die Geschehnisse überblickte, genau benennen, wo ich mich anders hätte verhalten können und wie ich mich in meinem Verhalten verbessern könnte. Aber manchmal wurde mir einfach nur eine Situation vorgeführt, bei der ich, hätte ich eine zweite Chance, kaum etwas hätte besser machen können. Das einzige, was ich hier hätte besser machen können, war, nicht in den Lkw einzusteigen. Nur ein paar kleine ungeschickte Fehler hatte ich gemacht. In jedem Fall hatte ich kein gutes Gefühl.

Bundesstaatsgrenze von Bahia. Damit hatte ich achtundvierzig Kilometer hinter mir - mehr als ein Tagesmarsch. Bei den brasilianischen Bundesstaatsgrenzen wurde kontrolliert wie in Europa an den Landesgrenzen. Der Fahrer gab mir einen Stapel Zettel in die Hand - ich solle zum Häuschen gehen und mir den Stempel geben lassen. Ich zögerte kurz, liess dann aber meine Sachen im Wagen und ging ins Häuschen.

Viele Brasilianer lebten auf der Strasse - der Fahrer muss davon überzeugt gewesen sein, dass ich wie die meisten nicht lesen konnte. Und ich machte den Fehler und schaute den Zettel nur flüchtig an. Firmensitz war São Paulo, die Fracht ging nach Salvador. Er hatte also noch achthundert Kilometer vor sich. Die Adresse seiner Firma merkte ich mir nicht.

Wir kamen durch eine Schlechtwetterzone im Süden Bahias. Es kübelte so stark, dass er stellenweise nur ganz langsam fahren konnte. Einmal sah er ein Schlagloch zu spät, uns haute es fast aus den Sitzen. Fünf Minuten später fragte er, ob ich mich erschrocken habe. Irgendwann wurde es dunkel und der Regen liess wieder nach.

Lange konnte er keine Lust mehr haben, durch die Nacht zu fahren. Plötzlich begann er ein Gespräch.

- Und jetzt? Wo willst du heute nacht schlafen?

- Weiss nicht, aber das wird kein Problem sein.

- Wieso kein Problem? Du musst dir doch Gedanken machen, du kannst doch nicht - irgendwo schlafen!

So, jetzt hatte ich die Faxen satt, jetzt bekam er eine Diskussion. Tat so, als wäre das das dicke Problem. Jetzt war eine Diskussion fällig. Wo hatte ich letzte Nacht geschlafen? Bei São Mateus.

- Macht euch keine Sorgen, was ihr essen, trinken und anziehen sollt. Euer Gott weiss, dass ihr das alles braucht. São Mateus sechs Vers einunddreissig. Mit dem Übernachten ist das genauso.

- Du machst dir nie Gedanken, wo du schlafen sollst?

- Wieso sollte ich? Allein schon der blinde Glaube an die Sprüche in der Bibel genügt.

- Gut, theoretisch, aber jeder muss doch- ich mein, du kannst mir doch nicht erzählen- nehmen wir ein Beispiel: wo wirst du heute nacht schlafen? Weisst du das?

- Die Frage wo ist doch nicht wichtig - aber wenn es nötig ist, heute nacht zu schlafen, dann werde ich heute nacht schlafen, und das weiss ich.

- Aber wie kannst du das denn wissen, wenn du nicht weisst- ich mein, das gibt doch keinen Sinn, was du da sagst.

- Das Leben selber gibt keinen Sinn, ich verrat dir mal was. In den letzten zwei Jahren hatte ich bis jetzt immer einen Platz für die Nacht.

- Mag ja sein, bis jetzt vielleicht. Und nur deswegen glaubst du, du findest jetzt auch was zum schlafen, bei dem Wetter! Und da bist du dir auch noch absolut sicher!

- Das Leben funktioniert nicht so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Ich finde nicht was zum Schlafen weil gutes Wetter ist, sondern weil ich ein Vertrauen darin habe. Und wenn ich glaube, dass das Wetter darauf keinen Einfluss hat, dann hat es auch keinen Einfluss. Nur ohne dieses Vertrauen hätte ich jetzt Probleme.

- Okay, wir haben hier Religionsfreiheit, ich respektiere das, jeder hat das Recht zu glauben was er will, Brasilien ist ein freies Land. Aber jetzt mal im Ernst: wo willst du heute nacht schlafen?

Mann, war der Kerl schwer von Begriff. Ich solle mir keine Sorgen machen, beendete er das Gespräch wieder. Am liebsten hätte ich nochmal widersprochen.

Ipiranga war der Name eines posto. Ein posto war in den mittelamerikanischen Halb-Diktaturen ein Kontrollposten der Militärs. In Brasilien war posto das Wort für Tankstelle. Die Tankstellen an den Überlandstrassen waren meist gleich mit jeder Menge Versorgungseinrichtungen verbunden, Service-Werkstätten mit Ersatzteilen für Mercedes-Trucks, Aufenthaltsraum, Verkaufsshops, Restaurants und oft auch einem Motel. So auch am Posto Ipiranga.

- Ich hab keine Lust mehr heute. Morgen gehts weiter.

Der alte Knacker wirkte so fertig, als wäre er schon von Argentinien gekommen. Daher wunderte es mich, dass er das Land nicht kannte. Bei einem anderen posto zwanzig Kilometer vorher hatte er mir gesagt, er fahre nach Salvador.

Und mich gefragt ob ich nicht pissen wollte. Als ich im Männerklo mir das Atlantiksalz aus dem Gesicht gewaschen hatte und er daneben an den Pissoirs stand. Ich kannte die portugiesische Vokabel dafür gar nicht und er hatte die Frage drei-viermal wiederholen müssen.

Vor dem Parkplatz des Posto Ipiranga war eine Art überdachte Laderampe vor dem Hotel, hier könnte ich mich hinlegen. Aber zu der Überlegung kam ich fast gar nicht, weil er gleich meinte, ich sollte auch im Motel übernachten.

Nein, meinte ich, ich wollte lieber irgendwo hier draussen übernachten. Das war in Brasilien nicht ungewöhnlich - wahrscheinlich übernachtete die Hälfte der Einwohner der Millionenstädte auf der Strasse. Aber ich war Europäer und Kriminelle wussten durchaus, was der Unterschied zwischen einem einheimischen Typen von der Strasse und jemandem wie mir war. Brasilien hatte nachts an vielen Orten ein Flair wie in Medellín. Und hier?

Er liess nicht locker. Oh nein, nicht schon wieder. Nicht wieder so eine Nacht mit einem Typen im Motel. Wenn ich nur wüsste, wie gefährlich es hier war, draussen zu übernachten.

- Du kannst deine Sachen in der Kabine lassen, wir fahren morgen früh gleich weiter.

Den Rucksack nahm ich trotzdem mit, liess aber den Schlafsack im Lkw. Sofort wusste ich, dass das ein Riesenfehler war.

Sehr ungerne ging ich mit ihm auf das Zweibettzimmer. Es hatte ausserdem keine Moskitonetze. Obwohl es geregnet hatte, war es sehr schwül, mehr als dreissig Grad.

Noch schneller als ich befürchtet hatte und noch direkter als der Argentinier machte er mir klar, was er heute Nacht von mir wollte. Ich ging trotzdem unter die Dusche - die Nacht würde sowieso schlimm werden, duschen machte es auch nicht schlimmer. Wenigstens kam er nicht ins Bad, das sich nicht einmal abschliessen liess.

Wie der Argentinier lag er nackt auf dem Bett - und wie in Argentinien war das auch hier ein eindeutiges Zeichen. Brasilien war absolut prüde - nicht mal am Strand zog sich einer ohne Handtuch um. Als er unter die Dusche ging, hatte ich noch ein paar Minuten Ruhe und legte mich unter das Tuch, das hier als Bettlaken diente.

Mich schlafen zu sehen war absolut nicht nach seinem Geschmack. Als er von der Dusche kam, weckte er mich sofort auf. Damit war die Nacht dann gelaufen.

Er machte den Vorschlag, ins Restaurant zu gehen. Ich entschloss mich, ihm einfach mit direkten Worten zu sagen, dass mit mir nichts laufen würde - und zwar mit dermassen direkten Worten, dass sogar er selbst für einige Momente richtig konsterniert wirkte. Ich wusste genau, dass es in Brasilien absolut unüblich war, über Geschlechtsverkehr direkt zu sprechen, was ich darin bestätigt sah, dass er dreimal schlucken musste, bevor er sich mit einer kläglichen Antwort versuchte, aber warum denn nicht?

Immerhin, er hatte auch verstanden. Und ich sorgte auch dafür, dass er verstand, dass er mich zwar mit meisterhafter Kunst überreden konnte, mir Hotel und Essen zu spendieren - dass er mir dazu aber versprechen musste, in der Nacht nichts von mir zu wollen. Es dauerte lange, bis er tatsächlich zugab, dass er das verstanden hatte.

Das Restaurant war einfach. Das Bestellen auch.

- Pe efe.

Pe efe hiess P. F. und war die Abkürzung für prato feito, zubereiteter Teller, das Tagesgericht in allen postos. Reis, farinha, schwarze Bohnen, ein bisschen Fleisch und Sosse, manchmal auch etwas Salat. Farinha war grobes Mehl aus Maniok. Die brasilianische Küche kam aus Afrika.

Noch einmal wies ich ihn auf die Abmachung von eben hin. Die Reaktion war eindeutig. Wie vom Blitz getroffen, drehte er sich um und vergewisserte sich, dass niemand das, was ich halblaut gesagt hatte, verstanden hatte. Ich war gar nicht so schlecht gewesen. Ich wusste genauso gut wie er, dass es für ihn offenbar gefährlich war, wenn die Öffentlichkeit davon erfuhr, was er vorhatte.

Mit gedämpfter Stimme kam seine prompte Reaktion.

- Auf keinen Fall darfst du hier in der Öffentlichkeit so etwas laut sagen!

- Wieso, in Alamanha darf man das ganz offen sagen, Homosexualität ist da überall akzeptiert, hier etwa nicht?

Nochmal dieselbe Reaktion, es war köstlich. Die spanische Vokabel für schwul (maricón) würde in Brasilien sicher nicht verstanden werden, aber wie gut, dass es eine internationale Fachsprache gab. Die hier offenbar auch jeder Nichtwissenschaftler ausgezeichnet verstand.

Ich konnte mir gut vorstellen, dass er keine Lust hatte, seine Gelüste mit irgendwelchen Kriminellen im brasilianischen Knast zu teilen. So wie er tat, schien es tatsächlich möglich zu sein, dass die Sache gesetzlich geregelt war. Ich machte nochmal deutlich, dass ich keine Skrupel hätte, ihn beim Motelpersonal zu verpfeifen.

Als sich welche an unseren Nachbartisch setzten, sah er so schnell wie möglich zu, mit mir auf sein Zimmer zu verschwinden. Es war zu blöd, dass ich den Schlafsack im Lkw gelassen hatte.

Das Zimmer war im zweiten Stock - er hatte das Zimmer von innen abgeschlossen und den Schlüssel eingesteckt.

Es war ein Doppelbett. Der Typ hörte auch nach einer Stunde tatsächlich nicht auf, immer wieder anzufangen, komm schon, zier dich nicht so, ist doch nichts dabei und so weiter. Der Argentinier hatte es nach einer halben Stunde aufgegeben - aber dieser Typ legte plötzlich ein ungeahntes Durchhaltevermögen an den Tag.

Zum Glück waren Spanisch und Portugiesisch, wenn man sich auf diesem Niveau unterhielt, kaum verwandt. So verstand ich wenigstens kaum etwas davon, was er sagte. Brauchte ich auch nicht, denn meine Antwort fiel sowieso immer gleich aus.

Das Miese war, dass er umso mehr Energie aufbrachte, je mehr ich ihn abwies. Ich versuchte es mit allen möglichen unterschiedlich freundlichen Methoden, aber keine schien zu funktionieren. Dass ich müde war, zog in diesem Stadium nicht mehr. Lange inhaltliche Diskussionen über religiöse Fragen gingen zwar eine Zeitlang, aber irgendwann wurde es ihm auch dann zu bunt und er fing wieder an, auf ziemlich plumpe Weise aufdringlich zu werden. Er kam mir trotz seines Alters etwas stärker vor als ich und ich hatte kaum einen Zweifel, dass, wäre ich eine Frau gewesen, er versucht hätte mich zu vergewaltigen. Aber ich war dreiundzwanzig und männlich, davor schien er Respekt zu haben.

Ich könnte das jetzt noch ausführlicher schreiben, aber wir überspringen mal ein paar halbe oder ganze Stunden unerbittliche Diskussionen und setzen in dem Moment wieder ein, wo ich auf die Idee kam, ihm in Aussicht zu stellen, ich könnte es mir überlegen, würde dazu aber erst noch nachdenken müssen.

Diese Methode war gar nicht so schlecht. Aussagen wie wenn du mich nicht in Ruhe lässt, kann ich nicht überlegen, und dann läuft mit mir gar nichts hatten die wundersame Wirkung, dass er sich auf sein Bett legte, minutenlang Ruhe gab und abwartete, bis ich fertig überlegt haben würde. Natürlich nicht sofort, sondern nachdem ich es ihm zweimal in allen Einzelheiten genau erklärt hatte. Aber immerhin.

Vielleicht gab es generell einen Effekt, dass Frauen in solchen Situationen irgendwann anfingen zu überlegen, ob sie sich nicht einiges ersparen könnten, wenn sie so einem Typen nicht einfach einen runterholen könnten und dann ihre Ruhe hätten. Natürlich wäre Lina absolut dagegen. Zumindest eines hatte ich mit Lina gemeinsam: den Tonfall des Wortes, das ich nun schon seit Stunden im Kopf hatte. Männer.

Es gehört also zu den Momenten in meiner Geschichte, auf die ich wenig stolz bin, dass ich mir nun überlegte, ob ich mich darauf einlassen sollte oder nicht. Eine typische Ja/nein-Frage, wie ich feststellte, die einfach mit einer Münze zu beantworten wäre. Allerdings mit einer Tragweite, die die einer Ja/nein-Frage übertraf. Ich holte unschlüssig mein erstes Tagebuch aus dem Rucksack und schlug irgendeine Seite auf. Seite 102.

In den erstaunlich vielen Minuten, die der Typ mich nun in Ruhe überlegen liess, formulierte ich auf einem kleinen Zettel in meiner Kurzschrift ein Gebet, das die Gedanken und Fragen zusammenfasste, die ich mir in diesem Moment stellte. Eine Antwort auf Seite 102. Eine der Fragen, die auf diesem Zettel standen, war Bleibe ich Viktoria treu und ist das gut?

Dann las ich mir durch, was auf Seite 102 stand. Sie fing an mit den Worten Bis morgen kann ich mich noch ein bisschen ausruhen. Es war die Abschrift eines Briefes an Lina, in dem ich ihr von Nicaragua geschrieben hatte. Mit diesem Hinweis auf Lina war klar, wie das Gebet beantwortet war. Ausruhen würde ich mich heute Nacht aber wohl kaum können.

Als er irgendwann wieder ankam, teilte ich ihm in einem ganz konsequenten Tonfall mit, dass überhaupt nichts lief. Nicht dass ein konsequenter Tonfall bisher irgendeinen Effekt gehabt hätte. Doch diesmal gab er tatsächlich Ruhe.

Ich wachte von einem Traum mit einer schrecklichen Vergewaltigungsszene wieder auf. Wie gut konnte ich mit den Frauen mitfühlen, die solche Träume nur allzu gut kennen mussten.

Lange konnte ich nicht geschlafen haben. Es war immernoch unglaublich heiss und immernoch gab es Moskitos. Ich hasste Moskitos. Der Typ bewegte sich. Ach du Scheisse, er war wach. So konnte ich mich nicht umdrehen. Höchstens alle vierzig Minuten. In der Lage, in der ich hier lag, würde ich es auf keinen Fall länger aushalten - also drehte ich mich nochmal in eine etwas erträglichere Position. Prompt hatte ich das Ergebnis. Ich hatte es genau gewusst.

Bist du wach?

Nein. Er drehte sich in meine Richtung. Nein, ich war nicht wach. Tut mir wirklich leid.

Ey - bist du wach?

Nein! Tut mir wirklich ganz ausserordentlich leid.

Ey, Francisco - bist du wach?

Nein, nein, nein, nein und nochmal nein! Er gab Ruhe. Aber ich wusste, die nächste Bewegung würde mich verraten. Der nächste unrhytmische Atemzug.

Noch nie hatte ich in einer Nacht so eine Hitze erlebt. Meist schlief ich draussen, wo es kühler war. In einem nicht klimatisierten Haus war es nachts heisser als draussen.

Der Typ hatte mir gegenüber einen Vorteil, er schien diese Hitze gewöhnt zu sein. Vorhin hatte er sogar den ratternden Ventilator ausgemacht. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte den Ventilator wieder angeschalten. Aber ich hielt durch. Noch.

Die unerträgliche Hitze, die Moskitos, das Licht im Badezimmer, das offene Fenster ohne Moskitonetz. War er eingeschlafen? Sein Atem klang so gleichmässig. Ob ich mich auf die andere Seite drehen konnte? Aber dann hätte ich ihm das Gesicht zugewandt - und wenn er wach gewesen wäre, wäre es aus gewesen. Meine Augen musste ich offen halten.

Da - er hatte sich gekratzt. Ganz unauffällig. Jetzt verstand ich. Er spielte mit mir dasselbe Spiel wie ich mit ihm. Er tat auch nur so. Nein, ich würde es aushalten. Eine Schlafphase dauerte vierzig Minuten. Danach würde ich mich wieder umdrehen können. Fünfundzwanzig oder dreissig Minuten mussten jetzt schon vergangen sein. Nach vierzig Minuten drehte ich mich um, streckte meine Beine ein paarmal aus, drehte mich wieder von ihm weg und verharrte wieder regungslos.

Ich spürte genau, er lag weiterhin wach und wartete, bis ich wieder aufwachen würde. Ich verbrachte die schlimmste Nacht meines Lebens, aber schaffte es trotz der unvorstellbar schwülen Luft im Zimmer fast noch ein zweites Mal, mich vierzig ganze Minuten lang nicht zu bewegen.

Der Typ drehte sich alle fünfzehn Minuten um. Das bedeutete, er konnte nicht schlafen, lag ununterbrochen wach und wartete, bis ich wieder aufwachte. Die Minuten kannten kein Erbarmen. Der Schmerz in den Beinen wurde nach einer halben Stunde unerträglich. Zu der Hitze kamen die Moskitos. Ich brachte es fertig, mich regungslos in den Nacken stechen zu lassen. Eine andere Mücke setzte sich auf meinen Arm. Ich sah tatenlos zu, wie sie zustach.

Eine zweite setzte sich dazu. Blieb sitzen, fuhr den Stechapparat aus. Langsam fuhr ich meine andere Hand über die beiden Insekten. Meine Muskeln spannten sich langsam an. Zehn Zentimeter trennten die beiden Stechmücken vom Tod. Ich konzentrierte mich ein letztes Mal und begann zu zählen.

Eins - zwei - drei - zack, ich hatte sie! Alle beide!

Ach, bist du wach?

Okay, Ende der Vorstellung.

Was für eine Wohltat, endlich die Beine ausstrecken zu können. Was den miesen Moskitos den unentrinnbaren Tod gebracht hatte, war in Wirklichkeit nur ein ganz leises Geräusch gewesen, das ihn nie geweckt hätte. Aber ich hatte richtig vermutet, er war die ganze Zeit wachgelegen und hatte nur auf diesen Moment gewartet.

Fast zwei ganze Stunden hatte ich Ruhe vor diesem Typen gehabt. Nun wurde er noch aufdringlicher als vorhin. Ich hatte es befürchtet. Doch ich hatte mich nicht eine Stunde regungslos bei dieser Hitze von Moskitos stechen lassen, um nun wieder eine Diskussion zu beginnen. Nun zeigte ich weniger Geduld und wurde lauter. Am Ende drohte ich ihm, wenn er nicht sofort aus meinem Bett verschwände, würde ich meine Jeans anziehen. Was ich im nächsten Moment auch tat.

Eine irrsinnige Idee bei der Hitze, aber es hatte, wie ich erstaunt feststellte, endlich den gewünschten Effekt. Vollkommen beleidigt zog er sich zurück und sprach kein Wort mehr. Sicherlich befürchtete er, dass ich irgendwann noch lauter werden würde.

Auch am Morgen sprach er kein einziges Wort. Schweigend gingen wir zum Lkw. Schweigend bedeutete er mir, ich solle einsteigen. Schweigend fuhr er los. Ich wunderte mich, dass er mich überhaupt noch mitnahm. Vielleicht dachte er, ich könnte ihm noch Probleme machen, sein Name war ja bei der Motelrezeption bekannt.

Ich wusste, dass Frauen, die sich Truckern verweigerten, irgendwo mitten in der Landschaft einfach ausgesetzt wurden. Nun dachte ich, er würde mich nach zehn oder fünfzehn Kilometern einfach auf die Strasse setzen und war überrascht, dass er mich noch ganze sechzig Kilometer weiter zu einem posto fuhr. Und ausserdem musste er nun das Schweigen brechen. Ich kostete das richtig als Triumpf aus.

- Fim da carrera.

Ende der Fahrt.

Ich sah es als kleine Entschädigung, dass mich kurze Zeit später ein deutsches Pärchen von diesem posto mitnahm und dreihundert Kilometer bis Itabuna fuhr. Wie lange hatte ich schon nicht mehr Deutsch gesprochen. In Mainz wohnten sie immer im Hilton-Hotel, wenn sie dorthinfuhren. Sie erklärten mir, warum der Randstreifen neben der Strasse dicht mit Maniok bepflanzt war, wohingegen auf den weiten abgezäunten Feldern, die dahinter lagen, ausser ein wenig Gras nichts wuchs.

- Die hunderteins ist eine Bundesstrasse, und der Randstreifen gehört dem brasilianischen Staat, deshalb dürfen die da Maniok anbauen. Das ist für den Eigenbedarf. Die müssen ihre Nahrungsmittel selber anbauen, weil die Löhne zu niedrig sind.

- Und warum werden denen dafür keine Felder zur Verfügung gestellt? Ich meine, das ist doch auch ungesund, hier direkt an der Strasse mit den ganzen Abgasen.

- Hinter dem Zaun beginnt das Weideland der Grossgrundbesitzer. Und die halten dort nur Rinder, weil sie das Fleisch exportieren können. Und weil das Gras hier so wenig hergibt, stehen eben nur zwei Rinder pro Quadratkilometer. Aber das ist denen egal, die haben ja genug Land. Mit Maniok würden die kein Geld machen. Die Landreform ist ja nie durchgekommen.

- Wieso nicht?

- Brasilien ist nicht Deutschland, mit Demokratie und so. Das geht hier härter ab. Politiker werden hier ermordet, wenn sie für diese Kreise eine Gefahr darstellen. Das ist eine Doppelmoral. Alle Politiker versprechen eine Landreform - aber eine durchzusetzen würde sich niemand trauen.

In der Nacht begann es wieder zu regnen. Leider wurde mein Schlafsack diesmal tatsächlich nass, weil sie mich am Posto Nego Veío nicht unter der Bedachung schlafen lassen wollten. Ich hatte schon seit längerem beobachtet, dass die ESSO-Tankstellen besonders unfreundlich waren.

Im Süden von Bahia war ich in die zona cacaoeira gekommen, das Zentrum des Kakaoanbaus in Brasilien. Stundenlang lief ich an der BR 101 entlang und war froh, wenn mich hin und wieder ein Wagen ein paar Kilometer mitnahm. Wenigstens war es hier in den Tropen nicht kalt. Wie exotisch die Orte klangen, durch die ich hier kam. Uruçuca, Ubaitaba, Itamarati. Aus der Tupi-Indianersprache. Wörter auf i und u wurden immer auf der letzten Silbe betont. Ein Lkw hielt an und fuhr mich nach Gandu.

Und noch einmal hatte ich an diesem Nachmittag Glück und kam noch zwölf Kilometer weiter mit einem netten Einheimischen, Cosme war sein Name [Kosmi]. Oho, alemão, ein Deutscher in Bahia, Respekt.

Inzwischen erzählte ich den Leuten, die nachfragten, dass ich gerne bei einigen Leuten in der Gegend bleiben und ein bisschen Brasilien kennenlernen würde. Da die Arbeitslöhne zu niedrig waren um das Essen zu bezahlen, machte es keinen Sinn mehr, wenn ich sagte, ich wollte hier Arbeit suchen. So spielte ich ein wenig den Abenteuertouristen.

An der BR 101 lebten viele Menschen. An diesem Abend lief ich aus dem kleinen Ort Teolândia raus und noch vierzehn Kilometer weiter an der Strasse entlang, bis ich ziemlich müde war und bei ein paar Hütten am Strassenrand Pause machte. Die Menschen hier waren ziemlich dunkel, Mischungen aus Schwarzen, Indianern und vielleicht ein bisschen Europa. Und sie waren sehr freundlich. Sie luden mich ein, bei sich zu schlafen, gaben mir Wasser und sogar ein wenig zu essen. Nur selten sollte ich die Gelegenheit haben, mich später einmal für die natürliche und spontane Gastfreundschaft der Leute vom Rand der Strasse zu revanchieren.

Dieses Mal sollte eine seltene Ausnahme sein.

37

Keine Angst, glücklich zu sein -

Politik und Träume in Bahia

Rechtskurven waren besonders ungünstig. Eine Stunde war ich an diesem Morgen schon an der BR 101 weitergewandert, jetzt hatte ich nach einem Tal wieder eine Rechtskurve hinter mir und es ging wieder geradeaus.

Die Strasse war nicht sehr befahren und wenn ich ein Auto kommen hörte, drehte ich mich um und hielt den Daumen raus. Natürlich nicht bei grossen Sattelschleppern, voll besetzten Autos, Frauen oder bestimmten Automarken der Neureichen. Am häufigsten hielten klapprige Lkws oder Pick-ups an. Doch nicht hinter einer Rechtskurve, wenn sie mich erst im letzten Moment sehen konnten. Hier konnte ich nicht trampen und musste ich erst ein paar hundert Meter weitergehen. Deshalb waren Rechtskurven ungünstig.

Umso überraschter war ich, als kurz hinter der Kurve plötzlich ein Wagen neben mir anhielt. Ein neuer metallic-dunkelgrüner Chevrolet mit zwei Leuten - eigentlich hielten solche Autos nicht an. Sie fuhren nach Feira de Santana. Weit über hundert Kilometer. Das Auto hatte sogar Kilmaanlage.

Tanken mussten sie. Der Tankwart stellte die Routinefrage, die er sich bei anderen Wagen gleich sparte.

- Alkohol oder Benzin?

- Benzin natürlich, wie sind doch hier nicht bei armen Leuten!

Brasiliens Autos fuhren mit Alkohol, der aus Zuckerrohr gewonnen wurde. Nur wenige teure Autos fuhren mit Benzin. Ein bisschen überheblich fand ich es schon. Umweltschutz und Ausbeutung fossiler Rohstoffe gehörten offenbar nicht zu den Problemen Brasiliens.

Der Fahrer hiess Rui ([Hui]) und sah mit seinen langen dunklen Haaren fast wie ein Hippie aus. Der Beifahrer, Dai, machte mit seinen krausen dunklen Haaren einen weniger ausgefallenen Eindruck.

Cosme, der mich gestern mitgenommen hatte, hatte ihnen am Abend von seinem Abenteuer erzählt und sie hatten es fast nicht glauben wollen. Ein echter deutscher Anhalter hier in Bahia. Und auch noch einer, der sagte, er würde gerne ein paar Wochen in Bahia bleiben.

Ob ich dazu Lust hätte, fragten sie mich. Sie wohnten dort, wo mich Cosme gestern rausgelassen hatte. Ich könne gerne bei ihnen wohnen.

- Geld haben wir genug.

So eine Aussage war in Brasilien ungewöhnlich, aber nicht unglaubwürdig. Es gab Reiche und Arme. Die Armen hatten so gut wie nichts und die Reichen hatten zuviel. Brasilien war voller Gegensätze. Bis jetzt hatte ich nicht die Erfahrung gemacht, dass auch die reichen Brasilianer gastfreundlich, aufgeschlossen, nett und gut gelaunt waren. Sie verschanzten sich in der Regel hinter meterhohen Mauern in bestimmten Stadtvierteln, von Privatpolizei bewacht, wirkten wenig weltoffen und nahmen keine Anhalter mit. Rui und Dai waren eine Ausnahme.

Rui hatte ein Sägewerk an der BR 101 zwischen Wenceslau Guimarães und Teolândia, in dem vielleicht zehn Arbeiter-Familien beschäftigt waren. Ich bekam ein kleines Zimmer in einer Holzhausreihe, in denen die Familien der Arbeiter wohnten, zusammen vielleicht hundert Leute. Mein Zimmer diente sonst als Abstellkammer. Ich legte meinen Schlafsack auf das Holzbettgestell und fühlte mich unendlich erleichtert zu wissen, dass ich einfach so für ein paar Wochen hier bleiben konnte. Mitten unter den Leuten. Früh genug würde ich noch rauskriegen, wie ich mich hier nützlich machen könnte. Sie nannten mich von Anfang an Alemão, Deutscher, und zeigten mir erstmal das Sägewerk und seine Umgebung in den Hügeln der zona cacaoeira, des Kakaoanbaugebietes Brasiliens.

Es war zwar nicht der tropische Amazonas-Regenwald, der hier gerodet wurde, aber von geordneter Forstwirtschaft konnte auch in Bahia nicht die Rede sein. Und jung waren die Bäume auch nicht. Feira de Santana war ein Umschlagplatz für Tropenholz. Rui fuhr regelmässig nach Feira, weil er Kontakte mit einer bestimmten Holzfirma hatte. Besonders zur Sekretärin dieser Firma. Das durfte aber seine Frau nicht erfahren.

Die zweifelte zwar nicht daran, dass er in Feira eine Geliebte hatte, achtete aber sehr darauf, dass er sich gewaltig anstrengte, vor ihr stets alles absolut geheim zu halten. Brasilien war ein komisches Land.

Die Abende in Bahia waren schön. Als ich am Abend des 2. September unter einer Überdachung neben einem der Holzstapel stand, hatte ich plötzlich das Gefühl, eine weitere Lektion wartete auf mich. Diesmal sollte es etwas mit Viktoria sein. Aus einem der Bretterhäuser der Arbeiterfamilien drang leise Musik. Tracy Chapman. Wie in Buenos Aires.

...sorry is all that you can't say

years gone by and still - words don't come easily

like sorry like sorry

forgive me is all that you can't say

years gone by and still - words don't come easily

like forgive me forgive me

but you can say baby

baby can I hold you tonight

maybe if I told you the right words

ooh at the right time

you'd be mine

I love you is all that you can't say

years gone by and still - words don't come easily

like I love you, I love you

but you can say baby

baby can I hold you tonight

maybe if I told you the right words

ooh at the right time

you'd be mine

baby can I hold you tonight

maybe if I told you the right words

ooh at the right time

you'd be mine...

3. September 1989

Zunächst gab es ganz andere Lektionen zu lernen. Am Morgen wollte Ruis Frau mal mit mir sprechen. So gehe es nicht weiter. Ich wurde zu Ruis Frau zitiert. Was war denn jetzt?

- Alemão, du sprichst schlechtes Portugiesisch.

Sie war bemüht, ihren drei Töchtern gutes Portugiesisch beizubringen und war viel zu sehr Lehrerin, als dass sie so etwas bei mir durchgehen lassen konnte. Das musste ich richtigstellen.

- Nein, Moment, da gibt es ein Missverständnis. Ich spreche überhaupt kein Portugiesisch, ich spreche Spanisch und spreche die Vokale nur brasilianisch aus, das ist alles. Ich kann kein Portugiesisch.

- Doch, du sprichst schon Portugiesisch, aber schlecht-

- Nein, ich spreche in Wirklichkeit nur Spanisch-

- Keine Widerrede, ich seh doch, dass du Portugiesisch sprichst, aber du hast eine ganz schlechte Aussprache, und deshalb gehst du von morgen an in die Schule. Ich habe schon mit der Lehrerin gesprochen, die kenne ich sehr gut, die hat eine sehr gute Aussprache und nimmt gerade die Grammatik durch. Ab morgen gehst du in die Schule in Wenceslau, meine Töchter nehmen dich mit, im Bus, und am Nachmittag kommst du wieder her. Und da gehst du solange hin, bis du ordentlich Portugiesisch kannst. Und dann reden wir weiter.

Sie hatten drei Töchter. Die beiden jüngeren waren ganz nett. Mit der ältesten, die sechzehn war und sehr auf ihre Schönheit achtete, verstand ich mich weniger gut. Am nächsten Morgen begleiteten sie mich in die Schule, die Lehrerin erwartete mich schon - und fortan sass ich jeden Vormittag mit lauter Grundschulkindern in der vierten Klasse und lauschte dem Unterricht.

Niemand störte sich daran, dass ich schon dreiundzwanzig war. Es war üblich, dass auch Sechzehn- oder Siebzehnjährige in der vierten Klasse am Unterricht teilnahmen. In Brasilien gab es keine Schulpflicht wie in Deutschland, viele Kinder erschienen nicht zum Unterricht und mussten die Klassen immer wieder wiederholen. Nur in den deutschen Kolonien in Südbrasilien lief das anders, erklärten sie mir, aber hier in den brasilianischen Schulen war so etwas wie eine Anwesenheitspflicht nicht durchsetzbar. Sie erzählten auch, dass in den deutschen Gegenden in Südbrasilien auch die Schwarzen, die dort lebten, nach den Regeln der Deutschen brav jeden Tag die Schulbank drücken mussten.

Der Lehrerin in Wenceslau war es recht - meine Teilnahme erregte soviel Aufmerksamkeit, dass ihre Klasse nun immer schön voll war. Es gab auch eine Schuluniform - Jeans und weisses T-Shirt. Damit die Kinder reicher Eltern nicht mit der teuersten Mode in die Schule kamen.

Ruis Frau hatte nicht zuviel versprochen - die Lehrerin unterrichtete wirklich sehr verständlich portugiesische Grammatik. Dazu Mathematik, Landeskunde und andere Fächer. Die portugiesische Grammatik war etwas komplizierter als die spanische. Nach zwei Wochen konnte ich tatsächlich Portugiesisch.

Ich konnte es natürlich nicht lassen, während der Mathe-Klassenarbeit meinen Mitschülern die Lösungen hiemlich zu verraten...

Sie trieben Wasserfarben auf und ich setzte mich hin und malte Oscars Truck. Ich wollte ihm ja das Bild schicken. Doch es war kompliziert. Viel komplizierter als ich bei Curitiba gedacht hatte. Aber ich war ja direkt an der BR 101, wo ständig die grossen Scania-Überlandtrucks vorbeirauschten. Jedesmal, wenn ich ein Detail wissen wollte, ging ich einfach an die Strasse und wartete, bis einer vorbeikam. Alle waren begeistert, wie gut der alemão zeichnen konnte.

[pic]

Oscars Scania-Truck mit orangefarbener Schnauze, Bleistift und Wasserfarben, der Hänger als zentralperspektivische Konstruktion.

Rui hatte eine Idee. Er fragte mich, ob ich ihm ein Haus entwerfen könnte. Mit Grundriss und allem. Er lebte mit seiner Familie genau wie alle Arbeiter auf dem Gelände des Sägewerks in einem kleinen Häuschen. Es war zwar aus Stein, nicht aus Holz wie die Buden der Arbeiterfamilien, aber nicht sehr komfortabel. Er wollte ein grösseres Haus bauen. Mit zwei Stockwerken.

Grundriss, Aufriss, perspektivische Zeichnung. Oscars Truck hatte ich auch als zentralperspektivische Zeichnung konstruiert. Hatten wir im Kunstunterricht einmal gelernt. Manchmal war die Schule doch zu was gut. Es war zwar mühsam, mich nach einem halben Jahrzehnt wieder an die Techniken zu erinnern und völlig ohne die alten Unterlagen arbeiten zu müssen. Aber ich bekam es hin.

Über den Lohn hatten wir vorher schon gesprochen. Rui würde mir ein Fahrrad kaufen. Mehr wollte ich nicht. Mit ein paar Zubehörteilen. Damit würde ich weiterfahren. Ich hatte keine Lust mehr per Anhalter.

Hinterher erfuhr ich, wie hoch die Preise in Brasilien für solche Entwürfe waren. Rui musste mindestens einen vierstelligen Dollar-Betrag gespart haben. Es war erstaunlich, wieviel Geld man mit einem kleinen bisschen deutscher Gymnasialbildung hier schon verdienen konnte. Ich war zufrieden, dass ich mich tatsächlich nützlich gemacht hatte.

Wir befinden uns auf einer Hochwasseryacht mitten auf dem Meer und die Wellen werden immer höher. Norbert, M-K und ich verlieren die Kontrolle über das Boot, das kentert, und fallen in das kalte Wasser. Besonders M-K, die immer wasserscheu war, hat Angst. Wir umarmen uns, um Temperatur zu sparen, aber wir haben keine Chance. Ich höre mich ein paar Fragmente einer Abschiedsrede sprechen. Dann verrecken wir halt, ist ja egal. So schlimm war das Leben auch nicht... ist dies überstanden, kann es nur noch besser werden. Vielleicht sehen wir uns im nächsten Leben wieder. M-K verliert sich und ertrinkt. Norbert und mir kommt die Idee, die Yacht könnte von Rettungsmannschaften gesucht werden. Aber wir haben wenig Hoffnung.

Irgendwann fällt mir ein, dass ich noch einen letzten Brief an Viktoria schreiben möchte, den ich dann irgendwo in den treibenden Wrackteilen deponieren könnte. Doch ich habe keinen Stift, erst recht keinen wasserfesten Stift. Norbert hat auch keinen.

Ich bete, dass ich noch einmal aus dem Wasser komme, mir einen Stift organisieren, einen letzten Brief an Viktoria schreiben kann, um dann erst zu ertrinken.

Im nächsten Moment werden Norbert und ich auf wundersame Wiese zu Robert gebeamt. Robert hat einen wasserdichten Stift. Ich fange den letzten Brief an Viktoria an, Für Viktoria Chatel, und male die Grossbuschstaben noch ein bisschen schön.

Ich könnte es ausnützen, dass ich noch einmal aus dem Wasser gekommen bin, aber das wäre nicht fair.

Der Traum war zuende.

Dreimal am Tag gabs Essen. Ich ass mit Ruis Familie, wo auch Dai und Cosme am Tisch sassen. Dai war Ruis Bruder und eindeutig ein Sohn reicher Eltern, der sich manchmal als etwas Besseres zu fühlen schien. Ich habe nie herausgefunden, warum er im Sägewerk unentbehrlich war und was seine Aufgaben waren. Die Familie kam aus Jequié, einer grossen Stadt im Innenland. Wahrscheinlich hatte Dai in Jequié keine Aufgabe gefunden, oder besser keinen Geldgeber, und so hielt Rui ihn aus und verschaffte ihm mehr oder weniger auf dem Papier einen Job im Sägewerk. Er wurde also entsprechend bezahlt, machte sich aber kaum nützlich.

Zweimal fuhren wir nach Jequié. Dai war dort verheiratet, mit einer sehr hübschen blonden Brasilianerin, auf deren Mann wahrscheinlich alle Brasilianer neidisch waren. Ich mochte seine überhebliche Art nicht, wenn er damit prahlte, wie tolerant und modern er eingestellt sei. Während er wie ein kleiner Junge damit angab, mit wem er alles fremdging, wies er mich auf meine Frage darauf hin, dass, wenn seine Frau sich dasselbe herausnehmen würde, er sie auf der Stelle umbringen würde. In so einem Land klang das auch glaubhaft.

Cosme dagegen, der Verwalter, war einfacherer Natur - ein gut gelaunter fröhlicher Brasilianer, immer mit einem Witz auf den Lippen. Keiner konnte so gut wie er die alten brasilianischen Politiker imitieren, die sich jetzt vor den Wahlen gerne als Mann des Vertrauens oder Mann der Tat anpriesen... eu vou votar no homem do congelamento depois do embalsamento - ich wähle den Mann des Einfrierens nach der Einbalsamierung!

Er war die zweite Hand von Rui, leitete den Betrieb mit geschickten Händen, verstand sich gut mit den Arbeitern und war immer zur Stelle, wenn es irgendwo Probleme gab und ein Ansprechpartner benötigt wurde. War Cosme einmal beleidigt, war sofort klar, dass es nicht gut war, bei ihm zu weit zu gehen. Mit Leuten wie Dai hätte Rui seinen Betrieb nicht führen können.

- Und auf welche Art Frauen stehst du?

Diese Frage musste kommen, und sie musste von Dai kommen. Ich mochte es nicht gerne, mit Männern zusammenzusitzen, die sich stundenlang abschätzig über Frauen unterhielten. Wenn ich nicht mitmachte, vermuteten sie bald, ich hätte kein Interesse an Frauen.

Die Antwort auf deine Frau konnte ich mir nicht verkneifen. Ich wusste genau, wie Dai reagieren würde, und er reagierte genau so. Aber ich hatte mir vorher alle Konsequenzen überlegt. Nicht umsonst war ich in Mainz mit Jürgen Jancker in die Schule gegangen.

Dai setzte sofort alle Hebel in Bewegung. Ab sofort durfte ich nicht mehr nach Jequié mit und sie achteten peinlich darauf, dass Dais Frau nicht mehr nach Wenceslau kam. Nach ein paar Wochen wollte sie aber dennoch Wenceslau besuchen - was Dai ihr nicht verwehren konnte, ohne den Verdacht zu erwecken, er habe direkt hier am Ort eine Geliebte. Also verbot er mir strengstens, an diesem Tag auch nur ein Wort mit seiner Frau zu sprechen - in der Annahme, dass sie genau wusste, was los war, und es von sich aus nicht wagen würde, mich anzusprechen. Er hatte keinen Zweifel, ich musste mich mit ihr in Jequié gut verstanden und nicht nur hallo gesagt haben.

Die Frau hatte natürlich keine Ahnung und war sehr irritiert, warum alle plötzlich so komisch waren. Denn mehr als hallo hatte ich ihr in Jequié wirklich nicht gesagt.

Irgendwann hatte sie sich schliesslich durchgefragt, ganz so dumm waren Frauen auch nicht, und sprach mich im Beisein von Ruis Frau von sich aus an, um das Missverständnis in wenigen Sekunden aufzuklären. Woraufhin alle über Dai lachen mussten und ihm Vorwürfe bezüglich seines Benehmens dem deutschen Gast gegenüber machten. Ich war fast erstaunt, wie gut meine Rechnung aufgegangen war.

Dai war zwar beleidigt, aber er hatte die Grösse, so zu reagieren wie ich bei Jürgen Jancker vor zehn Jahren. Anerkennend konnte er mein Meisterstück loben. Wir beendeten den Streit und gaben uns wieder die Hand.

Cosme sagte mir zwar, ich solle sowas bloss nicht nochmal machen und Brasilien würde da keinen Spass verstehen, musste aber dann doch zugeben, dass es mir gelungen war, Dais Hochmut etwas zu bremsen. Cosme selber war einmal regelrecht ausgerastet. Er wohnte mit Dai in einem kleinen Häuschen und natürlich gab es Konflikte, wenn Dai den ganzen Tag nichts machte, mehr Geld bekam als Cosme, aber Cosme den ganzen Laden alleine organisieren durfte.

Anfang Oktober rief ich Rugatto in Macapá an der Amazonas-Mündung an, dessen Adresse mir Gerwin in Neustadt gegeben hatte. Rugatto sprach ein liebenswertes, etwas altertümliches Deutsch und sagte, ich könne gerne vorbeikommen, ich stehe dir zur Verfügung.

Einmal fuhren wir für ein paar Tage nach Salvador, wo Rui geschäftlich zu tun hatte und ich mein Visum verlängern musste. Die Stadt war nicht besonders attraktiv. Auf dem Rückweg nahmen wir hinten auf dem roten Pick-up zwei schweizer Anhalterinnen mit, die Rui auf der Insel Itaparica am romantischen Küstenort Barra Grande absetzte. Er fragte mich, ob ich auch ein paar Tage dableiben wollte. Warum eigentlich nicht. Zwei Tage Urlaub am Meer. Er drückte mir fünfzig Cruzados in die Hand, lachte und fuhr mit Dai und Cosme davon.

Schon in Jequié hatten Rui und Dai versucht, mich mit einer gutaussehenden jungen Brasilianerin zusammenzubringen und waren enttäuscht, dass es nicht gefunkt hatte. Und nun gleich zwei. Die Geschichte machte im Sägewerk gleich die Runde.

Wir mieteten ein kleines Zimmer mit drei Betten und verbrachten den Tag am Strand. Zum Glück konnte ich bereits genug Portugiesisch, um in Erfahrung zu bringen, dass sich die Schweizerinnen in Brasilien auf keinen Fall oben-ohne an den Strand legen durften.

Mit einer der beiden verstand ich mich gut. Wie ich las sie viel, bis spätabends, als ihre Freundin schon schlief. Ich glaubte nicht, dass ich mit ihr schlafen wollte, aber dennoch traute ich mir, etwas zu formulieren.

- Wenn du willst, nur wenn du Lust hast... kannst du heute nacht auch zu mir ins Bett kommen. Nur wenn du sowas magst- -

Irgendwas mit Grenzen setzte ich noch hinzu. Sie lächelte. Die sanfte, schüchterne Art, wie ich sie fragte, schien ihr nicht unangenehm zu sein.

- Lieber nicht...

Vielleicht war es manchmal doch ein kleiner Nachteil, mit einer Freundin zu verreisen. Ich dachte noch ein bisschen drüber nach und kam zu dem Schluss, dass es vielleicht zu meinem Weg gehörte, solche Fragen zu stellen. Und dass ich vielleicht ausnahmsweise etwas richtig gemacht hatte.

Dennoch schien es nicht richtig zu mir zu passen, solche Initiativen zu ergreifen. Es wäre mir angenehmer, wenn ein Mädchen auf mich zukommen würde.

Ich trampte wieder zurück ins Sägewerk.

Rui hatte mir ein Fahrrad besorgt.

"Wenn du mich liebst, warum hast du dich dann nie zu dir eingeladen?"

"Ich weiss, eigentlich hast du recht..." Erst weiss ich keine bessere Antwort auf Viktorias Frage.

Ich überlege und komme zu dem Schluss, dass sie einzuladen vielleicht doch nicht so gut wäre. Ich finde mich nicht schön genug, meine Socken sind kaputt.

"Lieber nicht", meine ich zu ihr. Es wäre besser, wir lassen es sein.

Sie widerspricht. Das sei doch alles nicht so schlimm, meint sie, und das Äusserliche hätte überhaupt nichts zu sagen. Sie versucht mir Mut zu machen - "Ich will dich doch auch einladen."

Irgendwie scheint sie dasselbe Problem zu haben und es liegt in der Luft, dass wir dem nicht ständig ausweichen können. Sie überredet mich, indem sie ihre Frage wiederholt.

"Warum kommst du nicht zu mir und lädst mich zu dir ein?"

Sie meint morgen. Ich nehme es mir vor.

Ich wache nicht sofort auf, sondern träume noch einige zusammenhangslose Sequenzen im brasilianischen Wahlkampf.

Solche Träume waren gefährlich. Sie führten zwar meine eigenen Schwierigkeiten, Gedanken und Wünsche vor Augen, aber mir war auch klar, dass Viktorias Person meine eigene Projektion war und nichts mit Viktoria Chatel zu tun haben konnte. Das Leben musste real gelebt werden und meine Träume konnten auf die Fragen des wahren Lebens nicht immer zuverlässige Antworten geben. Aus Träumen wie diesem konnte ich nur über mich selber etwas lernen, wenig über Viktoria.

Andererseits wirkten diese Träume ziemlich intensiv und besonders die Gefühle empfand ich als erstaunlich natürlich und fast realistisch.

Ich ging in das schattige Schreibbüro, wo Levandro, der junge Buchhalter, Ruis Papierarbeit erledigte und schrieb den Traum in mein Tagebuch. Hier hatte ich auch Oscars Truck gemalt und Ruis Grundrisse angefertigt. Ich las mir den Traum noch einmal durch. Dabei hatte ich ein Déjà-vu.

Ich sass im Schreibbüro und las mir meine eigenen Zeilen durch, die ich in Kurzschrift geschrieben hatte.

"Wenn du mich liebst, warum hast du dich dann nie zu dir eingeladen?"

"Ich weiss, eigentlich hast du recht..." Erst weiss ich keine bessere Antwort...

Ich muss diese kurze Szene entweder in Feuerland oder in Punta Arenas geträumt haben. Irgendein Problem von Feuerland schien gelöst zu sein. Ich war wohl weitergekommen.

Träume sind Schäume, hatte Lina gesagt. Was war Traum und was war Wirklichkeit? Die Information, dass ich Viktoria einmal heiraten würde, ging auf einen Traum zurück. Andererseits hatte ich vorher gebetet, und zwar real. Ein Déjà-vu-Erlebnis war genauso real und ging auch auf einen Traum zurück.

Wenn ich etwas über die Wirklichkeit erfahren wollte, dürfte ich mich nicht in Träumen verlieren. Vielleicht würde ich Viktoria nur im Traum heiraten?

Langsam begann es mich auch zu stören, dass ich immer noch unsterblich in sie verliebt und für andere Mädchen blockiert war. Es war so schade gewesen in Buenos Aires mit Estela. Die Fahrt nach Tigre.

Wann ich Viktoria heiraten würde, davon war nie die Rede gewesen. Wie lange würde ich noch sie auf sie warten? Es konnte sein, dass ich sie erst am letzten Tag meines Lebens heiraten würde. Und was würde ich bis dahin machen? Würde sie überhaupt lächeln, wenn ich ihr sagen würde, ich sei ihr bis dahin treu geblieben?

Meine Lebenseinstellung erinnerte mich immer mehr an die Anhänger der Kirche der Wiederkunft des Grossen Propheten Zarquon im zweiten Anhalter-Band von Douglas Adams.

Das Restaurant am Ende des Universums war eines der ungewöhnlichsten Unternehmen des Gastronomie-Gewerbes, errichtet an einem Ort, der mittels einer Zeitreise genau auf den Moment projiziert worden war, zu dem das ganze Universum in einer phantastischen Explosion untergehen würde. Unter den illustren Gästen des Restaurants, darunter Hotblack Desiato von der Plutonium-Rockband Desaster Area, waren auch zwanzig Anhänger der Kirche der Wiederkunft des Grossen Propheten Zarquon. Bis ans Ende des Universums hatten sie auf die Wiederkunft ihres Grossen Propheten gewartet.

Ihre ganze Religion bestand darin, auf die Wiederkehr Zarquons zu warten. Ihre Gespräche, ihre Träume, ihre Lieder, ihr ganzes Leben drehte sich um nichts anderes. Nie war er wiedergekommen. Doch sie glaubten fest an ihn. Irgendwann musste es soweit sein. Wenige Sekunden bevor das Universum endgültig unterging, materialisierte er sich schliesslich in einer hübsch inszenierten Show von Blitzen und Nebeleffekten vor seinen extatisch begeisterten Anhängern. Zarquon war tatsächlich wiedergekommen, kurz vor der letzten gigantischen Explosion, in der sich das Universum auslöschen und in sich selbst zusammenfallen würde.

Ja, der grosse Zarquon, er war wiedergekommen. Der Showmaster des Restaurants gab ihm verblüfft das Mikrofon. Alle starrten auf den Grossen Propheten.

- Äh, also, tut mir leid für die kleine Verspätung, Leute, war ne grässliche Zeit, jede Menge Stress und dann immer alles im letzten Moment. Äh- wie stehts mit der Zeit? Hab ich noch ne Min-

Und so endete das Universum.

Okay, sie hatten auf ihn gewartet, und er war tatsächlich wiedergekommen. Aber was hatten sie die ganze Zeit davon gehabt? Ich durfte nicht Gefahr laufen, mein eigenes Leben zu verpassen.

Vor allem musste ich meine Fragen an das reale Leben stellen und sie mir in der Wirklichkeit beantworten lassen.

Dieser Gedanke sollte aufgrund eines völlig ungewöhnlichen Zufalls einmal Brasilien verändern.

Wahlkampf. Es war Wahlkampf in Brasilien, zur Wahl standen Präsident und Vizepräsident. Das grösste Land Südamerikas hatte sich mühsam und erstaunlich friedlich aus einer brutalen Militärdiktatur befreit - der nach zähem Ringen indirekt gewählte Tancredo Neves war enthusiastisch als Brasiliens grosse Hoffnung gefeiert worden. Seine Partei, die PMDB[92], hatte es geschafft, das Land in die Demokratie zu führen - doch dann, wenige Stunden vor der Übergabe des Präsidentenamtes im März 1985, wurde Tancredo Neves ins Krankenhaus eingeliefert, wo Brasiliens grosse Hoffnung wenige Wochen später starb. Das Land hatte dieses Trauma bis heute nicht überwunden.

Nein, die Militärs hatten den betagten Politiker wohl ausnahmsweise nicht ermordet. Aber sie waren nicht unglücklich, den wesentlich weniger radikalen Vizekandidaten José Sarney von der liberal-bürgerlichen Partei PFL als Präsidenten zu sehen, der die Folterknechte und Schreibtischtäter verschonte und auch sonst nichts im Land änderte. Seine fünfjährige Amtszeit war nun bald vorüber und der ungeliebte Staatschef würde nun durch den ersten direkt und demokratisch gewählten Präsidenten Brasiliens abgelöst werden. Noch immer waren nicht alle sicher, ob die Generäle bei der Wahl eines Linkskandidaten nicht gleich wieder putschen würden.

Doch die Militärs hielten sich zurück und dementierten Putschpläne. Dabei schafften sie es sogar, ehrlich zu klingen. Militärdiktaturen waren in Südamerika aus der Mode gekommen.

Schon als ich mit Oscar durch Südbrasilien gefahren war, waren mir bestimmte Aufkleber an den Scheiben der Lkws aufgefallen, auf grün-gelbem Huntergrund stand in weissen und blauen Buchstaben das Wort Collor. Ich dachte lange Zeit, es handele sich um eine Zahnpastawerbung. Erst jetzt wurde mir klar, dass der vierzigjährige Fernando Collor de Melo und derzeitiger Regierungschef des kleinen Bundesstaates Alagoas einer der vielen Kandidaten für die Präsidenschaftswahlen war. Und ausserdem der aussichtsreichste.

Denn Collor, der aus reichem Hause stammte und gar keiner Partei angehörte - genauer gesagt, einer selbstgegründeten Partei - hatte eine geniale Idee gehabt, in Brasilien Präsident zu werden. Eine absolut geniale Idee. Dieser Mann kannte sein Land wirklich gut.

Ein halbes Jahr vor den anderen Kandidaten hatte er seinen Wahlkampf begonnen. Er war zu den Fernfahrer-Gewerkschaften gegangen und hatte ihnen versprochen, er als Präsident würde die Strassengebühren für Lkws abschaffen. In Nu hatte er eine riesige Armada von Anhängern, die sich Collor-Aufkleber auf die Scheiben klebten und den Namen des Kandidaten bis in den hintersten Winkel des Landes trugen. Und die Dorfbewohner hörten auf, wenn ihnen die Lkw-Fahrer aus den Städten Neuigkeiten brachten. Collor.

Vier Monate später glaubte niemand mehr ernsthaft daran, dass Collor noch geschlagen werden könnte, auch wenn dieser ausser der Sache mit den Strassengebühren und vagen Aussagen, er werde die Korruption bekämpfen, bis jetzt noch gar keine politischen Aussagen getroffen hatte. Seine PR-Leute schienen ihm erst langsam die Probleme Brasiliens erklären zu müssen. Was beispielsweise ein Mindestlohn sein sollte, schien er gar nicht zu wissen.

Es begann die Zeit der Wahlkampfsendungen. Täglich zweimal eine ganze Stunde, Pflichtsendung in allen Programmen, zur besten Sendezeit. Zweiundzwanzig Parteien stellten nacheinander ihre Kandidaten vor. Einundzwanzig Männer und eine Frau. Die grossen Parteien hatten täglich etliche Minuten, die kleinen weniger.

Rui war gegen Collor. Rui war links, Mitglied der PMDB. Wie viele andere Unternehmer war er der Meinung, dass höhere Löhne notwendig waren, um die Inlandskaufkraft zu steigern. Er selbst zahlte höhere Löhne - sechs statt fünf Cruzados am Tag - und sprach sich für einen gesetzlich festgeschriebenen Mindestlohn aus.

Brasiliens Linke waren zerstritten. Sie hatten es nicht geschafft, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Während sie sich monatelang in Flügelkämpfen zerrieben hatten, war Collors Popularität immer weiter gestiegen. Brasilien hatte achtzig Prozent Analphabeten und José Sarney hatte gegen den Willen der Linken die Wahlpflicht durchgesetzt. Der Anteil der Analphabeten war unter den Collor-Wählern besonders hoch.

Ohne politisches Profil hatte Collor Mühe, sich von Sarney abzusetzen, dem unbeliebtesten Politiker des Landes, und musste bald sogar zum Mittel der persönlichen Beleidigung greifen. Wenn ein Politiker einen anderen der Einfachheit halber direkt als unfähig, inkompetent und bestechlich bezeichnete, klang das für unsere Ohren ungewöhnlich - in Brasilien änderte es nicht viel, ausser dass Sarney in Collors Wahlkamfsendezeit richtigstellen durfte, dass er nicht bestechlich war. Die Linken holten langsam auf und es wurde deutlich, es würde eine Stichwahl geben.

Collor bezeichnete sich gerne als den obersten Bekämpfer der Korruption, als caçador dos marajás, den Fänger der Maharadschas, wie die korrupten Reichen in Brasilien genannt wurden. Irgendjemand hatte daraus caçador de maracujás gemacht, den Fänger der Maracujas, was wohl eher zutraf. Als Gouverneur von Alagoas hatte er jedenfalls keine Landreform durchgesetzt, nur ein paar ungeliebte Konkurrenten aus dem Weg geräumt.

Die PMDB hatte in den vergangenen fünf Jahren ziemlich abgewirtschaftet. Viele Politiker hatten sich als korrupt erwiesen. Kaum jemand traute ihnen zu, die Probleme des Landes lösen zu können. Ihr Kandidat, der alte Ulysses Guimarães, war zwar als edel und mutig bekannt, lag in den Umfragen aber nur bei drei Prozent, weit abgeschlagen hinter den Kandidaten der anderen Linksparteien Leonel Brizola aus Porto Alegre in Südbrasilien, Mario Covas aus São Paulo und Lula da Silva von der Arbeiterpartei. Brizola führte die Riege derer an, die sich eine Chance ausrechnen konnten, in den zweiten Wahlgang zu kommen.

Rui mochte Brizola nicht. Brizola regierte in Rio de Janeiro mit absoluter Mehrheit und führte sich auch gegenüber den anderen Linksparteien wie ein Despot auf. Im Wahlfernsehen kam nichts anderes rüber als fähnchenschwingende Kinder, die la-la-la-la-la-Brizola sangen. Rui wusste nicht, wen er wählen sollte.

Nicht alle PMDB-Politiker unterstützten Ulysses. Viele hatten das sinkende Schiff schon lange verlassen. Der alte Politiker rief unschöne Erinnerungen an Tancredo Neves wach. Ulysses kannte die Machtstrukturen Brasiliens gut und hatte sich in einem Gremium nach dem anderen zum Vorsitzenden wählen lassen. Es gab einen Song, der den Wahlkampf erfrischend offen parodierte, in dem auch Ulysses imitiert wurde - já sou presidente de tudo, e quero ser presidente do resto... ich bin schon Präsident von allem, und will jetzt noch Präsident vom Rest werden.

Nach langem Nachdenken hatte sich Rui dennoch entschieden, für Ulysses Wahlkampf zu machen - weil sein Vizekandidat Waldir Pires Gouverneur von Bahia war.

Irgendwann hatte sich Rui Wahlplakate von Ulysses geholt und wir begannen, sie aufzukleben. Ruis Stimme hatte Gewicht - die Arbeiterfamilien seines Sägewerks an der BR 101 würden bestimmt nicht Collor wählen. Ich nahm Kleister und kletterte auf das Dach des Schuppens neben dem Verwaltungsgebäude, um besonders gut sichtbar zwei Plakate von Ulysses anzubringen. Beim zweiten Plakat passierte es.

Ich ging vorsichtig über das Eternit-Wellblech neben der hohen Hauswand, als es plötzlich laut krachte und ich im nächsten Augenblick drei Meter tiefer stürzte und mit lautem Gepolter auf dem unebenen Erdboden des Holzlagerschuppens landete. Langsam stand ich wieder auf. Der Fuss schmerzte.

Rui und Cosme kamen an und fingen glücklicherweise unwillkürlich an zu lachen, als sie sahen, wie leichtsinnig der alemão gewesen war. Was für ein mutiger Einsatz für Ulysses!

Der Fuss war gebrochen. Der Arzt in Gandu, der für etwa fünfzig Mark das Bein untersuchte, war davon so überzeugt, dass er ihn nicht einmal röntgen wollte. Bis zum Knie gipste er das Bein ein. Als ich mit Cosme aus Gandu zurückkam, wurde erstmal laut gelacht - dann liess Rui von einem der Arbeiter zwei Krücken anfertigen, mit denen ich nun für die nächsten Wochen auf dem Gelände des Sägewerks herumhumpeln konnte.

Es war sofort klar, dass ich die Pläne, in den nächsten Tagen mit dem Fahrrad an den Amazonas aufzubrechen, guten Gewissens aufgeben konnte. Zuerst musste der Fuss wieder heilen. Ich hatte Glück, dass nichts Schlimmeres passiert war.

Die ersten Tage tat der Fuss so weh, dass ich kaum stehen konnte. Noeli, Ruis Küchenhilfe, ein schlankes, grossgewachsenes und sehr dunkelhäutiges Mädchen, wurde angewiesen, mir in meine Bretterbude das Essen zu bringen. Sie machte das zunächst ungerne und nachlässig, wurde aber von Rui und seiner Frau nochmal ausdrücklich dazu angewiesen.

Ich mochte sie nicht, weil sie mich geärgert hatte, zusammen mit Ruis arroganten Töchtern. Wobei die jüngeren Töchter offenbar eher begriffen, wo die Grenzen waren als die älteste und Noeli, die sehr gemein sein konnten. Und nun musste sie mir das Essen an mein Bett bringen.

Nach ein paar Tagen war sie plötzlich freundlicher. Na so was. Und sie wurde noch freundlicher. Richtig zuvorkommend. Ob Rui ihr wohl mal die Leviten gelesen hatte?

Hatte er nicht. Das junge Mädchen war von selber auf die Idee gekommen, mit mir schlafen zu wollen. Nach ein paar Tagen hatte ich das freundliche Angebot direkt. Nach Feierabend. Das hatte ich schon fast befürchtet. Ich glaubte nicht, dass sie sich in mich verliebt hatte. Zunächst dachte ich, sie wollte nur ausprobieren, wie ich reagierte, um es dann überall herumzuerzählen. Doch irgendwann wurde mir klar, sie wollte offenbar wirklich mit mir schlafen. Was sollte ich jetzt dazu sagen?

Natürlich gab es nach ein paar Tagen Stress und sie warf mir Rassismus vor. Aber sie schien wenigstens ansatzweise auch zu begreifen, dass sie anfangs hätte freundlicher sein können. Dem Argument wenn du zu mir freundlicher gewesen wärst, würde ich jetzt mit dir schlafen konnte sie nicht viel entgegensetzen.

Als ich nach einer Woche wieder langsam gehen konnte, ging ich zu Essen wieder selbst in Ruis Haus und war auf Noeli nicht mehr angewiesen. Die nun tatsächlich freundlicher war, denn sie lebte ja in der Hoffnung, ich könnte meine Meinung ändern, wenn sie netter zu mir war. Ich war froh, dass sie nicht so ekelhaft aufdringlich wie der Typ vom Posto Ipiranga war. Der war auf einmal ganz zahm geworden, als ich ihm angedeutet hatte, ich könnte meine ablehnende Haltung ändern. So liess ich sie ein wenig in der Hoffnung leben, machte ihr hin und wieder schöne Augen und hatte tatsächlich ein Problem weniger.

9. Oktober 1989

Auf Ruis Töchter hatten schöne Augen für Noeli leider keinen Einfluss. Die Rede Globo brachte gerade einen Beitrag aus Berlin, angeblich sei die Mauer gefallen. Doch die Mädchen schalteten den Fernseher einfach aus, weil sie Politik langweilig fangen. Hey, was würdet ihr sagen, wenn euer Land vierzig Jahre lang geteilt wäre? Doch Rui brachte es nicht übers Herz, mit seinen Töchtern zu schimpfen.

Nun gut, ich war wenigstens nicht der einzige, der den Fall der Mauer verpasste. Irene Westerwald aus Neustadt und ihre Freundin Melanie Franke aus Göttingen beschäftigten sich an diesem Tag mit Jugendstil und barocken Schlössern. Sie waren für eine Woche nach Wien gefahren, sassen in schönen Cafés, besuchten Museen und bekamen von Berlin noch weniger mit als ich.

Und die sechzehnjährige Tochter von Rui.

- Papa, was ist das eigentlich, Politik?

- Meine Tochter, das werde ich dir erklären. Dein Vater macht Politik. Ja, ich mache Politik. Politik ist, wenn dein Vater von heute auf morgen jederzeit einfach auf der Strasse erschossen werden kann. Und niemand kümmert sich darum. Das ist Politik.

Tieta aus dem Dorf Agreste in Bahia geht als junges Mädchen in die Stadt und kommt unerwartet als reiche Frau zurück, die alle Dorfbewohner verzaubert. Am Ende stellt sich heraus, dass sie ihr Geld in der Prostitution verdient hat und in der Stadt Bordelle besitzt.

Da ich mit meinem Gipsfuss nicht viel machen konnte, sass ich oft lange Zeit vor dem Fernseher. Brasilianische telenovelas, Wahlkampfsendung, Nachrichten. Jede telenovela dauerte immer eine Stunde und wurde ständig von Werbung unterbrochen. Etwas anderes lief im Fernsehen eigentlich nicht. Aber es war eine gute Methode, Portugiesisch zu lernen.

Eine telenovela hiess Top Model und spielte in Rio. Die meisten telenovelas spielten in Rio. Rio war die Stadt fürs Leben, erklärten sie mir, São Paulo gab keinen Stoff für romantische Liebesgeschichten, dort wurde nur gearbeitet.

Besonders beliebt war in diesem Jahr allerdings die spätabends gesendete Novelle Tieta do Agreste, die ausnahmsweise in Bahia spielte. Alle liebten Tieta und diskutierten am folgenden Morgen über die neueste Folge. Die Handlung basierte auf einem Roman von Jorge Amado von 1977, der in Tieta den latenten Gegensatz zwischen Schein und Wirklichkeit in der brasilianischen Gesellschaft sehr gut traf. Obwohl die Folgen erst gegen Mitternacht ausgestrahlt wurden, wurde Tieta do Agreste eine der erfolgreichsten telenovelas Brasiliens.

Im Wahlkampf wurde es spannend. Lula da Silva von der Arbeiterpartei, der Radikalste der linken Kandidaten und anfänglich mit fünf Prozent auf dem siebten Platz in der Kandidatenliste gehandelt, hatte in den Umfragen aufgeholt und sich in wenigen Wochen mit seiner Fernsehwerbung langsam auf den dritten Platz hinter Brizola hochgearbeitet, der in den Umfragen monatelang unverändert bei fünfzehn Prozent lag. Collor, der keine Lust hatte, an politischen Fernsehdiskussionen teilzunehmen, trauten sie bald nur noch fünfunddreissig Prozent zu.

Die Linken einigten sich am Ende auf die Formel, es sei gut, insgesamt fünf verschiedene Kandidaten ins Rennen geschickt zu haben. So würde sich demokratisch entscheiden, wer am Ende gegen Collor antreten würde. Brizola, Ulysses und auch Covas hatten das für sich gerne in Anspruch nehmen wollen. Lula und Freire, der Kommunist, waren zurückhaltender.

Es gab lustige Geschichten, die Aussenstehende staunen lassen konnten, welche Probleme eine junge Demokratie nicht alles haben konnte. Die phantastische Geschichte von Sílvio Santos hielten viele Brasilianer anfänglich selber für eine Art Aprilscherz.

Sílvio Santos war ein landesweit bekannter und beliebter Fernsehshowmaster und kam wenige Wochen vor der Wahl urplötzlich auf die Idee, selber für die Präsidentschaft kandidieren zu wollen. Dass er noch weniger Ahnung von Politik hatte als Collor, was was heissen wollte, schien kein Problem darzustellen. Kurzerhand kaufte er sich einen der vielen Kandidaten, übernahm die Sendezeit von dessen kleiner Partei und fing an, sich wie in seinen Fernsehshows als zukünftiger Präsident zu präsentieren und Geschenke zu verteilen. Sofort lag er in den Umfragen vor den Linkskandidaten. Santos traute sich zu, Brasiliens Präsidentschaft in fünf Tagen Wahlkampf zu gewinnen.

Der Showmaster wäre um ein Haar zusammen mit Collor in den zweiten Wahlgang gekommen, wenn nicht die Wahlkommission wenige Tage vor der Wahl noch eine Lücke gefunden hätte, wie sie die Kandidatur des Trittbrettfahrers verbieten konnte. Da warens nur noch einundzwanzig Kandidaten. Zwei Tage vor der Wahl stand also fest, wer überhaupt alles kandidierte.

Am Tag der Wahl kam es zu einem Wahlkrimi, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Dabei ging es nicht darum, wer gewonnen hatte - Collor hatte sich zwar auf achtundzwanzig Prozent heruntergewirtschaftet, ging aber dennoch als Sieger hervor. Die viel spannendere Frage, wer auf den zweiten Platz kam, stand erst vier Tage nach Beginn der Auszählung fest. Spannend deswegen, weil sich die Zukunft eines Landes hier ausnahmsweise einmal mit dem zweiten Sieger entscheiden würde. Zunächst brauchte das Land eine Entscheidung, welche Strömung die stärkste Oppositionskraft war - die später vielleicht einmal die Wahlen gewinnen könnte: Brizola, ein Freund von Willy Brandt, der im hoch entwickelten Süden viele Stimmen hatte, oder Lula da Silva aus dem ärmeren Nordosten, Kandidat einiger kommunistischer Splittergruppen.

Es dauerte Tage, bis die Stimmen in den armen und rückständigen Gebieten des Nordens ausgezählt waren - lange Zeit hatte es nach einem Erfolg Brizolas ausgesehen, aber dann stand fest, dass Aussenseiter Lula da Silva im zweiten Wahlgang war. Brasilien war überrascht.

Lula.

Luis Inácio Lula da Silva kam irgendwo aus Pernambuco im Nordosten, hatte sechs Jahre Grundschulbildung, seine Familie war nach São Paulo abgewandert, er hatte als Metaller gearbeitet und irgendwann eine Karriere in der Gewerkschaft begonnen. Anführer bei blutig niedergeworfenen Streiks, inhaftiert unter den Militärs, später aktiv in der Arbeiterpartei PT und heute Kandidat einer Dreiparteienkoalition der PT mit zwei kommunistischen Splittergruppen. Ausgerechnet derjenige Linkskandidat war nun im zweiten Wahlgang, der die radikalsten Positionen vertrat.

Ulysses hatte vier Prozent bekommen. Gouverneur Waldir Pires aus Bahia deutete an, er werde jetzt wohl Collor unterstützen. Nun musste sich auch Rui entscheiden, wen er in vier Wochen im zweiten Wahlgang unterstützen wollte.

Am Morgen nach der langen Wahlnacht standen Rui, Dai, Cosme und Levandro noch einmal vor dem grossen Plakat von Ulysses am Bürohäuschen. Es lag in der Luft. Niemand musste etwas sagen. Irgendetwas musste dieses Plakat nun ersetzen.

Collor oder Lula? Eine andere Alternative gab es nicht. Entweder der politisch völlig unbedarfte Fänger der Maharadschas oder der Radikalste aller Linkskandidaten. Auch Levandro sah auf das Plakat, dann auf Rui, der nachdenklich den Blick seines Buchhalters erwiderte.

Dann schaute auch der Unternehmer noch einmal auf das grosse Portrait vom alten Ulysses Guimarães.

- Die Rechte ist korrupt. Ich bin für Lula. Ich hab mich entschieden. Jetzt machen wir Wahlkampf für Lula!

Party. Ich zeige eine Karte aus den Anden, Bolivien, spreche über meine Reisen. Am Ende steht Swantje in meiner Nähe, die sich in einen Typen verliebt hatte. Viktoria steht auch dabei. Swantje und ihr Freund kommen auf die Idee, sich zum Abschied zu küssen. Drei Anläufe wie damals Norbert und Jutta in Mainz brauchen sie nicht, aber ganz einfach haben sie es auch nicht, sich zu küssen.

Dann Viktoria und ich. Die beiden blicken uns an. Es liegt in der Luft. "Liebt ihr euch nicht?" Mir fällt in diesem Moment gar nicht auf, dass Viktoria überhaupt nicht der Frau ähnelt, die ich in Mainz kannte. Sie ist kleiner, hat kürzere Harre, sogar Sommersprossen. Aber es ist trotzdem eindeutig sie.

Viktoria und ich gehen ein paar Schritte aufeinander zu. Viktoria einen, ich zwei. Dann sage ich zu Viktoria: "Wir brauchen das nicht. Wir wissen, dass wir uns lieben. Seit Jahren schon."

Viktoria stimmt zu. Sie gibt mir einen kurzen Abschiedskuss. Sie bleibt noch, während ich mit Swantje und ihrem Freund weggehe. Ich beginne sofort, die Szene auf einen Zettel zu schreiben, der Kugelschreiber will nicht richtig, ich wache auf mit dem Titellied von Top Model, der täglichen telenovela.

|Hey you, não fica assim |Hey you, schau nicht so, |

|sabe a vida ainda é bela |das Leben ist immer noch schön |

|esqueça de tudo que aconteceu |vergiss alles was passiert ist |

|amanhã sera - um outro dia... |morgen ist ein anderer Tag... |

Das Lied mit der wunderschönen Melodie war real, der Rest war ein Traum. Doch immer mehr begannen Traum und Realität sich zu vermischen, die Grenzen zu zerfliessen.

Das Fahrrad stand in meiner Bretterbude. Es war noch nicht fahrbereit, einige Speichen waren gebrochen. Ich wollte baldmöglichst los, an den Amazonas.

Rui reagierte ungehalten, als er sah, dass ich mir nach vier Wochen eine Schere geholt und den Gips abgenommen hatte. Ich hätte noch einmal zum Arzt nach Gandu fahren sollen.

Was hätte der anderes gemacht?, entgegnete ich. Er hatte doch gesagt, der Gips sollte nach vier Wochen runter, und die waren jetzt vorbei. Mein Fuss war nach den vier Wochen kaum noch zu bewegen. Mit oder ohne Gips, es würde noch Wochen dauern, bis ich wieder gehen konnte. Aber wenigstens konnte ich jetzt wieder halbwegs vernünftig duschen. In einem kleinen Holzhäuschen war eine kalte Dusche angebracht - abends eine Wohltat nach einem tropisch-heissen Tag.

Aber Rui hatte recht gehabt. Einmal kam ich mit dem kaputten Fuss auf den Boden und verlor für einen kurzen Moment ein wenig das Gleichgewicht - ein tiefer, stechender Schmerz machte mir sofort klar, dass ich den Fuss noch auf keinen Fall belasten konnte. Bis zu den Wahlen am 17. Dezember würde ich auf jeden Fall noch im Sägewerk bleiben müssen.

Die Umfragen sahen Lula seit einer Woche konstant bei achtunddreissig und Collor bei fünfzig Prozent. Niemand stellte in Frage, dass Collor gewinnen würde.

Sollte ich in Macapá einen Brief an Viktoria schreiben? Oder noch später? Wo sollte ich dann hin? Über Mexico nach Kanada? Ihr einen Brief aus Kanada schreiben? Doch jeder Ort, der in Frage käme, würde weniger exotisch klingen als Feuerland.

4. Dezember 1989

Heute kam ich auf eine verrückte Idee.

Ich würde mir Lula als Gleichnis nehmen. Lula war real. Lula war kein Traum.

Die brasilianischen Präsidentschaftswahlen waren Realität. Sie liefen in genau derselben Welt ab, in der ich vermutete, Viktoria einmal zu heiraten. Lula und die Sache mit Viktoria hatten eine Parallele. Irgendwie musste ich Viktoria verloren haben - genauso wie Lula die Wahlen am 17. Dezember verlieren würde. Irgendeiner meiner letzten Briefe an sie vor einigen Jahren musste das bewirkt haben.

Ich schrieb meine Fragen an das Leben in mein Tagebuch.

Wenn Lula verliert, habe ich auch verloren. Zumindest kann ich das dann glauben.

Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich es nicht hatte sein lassen können, ihr aus Neustadt und Malente ungefragt Grüsse zum Geburtstag zu schreiben, die fehl am Platz gewirkt haben mussten.

Mir war klar, dass die Sache einen Haken hatte. Ich war entschieden dafür, dass Lula die Wahl gegen Collor gewann. Brasilien brauchte einen Wechsel. Lula belog das Volk nicht. Der Metallarbeiter hatte manchmal einen sympatisch-naiven Anflug von Ehrlichkeit, wenn er im allabendlichen Wahlkampfprogramm zu den Leuten sprach.

Alle Kandidaten behaupten von sich, sie seien nicht korrupt. Ich sage nicht, dass ich nicht korrupt bin. Ich bin auch korrupt. Auch bei der PT gibt es viel Korruption. Aber ich denke, bei uns gibt es trotzdem weniger Korruption als bei den anderen Parteien, weil wir Ideale haben... einen Traum von einer besseren Welt, Ideale von Gerechtigkeit und Sozialismus, und darin unterscheiden wir uns von denen, die ohne solche Ideale an die Macht streben.

Wenn ich Viktoria einmal heiraten würde, müsste nach diesem Gebet Lula gewinnen. Damit hätte ich trickreich ein persönliches Interesse durchgesetzt. Gerne würde ich Viktoria heiraten, und gerne sähe Lula als Wahlsieger. Doch Gebete funktionierten so nicht. Ich notierte diesen Widerspruch in meinen Tagebuch und liess ihn einfach so stehen. Ich hatte trotz des Widerspruchs das sichere Gefühl, die richtige Methode zur Beantwortung meiner Frage gewählt zu haben.

Am Abend wurde eine Fernsehdebatte zwischen beiden Kandidaten übertragen. Lula machte den besseren Eindruck. Collor hatte zuwenig Ahnung von Politik.

Prompt verkürzte sich der Abstand zwischen beiden Kandidaten in den Umfragen. Collor rutschte unter fünfzig Prozent, Lula stieg deutlich über vierzig. Die PT strengte sich sehr an, ein sehr politisches und gutes Wahlkampfprogramm zusammenzustellen. Es schien ihnen Spass zu machen, nach Jahren der Diktatur einfach nur ihre Meinung frei äussern und von ihren sozialistischen Idealen schwärmen zu dürfen. Sie zeigten Bilder aus Schweden und Dänemark und interviewten Leute auf den skandinavischen Strassen, die ihnen in einfachen Worten erklären sollten, was eine Krankenversicherung oder Arbeitslosengeld war. Und dann fügten sie nur noch hinzu, das sei der Sozialismus, den sie in Brasilien gerne einführen würden.

Collor beschränkte sich darauf, musikunterlegte Bilder von seinen Wahlkampfveranstaltungen in den ländlichen Regionen zu zeigen, mit vielen Collor-Fahnen in den brasilianischen Nationalfarben.

Montag, 11. Dezember

Sechs Tage vor der Wahl hatte sich Collors Abstand bereits auf sechs Prozent verringert. Die Stimmung begann zu kippen.

Patagonien, Provinz Santa Cruz, die südlichste Provinz in Argentinien. Die Busreise mit der Schulklasse endet in einer Art Jugendherberge. Ich studiere einen Kalender von 1980-1981. Mehrere Ereignisse aus Mainz sind eingetragen.

Szenenwechsel. Viktoria tippt mich mehrmals an. Sie sucht einen Brief, den sie mir damals in Santa Cruz geschrieben hat. Ich entgegne, den Brief müsse sie haben, nicht ich.

Der zweite oder neunte Brief, jedenfalls aus Santa Cruz. Ich bin jedoch sicher, dass ich den Brief nicht habe. Sie ärgert sich selbst ein bisschen, dass sie den Brief zwischen ihren Sachen verloren hat. Sie fragt mich noch einmal. "Nein", versichere ich ihr, "den Brief musst du haben". Sie sucht nochmal in ihrer Tasche und findet ihn.

Sie gibt ihn mir. Zwei Seiten A5, der Text in fünf Punkte gegliedert. Ich überfliege kurz den Inhalt und sehe schnell, dass ich den Brief nicht kenne. Es ist ein Brief von ihr an eine dritte Person. Sie schreibt über mich.

Ich fange zunächst an, Punkt 3 zu lesen, dann überfliege ich kurz Punkt 2 - der Brief kommt mir interessant vor. Es geht um Morphologie. Ich entschliesse mich, ihn von vorne zu lesen, angefangen bei Punkt 1.

Ihr Brief ist eine Reaktion auf einen Brief von mir. Dort hatte ich ihr über ein Spezialgebiet, Morphologie, einige Argumente geschrieben, gegen die sie sich wendet. Ein wenig enttäuscht sagt sie sich, dass ich doch Ahnung von Morphologie haben müsste, wo ich doch so intelligent sei, und fragt sich, warum ich denn so einen Unsinn schreibe. Sie versteht das irgendwie nicht.

Manche Träume waren lang und kompliziert.

Ich wusste gar nicht, was Morphologie überhaupt genau war. Die Lehre vom Bau der Organismen. Ein komischer Begriff. Als wäre ich Zoologe. Manche Träume waren schwer zu verstehen.

Dienstag, 12. Dezember 1989

Drei Prozent trennten Lula noch von Collor. Collor brachte heute eine Überraschung.

In seinem Wahlkampfprogramm trat plötzlich Lulas Ex-Frau auf. Sie hatte ein Kind von Lula und fand nicht gerade die schmeichelhaftesten Worte für Collors Gegenkandidaten.

Ich war erschrocken. War das die Wende? Hatte Collor mit diesem Trumpf bis zum Schluss gewartet, eine Art letzter Joker? Noch vor der Wahl kam raus, dass die Leute des Fängers der Maharadschas der Frau einen fünfstelligen Dollar-Betrag bezahlt hatten.

Lula trat am nächsten Tag prompt mit seiner kleinen Tochter auf. Die bei ihm lebte und die sich für ihn und nicht für ihre Mutter entschieden habe. Sollte Brasilien doch selber entscheiden.

Brasilien war es egal. Die Brasilianer lachten einmal kurz und die für beide Kandidaten peinliche Familiengeschichte war vergessen. Sofort wurde fieberhaft das Wählerverhalten untersucht, aber die Globo stellte fest, dass diese Frage auf die Wahl keinen messbaren Einfluss hatte[93]. Das Privatleben der Politiker interessierte in Brasilien nicht, Politiker wurden hier sowieso nicht gerade als Vorbilder für die Jugend gesehen.

Bald lagen beide Kandidaten bei fünfundvierzig Prozent. Lula hatte Collor eingeholt, einige Umfragen sahen Lula schon vorne. Collor hatte mit seiner Aktion lediglich Zeit gewonnen.

Und er hatte Lulas Konzept durcheinandergebracht. So verstrichen die Sendeminuten von Lulas letzter Wahlkampfsendung damit, dass er noch einmal allen Brasilianern lang und breit erklärte, die Frau würde lügen und ihn zu Unrecht beschuldigen. Er konnte es auch nicht lassen, Collor als die grösste Lüge zu bezeichnen, die das Land je gehört hatte. Etwas verloren als Relikt seines ursprünglichen Konzeptes wirkte sein Abschied am Ende seiner letzten Wahlkampfsendung, wo er sich bei allen Brasilianern für das grossartige Interesse an seinem Wahlspotprogramm bedankte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatten in Brasilien so viele verschiedene politische Meinungen so offen ausgetauscht werden können. Und die Einschaltquoten hatten tatsächlich ungeahnte Rekordhöhen erreicht.

Am Ende dieser letzten Wahlspotsendung verabschiedete sich Lula mit den Worten no dezesete de dezembro não tenha medo de ser feliz.

Am 17. Dezember hab keine Angst, glücklich zu sein.

Darauf folgte nur noch die mit Spannung erwartete zweite und letzte Fernsehdebatte zwischen beiden Kandidaten, die sich danach beide bis zur Wahl nicht mehr öffentlich äussern durften.

Lula wirkte auffallend nervös und unkonzentriert. Ihm unterliefen etliche Fehler. Collor war nicht viel besser, hatte sich aber besser vorbereitet als in der ersten Debatte. Lula nutzte es nicht aus, als Collor einmal das Gleichgewicht verlor.

Am Ende bekamen die beiden Kandidaten Gelegenheit, noch ein kleines Abschiedsstatement abzugeben. Collors selbstbewusste Botschaft war eindeutig. Ich bin schon der Präsident von Brasilien.

Lulas Schlusswort endete mit einer Überraschung. Nach dieser Wahl, so seine letzten Worte, würden alle sehen que o caçador dos marajás não pasa mais de um caçador de maracujás.

Danke fürs Zuhören. Schluss und Ende der Sendung.

Rui und ich mussten spontan laut auflachen. Doch wir lachten nicht lange. Cosme war der Erste, der sagte, das sei nicht gut gewesen. Lula könnte einen grossen Fehler gemacht haben.

Dass am Fänger der Maharadschas nicht mehr dran sei als ein Fänger von Maracujas.

Diesen letzten Satz würde Brasilien im Ohr behalten. Auch wenn niemand ernsthaft daran zweifelte, dass Collor korrupt war: Lulas letztes Wort vor der Wahl war ausgerechnet eine Verunglimpfung des politischen Gegners.

Sonntag, 17. Dezember 1989

Es regnete den ganzen Tag. Nur in Rio und Fortaleza schien die Sonne.

Der Wahlabend war weit weniger spannend als vor vier Wochen. Die Wahlforschungsinstitute hatten ihre Hausaufgaben gemacht und aus den Erfahrungen des ersten Wahlgangs gelernt. Schnell war klar, wer gewonnen hatte.

Collor gewann mit sechs Prozent Abstand vor Lula.

Die Globo meldete bereits kurz nach Schliessung der Wahllokale, die letzte Debatte habe die Wahl eindeutig entschieden.

Lula war nicht beleidigt. Er bezeichnete siebenundvierzig Prozent für eine sozialistisch-kommunistische Parteiengruppe in einem Land wie Brasilien als einen grossen Erfolg für die Demokratie und meinte, das sei ein ermutigendes Zeichen. Und er glaubte nicht daran, dass Collor die Wahlperiode überhaupt durchstehen werde.

Nun, damit sollte er Recht behalten.

Ernüchert versuchte ich herauszufinden, was sich durch Collors Wahlsieg alles verändert hatte. Noch einmal las ich durch, was genau ich vor den Wahlen in mein Tagebuch geschrieben hatte. Ich war froh, dass ich mir die Frage notiert hatte.

Wenn Lula verliert, habe ich auch verloren. Zumindest kann ich das dann glauben.

Ich wünschte, Lula würde nicht irgendwann bei einer anderen Wahl noch Präsident Brasiliens werden. Denn dann wäre es wieder einmal kompliziert.

Aber das war auch nicht sehr wahrscheinlich. Brasiliens Parteienlandschaft war so kurzlebig wie sie korrupt war und die Politiker hielten sich selten mehr als vier Jahre.

Ich wusste nicht mehr genau, was ich Viktoria in meinen letzten Briefen vor ein paar Jahren geschrieben hatte, aber ich hatte das sichere Gefühl, ich hätte es nicht schreiben sollen. Ich hätte ihr gar nichts schreiben sollen. So wie auch Lula den Mund hätte halten können.

Es blieb allerdings auch ein versöhnlicher Nachgeschmack. Lula hatte auch gesagt no 17 de dezembro não tenha medo de ser feliz. Ein billiger Wahlkampfslogan. Ich hatte gelernt zu erkennen, wann das Leben Worte an mich richtete. Am 17. Dezember habe keine Angst, glücklich zu sein.

Nun gut, er hatte die Wahl freundlicherweise erst am 18. Dezember verloren. Denn auch bei dieser Wahl waren die ausgezählten Stimmbezirke nacheinander gemeldet worden und Lula hatte im Süden höhere Stimmanteile als Collor. Erst um 0.24 Uhr hatten Collors Stimmen Lula überholt.

Noch eine Kleinigkeit fiel mir auf. Es gab neben Lulas tröstenden Spruch einen weiteren Hinweis, dass meine Zukunft besser aussah als die verlorene Wahl es vermuten liesse. Die chilenische Wahrsagerin, die mir aus der Hand gelesen hatte. Viel Glück in der Liebe. Hier war kein Traum zwischengeschalten.

In den nächsten Tagen hatte ich bald mehr Klarheit. Wenn ich Viktoria nicht heiraten würde, konnte ich auch keine Lebensgarantie mehr haben. Von einen Tag auf den anderen hatte sich mein Leben grundlegend verändert.

Bisher war es so einfach zu verstehen gewesen. Doch nun tauchten Fragen über Fragen auf. Welchen Sinn gab das Ganze? Eigentlich, wenn ich es mir genau überlegte, hatte ich bald keine Lust mehr, mir weiter Gedanken über das Leben zu machen. Wenn ich sowieso ncihts verstand?

Ich war es seit vielen Jahren gewöhnt, dafür zu leben, einmal Viktoria zu heiraten. Auf diesen Moment hatte ich hingelebt. Wenn ich mich in meinem Verhalten ändern oder mich verbessern wollte, dann hatte ich mir das ihr zuliebe vorgenommen. Nun trat an ihre Stelle eine Leere. Ich war sehr verunsichert und etwas gespannt, wie es weitergehen würde.

Irgendwie würde es weitergehen.

Jeden Tag wurden wir neu geboren und waren jeden Tag von neuem eingeladen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen.

Fernando Collor de Melo regierte Brasilien vom 15.3.1990 bis zum 2.10.1992. Zur Hälfte der Wahlperiode wurde er zusammen mit einigen Gefolgsleuten vom Amt suspendiert und wegen Korruption angeklagt, im anschliessenden Prozess verurteilt und mit einem politischen Betätigungsverbot von acht Jahren belegt. Einer seiner Komplizen bekam sieben Jahre Haft wegen Fälschung von Überweisungsbelegen.

Collor ging nach Florida, wo er sich vergeblich um eine Professorenstelle an der Universität Miami bemühte. Sein Nachfolger wurde Vizepräsident Itamar Franco, der Brasilien bis zum Ende der Wahlperiode regierte und 1994 von Fernando Henrique Cardoso abgelöst wurde.

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Slalomfahren zwischen Trucks -

Mit dem Fahrrad an den Amazonas

22. Dezember 1989

Es war nicht mehr schön in Wenceslau. Rui konnte sich gegen seine Töchter nicht durchsetzen, die nicht müde wurden mit ihren Intrigenspielchen. Sie stellten irgendwas an und schoben es mir in die Schuhe. Es war mir schon längst zu nervig, jedesmal zu beweisen, wer es wirklich gewesen war.

Ich war froh, als ich endlich bei Chorão im Lkw sass, einem netten Geschäftspartner von Rui, der in Feira zu tun hatte und mich mit meinem reparaturbedürftigen Fahrrad mitnahm. Rui fand es riskant, dass ich mich schon jetzt auf die anstrengende Tour begab. Und in der Tat, ich konnte den rechten Fuss immer noch nicht ohne einen stechenden Schmerz auf den Boden setzen.

Fahrradfahren ging einigermassen, das hatte ich bei einer kurzen Tour nach Gandu ausprobiert. Dabei waren noch ein paar weitere Speichen gebrochen, die ich mir jetzt in Feira ersetzen lassen musste. Ich durfte nur nicht das Gleichgewicht verlieren, denn ich konnte mich noch nicht rechts auf dem Boden mit dem Fuss abstützen. Trotzdem, ich wollte endlich los und Chorão fuhr nicht jede Woche nach Feira.

Chorão hatte einen niedlichen Namen. Er bedeutete übersetzt grosses Heulbaby.

Es regnete. Die Nacht schliefen wir in Feira im Truck. Eine Stechmücke war in der Kabine.

Ich hasste Moskitos.

23. Dezember 1989

Am Morgen setzte mich Chorão beim Fahrradgeschäft Pererê Peças ab, wo sie mir das Fahrrad startfertig machten. Neue Speichen, einen Tacho. Dynamo mit Licht war zu teuer. Dafür machten sie mir die Acht aus dem Hinterrad raus.

Ich hoffte vergeblich, es würde aufhören zu regnen. So fuhr ich um drei im Regen los. Ich hatte mir eine Strasse ausgesucht, die quer durchs Hinterland verlief und direkt zur Amazonasmündung führte. Ohne den langen Umweg an der ausgebeulten Küste mit den Millionenstädten Recife und Fortaleza.

Die Strasse hiess BR 316. Der Tacho funktionierte, der Kilometerzähler hatte einen Fehler von vier Prozent und bergab schaffte ich Geschwindigkeiten bis fünfzig Stundenkilometer. Wie ich vermutet hatte, ging es einigermassen, mit dem verletzten Fuss in die Pedalen zu treten. Die Strasse führte oft kilometerlang schnurgeradeaus durch kaum besiedeltes Buschland.

Vor Tanquinho legte ich die erste Pause beim Posto Fiscal ein. Von dort aus ging es weiter, über eine meist schnurgerade Strasse dem Horizont entgegen, an dem sich ganz langsam ein paar spärlich bewaldete Hügel näherten.

## hier bild tanquinho einfügen.

Um halb sieben kam ich nach vierzig Kilometern Radtour am Posto União an. Die Leute am posto waren freundlich, nannten mich japonês - Japaner -, spendierten mir Abendessen und boten mir eine trockene Stelle neben einem Auto zum Schlafen an.

Es war nicht zu übersehen - Radsportler wurden an den postos ganz anders begrüsst als Anhalter. Ich bekam sogar die Nachrichten mit. In Rumänien war Diktator Nicolae Ceaucescu abgesetzt und festgenommen worden.

Eine dicke Kröte lag unter meinem Kissen. Was es alles gab.

24. Dezember 1989

Heute war es angenehm bewölkt, regnete aber nicht. Die Strasse nach Juazeiro wurde seit gestern von zwei reissenden Flüssen überflutet und war unpassierbar. Einer nach 8 km und einer nach 30 km. Unschlüssig stand ich an der Strasse. Ein Lkw kam an und stellte sich zu mir. Aber auch er musste einen Umweg fahren. Ich fragte den Fahrer, ob er mich und mein Fahrrad mitnehmen könnte.

Wir fuhren einen weiten Umweg über Serrinha, bis nach Capim Grosso. Der Rio Jacuípe hatte derart Hochwasser, dass viele Häuser bis zu den Dächern überflutet waren. Es konnte nicht häufig regnen in diesem kargen Land - aber wenn es regnete, dann wohl richtig. Ich radelte an der BR 407 weiter nach Norden, kam regelmässig an postos vorbei und landete nach über hundert Kilometern Fahrt ziemlich erschöpft an einem posto, wo ich duschen konnte. Ein Trucker bot mir an, mich mit meinem Fahrrad nach Petrolina zu fahren.

Immerhin hundertsechzig Kilometer. Nachts um eins überquerten wir in Juazeiro die Brücke über den Rio São Francisco, der die Grenze zwischen Bahia und Pernambuco bildete. Der Rio São Francisco war länger als die Donau und der viertlängste Fluss des Kontinents. Nur Amazonas, Paraná und Madeira waren noch länger.

25. Dezember 1989

Um halb neun kam ich los. In der Nacht hatte ich mich nicht sehr sicher gefühlt und schlecht geschlafen.

Es ging nur langsam voran. Schon seit Rio hatte ich beobachtet, dass die Strassen mit jedem Bundesstaat immer schlechter wurden. Pernambuco war ein weiteres Highlight für den Überlandradler. Schon in Bahia war der Belag so rauh gewesen, dass ich hoffte, es würde sich nach der Grenze ändern. Es dauerte nur wenige Kilometer und ich wünschte mir Bahias Strassen wieder zurück. Wie sollte das noch werden bis zum Amazonas? Die Strasse durch das Buschland war streckenweise wie Wellblech.

Das war kein Wunder bei den hohen Mittagstemperaturen. Selbst mit Wolken wurde es so heiss wie im Backofen. Ich legte eine Pause ein und stellte mich bei einem kleinen Betonhäuschen unter.

Der Staat Pernambuco konnte kaum ein Interesse daran haben, die Strasse instandzuhalten. Sie durchquerte Pernambuco buchstäblich im hintersten Winkel auf dem Weg von Bahia nach Piauí. Vielleicht war sie wirklich einmal als Überlandstrasse zwischen Salvador und der Amazonasmündung konzipiert gewesen - doch bei den schlechten Strassenverhältnissen gab es hier kaum noch Verkehr.

Irgendein Auto hatte eine Panne und sie reparierten es. Zwischen den Bäumen lag eine kleine Ortschaft. Ortsschilder gab es hier nur selten, aber hier musste ein Dorf sein. Ein paar Mädchen kamen an. Sie hatten mein Fahrrad gesehen. Kilometerstand 149 notierte ich in mein Tagebuch.

Die Mädchen bestaunten mich und interessierten sich wie alle Leute überall für meine Geschichte. Und wie üblich wollten auch sie einen Satz auf Deutsch hören, den sie auch fleissig nachzusprechen versuchten. Einer gelang das sogar ganz gut.

Sie bewunderten meinen Mut, einfach durch ein fremdes Land zu fahren. Ich erzählte ihnen, es sei nicht schwierig, ins Ausland zu gehen. Die Menschen seien überall freundlich. Und viel Geld brauche man auch nicht. Ein Fahrrad war ja nicht so teuer. Sie brachten mir ein bisschen Speck und farinha.

Ein Mädchen mit lockigen Haaren träumte davon, einmal nach Deutschland zu reisen. Aber da würde sie wohl nie im Leben hinkommen. Nein, widersprach ich ihr, unmöglich sei das nicht. Brasilien war ein freies Land, alle Menschen waren frei.

Waren sie nicht, widersprachen alle drei einhellig. Daraus entwickelte sich bald eine kleine Grundsatzdiskussion. Aber ich blieb standfest.

- Wenn du wirklich willst, dann kommst du auch nach Deutschland. Genauso wie ich hier nach Brasilien gekommen bin. Jeder kann sowas machen. Wir leben doch alle in derselben Welt. Es macht überhaupt nichts, woher du kommst - wenn du es dir wirklich vornimmst, dann kannst du auch nach Deutschland reisen.

- Ich kennen keinen hier aus dem Dorf, der überhaupt schonmal im Ausland war.

- Das will überhaupt nichts heissen. Dann bist du eben die erste! Aber möglich ist es. Es liegt nur an dir.

- Frauen sind nie die ersten.

- Was ist das denn?!

Besonders Mädchen trauten sich selten, aus der engen Gedankenwelt auszubrechen, aus der sie glaubten, niemals ausbrechen zu können. Wenn einer aus Deutschland mit dem Fahrrad nach Pernambuco kommen konnte, warum eigentlich nicht auch ein Mädchen aus Pernambuco nach Deutschland? Was sprach dagegen?

Ihre Freundinnen widersprachen mir heftig. Es liege am Reichtum. Sie seien arm. Ihre ganze Gegend sei arm. Daran liege es. Leute aus reichen Ländern konnten leicht in arme Länder reisen, aber nicht umgekehrt.

Ich widersprach nochmals. Nein, das wollte ich jetzt ausdiskutieren. Ich war nicht der Typ, der bei einer derart hochwertigen politischen Diskussion die Segel strich. Was nützte es, so etwas bei einer irgendeiner Veranstaltung in Deutschland zu diskutieren? Hier war das wirkliche Leben, hier wurde mit Substanz diskutiert - und jedes Argument, dass hier nicht bis zum Ende einer Diskussion standhielt, war auch in Deutschland nichts wert.

- Nein. Das ist nicht so. Das hab ich früher auch geglaubt. Dass die reichen Länder die armen ausbeuten. Die Linke sagt sowas gerne. Ich bin ja auch für Lula gewesen - die Linke hat hier auch in vielem Recht -

- Du warst für Lula?

- Ja, ich komme aus einem reichen Land und ich war für Lula. Die meisten Brasilianer, die in Deutschland leben, haben für Lula gestimmt. Und die allermeisten davon sind reiche Leute aus dem Süden. Ich denke wirklich, es wäre für euer Land besser gewesen, wenn Lula gewonnen hätte - aber trotzdem, das mit der Ausbeutung stimmt nicht für den Einzelfall. Im Einzelfall liegt es nur an euch. Niemand verbietet ihr, nach Deutschland zu reisen. Ausser sie selbst. Sie hat die freie Entscheidung.

- Hat sie nicht. Ausserdem sind wir Mädchen. Wir haben ja nochmal so viel Pech. Als Männer könnten wir das vielleicht machen, so wie du. Eine Frau kann sowas nicht machen.

- Soweit kommts noch. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Auch in Brasilien.

- Du bist kein Mädchen und hast leicht reden. Du weisst überhaupt nicht, wie das ist!

- Als Mädchen haben wir hier doch überhaupt keine Chance, irgendwo hinzukommen. Die Gleichberechtigung ist nur auf dem Papier. Das ist die Realität.

- Nein, das stimmt nicht. Jetzt reichts mir aber. Das stimmt wirklich nicht! Ich könnte doch auch eine Frau sein! Frauen können doch auch fahrradfahren!

- Können sie nicht. Nicht so weite Strecken.

- Können sie doch! Ich habe Frauen kennengelernt, die sind von Nordamerika bis Feuerland geradelt! Dagegen ist meine lächerliche Strecke von Feira de Santana bis hier ein Sonntagsausflug!

- So? Ich hab aber noch nie eine Überlandradlerin gesehen. Hier ist jedenfalls noch nie eine vorbeigekommen.

- Ist hier überhaupt schonmal ein Überlandradler vorbeigekommen?

- Äh, weiss nicht, nee, ich glaub nicht... nee, hier nicht...

Wir waren hier mitten im Innenland, Serrão wurde diese Gegend genannt, fünfhundert Kilometer von der Küste. Normalerweise fuhren die Radler von Rio an der Küste entlang über Salvador und Recife nach Belém an den Amazonas. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass jemand schon einmal diese vollkommen ungewöhnliche Strecke durch das Hinterland geradelt war. Hätte mich auch gewundert, bei den Strassen.

- Männer machen das häufiger, das ist schon richtig, aber das heisst nicht, dass Frauen das nicht genausogut können. Zugegeben, es sind vielleicht weniger, und sie haben es schwerer. Aber es gibt sie und sie können es. Es kommt nur drauf an, was ihr euch zutraut. Ihr schafft euch eure Welt in euren Köpfen selbst. Ihr habt viel mehr Gestaltungsfreiheit, als ihr glaubt. Auch die Linke kapiert immer nie, dass die grossen Wahrheiten der Politik im Einzelfall nicht unbedingt gelten. Die Wahrheiten sind deswegen nicht gleich falsch - aber es sind eben nur Trends und jede von euch kann die Ausnahme von der Regel sein.

Ich wandte mich noch einmal an das Mädchen, das nach Deutschland wollte. Sie hatte bis jetzt wenig gesagt.

- Was würdest du in Deutschland machen wollen?

- Weiss nicht, studieren? Aber ich würde gerne dahin. Ich weiss das. Ich würde gerne dahin.

- Es könnte möglich sein. Du wirst es schwerer haben als Kinder aus reichen Elternhäusern, aber unmöglich ist es nicht. Du könntest es schaffen.

Welche grossen Kapazitäten waren es, die die Länder der dritten Welt dadurch verloren, dass sie Frauen den Zugang zu Bildung und Forschung so sehr erschwerten?

Wenn ich jungen Mädchen sagte, Frauen seien in vielerlei Hinsicht genausogut oder besser als Männer, schien es mir oft, als hörten sie solche Gedanken zum ersten Mal. Meine Rolle, die ich als Europäer in solchen Dörfern hatte, nutzte ich gerne aus. In der Tat war ich der Meinung, in der Welt würde einiges besser laufen, wenn Frauen etwas mehr zu sagen hätten. Sehr überzeugend klang es immer, wenn ich sie fragte, ob in ihrer Schule wirklich immer die Jungen die Besseren waren und die Mädchen schlechter. Spätestens dann wurden sie nachdenklich und sahen sich gezwungen zu widersprechen.

Das Mädchen war jung und schien noch keine Idee zu haben, was sie studieren könnte. Ich überlegte.

- In welchen Fächern bist du gut in der Schule? Was sind deine Stärken? Bist du gut in Mathematik? Physik?

- Mathematik nicht so, Physik auch nicht, ich bin nicht gut in Naturwissenschaften.

- Gibt es etwas, was du gut kannst? Was dir leicht fällt?

- Ich mag Sprachen, aber das ist vielleicht nicht so wichtig.

- Oh doch, Sprachen sind sehr wichtig. Kannst du Tupi?

- Nein, Tupi spricht hier keiner. Das ist eine Indianersprache, die kann niemand hier.

- Sie sollten euch das beibringen. Tupi wäre wichtig für Brasilien. Lernt ihr Englisch in der Schule?

- Ja, Englisch haben wir. Aber der Unterricht ist schlecht und wir lernen nicht, wie die Wörter ausgesprochen werden. Ich würde gerne mehr lernen, auch andere Sprachen, Deutsch oder Französisch. Ich würde gerne Deutsch lernen. Ich fand, es klang gut, was du vorhin auf Deutsch gesagt hast.

- Ich fand es erstaunlich, wie fehlerfrei du es auf Anhieb nachsprechen konntest. Vor allem, wo du nur eine Sprache sprichst. Was hatte ich überhaupt gesagt?

Sie wiederholte den Satz noch einmal - fast fehlerfrei. Ich war verblüfft.

- Ich hätte das nicht gekonnt, und ich spreche acht Sprachen. Es ist durchaus möglich, dass du Sprachen besser kannst als ich... wart mal... stimmt, es kann gut sein, dass du - Mist, was heisst hochbegabt auf Portugiesisch? Was heisst das denn auf Spanisch? Altamente talentada?... Hör mal zu, ich erzähl dir was. Du könntest es schaffen. Die Welt braucht Leute, die mehrere Sprachen können. Du könntest in eine Stadt gehen, dort privaten Sprachunterricht geben, dir damit Geld verdienen. Ich kannte eine Argentinierin, die das gemacht hat.

- Meinst du wirklich, Sprachen sind wichtig? Das glaube ich nicht, dass Sprachen so wichtig sind. Schon gar nicht Portugiesisch.

- Sprachen sind sehr wichtig. Gerade Portugiesisch. Und das kannst du schonmal perfekt. Brasilien und Deutschland haben Wirtschaftsbeziehungen. Du könntest Übersetzerin werden. Sprachen kann man sogar studieren, so wichtig sind die. Auch Deutsch.

- Meine Eltern könnten mir ein Studium nicht bezahlen. Studieren ist sehr teuer in Brasilien.

- Lass dich davon nicht beeindrucken. Wenn du dir es wirklich vornimmst, kannst du auch studieren. Es gibt Stipendien für Hochbegabte, oder du verdienst dir das Geld als Privatlehrerin. Reiche Eltern zahlen Geld für private Englischlehrerinnen. Wenn du gut bist und wenn du wirklich willst, findest du einen Weg. Ich sag dir das jetzt nochmal. Du kommst aus dem letzten Dorf in der hintersten Ecke des Bundesstaates Pernambuco, im Nordosten Brasiliens, als Frau, aus einer armen Familie, noch niemand von hier war jemals im Ausland - wenn du es wirklich willst, dann kommst du nach Deutschland.

- Das hat mir noch niemand gesagt, aber ich habe immer gewusst, es musste möglich sein.

- Ist es auch. Aber warte noch. Es gibt eine Sache. Du darfst nicht schwanger werden. Das ist wichtig. Wenn du einmal Kinder hast, wirst du nicht mehr nach Deutschland kommen. Dann kannst du praktisch alles vergessen, was ich gesagt hab.

Sie schauten sich fragend an. Wieso nicht, ist das dann verboten, fragte eine unsicher. Die Mädchen in weiten Teilen des Kontinents unterschätzten, welche Konsequenzen eine Schwangerschaft mit sich zog. Schwanger zu werden wurde hier in den ländlichen Regionen nirgends als Problem angesehen, auch nicht für Teenies. Der Gedanke, eine Schwangerschaft könnte eine berufliche Laufbahn verhindern, kam hier kaum jemandem in den Sinn. Mädchen bargen ein grosses Potential - solange sie nicht schwanger wurden.

- Ja, hast du verstanden? Am besten, du schläfst mit niemandem.

- Aber als Frau will sie doch auch Kinder haben, genauso wie wir.

- Man kann aber nicht alles haben. Ich habe auch keine Kinder. Hätte ich welche, wäre ich nicht hier. Dann würde ich meinen Kindern bei den Schularbeiten helfen.

- Das heisst, sie darf sich aussuchen, ob sie lieber Kinder will oder nach Deutschland? Das ist ja blöd.

- Sie kann ja hinterher noch Kinder bekommen. Nur vorher eben nicht. Das ist leider so. Nichts gibt es umsonst im Leben. Frei bist du nur ohne Kinder. Aber du musst zugeben, noch hat sie die freie Entscheidung.

- Also ich wüsste aber, wofür ich mich da entscheiden würde...

Nach einer Stunde fuhr ich weiter. Die drei Mädchen winkten mir nach.

Ich hatte ein gutes Gefühl, bei der Diskussion das letzte Wort gehabt zu haben. Und das Mädchen mit dem Sprachtalent schien darauf gewartet zu haben, so etwas zum ersten Mal zu hören. Von einem Deutschen, der zufällig durch den hintersten Winkel von Pernambuco kam.

Wenn die Welt verändert werden konnte, dann nur hier, und nur dadurch, das Selbstbewusstsein solcher Mädchen zu stärken. In ihrer Hand lag die Zukunft solcher Länder. Ich hatte sehr dick aufgetragen, denn ich hätte auch keine Idee, wie ein Mädchen aus dem verarmten Nordosten Brasiliens an ein teures Studium an einer Universität kommen könnte. Und wie konnte sie lernen, wie die englischen Wörter ausgesprochen wurden? Trotzdem hatte ich nie ein schlechtes Gewissen, wenn ich ihnen solche Illusionen machte.

Vielleicht würden sich solche Gedanken in den Dörfern herumsprechen, und vielleicht würden die Töchter oder Enkeltöchter dieser Mädchen eines Tages tatsächlich das Selbstbewusstsein aufbringen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die Welt wäre gut beraten, wenn die Mädchen in den ländlichen Regionen von ihren Müttern und Grossmüttern mehr Selbstbewusstsein vermittelt bekämen. Und wenn nur einer von meinen Gedanken in der dritten oder vierten Generation irgendetwas bewirken würde, hätte sich mein Einsatz gelohnt.

Der Ort lag sechsundzwanzig Kilometer nördlich von Petrolina.

Auf einen Gedanken wäre ich an diesem 25. Dezember 1989 allerdings nicht gekommen.

Dieses sprachtalentierte Mädchen aus Pernambuco sollte die einzige Person sein, die ich aus meiner langen Zeit in Lateinamerika jemals wiedersehen würde. Jahre später würde ich völlig zufällig in der Zentralmensa der Universität Göttingen stehen - und dieses Mädchen würde mich plötzlich ansprechen. Du warst der Radfahrer, der mir Mut gemacht hat zu versuchen, nach Deutschland zu kommen.

Nach einer Stunde erreichte ich den Posto Pau Ferro. Die BR 407 war nicht leicht zu fahren, auch wenn der Verkehr weniger und rücksichtsvoller wurde. Viele Hügel kam ich nur im ersten Gang hoch, der Strassenbelag fuhr sich wie Wellblech. Am Nachmittag war ich in Rajada. Ein posto hiess Itamaraty.

Bei der Hitze war ich ohne T-Shirt gefahren, wie gestern, und hatte davon einen Sonnenbrand bekommen. Dabei hatte gestern und heute nicht eine Minute lang die Sonne geschienen!

Und müde war ich. Ich blieb am Posto Itamaraty, legte mich auf den Boden einer Terrasse und schlief ein paar Stunden bis elf. Die Leite am posto waren nett und hatten gute Laune.

26. Dezember 1989

Rajada-Jacobina würde ich am Abend nach hundertzwanzig Kilometern Radtour in mein Tagebuch schreiben. Vormittags fuhr ich durch Afrânio, kam über die Bundesstaatsgrenze nach Piauí und musste leider feststellen, dass dieser Staat offenbar noch ärmer war als Pernambuco. Die Strassen wurden noch schlechter.

In Paulistana musste ich mehrere Stunden Mittagspause einlegen, weil die Sonne hervorgekommen war und die Hitze mörderisch wurde. Aber ich hatte Paulistana erreicht. Der nächste grössere Ort in meiner Karte wäre Picos. Hinter Picos hätte ich dann bald die Trockensavanne hinter mir und es würde feuchter werden.

In Jacobina kam ich nach halb sieben an, als es schon dunkel war. Ich hatte kein Licht und es war gefährlich, bei Dunkelheit zu fahren, wegen der Schlaglöcher. Im Posto Nova Esperança gab es eine Dusche.

27. Dezember 1989

Heute: Jacobina-Jaicós, zweiundsiebzig Kilometer. Es war die bisher härteste Etappe. Ich hatte zuwenig gegessen, immer weniger Energie in den Beinen. Der Strassenbelag war schlecht, die Strecken steil. Und den ganzen Tag schien die Sonne. Beim Kilometerstand 352 musste ich in der Hitze unter einem Baum eine Pause einlegen. Ich bremste langsam ab, kam zum Stehen, verlor dabei das Gleichgewicht - und stützte mich mit dem rechten Fuss auf dem Boden auf

Es tatsofort höllisch weh. War er wieder gebrochen? Wie leichtsinnig von mir. Das hätte nicht sein müssen. Noch eine Woche und er wäre verheilt gewesen. Nun hatte ich den Heilungsprozess um Tage zurückgeworfen.

Ich hatte Strandsandalen an. Irgendwann zogen Wolken vor die Sonne, es fing an zu regnen und ich konnte weiterfahren. Irgendwas fing vorne an zu quietschen. Nein, bitte nicht auch noch Probleme mit dem Fahrrad.

In Jaicós kam ich schon um drei Uhr nachmittags an. Die Leute waren freundlich und ich blieb dort. Es gab Essen und eine wohlverdiente Dusche am Posto Coqueiro. Ein freundliches Gürteltier teilte sich mit mir einen Schuppen für die Nacht.

Das Gürteltier war im Vorteil. Es wurde nicht von Mücken zerstochen. Ich legte mich wieder an die Tankstelle unter das Licht. Hier gab es keine Mücken.

28. Dezember 1989

Nach Kaffee und Kuchen ging es um acht Uhr morgens weiter. Je mehr ich mich Picos näherte, desto mehr liessen die starken Steigungen nach. Auch der Belag besserte sich und am späten Vormittag war ich in Picos.

Mein Fuss war dick geworden, was zwar nicht beim Radeln störte, aber nach dem gestrigen Zwischenfall Anlass zur Sorge gab. Ausserdem hatte ich schon wieder überall einen Sonnenbrand - selbst unter dem T-Shirt! In Picos kam ich endlich auf die Idee, meine ganzen kleinen Fahnen hinten auf dem Gepäck anzubringen.

Die Strasse wechselte ihren Namen. Die BR 407 von Feira de Santana bis Picos hatte ich hinter mir. Nun würde die BR 316 folgen, bis nach Belém an den Amazonas. Am Posto Fiscal bestellte ich mir ein Mittagessen.

Es fing an zu regnen. Ich freute mich, sattelte mein Fahrrad, schützte mein Gepäck mit Plastikfolie und fuhr los in den Regen.

Es schüttete wie aus Kübeln. Die Autos mussten abbremsen und kamen kaum voran. Aber ich konnte fahren und fahren wie ich wollte. Die Strasse war gut geteert und der kühle Regen tat richtig gut bei der tropischen Hitze. Ich hätte nie gedacht, dass es so schön sein konnte, stundenlang über so viele Kilometer durch stömenden Regen zu fahren. Wie schön es aussah, wenn die dicken Regentropfen vor mir auf den Asfalt aufplatzten.

Um viertel vor sieben kam ich zwar an einem posto vorbei, fuhr aber noch zwölf Kilometer in die Nacht und übernachtete am Posto Brazão in Ipiranga do Piauí. Ein paar freundliche Trucker unterhielten sich mit mir und zeigten mir, wo die Dusche war. Unter ihnen war sogar ein Deutscher. Sie warnten mich eindringlich davor, die Regeln der brasilianischen Strasse zu missachten.

- Heute geben wir dir das Essen aus. Aber wenn wir dir morgen auf der Strasse begegnen, werden wir dich nicht kennen. Das musst du wissen, wenn du hier fährst. Kein Trucker wird für einen Fahrradfahrer ein Ausweichmanöver riskieren. Und wenn wir dich überfahren, werden wir nicht stehenbleiben. Du darfst das nicht missverstehen, das ist nichts gegen dich persönlich, aber das sind nunmal die Regeln hier.

Es war bekannt, dass totgefahrene Fahrradfahrer am Strassenrand liegengelassen wurden. Brasilien war knallhart. Ich wusste, auf was ich mich einliess.

29. Dezember 1989

Die Nacht war nicht gut, ich hatte nur eine oder zwei Stunden geschlafen. Am Morgen war alles nass. Um sieben Uhr fuhr ich los, nachdem die Fernfahrer mir noch eine Suppe spendiert hatten. Es hatte ein wenig was von einer Art Henkersmahlzeit.

Die Strasse war schwer zu fahren. Ständig war der Teer in Längsrichtung aufgerissen, was höchste Konzentration erforderte. Die Trucks mit ihren breiten Reifen störten die tiefen Spurrisse nicht. Erst nach dreissig Kilometern wurde es etwas besser. Ich fuhr an Valença vorbei und kam um elf am Posto Rodovia Federal an, wo ich eine Pause einlegen musste. Die Sonne schien viel zu heiss auf den pechschwarzen Asfalt der Strasse.

Ein Polizist hielt die Lkws an und organisierte mir einen Tramp mit einem Lkw nach Norden Richtung Belém. Ich begab mich auf die Ladefläche und befestigte das Fahrrad. Dann ging es los.

Es war fürchterlich. Der Fernfahrer heizte in Teresina durch Schlaglöcher und über quebra-molas, mein Fahrrad wurde in Mitleidenschaft gezogen und meine Mütze flog mir vom Kopf in den Fahrtwind.

Teresina war die Hauptstadt von Piauí. Die heftigen Regenfälle hatten den Rio Parnaíba über die Ufer treten lassen. Ganze Stadtviertel von Teresina standen unter Wasser, als wir über die hohe Brücke fuhren.

Der Lkw fuhr nonstop bis Santa Inês, sechshundert Kilometer, wo er nachts um vier ankam. Was hatte ich davon, wenn ich nachts durch Brasilien fuhr? Ich sah nichts vom Land. Die restliche Strecke nach Belém würde ich radeln und mich nicht mehr mitnehmen lassen.

Nun hatte ich zwei Nächte lang so gut wie nicht geschlafen.

30. Dezember 1989

Mit dem ersten Sonnenlicht um sechs fuhr ich los. Gegessen hatte ich auch nichts, was sich sofort bemerkbar machte. Nach sechs Kilometern musste ich am Strassenrand erstmal ein paar Bananen und Kekse essen. Die Strasse war in sehr gutem Zustand. Um acht war ich an einem posto mitten im Bundesstaat Maranhão und konnte wenigstens etwas frühstücken.

Durch Turiaçu fuhr ich am Nachmittag, hatte bald danach aber schon wieder keine Kräfte mehr. In einem Café legte ich einen weiteren Stop ein, nach hundertsechs Kilometern, und entschied mich dortzubleiben.

Die Leute waren nett. Es gab Fisch.

31. Dezember 1989

Ich war froh, nach langer Zeit endlich mal wieder einmal gut geschlafen zu haben. Ich bekam noch einen Kaffee und brach um acht auf. Beim Kilometerstand 634 kam ich in Nova Olinda an. Hier gab es etwas Besonderes.

Ich traf einen Radfahrer, der mir entgegenkam. Er hiess David und fuhr Belém-Fortaleza. Belém war die südliche Stadt an der Amazonasmündung, Macapá die nördliche. Seine Eltern waren US-Amerikaner, er selber war in Nordbrasilien aufgewachsen, genauer, in einem Indianerreservat an der Grenze zu Französisch-Guyana. Er schrieb mir eine Nachricht in der Indianersprache Palikúr auf einen Zettel, falls ich einmal nach Oiapoque und Saint Georges kommen sollte.

Wir verabschiedeten uns herzlich und fuhren weiter. Santa Luzia erreichte ich um elf, bekam gutes Essen im Posto Fortaleza und fuhr weiter. Die Strasse gefiel mir immer besser, auch die Steigungen wurden immer weniger. Das Vorderrad quietschte immer mehr. Woran lag das nur?

Es fing zunächst an zu regnen, doch dann kam die Sonne raus und brannte immer stärker. Um halb zwei musste ich anhalten und mir das Hemd anziehen. Ich hielt ungerne an, weil ich immer wieder riskierte, meinen Fuss unglücklich zu belasten. Solange ich fuhr, war es kein Problem. Ich trat mit der Ferse in die rechte Pedale. Noch mehr Sorgen bereiteten mir mögliche technische Probleme mit dem Rad. Zum Glück hatte ich bis jetzt noch keine gehabt. Auch keinen Platten. Nur das Vorderrad.

Kilometerstand 698, Posto Maranhãozinho, eine Stunde später. Ich fragte den Tankwart und zeigte ihm das Vorderrad. Er holte einen Kanister Lkw-Schmierflüssigkeit und kippte kurzerhand einen halben Liter davon über die Achse. Jetzt quietschte nichts mehr.

Wolken zogen auf und ich konnte weiterfahren. Ich zählte die Kilometer bis zur Grenze von Pará. Bald wurde die Strasse schlechter, mit einigen Schlaglöchern, doch die letzten dreissig Kilometer waren wieder optimal. Dreiundzwanzig Kilometer vor der Grenze wurde es dunkel - sieben Kilometer weiter konnte ich bereits den Tacho nicht mehr lesen. Dennoch fuhr ich noch weiter, trotz mieser Insektenschwärme über der warmen Strasse, die hier noch dichter waren als Regentropfen.

Die Stunde der Insekten endete um acht - als ich die Bundesstaatsgrenze schliesslich erreicht hatte. Abendessen im Posto Paramar. Heute hatte ich hundertfünfundfünzig Kilometer zurückgelegt, das war Rekord. Zufrieden legte ich mich um elf schlafen.

Eine Stunde später war das Jahrzehnt zuende. Mein Fahrrad stand neben mir, abgeschlossen neben einem Betonbau an der Strasse.

Brief Forum 21 (April 1990)

1. Januar 1990 - Montag, 10. Tag.

Los sechs Uhr vom posto "Paramar", Tacho 772 Kilometer, wo ich gestern bei stockdunkler Nacht angekommen war. Wunderschöner stiller Sonnenaufgang über dem ebenen Land. Mein Schatten (vor mir) ist am Anfang noch dreissig Meter lang. Auch nach einer halben Stunde immer noch kein Auto.

Erst fahr ich recht langsam, die Strasse nimmt jetzt wieder ein paar Hügel, ist aber auch im neuen Bundesstaat ganz gut geteert. Nur ab und zu kommt eine etwas schwerere Steinteerstrecke.

Um sieben halte ich auf einsamer ebener Strecke an, zieh mir den Rest vom Fleisch von gestern abend rein, zum Frühstück, und die Sonne ist jetzt schon ziemlich warm, hier, so nah beim Äquator.

Zwanzig Kilometer bleibt es noch eben, aber vor Cachoeira geht es den dicken Berg hoch, ganz steil, fünfzehn Minuten schiebe ich hoch. Das Dorf liegt genau auf der Spitze eines einsamen Berges, der sich hier aus irgendeinem Grund in die Ebene verirrt hat.

8:25 Uhr an Cachoeira, Tacho 802 km, erstmal Pause, kühles Wasser am Posto Marichal II. Ich komme mit einem aus Belém ins Gespräch... mit dem Fahrrad aus Bahia, das findet er gut, das sei mutig, und er spendiert mir einen Saft irgendeiner tropischen Frucht, er sagt mir auch den Namen dazu.

Aber mir jedesmal den Namen der unendlich vielen tropischen Früchte hier zu merken, habe ich in den vergangenen Monaten in Brasilien langsam aufgegeben. Ich hatte in Bahia bald das Gefühl, dass es jeden Tag einen anderen Fruchtsaft gab, wo sie mir jedesmal den Namen sagten, ohne dass sich das einmal wiederholte. Tagesfrüchte: weils jeden Tag andere sind.

Weiter 9:20 Uhr, und auch nicht zu schnell. Erstmal den Berg wieder runter, lass ich rollen, dann in der Ebene weiter, mit vielleicht zwanzig Stundenkilometern. Das Vorderrad sagt heute überhaupt nix mehr, nicht mal der Tacho quietscht. Ein ruhiges zufriedenes Surren von Kilometerzähler.

Die Strasse ist gut zu fahren, fast kein Verkehr, nur heiss wird es jetzt. Seit neun kommen ein paar Wolken auf, wie jeden Tag, nur sind die leider nie da, wo ich fahre, und irgendwann im Lauf des Vormittags schluckt sie die Hitze auch wieder weg, langsam wird es wirklich unerträglich heiss. Tagesklima: weils jeden Tag gleich ist.

Tacho 822, kurz vor elf Uhr - Posto Com. Baviera auf der linken Seite, ich mache halt und setze mich in das Café in den Schatten. Der Ort hier heisst Quilómetro 74, weils noch vierundsiebzig Kilometer bis Capanema sind. In der Mittagssonne durch die Hitze zu fahren wäre wirklich keine gute Idee. Ich döse ein bisschen rum, schlafe vielleicht eine Stunde... ein Kleinbus aus Belém kommt an, muss Reifen wechseln.

Mir fällt die Musik aus Picnic at Hanging Rock ein. Ich weiss nicht, irgendwie.

Drei Uhr, weiter. An den brasilianischen Bundesstrassen sind immer Kilometerschilder. Zwei Stunden später bin ich in Santa Luzia auf Kilometer 47, Tacho 849, Wasser auftanken, gleich weiter. Die Strasse nimmt wieder schwere Steigungen, ich schaffe nur noch einen Schnitt von fünfzehn Stundenkilometern. Langsam wird es Abend, die Strasse wird nicht besser, ab und zu kommen jetzt Schlaglöcher, und das ist gefährlich in der Nacht. Ich habe kein Licht. Ich fahre so weit, wie ich komme. Ab 872 sehe ich auch den Tacho nicht mehr. Irgendwie ist der Verkehr stärker geworden.

Etwas später kommt wieder ein Ort, leider ist hier kein posto, aber ein netter Mensch lässt mich im Kindergarten schlafen, sogar zu einer Dusche komme ich. Tacho 877.

Hundertneun Kilometer warens heute, wenig, wegen der Sonne.

Rugatto, der Deutsche in Macapá, wohnt an der Mündung des Amazonas, meinem nächsten Ziel.

Doch wohin danach? Oiapoque heisst der Grenzfluss zwischen Brasilien und Französisch-Guyana, und so heisst auch der Ort, wo sprichwörtlich die letzte Strasse Brasiliens endet. Saint Georges heisst der Grenzort auf der französischen Seite, mitten im Urwald. Dort gebe es keine Strassen mehr, nur den Fluss und das Flugzeug, hatte David gesagt.

Ich weiss nicht, ob ich bis nach Französisch-Guyana will, aber jetzt, mit dieser Nachricht für die Indianer in der Tasche, gefällt mir die Idee immer besser.

2. Januar 1990 - Dienstag, 11. Tag.

Der Ort, den ich um sechs Uhr morgens mit dem Sonnenaufgang verlasse, heisst Jacamim. Es ist leider nicht so ruhig wie gestern, hier ist mehr Verkehr. Aber es geht ja noch. Um viertel nach sieben bin ich in Capanema. Wasser, weiter.

Strasse: Steigungen. Teer: geht noch so. Aber nicht mehr optimal. Wird ab Capanema noch schwächer. Hundertfünfzig Kilometer sind es noch bis Belém. Von dort muss ich mit der Fähre nach Macapá.

Immer mehr Verkehr. Ein kleiner naiver Radfahrer aus Mitteleuropa würde sagen diese Lkw-Fahrer hier fahren aber sehr rücksichtslos. Mir aber hatten sie das schon in Bahia erklärt: auf einer stark befahrenen Strasse in Brasilien fährt das Fahrrad nicht auf dem Rand der rechten Fahrspur, sondern auf dem Strassenrand der entgegenkommenden, also der linken Spur. Das mache ich jetzt.

Das ist keine Verkehrsregel (sowas dürfte es in Brasilien nicht geben), sondern purer Pragmatismus: was dir entgegenkommt, kannst du sehen - was hinter dir kommt, nicht. Die Privatautos weichen in der Regel zwar aus, aber nicht die Lkw-Fahrer, hell drivers, die drängen dich ab, in den Strassengraben.

Ich habe seit Picos extra lauter bunte Fahnen hinten auf dem Gepäck angebracht, damit es etwas exotisch aussieht, und damit die wenigen, die wissen, dass es andere Länder gibt, erkennen, dass ich Ausländer bin.

Nur wenn die Strasse einsam ist, fährst du auf der rechten Spur. Ist etwas mehr Verkehr, fährst du auf der linken Seite, und wenn ein Lkw kommt, schaust du dich schnell um, ob von hinten etwas kommt. Ist frei, wechselst du auf die rechte Spur, lässt den Gegenverkehr passieren und wechselst danach wieder auf die Gegenspur. Und so fahre ich praktisch Slalom zwischen den Trucks und den Schlaglöchern. Es ist schlecht, dass ich keinen Spiegel habe.

Ab acht brennt die Sonne vom Himmel herab. 8:25 Uhr an Posto Gaucha, Tacho 916, noch hundertdreissig Kilometer bis Belém. Wolken kommen wieder auf, verdecken die Sonne aber wieder nicht, jeden Tag dasselbe.

9:20 Uhr fahre ich weiter, Slalom, und es wird immer heisser. Zehn Kilometer weiter ist ein einladendes Becken mit Wasser, ich tauche meinen Kopf ganz ein, fahre weiter und schaffe es sogar noch, nun ständig auf der linken Fahrspur, bis zum Posto Santa Maria, wo ich um elf ankomme. Tacho 942, also noch hundertzwei Kilometer bis Belém. Mittagspause.

Die, die mir gesagt haben, das sei mutig, mit dem Fahrrad durch Brasilien, die wussten, was sie damit meinten.

Auch das Slalomfahren ist ganz schön gefährlich. In Deutschland würde es als grob leichtsinnig bezeichnet werden - hier ist es bisweilen die sicherste Möglichkeit, mit dem Fahrrad von A nach B zu kommen. Aber du kannst es natürlich nur bis zu einer gewissen Verkehrsdichte treiben, du bist ja nicht Rosi Mittermaier.

Wird es also noch etwas dichter, musst du ganz auf der linken Spur bleiben, so wie ich eben, dich haarscharf am Strassenrand halten und dich mit dem Gegenverkehr arrangieren.

Wenn es dann noch dichter wird, ist es wieder sicherer, auf der rechten Fahrspur zu fahren. Das ist dann das Allerschlimmste, was dir passieren kann, und als ich noch im Posto Santa Maria Mittagspause mache, ahne ich schon fast, dass mir in den nächsten knapp hundert Kilometern genau das bevorsteht.

Wenn der Verkehr dann noch dichter wird, wird er langsamer, zähflüssiger, dann ist es wieder weniger gefährlich. Dann steigt auch die Anzahl der Pkws, die Anzahl der Frauen, die fahren, dann wird wieder vorsichtiger und etwas rücksichtsvoller gefahren. Der Stadtverkehr ist vergleichsweise harmlos.

Um zwei kommen ein paar Wolken, es regnet fast, die Hitze ist weg, ich kann weiterfahren. Und tatsächlich, die hundertzwei Kilometer bis Belém sind mörderisch. Sofort sehe ich, dass ich auf die rechte Fahrspur muss. Der Abstand zwischen den entgegenkommenden Fahrzeugen ist so kurz geworden, dass sie mich nicht mehr rechtzeitig erkennen können. Dazu kommen noch die Kamikaze-Überholer, die dich ohne Rücksicht auch auf dem Rand der linken Fahrspur von hinten nehmen würden.

Also radel ich auf der rechten Spur, oder besser am Rand, immer mit irgendwelchen beteigeuzischen Abschiedsformeln auf den Lippen, und ständig weiche ich auf den Randstreifen aus, muss stehenbleiben. Wie gesagt, wenn ein Mensch auf einer Überlandstrasse von einem Lkw totgefahren wird, passiert in Brasilien gar nichts. Kein Auto würde anhalten. Die Toten werden von der Landbevölkerung am Strassenrand vergraben... und das auch nur, damit keine Seuchen verbreitet werden.

Immer häufiger muss ich auf den nicht existierenden Randstreifen ausweichen. Die Lkw-Fahrer drängen mich oft sogar mit Absicht ab, machen richtig Jagd auf mich. Es ist klar: sie wollen keine Radfahrer auf dieser Strecke. Aber es gibt keine andere Strasse nach Belém, die ich fahren könnte. Noch ein halber Kilometer, noch ein halber Kilometer... um viertel vor vier komme ich, total fertig, an einem Texaco-posto an. Mich erstaunt, dass ich trotz des dauernden Anhaltens einen Schnitt von vierzehn Stundenkilometern gemacht habe. Tacho 958.

Einen Moment überlege ich, ob ich einen Kleinbus oder einen Pick-up anhalten sollte, aber niemand würde hier anhalten. Ich schätze die Wahrscheinlichkeit auf neunzig oder fünfundachtzig Prozent, dass ich die Fahrt bis Belém lebend überstehe.

Aber gut, so sind die Spielregeln, wenn du draufgehst, dann gehst du eben drauf. Es gibt keinen anderen Weg, weiter.

Zweihundert Meter, abbremsen, von der Strasse runter, weiter... hundert Meter, wieder n Lkw, wieder abbremsen, anhalten, wieder in den Graben... weiter... noch zweihundert Meter, wieder runter... jeder Kilometer will hart erkämpft sein, ein erbitterter Kampf gegen den Tod auf der brasilianischen Strasse. Warum mache ich sowas? Wie komme ich dazu, sowas zu machen? Egal, nicht überlegen, weiterfahren.

Ich muss wieder an die Trucker aus Pernambuco denken. Du siehst, heute spendieren wir dir das Essen, aber hinterher, auf der Strasse, werden wir dich nicht kennen. Das musst du wissen. Auf der Strasse gelten eigene Gesetze.

Ich fange an, mit den Lkws zu spielen. Ich fahre etwa einen Meter vom Rand entfernt, und kurz bevor er angerast kommt, im letzten Moment, weiche ich auf den äussersten Rand aus. So muss ich nicht abbremsen und komme schneller voran. Die Lkws fahren dann mit etwa fünfzig Zentimeter Abstand an mir vorbei, weichen also weiter aus, als wenn ich von vornherein auf dem äusseren Rand fahren würde.

Es ist ein lebensgefährliches Spiel, denn ein zu knapp hinter dem Truck fahrender Wagen würde mich nicht sehen. Und was ist, wenn einer betrunken ist?

Zwanzig nach fünf - ich komme in Castanhal an, fahre langsam durch, schaffe es noch bis zum Posto Ipanema auf Kilometer 57. Esso, das sind in der Regel die unfreundlichsten, aber das ist hier wohl die Ausnahme von der Regel. Sogar mit Fenseher, draussen auf der Terrasse.

Hundertfünfzehn Kilometer warens heute. Brasilien hat fünf Prozent am Welt-Strassenverkehrsaufkommen, haben sie eben im Fernsehen gesagt. Aber elf Prozent Anteil an den Schwerunfällen in der Welt. Sie fahren wie die Hölle. Mir fallen die Augen zu.

Überall erzählen sie mir von Radfahrern, auch Europäern, die sie totgefahren haben.

Wir machen auch die Augen zu und befinden uns einige Tage später, lebend, mit Fahrrad, aber leider ohne Hängematte, auf einer ziemlich überfüllten Fähre und überqueren einen kleinen Fluss, der hier an seiner Mündung so etwas über zweihundert Kilometer breit ist. Der Amazonas. Das Boot sucht sich seinen Weg zwischen den Inseln, Belém - Macapá.

Ich schreibe ein bisschen Tagebuch eines Radfahrers oder sitze vorne am Bug, sehe mir die Inseln an, und lerne einen Argentinier kennen, Omar, aus Buenos Aires. Er ist zufällig aus dem Stadtviertel Belgrano, genau demselben Stadtviertel in der Zwölfmillionenstadt, wo ich im Juli zwei Wochen verbracht hatte. Ich muss öfter an seinem Haus vorbeigelaufen sein.

Omar haben sie als blinden Passagier aufs Boot gelassen, weil er kein Geld hat und das brasilianische Territorium wieder verlassen muss, über Macapá nach Französisch-Guyana.

Fünf US-Dollar kostet die Überfahrt, die über dreissig Stunden dauert. Omar will ein paar Tage in Macapá bleiben, dann nach Oiapoque und von dort, irgendwann nachts, mit irgendeinem brüchigen Einbaum voll mit Brasilianern in die französischen Gewässer, wo sie die boat people in der Nähe von Cayenne um Mitternacht an die Küste lassen. In Cayenne will er Arbeit finden.

Unsere Fähre ist voll mit garimpeiros, Goldgräbern, die nicht wissen, dass es ausser Portugiesisch noch andere Sprachen gibt. Sie sehen uns an mit einem Gesicht, als würden sie sagen wollen: "Hä, warum reden die denn so verdreht?" Ganz so Unrecht haben sie dabei nicht: ich mix in mein Spanisch immer wieder portugiesische Vokabeln mit rein, und der Witz ist: Omar macht genau dasselbe. Er spricht tatsächlich kein reines Spanisch mehr, es ist kaum zu glauben. Omar ist auch schon länger in Brasilien, etwa ein Jahr, und in Französisch-Guyana war er auch schon.

In Macapá begrüsste mich Rugatto herzlich und ich blieb zwei Wochen bei seiner Familie. Er sprach Deutsch, aber nicht mehr ganz perfekt, seine Vorfahren lebten seit fünf Generationen in Santa Catarina in Südbrasilien. Deutsch war so kompliziert, dass es die Menschen in wenigen Generationen schlichtweg verlernten, wenn sie es nicht täglich praktizierten. Ich merkte diesen Effekt auch bei mir. Viele Wörter fielen mir einfach nicht mehr ein und ich musste die portugiesischen nehmen.

Rugatto war mit einer Brasilianerin verheiratet und froh, wieder einmal Deutsch sprechen zu können. Er war Mediziner und leitete das Pasteur-Institut in Macapá. Vor ein paar Jahren war er auch Leiter der Industrie- und Handelskammer in Amapá gewesen und hatte Kontakte zur Regierung des Bundesstaates. Er liess gleich am ersten Tag meinen Fuss röntgen, erklärte mir, welcher Mittelfussknochen gebrochen war und war beruhigt, dass alles gut verheilte. Dennoch sollte ich noch ein wenig abwarten und ihn ausheilen lassen.

Es gab sogar so etwas wie eine kleine Unabhängigkeitsbewegung in Amapá. Die Einwohner des Bundesstaates, der sich zwischen der Amazonasmündung und Französisch-Guyana erstreckte, hielten Amapá für so etwas wie Brasilianisch-Guyana, in einer Reihe mit den ehemaligen britischen, niederländischen und französischen Kolonien. Rugatto war auch dafür, Tupi als Amtssprache einzuführen. Die portugiesische Sprache leiste der Korruption Vorschub und sei hier keine gewachsene Struktur. Amapá brauchte Bildung und es würde nichts schaden, wenn die Leute erstmal Tupi lernen müssten.

In Macapá gab es kein Fahrradgeschäft, aber Rugatto meinte, ich könnte in Cayenne versuchen, Ersatzteile zu bekommen. In Cayenne könnte ich notfalls auch arbeiten. Ich hatte keine Lust mehr, ohne Licht zu fahren. Aber Dynamo und Licht waren in Macapá nicht zu bekommen. Das war der Hintergrund, warum ich mich entschied, ohne Fahrrad nach Französisch-Guyana aufzubrechen.

Es gab Flugzeuge, aber ich wollte lieber die Strasse nehmen. Eine Art Busverbindung führte von hier zur Grenze nach Oiapoque, von wo Einbaumboote nach Saint Georges über die Grenze fuhren. Das sei aber anstrengend, warnte mich Rugatto.

Egal, entgegnete ich, das Leben war manchmal anstrengend.

39

Zwischen squatt und chantier -

Cayenne, Französisch-Guyana

Nach einer sehr abenteuerlichen Lkw-Fahrt über das, was sie die Strasse zwischen Macapá und Oiapoque nennen, kam ich zwei Wochen später mit dem Boot in einem Land an, das aus einem letzten Endes absolut unergründlichen Zufall Frankreich hiess[94].

Französisch-Guyana war keine Kolonie, sondern ein gleichberechtigtes französisches Départment, genauso wie Puy de Dôme, Seine et Marne oder Alpes Maritimes. Es galten dieselben Gesetze, dieselben Löhne, Steuern...

Die Indianer freuten sich über die Nachricht von ihrem Freund David. Sie sprachen Portugiesisch, waren auch aus Brasilien, wohnten aber seit einiger Zeit in Saint Georges. Seit jeher wohnten die Palikúr-Indianer beiderseits der Grenze. Die Kinder lernten Französisch in der Schule.

Es gab Briefkästen, die auch geleert wurden, Telefonzellen (mit Telefonkarten), Sitzbänke, die gepflegt wurden, die Leute kannten auf einmal Sachen wie ein Bankkonto (bei der Post), Sozialversicherung, es gab eine medizinische Versorgung, geregeltes Schulsystem mit Schulpflicht... alle diese Kleinigkeiten, die Südamerika soweit weg von Europa brachten.

Zwei Wochen blieb ich dort, dann nahm ich das Flugzeug nach Régina. Von Oiapoque nach Régina waren es achtzig Kilometer Luftlinie, aber der Urwaldpfad war in der Regenzeit nicht passierbar. Eine Strasse bauten sie nicht: die Industrieländer hatten es ganz gerne, wenn es keinen einfachen Weg von der Dritten in die Erste Welt gab...

Von Régina lief ich die Strasse nach Cayenne entlang. Eine Stunde, dann fing es an zu regnen. Das durfte es, es war Regenzeit. Noch eine Stunde weiter im Regen. Ein regnerischer Donnerstag.

Eigentlich hatte ich Lust zu arbeiten. Ich hatte richtig Lust, einen ganzen Monat, nein, mehr, zwei Monate zu arbeiten. Mit morgens aufstehn, zur Arbeit gehn, regelmässig essen, abends nach Hause kommen und fertig sein... ich hatte Lust, einmal richtig wie die Arbeiter zu leben. Irgendwelche harte Arbeit, hatte ich richtig Lust drauf. In Macapá meinten etliche Leute, dass es möglich wäre, in Cayenne Arbeit zu finden.

Ein Franzose hielt an, aus Mitleid, und nahm mich die restlichen hundertdreissig Kilometer bis nach Cayenne mit. Die Franzosen waren hier schwarz. Nachfahren der Gefängniswärter. Er setzte mich im Zentrum am Place des Palmistes ab.

[pic]

Er setzte mich im Zentrum am Place des Palmistes ab. Hohe Palmen und typische Häuser mit Wellblechdächern im Zentrum von Cayenne. Hinter den zwei Palmen in der Bildmitte die Avenue de Gaulle, links die Rue Guizan. Foto von einer Postkarte, 1989.

Geht doch hin wo der Pfeffer wächst. Der Spruch ging auf die Kolonialzeit zurück, als Cayenne französische Strafkolonie war, in der die weissen Gefangenen wie die Fliegen starben. Nur Schwarze überlebten, daher wurden die Wärter aus Afrika geholt.

Cayenne-Pfeffer wurde heute nicht mehr angebaut. Das Land lebte mehr oder weniger ausschliesslich von Subventionen des französischen Staates, der das Départment nicht aufgeben wollte. Die Raketenbasis in Kourou war für die europäische Raumfahrt und damit für die französische Industrie zu wichtig.

Ich kann vorwegnehmen, dass meine Radtour in Mcapá geendet hatte. In Cayenne war es nicht einfacher als in Brasilien, an Ersatzteile zu kommen. Vielleicht hätten sie eine Etappe der Tour de France mal hierher verlegen sollten. Ich versuchte in den nächsten Tagen herauszufinden, wie ich mit dem Rad über Surinam und Guyana nach Venezuela kommen könnte. Ich kam nur bis zur Botschaft von Surinam.

Dort erklärten sie mir, dass ich ein ziemlich teures Visum beantragen müsste, aber auch damit kaum eine Chance hätte, überhaupt mit dem Fahrrad über die Grenze zu kommen. Praktisch ganz Surinam wurde von irgendwelchen örtlichen Guerillas kontrolliert, seit die Niederlande das Land 1975 in die Unabhängigkeit entlassen hatten. Auf den in Niederländisch und Englisch gehaltenen Formularen wurde davon ausgegangen, dass Touristen ausschliesslich für Kurztouren nach Paramaribo fliegen wollten. Ein Landweg wurde gar nicht angeboten.

Schnell war klar, dass ich nicht mit dem Fahrrad nach Venezuela kommen könnte, ohne mich auf ein sehr unsicheres und gefährliches Abenteuer einzulassen. Doch Cayenne hatte noch andere Abenteuer zu bieten, wie ich schon wenige Minuten nach meiner Ankunft in Cayenne erstaunt bemerkte.

(weiter Brief Forum 21)

Witzigerweise bin und bleibe ich der einzige in dieser Story, der per Anhalter in dieser Stadt angekommen ist. Nicht mit dem Boot und nicht mit dem Flugzeug. An einem regnerischen Donnerstag.

Und mir fällt wieder die Musik von Picnic at Hanging Rock[95] ein. Es ist die Musik von diesem Brief.

Der Regen hört langsam wieder auf. Ich latsche ein bisschen durchs Zentrum und setze mich an einen Tisch vor ein Strassencafé, Chez Mathilde, in der Avenue Charles de Gaulle. Es ist tatsächlich Frankreich hier.

Ein wenig unterhalte ich mich mit einem Franzosen aus Paris. Er findet es witzig, dass ich das erste Mal in Frankreich bin, ausgerechnet in dieser Ecke des Landes. Sehr viel ist nicht los auf der Strasse, hin und wieder kommen ein paar vorbei.

Und jetzt? Warum sitze ich eigentlich hier? Wieviel Uhr es wohl ist? Zwei? Oder schon vier? Wo soll ich - he, dieses Gesicht kenn ich doch - halt - nicht vorbeilatschen! - ha, das ist ja Omar, der Argentinier von der Fähre vom Amazonas!

"Ola, Alemán, was machst du denn hier?!", er hat mich auch gleich erkannt und setzt sich dazu. Ja, jetzt haben wir uns aber was zu erzählen.

"... und du, bist du schon lange hier in Cayenne?"

"Paar Wochen. Heut ham sie uns aus unsrer alten Wohnung geschmissen... besser gesagt, wir sind freiwillig raus - kurz bevor ein Bulldozer kam und das Haus abgerissen hat."

"Wieviele seid ihr denn?"

"Ach, nicht viele. Ein Chilene, ein Peruaner, ich, und zwei Italiener. Aber wir haben schon wieder ein neues Haus gefunden."

"Und das - wird nicht vom Bulldozer abgerissen?"

"Nein. Ich hoffe, nicht... aber gegen Bulldozer versichert isses natürlich auch nicht..."

"Ist das weit von hier?"

"Nein, weit ist das nicht. Du weisst auch nicht, wo du jetzt bleiben sollst, wenn du gerade erst angekommen bist und niemand kennst hier... wenn du willst, können wir gleich mal hingehn, ich bin grad auf dem Weg dahin."

"Ja, klar, wenn ihr da noch einen Platz bei euch habt..."

"Na, auf einen mehr oder weniger kommts auch nicht so an. Die Italiener gehen sowieso morgen wieder, erst nach Kourou, und dann nach Italien."

Ich erklärs dem Franzosen am Tisch. Omar spricht kein Französisch und der Franzose kein Spanisch.

"... ach, und da habt ihr euch jetzt genau hier zufällig wiedergetroffen?"

"Ja, genau."

"Und er ist Argentinier, und du bist - Franzose?"

"Oh, merci beaucoup pour les fleurs - vielen Dank für die Blumen für mein katastrophales Französisch - ich bin Deutscher. Nein, falsch, ich bin Europäer. Genau."

"Richtig. Ich bin auch Europäer."

Ungefähr in diesem Moment kommt Marie vorbei.

"A, wie gehts, Argentinier, pardon", setzt sich dazu, "so, heut hab ich kein Bock mehr, Mann, bin ich fertig, jetzt will ich erstmal ein Bier... é, madame, une bière, s'il vous plaît..."

"Ah, Marie, was, du arbeitest?", Omar fällt in son flaches Portugiesisch, wie er es schon auf der Fähre draufhatte.

"Ja, klar, was hast du gedacht?"

"In was arbeitest du denn?"

"Wie heisst das, ménagère -"

"Menagé... was ist das, versteh ich nicht -", er sieht mich fragend an, ob ich es ihm übersetzen kann.

"Wenn sie saubermacht", versuche ich zu erklären, "wie heisst das auf Spanisch?... Wohnung saubermachen und so -"

"¿Quehaceres domésticos?"

"Ja, genau."

"Und das ist so hart?", fragt er Marie.

"Red nicht davon, ich will nichts mehr davon wissen. Wer ist das?", meint sie mich. Marie redet eine Art Französisch-Portugiesisch-Gemisch.

"Ach, darf ich vorstellen: das ist Alemão - das ist Marie."

"Hallo Allemand. Du bist Deutscher?"

"Ja. Und du bist Französin?"

"Mais non! Brasileira. Warum? Spreche ich so gut französisch? - Ey, Argentinier, stimmt es, dass sie euch heute rausgeschmissen haben? Hat mir Nicolas erzählt..."

Das Schönste ist die Sprache. Der Franzose gibt sogar einen aus - bleiben wir also noch ein wenig sitzen und unterhalten uns noch darüber, ob es für mich wohl eine Chance gibt, in Cayenne Arbeit zu finden. Wenn ich den Dialog auf Deutsch schreibe, geht die Hälfte schon wieder bei raus.

Vier Nationen sind also am Tisch, zwei Kontinente und vier Muttersprachen. Der Franzose spricht Französisch und ein wenig Englisch. Omar spricht Spanisch und sagen wir, leicht gebrochenes Portugiesisch. Marie spricht Portugiesisch und Französisch, das heisst, sie spricht eigentlich beides gleichzeitig.

Während ich sonst mit Omar Spanisch spreche, nehme ich nun Portugiesisch, dann versteht es Marie auch, dann ist der Franzose aussen vor. Marie, der Franzose und ich können zusammen auf Französisch, dann muss es für Omar am Ende übersetzt werden. Englisch verstehen weder Omar noch Marie.

Es dauert nicht lange, dann reden wir alle so ein Mischmasch aus den drei lateinischen Sprachen, so eine Art Ultra-neu-Latein... ein Aussenstehender würde nur den Kopf schütteln, aber es geht erstaunlich gut, sich so zu unterhalten.

Ich werde diesen historischen Dialog jetzt im Original hinschreiben, wer ein paar Sprachen kann, wird vielleicht ein bisschen draus verstehn. Es ist keine hochgeistige Diskussion.

Französisch, Portugiesisch, Spanisch, Englisch und Deutsch. Es geht also damit los, dass ich nicht verstehe, was artisan heisst. "Künstler" heisst es offenbar nicht.

Ich: Artisan? O que é?

Marie: Artisan - artesano.

Ich: Je ne comprend pas ça. Qu'est-ce que c'est?

Franzose: Artisan, tu ne sais pas ce que c'est, un artisan?

Ich: Non.

Omar: Artesano.

Ich: Sí, ¿pero qué es? ¿Algo para comer?

Omar (lacht, Marie lacht auch): No -

Franzose (zu Marie): Qu'est-ce qu'il a dit?

Marie: Si c'est quelque chose à manger!

Omar: No, no é pra comer. Artesano. Te pode dar trabalho. ¿No sabés que es un artesano?

Ich: Que dá trabalho? ¿Pero no en artesanía?

Omar: Não, no hace artesanías. El te da travalho.

Maire: Oui, trabalho. Olha, tu viens hoje la nuit às sete horas a mia casa. Ahi tu parle avec David. David é artesano. Ele vem às sete horas, porai. Lá tu parle avec lui, que tu cherche du travail, que tu es allemand, que tu viens d'arriver ici... tout ça -

Ich: El vive em tua casa?

Marie: Dans mon apartamento, sim. E Nicolas aussi mora lá, nous sommes trois: Nicolas, David e eu. Nicolas aussi travaille là, no même chantier. Tu viens às sete horas, eu vou estar ahi, ahi te vou presentar à David, ahi tu parle avec David, que tu cherche du travail, et ça, ahi tu vai ver, ahi tu vai ter trabalho.

Ich: E - trabalho de que?

Marie: Trabalho em chantier.

Ich: O qué é que vou ter que fazer?

Marie: En chantier. Não sei que é o trabalho que têm lá - quelque chose en chantier.

Ich: O qué é, enchantier?

Marie: Chantier -

Ich: Mas o qué é isso? É francés?

Marie: Sim, é français - chantier.

Ich (zum Franzosen): Qu'est-ce que c'est, un chantier?

Franzose: Alors, un chantier, où l'on travaille, où travaillent beaucoup de gens... tu connais pas le mot?

Ich: Eh - non. Chantier... Do you know the english word?

Franzose: Chantier... non, je ne sais pas. Je ne le parle pas très bien l'anglais. Par exemple, si l'on construit une maison, où travaillent beaucoup de gens...

Ich: Construction place?

Franzose: Ah, c'est l'expression anglaise?

Ich: Eh - je ne sais pas... Baustelle vielleicht, tu ne parle rien d'allemand?

Franzose: Ah, non, je regrette, et surtout pas pour traduir chantier.

Ich (zu Marie): O qué é chantier em português?

Marie: Bah, je ne sais pas. Tudo mundo disse chantier.

Omar: Chantier - lugar de construcción.

Ich: Also doch Baustelle, sag das doch gleich. E é seguro que lá têm trabalho?

Marie: Ah, bon, seguro não sei... mas tu fala pra ele, que tu cherche du travail, ele é artesano, ele ahi te dá trabalho.

Ich: Qué? Será fácil isso?

Marie: Oui, il dá travail pra muita gente...

Dass ichs nicht glaube, hab ich zu ihr noch gemeint. Dass ichs einfach nicht glaube, dass es so einfach sei, in einer wildfremden Stadt so schnell Arbeit zu finden.

So, und was heisst jetzt artisan? - Ganz einfach, das heisst artesano. David ist also artesano[96].

Um sieben soll ich heute abend zu ihrer Wohnung kommen, sie sei da und würde mich David und Nicolas vorstellen. David würde mir ganz bestimmt Arbeit geben können.

Wir gehen ein paar Strassen weiter, sie zeigt uns ihre Wohnung, sogar mit Dusche - Omar und ich nutzen es gleich aus - und dann gehen Omar und ich erstmal zu seinem neuen Haus in die Rue Becker. Also mein erstes Zuhause in Cayenne.

Durch die knarzende Türe und über Bauschutt nach hinten, und dann eine morsche Holztreppe hoch, in den ersten Stock. Das Haus ist ganz aus Holz. Glasfenster hat es auch nicht.

Die Italiener sind nicht da, haben aber einen Besen organisiert, mit dem wir also erstmal ausfegen. Zwei kleine Räume, keine Möbel. Aber ein mieser Köter im Nachbarhaus, der keine Anstalten macht, mit seiner dummen Bellerei aufzuhören.

Abends um sieben dann wie verabredet zu Maries Appartment-Wohnung, ich klopf an die Tür, und - gleich die erste Enttäuschung: Marie ist nicht da.

"Du - bist David?" Der Typ hinter ihm antwortet.

"Nein, das ist Nicolas. Ich bin David."

Was solls, dann erzähl ichs halt selber... wo ich herkomme, die Geschichte mit Marie, dass ich Arbeit suche und so... die beiden machen Abendessen. Wo Marie abbleibt, wollen sie wissen. Wir unterhalten uns noch ein wenig, und ziemlich schnell meint David zu mir: "Ja, ab Montag hast du Arbeit. Ich geb dir Arbeit."

Übrigens alles auf Französisch - dass David geborener Chilene ist, erzählen mir andere Leute erst viel später. Seit fünfzehn Jahren hat er die französische Staatsbürgerschaft.

Post hat er, irgendwas aus Paris, scheint ihm gar nicht zu gefallen. Endlich kommt Marie, total betrunken, legt ihnen zwölf Francs auf den Tisch, und macht der Welt Vorwürfe, wie wenig sie doch verdienen würde, alles sei so teuer hier. Kennen die beiden offenbar schon. Nicolas ist enttäuscht, hatte er aber geahnt. David sorgt sich immer noch wegen dem Brief aus Paris.

"Sag, die Post hier, ist die heute angekommen? - Ist die von heute?"

"Hä?"

"Ist die von heute, die Post?"

"Hä, was -?"

"Ach, lass sie doch, du siehst doch, sie ist -"

"Nein, ich will das jetzt wissen - Marie, he, die Post, sicher das kam heute hier an?"

"Hä, die Post?"

"Ja, dieser Brief? War der heute früh hier im Briefkasten?"

"Ja, klar, wann denn sonst..." - gefällt ihm überhaupt nicht.

"Was ist denn das? Wieso ist das denn so wichtig?", fragt Nicolas.

"Mit dem Gericht in Paris. Gibt Probleme. Scheisse ist das..."

Auch das noch. Sie haben schon genug Probleme. Sie werden wahrscheinlich zum fünfundzwanzigsten oder so aus dem Appartment müssen. Haben vor paar Tagen wohl ne zu laute Fete gemacht, und der Vermieter schmeisst sie jetzt raus.

Eins bringt Marie aber noch raus:

"Hab ichs dir nicht gesagt - mit David kannst du Arbeit finden! Hab ich nicht gesagt, David gibt dir Arbeit!"

Marie, blonde, kurze, gelockte Haare (deshalb hatte ich sie für eine Französin gehalten, heute nachmittag) ist aus Bahia. Keine hundert Kilometer von Wenceslau Guimarâes entfernt, wo ich vier Monate in einem Sägewerk gewohnt, Architekt gespielt und Portugiesisch gelernt hatte. Und sie hat ein Haus an der Küste, südlich von Salvador, in Morro de São Paulo... ja, stimmt, das hatten mir die Leute in Bahia auch immer gesagt, dass ich da unbedingt einmal hinsollte, das sei so schön da. Am Ende bin ich nur einmal auf der Insel Itaparica gewesen... oh, ich träume ja.

"... pero chucha, en esta casa no hay ni luz ni agua ni nada - esto es un escuat de emergencia -" Jetzt fällts schon zum dritten Mal.

"¿Escuat? Was heisst escuat?"

"¿Escuat? - Skwat!"

Pato, Chilene, lange Haare, geborener Jesus Christ Superstar, ist kaum zu erkennen im dunklen Zimmer. Nur die Strassenbeleuchtung der Rue Becker scheint ein bisschen durchs Fenster.

"Was, ist das Englisch, squat - oder Italienisch?"

"Nein, Englisch, squatt. Das hier - ist ein squatt."

"Wie, diese Art Holzhäuser, die werden squatt genannt?"

"Nur in bestimmten Fällen", meint Omar, und lächelt.

"Was ist das jetzt, squatt?"

"Squatt - das hier, compadre, wie soll ich sagen, casa abandonada, wo welche illegal wohnen, keine Miete zahlen...", Pato hat sichtlich Schwierigkeiten mit der Definition.

Hausbesetzung würde ich sagen, das scheint in Südamerika aber so etwas wie normal zu sein: wer keine Miete zahlt, lebt im squatt.

Die Augen gewöhnen sich nur langsam an das dunkle Licht. Wir sitzen zu viert in einem kleinen Zimmer: Pato, Omar, ein Peruaner und ich, und unterhalten uns, auf Spanisch.

Irgendwas geht von Pato aus, und es hat mit fast immer guter Laune und zufriedener Unzufriedenheit zu tun. Der Chilene ist seit über einem halben Jahr in Cayenne und arbeitet zur Zeit im chantier vom Madeleine-Krankenhaus.

"Ach, im Krankenhaus-chantier, da arbeitest du?"

"Ja -"

"Mir hat grad son Typ gesagt, dass ich da morgen vorbeischauen soll. Montag würde ich da anfangen zu arbeiten."

"Im Krankenhaus an der Madeleine? Dieser riesige chantier?"

"Ich kenn das noch nicht. Was machst du denn da?"

"Ha, Gräben ausheben, mit Spitzhacke und Schaufel... und was sollst du machen?"

"Weiss ich noch nicht so genau, er hat gesagt, irgendwas mit Maurer oder so -"

"Ach, dann ist es bestimmt mit David. Kannst du gut mauern?"

"Nein, ich habe keinen blassen Schimmer davon, aber ich muss es ihm sehr überzeugend verklickert haben, dass ich der Crack dafür bin. - Hab kein Geld, hab keine Ahnung, ich hab nur ein grosses Maul... bin nur gespannt, wie lange es dauert, bis er das checkt. Und solange muss er mich ja ausbezahlen."

"Das könnte David sein. Weisst du, wie der heisst, der artesano?"

"Ja, David heisst der, wieso, kennst du den?"

"Ja, klar, jeder kennt den hier. Hey, Omar, hast du gehört, der arbeitet mit David! Ich hab auch schonmal für den gearbeitet. Vor paar Wochen... aber nur drei Tage, danach hatte ich kein Bock mehr."

"War es bei dir wohl genauso? Oder zahlt er dann nicht?"

"Doch, er zahlt. Doch, mich hat er ausbezahlt, anstandslos. Du musst aufpassen mit den artesanos, es gibt da im chantier einige huevones, einige miese Säcke, die zahlen einen nicht aus. Aber keine Angst, David zahlt."

Zweihundert Francs am Tag hatte er verdient, und nach drei Tagen hatte er sich mit David verkracht, dann war Sense. Sollte das mit mir jetzt anders werden? Na, wenn schon. Auch mit sechshundert Francs könnte ich mich eine Zeitlang über Wasser halten.

Die Italiener kommen rauf. Buona sera, comment ça va, welche Sprache wollen wir sprechen... was ihr wollt, Italienisch, Portugiesisch, Englisch, Französisch... also gut, Portugiesisch. Sie waren die ganze Zeit in Brasilien, morgen wollen sie nach Kourou, dann nach Italien. Die Nachbarn hätten sich übrigens beschwert, dass wir hier sind, meinen sie.

Omar gefällt vor allem der miese Köter nicht, der wird auch die halbe Nacht weiterbellen. Omar und Pato gehen zu einem anderen squatt, sie nennen es den escuat latino. Dort leben noch andere Spanisch-Südamerikaner.

Mit dem Peruaner bleibe ich heute nacht in der Rue Becker, und mit den beiden Italienern, die zu zweit in der Hängematte schlafen. Es gibt Mücken, die Italiener fühlen sich auch genervt.

Und so klingt der 8. Februar 1990 mit einem langsam müder werdenden Hundegebell aus... was bleibt, ist die Musik von Picnic at Hanging Rock, und das Geziepe der Moskitos... Cayenne, Französisch-Guyana.

[pic]

Squatt in der Rue Becker. Ein paar Tage später mit vernagelten Türen.

... ziiiiiiiiiji...ziiiiiiih... ziiiii - iiiiji - ziiiii... ih ...ziiiiiiji...ziiijiiii... weniger sind's als in Saint Georges... ziiiijiii - jiiiih... ziiiiii... ziiiiiiiiiiiii - ziiii... In Saint Georges hatte ich auch kein Moskito-Netz, blöd war das. Zwanzig Prozent der Bevölkerung hatten dort Malaria. Als ich da war, hat's zum Beispiel den Pastor aus dem Nachbarhaus erwischt. Malaria ist mies... ziiiii... iiiijiiii... ziiiijii... ziiiiihiiih - iiiihiii... ziiiiiiiji... Die Moskitos hier kommen am Abend raus und sind die ganze Nacht aktiv, bis Sonnenaufgang, dann ist Ruhe. In Saint Georges hatte ich mich fast schon dran gewöhnt... ziiiii... ziiii - iiii... ziiiiii - iiiii - iih ... iiii ... jiiii ...

Freitag, 9. Februar 1990

Ein sonniger Morgen. Ich gehe zuerst mal zu Marie, es gibt Frühstück, sogar mit Kaffee, dann beschreibt sie mir den Weg zum chantier an der Route de la Madeleine, wo Nicolas und David arbeiten.

Es ist eine riesengrosse Baustelle mit drei Kränen - und erstmal finde ich den Eingang nicht. Es ist gar nicht so einfach, zu erkennen, was bei so einer riesigen Baustelle hinten und vorne ist.

Während ich noch überlege, was ich sagen soll, wenn sie fragen, "was fürn David", kommt einer genau auf mich zu - es ist der Gabelstapler-Fahrer... ein Weisser, hat blonde, kurze Haare... oh, Nicolas!

"Ja, warte hier am Eingang, ich komme gleich!", ruft er mir zu, er scheint wenig Zeit zu haben.

Dennoch, er sagt gleich David Bescheid, nie hätte ich den gefunden, und David zeigt mir, wo ich am Montag anfangen soll.

Ein Maurerjob, mit sehr grossen Ziegeln, carrobrics nennen sie die, er will mir zeigen, wie das geht.

"Ich nehme dich auf Probe. Wenn du nicht gut arbeitest, fliegst du sofort wieder raus, das muss dir klar sein. Also bis Montag!"

Danach latsche ich noch ein bisschen über den chantier und treffe Pato, beim Gräben ausheben, irgendwas im Kanalsystem. Er arbeitet zusammen mit Fernando, der ist auch Chilene, und wohnt auch im Latino-squatt.

"Hey, Pato! Tatsächlich, mit der Spitzhacke in der Hand!"

"Ja, das hast du wohl nicht erwartet, wir sind hier das Monument der Arbeiterklasse!"

"Die arme Arbeiterklasse! Ihr macht euch ja nicht gerade kaputt hier."

"Nein, der Chef ist gerade nicht da, dann ist hier immer lockere Welle... wenn dir der Job bei David nicht passt, kannst du ja bei uns mitmachen."

Komisch, dazu hätte ich irgendwie gar keine Lust. Vielleicht wird das mit dem Gräben ausheben langsam zu alt, es scheint hier ja nicht anders abzugehen als in Bolivien. Ich entscheide mich, am Montag mit David anzufangen und zu versuchen, so lange wie möglich durchzuhalten, bis er mich in hohem Bogen rausschmeisst.

Das absolute Ziel meiner Träume wäre hier, tatsächlich eine feste Arbeitsstelle zu finden, mit geregelter Arbeitszeit und so weiter. Alltag eines Arbeiters, einfach mal mitmachen, und dafür noch Geld kriegen. Ich finde, es ist eine sehr ausgefallene Idee. Nun gut, ein Wuschtraum, fern von jeder Realität.

Und zwar gar nicht so wenig Geld: zweihundert Francs dürfte der höchste Tageslohn im ganzen Kontinent sein, den du für Gräben Ausheben oder Mauern Hochziehen bekommen kannst.

Pato hat eine Freundin in Mannheim, Julia, und würde ihr gerne einen Brief schreiben. Hat aber keine Briefmarken, und Geld dafür erst recht nicht.

"Aber Pato, du bist hier doch nicht irgendwo, du bist hier in Frankreich, EG, Europa... Zivilisation! Du kannst doch einfach Gebühr bezahlt Empfänger draufschreiben! Du brauchst keine Briefmarken."

"Was - ??"

Pato weiss überhaupt nicht, was es bedeutet, dass er hier in Frankreich ist.

"Gebühr bezahlt Empfänger. - Taxe paie destinateur. Schreibst du drauf - fertig." - er glaubt gar nicht, dass es so etwas überhaupt gibt. Er hat auch recht, in ganz Südamerika dürfte es so etwas nicht geben.

"Du meinst, einfach draufschreiben, dass der Empfänger das bezahlt? Und nichts weiter?"

"Ja, genau."

"Nein, also in Chile geht das jedenfalls nicht. Dort wäre sowas undenkbar..."

Fragt er extra bei der Post nach. Natürlich geht das.

Auch Briefkästen, die regelmässig geleert werden, dürfte es ausserhalb von Französisch-Guyana auf dem ganzen Kontinent nicht geben. Pato und die anderen Latinos sind sehr misstrauisch gegenüber dem Briefkasten an der Avenue Charles de Gaulle, obwohl die Entleerungszeiten genau angegeben sind. Bis sich einer einmal mal hinstellt, bis 18:00 Uhr wartet und völlig überrascht ist, als der Kasten tatsächlich pünktlich geleert wird.

Inzwischen ist Sonntag und ich bin nun auch mit Pato, Omar und Fernando im Latino-squatt. Rue Lallouette, Ecke Boulevard Jubelin. Im oberen Stockwerk eines dreistöckigen Hauses, es wohnen etwa zwanzig Spanisch-Amerikaner in den vier Zimmern des wackligen Holzhauses mit Wellblechdach und einer sehr brüchigen Holztreppe, die aussen angebracht ist.

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Latino-Squatt Rue Lallouette, Ecke Boulevard Jubelin, 1990. Ich schlafe im Zimmer von Pato und Omar in oberen Stockwerk des baufälligen Holzhauses mit Wellblechdächern, die drei vorderen und zwei seitlichen Fenster.

Glasfenster, Strom oder fliessend Wasser gibt es natürlich auch nicht. Dafür hat es im luftigen zweiten Stock auch keine Moskitos. Und es sind lauter bunte Bilder an den Wänden in unserem Zimmer, in Ölfarben mit Fingern gemalt. Sie sehen sehr wild aus.

Montag, 12. Februar 1990

Aufstehen mit Pato und Fernando, wir gehen zusammen zum chantier. Wir sind ein wenig spät, aber egal, es ist Montag.

David kommt um halb acht. Er zeigt mir, wie Türrahmen im Mauerwerk fixiert werden, macht mir vor, wie es geht, danach bin ich den ganzen Tag über bei dieser Arbeit. Ich habe Glück gehabt, dass ich nicht mauern muss, nur Mörtel in Türrahmen reinschmieren.

Einen Arbeitsvertrag scheinen die Leute hier ja nicht zu bekommen. Wie das mit der Bezahlung aussieht, frage ich ihn.

"Kommt drauf an."

"Wie? Auf was kommt das drauf an?"

"Kommt drauf an. Wenn du gut arbeitest, zahl ich gut - wenn du schlecht arbeitest, zahl ich schlecht."

Pato meinte, zweihundert Francs sei das Mindeste, weniger dürfte er mir gar nicht zahlen. Den ganzen Vormittag pest David um mich rum, organisiert eine elektrische Mischpistole, und verschwindet irgendwann von der Bühne. Am Nachmittag um drei will er nochmal vorbeischauen.

Nun, dass ich gut arbeite, glaube ich ja wohl nicht im Ernst. Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass er um drei nicht kommt, und um vier auch nicht, um sich den Murks anzusehen, den ich hier fabriziere. Mist, ich kann es tatsächlich nicht.

Ein Brasilianer aus dem Bundesstaat Paraná zeigt mir ein- oder zweimal, wie ich es machen soll. Und dass ich auf mein Werkzeug gut aufpassen und es nach fünf Uhr gut verstecken muss. Weil alles geklaut wird. Die Mischpistole nicht - das sei Davids Job, die zu verstecken oder anzuschliessen. Nur mein Werkzeug.

Ein paar Schwarze arbeiten auch für David, sie unterhalten sich in einer Sprache, die Taki-taki heisst, verstehen aber auch Englisch und sogar Deutsch - sie können Holländisch. Sie sind aus Surinam, und arbeiten hier in Cayenne genauso illegal wie die ganzen Brasilianer überall im chantier.

Die Surinamies gehen um fünf, ich gehe dann auch, wasche meine Kellen ab. Ich lege sie in den Eimer, den ich zwei Stockwerke tiefer in irgendeinem Raum im dunklen Kellergeschoss verstecke. Die Mischpistole lasse ich da. Paraná meint nochmal zu mir, ich solle sie stehenlassen.

Dienstag, 13. Februar 1990

Zweiter Arbeitstag, diesmal bin ich pünktlicher. Schliesslich will ich wissen, ob David nochmal dagewesen ist und sich meinen Schrott angesehen hat. Keiner im squatt hat eine Uhr, aber kurz nach sechs schalten sie die Strassenlampe vom Boulevard Jubelin aus, dann müssen wir aufstehen.

Sieben Uhr. Ich bin pünktlich am chantier, aber David ist nicht da. Er ist anscheinend auch tatsächlich nicht mehr gekommen, denn seine Mischpistole steht immernoch da. Aber ich weiss ja, was ich zu tun habe. Ich mache also meinen Murks mit den Türrahmen weiter. Es ist die letzte Scheisse, aber ich muss durchhalten.

Der Paraná meint, das sei sehr ungewöhnlich, das sei nicht Davids Art, seine Geräte einfach liegenzulassen. Irgendwas scheint hier nicht zu stimmen.

David meinte gestern zu mir, erst eine Tür, dann sollte ich zwei machen, dann drei - am Ende meinte er, ich solle alle Türen in diesem Durchgang machen, acht oder neun sind das. Ein Scheissjob, ein mieser Fummelmurks, er selbst hatte es mir gestern wirklich bei der leichtesten Tür vorgemacht... Good morning, do you speak English?

"Was? Do you speak electrish - yes, a paar Funken..." - mann, ich bin ja schon vollkommen blöd. Wer spricht denn hier Englisch?

Ob ich der Chef hier sei, will ein Inder aus Guyana wissen. Sein Name ist Praim. Irgendwie verstehen wir uns vom ersten Moment.

"Nein, ich bin zwar Weisser, aber es ist nicht direkt so, dass ich hier der Boss wär. Du musst mit einem Typen sprechen, der David heisst, aber der ist jetzt nicht da... und das ist auch besser so."

"Was machst du denn da für einen Murks?"

Müll mache ich, das sehe ich auch selber, aber solange David nicht da ist, kann er mich ja nicht rausschmeissen.

Praim erzählt, dass er erst gestern aus Surinam gekommen sei, mit dem Boot, nachts, über den Grenzfluss. Er wohne in Surinam, in Paramaribo. Gerade war er ein halbes Jahr in Surinam, aber davor habe er auch schon etliche Monate hier im Krankenhaus-chantier gearbeitet.

" - diese Wand hier habe ich gemacht, schau mal, und diese hier auch, und diese zwei Ecken..., pass auf, gib mir mal die Kelle, da kann ja kein Mensch zusehn, was du da machst. So macht man das, die Masse muss ein bisschen weniger feucht sein... wieso ist da Sand drin?"

"David hat mir das so vorgemacht."

"Das ist ein Depp, der dir gesagt hat, dass da Sand rein soll. Das hier - das heisst lacol[97]", er rührt kurz was an, "gib mir mal den Spachtel -", nun versucht er sich an der Türe. Es gelingt ihm aber offenbar auch nicht so gut, wie er es sich vorstellte.

"Der Spachtel ist schlecht, du brauchst einen dünneren, wenn du das machen willst, mit dem hier geht das schwer. Kennst du Gilbert?"

"Gilbert? Who's that?"

"Das war mein Boss. Vor einem halben Jahr. Aber vielleicht ist der ja wieder weg hier."

Gilbert sprach er Englisch aus. Ich frage mich, ob Gilbert ein Engländer ist. Aber hier? Ein wenig spachtelt er noch rum, dann überlässt er die Türen wieder mir und geht. Auf einmal kommt er jedoch wieder, mir einem freudestrahlenden Gesicht.

"Da - du siehst die zwei da vorne in dem Gang?! Das war mein Boss, Gilbert, der eine, und der andere ist sein Sohn, mit dem habe ich ein Jahr lang gearbeitet! Gilbert ist ein guter Boss!"

Er geht zu ihnen hin, oh, sie kennen ihn tatsächlich, sprechen kurz mit ihm, und suchen dann den Paraná. Praim kommt nochmal zu mir.

"Ab morgen habe ich hier Arbeit! Gilbert kauft mir bis morgen die Geräte, und Schuhe und Schutzhelm, morgen fange ich hier an! Ich arbeite für Gilbert! Gilbert ist ein guter Boss!"

Pato meinte, das sei obligatorisch, jeder artesano müsse den Arbeitern Sicherheitsschuhe und Schutzhelm zur Verfügung stellen. Ich arbeite zur Zeit so, wie ich in Macapá mit dem Fahrrad angekommen bin: in Shorts, T-Shirt und Strandsandalen.

Der Paraná kommt an, mit Gilbert und Patrick, seinem Sohn. Sie suchen mich. Ich kann Französisch und soll übersetzen, was Gilbert dem Paraná sagt. Gilbert ist Franzose.

"Also, David hat Probleme. Alle, die für David gearbeitet haben, arbeiten ab sofort für mich. Alles klar?"

"Wie, kommt David nicht mehr? Wir haben für David gearbeitet! Seit Monaten schon!", der Paraná ist sichtlich erschrocken und regt sich auf.

"Ich sage, David hat Probleme. Ich weiss nicht, ob er noch kommt - ich bin Davids Chef. Und solange er nicht da ist, arbeiten die von David für mich. Wir müssen jetzt gehen, ich komme vielleicht um halb fünf nochmal wieder."

Tja, das war dann wohl die Nachricht des Tages.

Mir ist selber in dem Moment noch gar nicht klar, was für eine Lawine an Reaktionen das jetzt auslösen wird. Die grosse Befürchtung, die dem Paraná sofort hochkam, lag darin begründet, dass David uns jetzt wohl nicht mehr ausbezahlen würde.

Cayenne ist nicht gross und die Nachrichten um David verbreiten sich schnell. David, seit über einem halben Jahr als artesano in Französisch-Guyana, hat tatsächlich Probleme mit der Justiz in Paris: er ist heute morgen von der Polizei festgenommen worden und wird noch diese Woche nach Paris geflogen werden. Die Nachricht schlägt überall ein wie eine Bombe.

Niemand kann sich vorstellen, was für Probleme er dort genau hat. Einige vermuten, Drogen. Nicolas, der drei Wochen mit ihm zusammengewohnt hat, kamen einige Sachen verdächtig und rätselhaft vor. David habe eindeutig mehr Geld verbraucht als er überhaupt ausgegeben haben könne. Er muss grosse Mengen Geld irgendwohin überwiesen haben. Von Nicolas hat er sich zum Beispiel einmal dreitausend Francs geliehen, und die sind weg, das weiss Nicolas. David schuldet allen möglichen Leuten hier Geld.

Der artesano David arbeitet für die Nord-France, ein Baukonzern mit chantiers auf der ganzen Welt. Nicolas weiss, dass David vorhatte, in einigen Monaten nach Kenia zu gehen. Er selber war auch schon in Afrika gewesen, Senegal. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass David wieder hierher zurückkäme.

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Cayenne ist nicht gross und die Nachrichten um David verbreiten sich schnell. Am rechten Bildrand das Zentrum, mitte-links im Hintergrund das Stadtviertel La Crique. Am linken Bildrand auf halber Bildhöhe der Stadtfriedhof, dahinter verläuft der Boulevard Jubelin, wenige Häuser vom Friedhof in Richtung Küste stand der Latino-squatt. Luftbild von einer Postkarte, 1988.

Für mich wird es praktisch bedeuten, dass ich gestern und heute vormittag hier umsonst gearbeitet habe, und ab jetzt arbeite ich für Gilbert und Patrick. Möglicherweise ist das aber sogar noch besser, denn Praim meint, Gilbert sei immer sehr anständig und zuverlässig gewesen mit der Bezahlung. Den Lohn zahle er monatlich, und schon nach zwei Wochen gebe es einen Vorschuss.

Bis fünf arbeiten wir weiter, ich wieder unauffällig mit meinen Türen, Gilbert kommt nicht mehr. Aber Patrick, und bringt ein wenig Geld, vielleicht als Zeichen des guten Willens. Ich freue mich, denn bis jetzt hatte ich fast ohne Essen gearbeitet.

Nicolas und Marie müssen innerhalb von vierundzwanzig Stunden aus dem Appartment, sie kommen kurzfristig bei einem Franzosen unter. Nicolas und Marie hatten vor drei Wochen auch in dem alten squatt mit Pato und Omar gewohnt, aber als das mit den Abrissdrohungen dort akuter wurde, sind sie zu David. Den kannte Nicolas vom chantier. Pato ging in dieser Zeit zu Fernando in den Latino-squatt, nur Omar und der eine Peruaner blieben dort bis zum bitteren Ende, mit Bulldozer, vom 8. Februar.

Erst eine Woche war das jetzt her.

Mittwoch, 14. Februar 1990

Dritter Arbeitstag. Gilbert hat also alle Arbeiter von David einfach übernommen - ich erzähle natürlich niemandem, dass ich für David nur auf Probe gearbeitet habe. Und erst recht nicht, dass er mich ohne jeden Zweifel schon längst wieder gefeuert hätte, wenn er meinen Müll gesehen hätte.

Die Gruppe, das sind etwa zehn Leute. Ein paar Brasilianer, die Surinamies, ich, und Rafael. Rafael ist Peruaner, aus Iquitos.

Und Praim. Praim fängt heute an, sie haben ihm tatsächlich auf der Stelle Geräte, einen gelben Schutzhelm und Schuhe besorgt. Er macht die Türen weiter, das sei zu schwer für mich. Ich bin sehr froh, dass ich woanders hinkomme und carrobrics schleppen soll. Danach soll ich Schutt aus irgendwelchen Räumen beseitigen, das geht auch einfach. Es ist gut, dass Praim mich von den Türen erlöst hat.

Die Mehrheit auf dem chantier sind Haïtianer und Brasilianer. In unserer Gruppe sind aber keine Haïtianer.

In der Gruppe von Pato und Fernando ändern sie das System: nicht mehr Tageslohn, sondern Bezahlung nach Leistung - sofort geben sie beide auf. Pato will sich neue Arbeit suchen: Lieber frei sein und arm, als Sklave mit Gold, ist einer seiner Lieblingssprüche, die er in solchen Situationen draufhat.

Fernando will sein Geld abwarten und dann ab, nach Brasilien, Kolumbien, wer weiss es.

Donnerstag, 15. Februar 1990

Vierter Arbeitstag. Heute wieder Bauschutt wegräumen. Alles saubermachen. Es fängt fast an, mir Spass zu machen... Aber es liegt irgendwas in der Luft... die Musik von Picnic at Hanging Rock... es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis wir alle rausfliegen. Und ich als erster. Auch Rafael gefällt die Situation überhaupt nicht. Rafael arbeitet schon bald seit einem Jahr in Cayenne, meistens hier auf dem chantier.

Langsam verstehe ich auch das System hier. Die Nord-France vergibt immer gewisse Aufträge an die artesanos. Sachen, die in wenigen Wochen oder Monaten zu erledigen sind. Ein Vertrag wird abgeschlossen, eine Summe wird festgelegt. Wie und mit welchen Leuten die artesanos dann ihren Teil des Vertrages erfüllen, ist ihre Sache. Wenn die Firma sieht, dass die Arbeit gut vorankommt, zahlt sie einen Vorschuss.

Gilbert wird jetzt wohl Davids Vertrag übernehmen. Wieviel Vorschuss David wohl schon bekommen hat? Unangenehm, daran zu denken. Er hätte die letzten Stunden beispielsweise nutzen können, das ausgezahlte Geld noch schnell auf die Seite zu schaffen. Lieber nicht dran denken.

Um fünf sind wir wieder fertig, und am Abend sitzen Pato, Fernando, Omar und ich wieder zusammen im Latino-squatt und erzählen uns Geschichten.

Pato und Marie kennen sich von Bahia, von Morro de São Paulo, schon 1986 war er einmal dagewesen. Marie hat dort ein Ferienhaus. Pato lernte dort Julia aus Mannheim kennen, die nach dem Abitur nach Brasilien gegangen war, und mit ihr ist er dann viele Monate quer durch ganz Südamerika gezogen, bis in die Karibik. Sie ging irgendwann wieder nach Mannheim, Sprachen studieren - er kam bis nach Kalifornien, blieb dort einige Zeit und ging dann wieder nach Südamerika.

Marie ist in Bahia verheiratet, in Iaçu, mit einem Chilenen. Der arme Typ, meint Pato, und sie hat sogar zwei kleine Kinder. Vor ein paar Jahren sei sie auch schon einmal einfach los, eines Morgens, wollte nur schnell Zigaretten holen gehen und kam ein halbes Jahr später aus Paraguay wieder.

Nicolas arbeitete in Senegal, hatte aber irgendwann genug von Afrika und ging nach Brasilien. Und hatte dort nichts besseres zu tun als sich in Marie zu verlieben, ausgerechnet in Marie, das Leben ist ja gnadenlos.

Letzten April oder wann, es muss eine Romeo-und-Julia-Szene gewesen sein in Iaçu, als Nicolas Marie praktisch entführt, dem Ehemann entrissen und mit nach Französisch-Guyana genommen hat. Wo sie dann im Juli ankamen.

Pato kam im August nach Cayenne, auch mit dem Boot vom Oiapoque. Nicolas und Pato kannten sich vorher nicht.

Ich betrachte immer wieder diese unruhigen Bilder an den vier Wänden im Zimmer - doch sie sagen mir irgendwie nichts. Ölfarben. Sie müssen von einer einzigen Person gemalt worden sein.

Freitag, 16. Februar 1990

Wir arbeiten hart, bis um elf, dann ist es soweit. Gilbert kommt, mit Patrick. Er hält die Arbeit an, Ende der Vorstellung, die Arbeitsgruppe wird aufgelöst, Bezahlung heute nachmittag. Eigentlich hatten wir schon gestern damit gerechnet, dafür kommt es aber noch schlimmer, als wir befürchtet hatten.

Grosse Diskussion. Ich muss wieder übersetzen. David sei mit über der Hälfte des ihm anvertrauten Geldes in den Knast gegangen. Nur das restliche Geld habe Gilbert behalten, und das werde er jetzt versuchen, halbwegs gerecht aufzuteilen.

Paraná und Rafael werden über tausend Francs verlieren. Mir zahlen sie sechshundert Francs für vier Tage Arbeit, und die Show für heute war umsonst. Und damit sind wir alle in hohem Bogen rausgeflogen.

Nicht, ohne dass ein schwacher Schimmer Hoffnung bleibt: am Montag soll ein neuer artesano anfangen, ein Brasilianer, Carlos. Morgen um zehn will er hier mit Gilbert den Vertrag abschliessen. Das erfährt Paraná und übernimmt gleich die Initiative, will auch da sein, morgen. Ja, ich könne auch mitkommen, zum übersetzen. Doch - er hat recht, es ist eine Hoffnung. Es ist nicht alles aus, ich kann wieder mit einer Hoffnung nach Hause gehen.

David kam im September. Niemand anders als Gilbert selber hatte ihn hierhergeholt, aus Frankreich. Er hatte ihm die Flugreise bezahlt, die Appartment-Miete, alle Ausgaben. David arbeitete von Anfang hier im chantier an der Madeleine.

Rafael erzählt mir, David sei am Anfang der einzige gewesen, der Ahnung hatte, als das mit den grossen carrobric-Ziegeln losging. Die kannte vorher niemand. Alle anderen hier - er, der Paraná, die anderen Brasilianer, alle hätten das von David gelernt.

Pato hatte ein paar Tage mit David, Nicolas und Marie im Appartment gewohnt, da sei er aber schnell wieder raus, weil sie nachts immer bis um zwei wie die Löcher gesoffen hätten, und es ihnen dann allen bei der Arbeit entsprechend schlecht ging. Alle sagen, David sei starker Alkoholiker.

"Vielleicht hat er das Geld in Alkohol umgesetzt?", meine ich zu Nicolas.

"Nein, das war zuviel. Er kann es nicht alles in Alkohol umgesetzt haben. Ich habe gesehen, was er für ein Zeug säuft, das war nie so teuer. Das Geld muss woanders hingegangen sein."

Ich gehe wieder zum squatt. Obwohl kein Feiertag ist, sind die Strassen voller Leute, überall wird gefeiert, alle Einheimischen scheinen auf den Beinen zu sein. Wie ein riesiges Volksfest, überall.

Ich bin glücklich, dass sie mir heute sechshundert Francs ausbezahlt haben. Mein Etappenziel habe ich erreicht: mit dem Geld komme ich, wenn ich sparsam bin, etliche Wochen aus. Und ich habe eine Hoffnung. Eine Hoffnung für die Zukunft...

"Was feiern die Schwarzen denn heute alle?", frage ich Pato.

"Weisst du das nicht? In Südafrika ist heute Nelson Mandela freigelassen worden! Free Nelson Mandela - Nelson Mandela is free!"

Samstag, 17. Februar 1990

Am Vormittag komme ich zu spät zum chantier und habe das Glück eines Anfängers: ich komme zu Gilbert, Carlos und Paraná, die sich gerade zusammensetzen, den Job auszuhandeln. Paraná meint, er nehme sich drei Brasilianer und Rafael, also vier als Maurer, und einen Helfer. Carlos meint, das sei okay, aber als Helfer, da will er seinen cunhado für. Ich weiss nicht, was cunhado heisst, wörtlich ist es irgendwas angeheiratetes Verwandtes, in Wirklichkeit meinte Carlos einen Freund.

Paraná gefällt aber die Idee mit mir, weil ich ihm immer übersetze, was Gilbert sagt. Er meint zu Carlos, es gehe ja auch mit zwei Helfern und setzt mich eigenmächtig mit auf die Liste für Montag. Er fragt Carlos aber nicht nach seinem Einverständnis dafür.

Die Spannung am Sonntag besteht jetzt also darin, ob ich am Montag tatsächlich da anfangen kann und ob sie mich behalten. Carlos meinte übrigens, er würde am Montag nicht kommen. Hoffentlich kommt er auch wirklich nicht.

So erwarten wir mit Spannung den Beginn der nächsten Woche. Fünf sind wir inzwischen in unserem Zimmer im Latino-squatt, und keiner hat Arbeit. Marcelo, ein zwanzigjähriger Chilene, kam am Dienstag, frisch aus Santiago. Auch er kam mit dem Boot vom Oiapoque, völlig seekrank. Langsam geht es ihm wieder etwas besser. Er liegt immer noch in Patos Hängematte, wir bringen ihm das Wasser hoch und ein wenig zu Essen.

Es fällt mir schwer, die Bilder an den Wänden zu verstehen. Zu Pato passen sie irgendwie auch nicht. Sie würden auch gar nicht passen zu der ausgeglichenen Musik von Picnic at Hanging Rock, dem Leitmotiv von dieser Geschichte.

Montag, 19. Februar 1990

Der zweite Montag in Cayenne. Die erste Überraschung gleich am frühen Morgen: Carlos' cunhado kommt nicht. Das ist mein Glück, so kann ich heute erstmal als Helfer arbeiten.

Von den Surinamies, die am Freitag auch alle nach Hause wanderten, lässt der Paraná keinen einzigen in die Gruppe. Weil er rassistisch ist, die Schwarzen seien alle faul und würden nicht arbeiten.

Praim lässt er auch nicht. Ich sage ihm, dass Praim doch Inder sei, und von Gilbert die Sachen bekommen hat, aber er will ihn trotzdem nicht. Reine Vorurteile, Paraná ist Rassist und hat nie was mit Indern zu tun gehabt. Schade, es tut mir leid für meinen Freund aus Guyana. Praim spricht sogar Hindu, bei sich zuhause sprechen sie das.

Der Paraná spricht auch gebrochen Englisch. Überall ist er schon gewesen, als Seemann, in Hamburg war er auch einmal ein paar Monate. Einmal überrascht er mich absolut, als er plötzlich mit Griechisch anfängt: er hat ein Jahr in Athen gearbeitet, und auf griechischen Schiffen. Nur Französisch kann er nicht. Mein Glück.

Die Arbeit gefällt mir besser als letzte Woche. Ich organisiere den Maurern das Material. Zement, Wasser, lacol, Geräte. Immer wenn ich Zement aus dem Lager organisiere, fährt mir Nicolas die schweren Säcke mit dem Gabelstapler rüber.

Hoffentlich kommt der cunhado auch morgen nicht. Praim kommt hin und wieder vorbei, mit Schutzhelm, Arbeitsschuhen und Werkzeug, schaut sich auf dem chantier um. Unter Gilbert direkt kann er leider nicht arbeiten. Er muss sich einen artesano suchen.

Nach Feierabend um fünf räumen wir wieder unsere Sachen auf, verstecken alles gründlich, und ich gehe wieder zum squatt.

Am Abend gehe ich, wie immer in Strandsandalen, nochmal kurz zu einem anderen squatt, einen Block weiter im Boulevard Jubelin, wo auch lauter Chilenen wohnen. Es ist dunkel, die Wege um die Häuser sind nicht beleuchtet. Wir trinken etwas Tee, dann stehe ich auf und gehe zur Türe, bleibe stehen, drehe mich um, als hätte ich etwas vergessen, und gehe noch einmal in das Zimmer.

Nein, vergessen habe ich nichts.

Ich gehe wieder hinaus, den dunklen Weg entlang, auf die Gartentüre zu. Und dann passiert es.

Mit voller Wucht haue ich in der Dunkelheit mit dem grossen Zeh gegen eine Betonschwelle. Es tut sofort höllisch weh, ich krümme mich vor Schmerzen. Pato und Marcelo sind auf der Stelle da, tragen mich wieder in das Zimmer. Scheisse, hoffentlich ist das jetzt nicht gebrochen, denke ich, ich wüsste gar nicht, was ich da machen sollte.

Aber der Schmerz lässt nicht nach, der Zeh schwillt rot an, ich kann die ganze Nacht nicht schlafen. Oh je, jetzt ist es wohl aus. Alle meine Träume. Meine Träume von Arbeit. Arbeit auf einer Baustelle. Ich muss morgen unbedingt hin. Wenn ich fehle und der cunhado kommt, bin ich meinen Job in jedem Fall los.

Dienstag, 20. Februar 1990

Bald wird es dämmern. Kann ich auftreten? - Ja, ich glaube, es geht. Mach ichs? - Ja, komm, was hab ich zu verlieren. Ich stehe extra früher auf, und humpel mit dem total schmerzenden Fuss die drei Kilometer die Route de la Madeleine entlang, zum chantier.

Zunächst hänge ich ein bisschen bei Rafael rum, der Paraná sieht mich die ersten zwei Stunden zum Glück gar nicht. Dass ich fast nicht laufen kann, fällt ihm erst noch später auf.

Aber es kommt noch besser: Weder Carlos noch sein langsam schon berüchtigter cunhado lassen sich blicken. Und irgendwann schliesslich meint der Paraná zu mir:

"Ja, es sieht ja so aus, als ob der cunhado nicht kommt. Also machst du das jetzt an seiner Stelle."

Es ist nicht zu glauben: ausgerechnet heute, wo ich fast nicht laufen kann, nichts gefrühstückt habe, nach einer Nacht ohne Schlaf, ausgerechnet heute habe ich einen sicheren Arbeitsplatz.

Jetzt kommt noch Praim. Praim versucht es heute wieder, hängt die ganze Zeit bei uns rum. Solange, bis ihn der Paraná, wohl um ihn loszuwerden, probeweise etwas Fieses, besonders Schwieriges hinbauen lässt. Aber Praim kann die Chose - und zwar besser als der Paraná selber. Und seitdem hat auch Praim einen sicheren Arbeitsplatz.

Die Schmerzen im Fuss lassen in den nächsten Tagen langsam nach, sehr langsam nur, aber gebrochen ist der Zeh zum Glück nicht. Am nächsten Tag komme ich, wie vorgeschrieben, an ein Paar Arbeitsschuhe, am Donnerstag bringt mir Gilbert einen weissen Schutzhelm mit. Es gefällt mir immer besser auf den chantier. Ich als Arbeiter.

Jeden Morgen mit dem Sonnenaufgang aufstehen, Wasser aus der Flasche ins Gesicht, losgehen, drei Kilometer, die Route de la Madeleine, ich frühstücke auf dem Weg ein Baguette mit Ölsardinen und eins mit Erdnussbutter. Fliessend Wasser gibt es auf dem Friedhof, zwei Blocks vom squatt. An der Stelle, wo der Boulevard Jubelin in die Route de la Madeleine übergeht, stehen einige Guayaba-Bäume[98], von denen immer einige Früchte reif sind, die ich aufsammle.

Gearbeitet wird von 7-17 Uhr, samstags genauso. Zu Mittag mache ich mir Müsli. Eine geniale Idee, wie ich schnell feststelle, denn Müsli kennen die Latinos nicht - und klauen mir auch nicht die Zutaten, während ich im chantier bin. Haferflocken, Nüsse, Rosinen, kwac[99], Milchpulver. Nur der Zucker wird immer geklaut. Aber die Guayabas sind auch süss. Auf dem chantier gibt es einen Apparat für eiskaltes Trinkwasser, mit dem ich mir mein Milchpulver-Müsli perfekt zubereite.

Abends eine schöne kalte Dusche im chantier, ich ziehe das gewaschene T-Shirt nass wieder an, es trocknet auf den Nachhauseweg. Es ist immer sehr warm hier. Nachts kühlt es nicht unter fünfundzwanzig Grad ab. Zum Schlafen genügt ein Bettlaken.

Unterwegs gehe ich noch bei einer Bäckerei vorbei, wo ich zu meiner Freude eine Marktlücke entdeckt habe: für ein oder zwei Francs geben sie mir die alten Baguettes von gestern, wenn welche übriggeblieben sind. Manchmal ist es ganz schön viel, dann hat der ganze squatt was davon. An sowas kommst du natürlich nur, wenn du die Verkäuferin stilvoll auf Französisch fragen kannst.

Besonders Pato und Marcelo leben tagelang nur von diesem Brot. Marcelo hat es schwer, Arbeit zu finden, weil er nur Spanisch spricht. Und Pato...

Pato wartet erst ab, bis sie ihm seine zweitausend Francs ausbezahlen. Dann sehen wir ihn zehn Tage lang praktisch nicht... nein, weniger als zehn, dann ist das Geld weg. Nix mehr übrig, er muss sich neue Arbeit suchen.

Fernando kassiert auch, holt sich aber für das Geld ein paar Dollar und ein Ticket nach Saint Georges, und reist weiter, nach Belém... nach Manaus und vielleicht nach Kolumbien. Oder nach São Paulo und vielleicht nach Chile, sagen andere.

Bruno, der französische Besitzer des Hauses, in dem Marie und Nicolas wohnen, kommt überraschend aus Martinique. So müssen sie beide schnell raus. Nicolas nimmt seine Hängematte und pennt etliche Tage im chantier und Marie kommt am Samstag zu uns ins Zimmer.

Samstag, 24. Februar 1990

Marie und Nicolas hatten in den vergangenen Wochen, aber auch bei David schon, sich öfter gestritten, sogar geschlagen. Vor allem Marie.

Nicolas erzählt, Marie würde unmöglich, wenn sie betrunken sei, richtig aggressiv. Und das hat wohl mit der Zeit immer mehr die Beziehung verletzt.

Vielleicht hat es mit Französisch-Guyana zu tun: es ist kein nettes, freundliches Land hier, das sagen alle Ausländer. Du hast wirklich auf Schritt und Tritt das Gefühl, du bist hier bei den Nachfahren der Gefängniswärter. Nein, es ist kein gutes Land zum Leben. Es ist kein Wunder, dass es ausser einigen Prostituierten kaum ausländische Frauen gibt. Marie ist eine Ausnahme.

Marie ist am Samstagabend ziemlich blau und pennt sich den ganzen Sonntag über erstmal aus. Am Montagvormittag wird sie wieder zur Arbeit gehen. Immer noch als Haushaltshilfe.

Was ist das, Französisch-Guyana? Die Ausländer sind es, die hier die Atmosphäre ausmachen. Kaum einer in den ganzen squatts hat Kontakt zu Einheimischen. Die mögen die Ausländer nicht.

"Wo kommst du her, was willst du von uns", diese Einstellung begegnet auch den Franzosen aus Paris. Die nennen es Rassismus. Aber es trifft nur auf die Schwarzen zu, nicht auf die Indianer aus dem Hinterland. Die sind viel freundlicher.

Ein französischer Unternehmer meinte in Saint Georges zu mir, Paris wäre besser dran, die einfach frechweg in die Unabhängigkeit zu entlassen. Das war zynisch, denn auf einen Schlag würden sämtliche Ausländer (das ist die Mehrheit der Bevölkerung), Franzosen und ein Grossteil der Einheimischen Schwarzen das Land verlassen, vielleicht neun Zehntel der Bevölkerung.

Andere nennen sie die reichsten Schwarzen der Welt, weil sie alle Autos haben. Produziert wird in diesem Land ausser einigen wenigen Milchprodukten, die den Eigenbedarf nicht decken, nichts. Rein gar nichts. Die Supermärkte sind voll mit Importwaren aus allen Ländern der Erde.

Nicht nur die Raketenbasis in Kourou, sondern auch alles andere wird mit Geldern aus Paris gebaut. Die Latinos und Brasilianer regen sich auch auf. Pato:

"Wer baut ihnen zum Beispiel das neue Krankenhaus in ihrer Hauptstadt? Alles Ausländer! Ich hab noch nie einen Einheimischen im chantier gesehen!"

Doch, einer ist da, ein Kranfahrer. Der ist auch ganz nett. Ein Einheimischer unter vielleicht zweihundert Arbeitern. Das heisst, einen zweiten gibt es noch, aber der ist Indianer.

Im Prinzip sind Rodrigo und ich auch Inländer, wir sind Europäer. Rodrigo ist ein spanischer Abenteurer, der ähnlich wie ich durch die Welt zieht und hin und wieder arbeitet.

Wer sich die Geschichte mit dem Turmbau von Babylon ausgedacht hat, hat wohl keine Ahnung gehabt, wie es auf einer Grossbaustelle zugeht, wo Leute aus allen denkbaren Nationen arbeiten. Die Lösung des Sprachproblems ist viel einfacher, als ich es mir vorgestellt hätte.

Zunächst sind die Arbeiter allein aufgrund des Konkurrenzsystems gezwungen, sich gegenseitig zu verstehen. Und dann gibt es immer einige, die mehrere Sprachen sprechen. Trotz des ganzen Sprachwirrwarrs auf dem chantier beeinträchtigen Sprachschwierigkeiten die Arbeit so gut wie überhaupt nicht.

So sprechen nur die Franzosen und die Brasilianer meist nur eine Sprache (Französisch, Portugiesisch). Einige Franzosen sprechen auch Englisch, Nicolas Portugiesisch, der Chef vom chantier spricht Spanisch.

Die aus Haïti sprechen Creol und Französisch. Die aus Surinam sprechen Taki-taki, Englisch und Holländisch. Die aus Guyana Englisch, viele auch Taki-taki, manche Hindu, wie Praim. Die Spanisch-Amerikaner sprechen Spanisch und Portugiesisch. Einige sind aus der Karibikinsel Santa Lucia, sprechen Englisch und können auch Creol. Die Architekten und Bauchefs sind Portugiesen, sprechen Portugiesisch und Englisch oder Französisch, und gewisse Abenteurer, wie der Spanier oder der Deutsche, die sprechen alles zusammen.

Einige Brasilianer sind schon lange hier, die sprechen dann auch Creol. Creol ist auch eine lateinische Sprache, die die Schwarzen in Haïti aus Französisch entwickelt haben. Taki-taki ist eine Mischung aus einem Drittel Englisch, einem Drittel Holländisch, afrikanischen und indianischen Elementen. Praim macht es Spass, mir ein wenig davon beizubringen, weil der Paraná es nicht versteht.

Montag, 26. Februar 1990

Um zwölf - Nicolas und ich sind im chantier - kommt Marie von der Arbeit und geht hoch in unser Zimmer im squatt. Omar und Marcelo sitzen in einer Ecke des Zimmers und unterhalten sich, als eine Chilenin ins Zimmer kommt. Sie wohnt ein paar Häuser weiter im anderen squatt im Boulevard Jubelin: dort, wo ich mir an dem Montag den Zeh gestaucht hatte.

Sie beschuldigt Marie, ihr ziemlich viel Geld gestohlen zu haben. Die Chilenin ist recht bekannt, aber nicht sehr beliebt. Sie arbeitet als Prostituierte im Stadtviertel La Crique. Es gehe um etwas über zehntausend Francs.

Es kommt zu einer Streiterei, die Chilenin wird lauter, Omar und Marcelo verlassen das Zimmer und gehen runter. Marie beteuert zu recht, dass sie überhaupt nichts mit dem geklauten Geld zu tun hat. Irgendwann zückt die Chilenin plötzlich eine Waffe, Marie stürzt sich in ihrer Not blitzartig aus dem Fenster und fällt auf die Strasse.

Polizei, Krankenwagen - Marie schwerverletzt mit Schock ins Krankenhaus. Die Chilenin kommt für einen halben Tag in den Knast... jedoch ist Marie, wie sich herausstellt, zwar blond, aber nur Brasilianerin, dazu noch illegal hier, da machen sich die Bullen keine grosse Arbeit mit und lassen die Chilenin wieder frei.

Marie ist auf der Seite aufgekommen, hat sich einige Knochen gebrochen und muss mindestens vier Wochen im Krankenhaus bleiben.

Sonst kommt nicht viel nach. Die unbeliebte Chilenin weicht dem Druck, muss aus dem squatt und verschwindet in die Crique... und ein Peruaner flüchtet nach Kourou: die Polizei entdeckt die Waffe, die er bei sich im Zimmer versteckt hat, in dem Zimmer unter uns im Latino-squatt.

Sofort hat es sich in ganz Cayenne herumgesprochen. Nur der chantier ist weit weg: ihr Freund Nicolas erfährt es von mir erst am nächsten Morgen. Pato kommt irgendwann im Lauf des Tages auch zum chantier.

Nicolas regt sich im ersten Moment ziemlich auf. Er besucht Marie danach regelmässig im Krankenhaus. Aber ihr Verhältnis hatte mit Maries Trinkerei schon vorher tiefe Risse bekommen. Der Gabelstaplerfahrer spürt immer mehr Distanz zu ihr und freundet sich schliesslich mit dem Gedanken an, Cayenne zu verlassen. Er will nach Ecuador aufbrechen, alleine.

Die folgenden Wochen verliefen ruhig. Ich arbeitete Tag für Tag auf dem chantier in der von Carlos bezahlten Maurergruppe mit Paraná, etlichen Brasilianern, Rafael und Praim. Bald hatte ich raus, wie ich mich unverzichtbar machen konnte ohne mauern zu müssen. Oft half mir Nicolas mit dem Gabelstapler, schwere Sachen in die Nähe unseres Arbeitsgebietes auf der weitläufigen Grossbaustelle zu bringen.

Carlos' cunhado kam nachher doch noch, und so waren wir zwei Helfer, Jimmy und ich. Der Paraná war sehr überrascht, dass der Junge Surinami war und kein Brasilianer. Als erstes zeigte ich ihm, wie man sich hier Schuhe besorgte, seitdem waren wir Freunde. Wie mit den anderen Surinamies konnte ich mich mit ihm auf Deutsch/Holländisch unterhalten. Ich sprach langsam Deutsch mit holländischem Akzent, wie Rudi Carrell, probierte auch manchmal Plattdeutsch aus, und Jimmy antwortete in Niederländisch. Wenn sich Brasilianer wie der Paraná und Spanisch-Amerikaner unterhielten, wechselten sie ja auch nicht die Sprachen. Das machten wir jetzt genauso. Mit dem Ergebnis, dass der Paraná uns nicht verstehen konnte.

- Jimmy, hoe heet dat ding hier?

- Trolleywagen!

Der Paraná mochte es überhaupt nicht, wenn er uns nicht verstand und schaffte es, ihn nach zwei Wochen aus der Gruppe herauszuekeln.

Abends war ich meist ziemlich kaputt und konnte es gut nachvollziehen, dass Zeit Männer in Arbeiterfamilien abends für ihre Kinder kaum Zeit aufbringen konnten. Der freie Samstagnachmittag und der Sonntag taten gut. Manchmal besuchten wir Marie im Krankenhaus.

Nach einigen Wochen fühlte ich mich plötzlich merkwürdig schwach und bemerkte, dass vor allem meine Gelenke anfingen zu schmerzen. Besonders die Finger. Ich dachte zuerst, es lag am harten Fussboden, auf dem ich schlief. Aber das könnte wohl kaum die Fingergelenke beeinträchtigen. Irgendetwas mit der Ernährung vielleicht. Ich musste irgendeinen Fehler machen, der mit der einseitigen Ernährung zusammenhing.

Baguettebrot, Erdnussbutter und Ölsardinen für Frühstück und Abendessen, dazu mittags Haferflocken, Rosinen, Haselnüsse, Milchpulver, kwac, Guayabas. Vitamine waren in den Guayabas enthalten. Was war mit Salz? Enthielt Erdnussbutter kein Salz? Ich kaufte Salz, streute genug davon auf die Erdnussbutterbrote - und die Beschwerden hörten nach wenigen Tagen auf. Ich hatte schlicht vergessen, Salz zu mir zu nehmen. Was nicht alles passieren konnte.

In meiner Freizeit nähte ich mir ein Bild. Ein Bild im Stil der Kuna-Indianer von Panamá, mit langen bunten Linien auf schwarzem Untergrund. Ich entwarf ein Motiv mit den Fahnen aller Länder, die ich bis dahin bereist hatte, und nähte jeden Abend ein paar Linien unter der Strassenlaterne der Avenue Voltaire.

Einmal setzte sich eine Einheimische aus der Nachbarschaft zu mir auf die Bank und unterhielt sich mit mir. Sie war nicht sehr freundlich, fragte, was ich hier in ihrem Land wollte, und verschwand irgendwann wieder.

Sie hatte meine kleine Schere geklaut.

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| | |Die Fahnen der Länder, die ich bereist|

| | |hatte, genäht im Stil der |

| | |Kuna-Indianer. Jeden Abend kamen |

| | |einige Linien hinzu. |

Oscar, ein Argentinier, kam eines Tages wie alle mit dem Boot illegal vom Oiapoque und erholte sich bei uns im Zimmer erst einmal tagelang von der strapaziösen Tour im überfüllten Boot. Diese Touren waren nicht ungefährlich. Es gab skrupellose Brasilianer, die die boat people einfach irgendwo nachts im Schlamm an ein vermeintliches Land rausliessen, wo keines war, und wo sie mit der Flut ertranken.

Pato erzählte, dass sie tagsüber aus Sicherheitsgründen irgendwo an der Mangrovenküste Pause machen mussten, damit die französische Küstenwache sie nicht entdeckte. Ein Mädchen hatte sich schon bei der Fahrt im engen Einbaum eng an den bärtigen Chilenen angeschmiegt und schlug ihm dann bei so einer Pause vor, mit ihr an eine andere Stelle im Gebüsch zu gehen und solange dort zu warten.

Aber er war ja nicht dumm, meinte Pato, er habe genau gewusst, worauf die Kleine rauswollte. Was nicht schwer zu erraten war - der langhaarige Pato war offenbar der Traummann für etliche Frauen und schien das auch ganz gut zu wissen. Er sollte sich rasieren, habe sie zu ihm gemeint, als sie bereits in Cayenne waren und er sie nach wie vor abwies. Das wäre ja noch schöner, meinte er zu mir. Irgendwann gab sie ihren Traummann auf, worüber der ganz froh war.

Oscar war geradewegs aus Buenos Aires durch ganz Brasilien an den Oiapoque gekommen, offenbar per Anhalter. Wir verstanden uns ganz gut. Viele nahmen unser Zimmer nur als Übergangslösung, doch Oscar blieb bei uns und bildete mit Pato und Marcelo und mir bald den Kern der Wohngemeinschaft. Hin und wieder kamen Europäer für ein paar Nächte, die auf einen Flug warteten. Einmal zwei Surinamies, die Arbeit suchten und ihre Hängematten in unser Zimmer hängten. Ich schlief am Fussboden, auch wenn mir dann hin und wieder einige Kakerlaken über die Decke krabbelten.

Wir richteten uns immer netter ein in unseren vier Wänden und hatten bald eine Nische mit einer Art Waschbecken. Eines Tages klappte irgendwas nicht und Oscar, der manchmal genervt reagieren konnte, entfuhr der Fluch la concha de la lora. Woher er denn diesen Fluch habe, fragte ich ihn. Aus Argentinien?

- Nein, weiss nicht mehr genau, nein, in Südbrasilien habe ich den irgendwo gehört.

Ich konnte es nicht glauben. Aber es war nicht anders zu erklären, als dass dieser Spruch bei argentinischen Truckern im Verlauf des letzten halben Jahres die Runde gemacht haben musste. Ein eigenartiges Gefühl, was für eine Wirkung ein einziger Spruch auslösen konnte.

(weiter Brief Forum 21)

Rafael entscheidet sich, wieder nach Peru zurückzukehren, sich dort einen Reisepass zu besorgen und zwei Monate später mit Gilbert auf die Karibikinsel Guadeloupe zu gehen. Auch Rafael, er ist sechsundzwanzig, kam illegal nach Cayenne. Mit dem, was er jetzt nach einem Jahr auf die Bank geschafft hat, könnte er in Peru etwa zwanzig Jahre leben, meint er.

Pato nimmt eine Arbeit in Matoury an, zwanzig Kilometer von Cayenne, kommt aber nach einer Woche wieder zurück und zieht es wieder vor, seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: auf die Bezahlung zu warten.

Marcelo und - kaum zu glauben - Omar nehmen ein Arbeitsangebot von einem Chilenen an, der zuverlässig dreissig Francs die Stunde zahlt. Am Anfang arbeiten sie sogar nachts, Fliesenlegen, in einem Supermarkt. Der sonst so faule Omar steigt richtig im Kurs, Französisch lernt er auch, ganz fleissig.

Aber irgendwann ist es auch wieder vorbei und er fängt wieder an, Fahrräder zu klauen, oder im Supermarkt. Fahrräder zu klauen finde ich besonders mies. Schliesslich zieht er mit ein paar Gleichgesinnten in einen neuen squatt nach Montjoly, zehn Kilometer weiter.

Samstag, 24. März 1990

Heute ist Nicolas' letzter Arbeitstag. Nächste Woche holt er seinen Lohn ab und für den 2. April kauft er sich ein Ticket nach Brasilien. Er will den Amazonas hoch, nach Ecuador, Kolumbien, dann auf die Antillen...

Vor zwei Tagen hatten sie Praims guten Hammer geklaut. Der Paraná meinte, das sei verschwendete Zeit und ich sollte ihn nicht suchen. So tat ich es heimlich und war richtig stolz, dass ich ihn nach einigen Stunden entdeckt hatte, bei irgendwelchen Haïtianern. Praim hat sich riesig gefreut - nur der Paraná wirkte sehr zerknirscht, weil ich seinen Anweisungen nicht Folge geleistet hatte.

Inzwischen ist ein wenig durchgesickert, was mit David gewesen war. Gilbert erzählt mir hin und wieder, wenn er etwas erfährt. Die Methode, den Leuten den Lohn nicht auszuzahlen, sondern kurz vorher mit dem Geld zu verschwinden, ist nicht nur auf Französisch-Guyana beschränkt.

Nur EG-Bürger haben einen gesetzlichen Schutz, es gibt Arbeitsschutzgesetze. Solche Methoden sind in Europa kriminell und werden hartnäckig von der Justiz verfolgt. Leute, die nicht illegal arbeiten, können das in Anspruch nehmen. Von David müssen auf einem chantier vor über zwei Jahren einmal zwei Spanier um den Lohn geprellt worden sein, also EG-Bürger, die ihn daraufhin wohl angezeigt haben.

Montag, 26. März 1990

Rafaels letzter Arbeitstag. In drei Tagen geht auch sein Flug, nach Macapá. Rafael kämpft in den zwei folgenden Tagen um seinen Lohn: Gilbert ist anständig und zahlt ihn voll aus, aber Carlos bleibt ihm noch siebenhundert Francs schuldig. Das ist Paranás Einfluss, der einiges Geld von Carlos für sich behält. Rafael kann sich nicht wehren, wie alle ist auch er illegal hier.

Paraná hat sich in den letzten Wochen immer unbeliebter gemacht im chantier mit seinen Mätzchen und unsauberen Methoden. Den Job behält er nur, weil Carlos keinen anderen findet, der es macht. Die Sache mit den siebenhundert Francs von Rafael war bis jetzt die gemeinste.

Carlos, der nur hin und wieder vorbeischaut, ist nordbrasilianischer Indianer. Er hat keine Rassenvorurteile und mag den Paraná, der aus Südbrasilien stammt, auch nicht besonders. Aber sich gegen ihn durchsetzen kann er auch nicht.

Der Paraná führt sich auf wie der King. Praim und ich nennen ihn pang-pang, das ist Taki-taki und heisst Schwein: weil er die Arbeit sehr ungerecht einteilt. In Brasilien verdient der Boss zehntausend und die anderen Arbeiter zusammen tausend. Und seit David weg ist, hält er sich selbst für den Boss. Leider meint er, er könne mit seinen brasilianischen Vorstellungen auch hier landen. Er ist sehr unzufrieden, dass er nicht mehr als doppelt so viel verdient wie wir.

Dabei könnte er mir dankbar sein. Weil er ständig sein ganzes Vermögen mit sich herumschleppte, hatte ich ihn gefragt, warum er nicht einfach bei der Post einfach ein französisches Bankkonto eröffnete. Er wusste gar nicht, was ein Bankkonto war. Ich ging mit ihm zur Post. Es war etwas komplizierter, als ich dachte, weil er Brasilianer war. Hier half es uns, dass wir beide Griechisch sprachen - so konnte ich ihm gefahrlos sagen, was er dem Beamten auf keinen Fall verraten durfte. Eigentlich könnte er ein bisschen dankbar sein.

Dienstag, 27. März 1990

Ich bin der Einzige, der vorher nicht weiss, wann mein letzter Arbeitstag ist: nämlich heute. Der Paraná braucht den ganzen Nachmittag, um ein paar lächerliche Mauern zu vermessen. Er labert ständig mit Carlos über irgendwelchen Müll, macht Rafael mies, wie schlecht er gearbeitet hätte, trödelt rum und kann nicht rechnen. Er hat das Rechnen in der Grundschule gelernt, und seitdem anscheinend nie wieder was davon gehört.

Es kommt, wie es nicht anders zu erwarten war: ob ich heute ausnahmsweise bis halb sechs arbeiten könne. Soll heissen, bis sechs oder noch später. Es sei so dringend.

Nee, Junge, also bei aller Geduld, aber den Kram von eben hätte er auch in zwei Stunden erledigen können.

"Ich arbeite bis fünf Uhr. Hättest du gearbeitet anstatt dich mit Carlos zu unterhalten, wären wir jetzt schon längst fertig. Das jetzt als dringend hinzustellen läuft nicht."

"Was, soll das heissen, du willst nicht?"

"Genau das. Ich gehe jetzt nach Hause."

"Du willst jetzt gehen? Und ich soll das wohl hier alleine weitermachen?"

"Wir arbeiten hier bis fünf Uhr. Es ist jetzt fünf und ich habe Feierabend."

"Gut, amanhã você não precisa vir mais. Você é dispensado. Morgen brauchst du nicht wiederzukommen. Du bist entlassen."

Entlassen. Und mit einem irgenwie zufrieden strahlenden Gesicht, mit einer unerklärlichen inneren Freude gehe ich durch den chantier, zur Dusche, und nach Hause. The winner takes it all...

I don't wanna talk

About the things we've gone through

Though it's hurting me

Now it's history

I've played all my cards

And that's what you've done too

Nothing more to say

No more ace to play

The winner takes it all

The loser standing small

Beside the victory

That's her destiny...

Ja, es hat Spass gemacht. Der letzte Nachhauseweg, die Arbeit ist zuende. Etwas Neues fängt an.

Mich hat überrascht, dass es so schnell ging, aber ich bin zufrieden. Für zwei Monate war ich ein Arbeiter. Meinen weissen Schutzhelm und die Schuhe werde ich als Andenken behalten.

Pierre hält neben mir, fragt, ob er mich mitnehmen kann. Pierre, der Zimmermann vom chantier, ein netter Franzose aus Europa. Nein, ich habe es nicht eilig. Ich gehe gerne zu Fuss, mache einen Umweg, gehe zum Hafen, gehe am Place des Palmistes vorbei... es fängt an zu dämmern, das Lied von Abba ist längst verklungen - und da ist sie wieder: die Melodie von Picnic at Hanging Rock.

Ich spendiere den Chilenen, die in der Nachbarwohnung bei uns oben im squatt wohnen, eine grosse Flasche Bier - sie honorierens nicht mal, die Saufköppe - und Pato fragt:

"Was? Entlassen?"

"Ja, richtig! Entlassen, weil ich mich geweigert habe, ausserhalb der vorgeschriebenen Zeit zu arbeiten!"

"Echt? Er hat dich entlassen, weil du um fünf nach Hause bist?"

"Genau! Weil ich nicht mehr als vierundfünfzig Stunden in der Woche arbeiten wollte, Pausen abgezogen. Für den gesetzlichen Mindestlohn. Deswegen hat er mich entlassen."

Auch die E-Werke streiken jetzt. Nicht mal mehr die Strassenbeleuchtung haben wir.

Seit fast zwei Monaten hat die Post gestreikt - dieser Streik ist heute zuendegegangen. Ich gehe zum Place des Palmistes, wo heute die andine Folkloregruppe Boliviamanta spielt. Doch zuvor bringt mir Marcelo die Krönung des Tages: ich habe Post aus Deutschland.

Jochen hatte schon vor einem Monat geschrieben, der Brief kam heute erst an. Er studierte inzwischen Informatik in Braunschweig. Dort kam er mit einem neuen Kommunikationsmittel in Berührung, e-mail nannte es sich, elektronische Post. Damit liessen sich Briefe in Sekundenschnelle von einem Computer zum anderen schicken, egal in welchen Erdteil. Vorausgesetzt, sie waren an ein System, das sich internet nannte, angeschlossen. Wie einfach die Welt doch sein könnte.

Wir lebten hier zwar in einer modernen Welt, aber um einen Brief von Südamerika nach Europa zu bekommen, vergingen Wochen und Monate, wie vor hundert Jahren. Es gab eine anrufbare Telefonzelle in Cayenne, weit weg im Postamt an der Route Baduel. Allerdings nicht, wenn die Post streikte. Und für eine Verabredung musste die Zeitverschiebung einbezogen werden. Waren es wirklich fünf Stunden?

So weiss ich, dass ich nichts weiss, hatte er mir in einem Brief nach Macapá geschrieben, weil er immer noch verstehen wollte, warum ich mich überhaupt auf den Weg gemacht hatte. Und noch einmal hatte ich ihm geschrieben, mehr als das, was ich ihm aus Río Gallegos geschrieben hatte, würde ich ihm hier auch nicht schreiben können.

Aber Jochen gab sich nciht damit zufrieden. Er traf sich mit Lina - ich hatte ihm geschrieben, sie konnte ihm gerne alles über mich erzählen - und hinterher wusste er noch weniger.

Und deshalb mein Vorschlag: Du kommst hierher und wir unterhalten uns über uns selbst. Ich würde gern mal mit dir reden, wirklich furchtbar gerne solange mit dir reden, bis ich das Gefühl habe, wenn du jetzt wieder losziehst, so geht ein Teil von mir mit und wir werden uns verstehen. Es wäre eine tolle Sache.

Das war ein Tonfall, den wir überhaupt nicht gewohnt waren. Über unsere Gefühle hatten wir uns tatsächlich nie unterhalten. Vielleicht war das auch der Grund gewesen, warum ich ihm nicht von Viktoria hatte schreiben können - für so etwas hatten wir bis jetzt gar keine Ebene gehabt.

Er würde meinen Flug sogar bezahlen, auch den Rückflug, wenn ich es wollte. Jochen wollte mich nicht nach Europa zurückholen, er wollte sich nur mit mir unterhalten und sich von mir verabschieden können. Ich entschied mich, seine Einladung anzunehmen. Europa.

Jochens Bruder Andreas gehörte zu denen, die meiner Lebensführung kritisch gegenüber standen und es lieber gesehen hätten, wenn ich meine Fähigkeiten, die er bewunderte, in politisches Engagement umsetzen würde. Andreas las meine Briefe genau. Aus Per Anhalter durch die Galaxis suchte er mir das Zitat von Zaphod Beeblebrox heraus, das meinen Weg ganz gut beschrieb.

Ihr wisst ja, ich flippe ganz schön rum. Mir fällt irgendwas ein, was ich machen will, und - he! warum nicht? ich mach's einfach.

Ich schrieb diesen Spruch an die Tür im squatt.

Auch Norberts Brief kam heute an, und auch er bot an, er würde mir einen Flug nach Paris bezahlen. Er hatte sogar selber spontan einen Flug nach Cayenne für Anfang April gebucht.

Ich ging am nächsten Tag zur Post an der Route Baduel und wollte die beiden anrufen. Jetzt war die Post zwar wieder geöffnet, aber der Apparat war heute kaputt. Am Abend ging ich zu Rafael, der am nächsten Tag nach Macapá fliegen würde.

Endlich erreichte ich Jochen und Norbert über Telefon. Die Flüge nach Paris waren nicht teuer, ich konnte sie selber bezahlen und Norbert konnte seine Reise nach Cayenne wieder stornieren. Jochen freute sich auf mich. Falls es mir in Europa nicht gefiel, würde er mir das Rückflugticket nach Cayenne bezahlen, bot Jochen an. Ich sagte zu.

(weiter Brief Forum 21)

Marcelo ist schon lange aus unserem Zimmer raus. Er wohnt heute im anderen squatt, einen Block weiter, in dem Zimmer, das damals die Chilenin verlassen musste.

Praim arbeitet ohne mich auch nur noch einige Tage mit Pang-pang, er sucht sich so schnell wie möglich eine neue Arbeitsgruppe und einen besseren Boss.

Donnerstag, 29. März 1990

Rafael ist heute nach Brasilien geflogen, wir haben ihn zum Flughafen begleitet.

Und Marie ist aus dem Krankenhaus gekommen. Bezahlen wird es die Sozialkasse. Marie meint, sie sei immer gut behandelt worden. Sie weiss, dass sie Glück gehabt hat, dass es ausgerechnet in Frankreich passiert ist - in Brasilien hätte es kaum einen Unterschied gemacht, ob sie den Sturz überlebt hätte oder nicht. Eine Sozialkasse gibt es dort nicht. Behandelt wird dort nur gegen Bargeld. Marie geht zu Bruno, einem Freund von Nicolas.

Ich habe tatsächlich keine Arbeit mehr. Hin und wieder komme ich innerhalb der nächsten Wochen am chantier vorbei, damit mir Carlos den Lohn auszahlt. Wie gesagt, das ist nicht selbstverständlich in diesem Land.

Nach etwa einer Woche bittet mich der Paraná in einem ganz freundlichen und fast reumütigen Ton, doch wieder in die Gruppe zu kommen und wieder zu arbeiten.

"Es tut mir leid mit der Sache von letzte Woche. Vergessen wir das. Wir brauchen jemand, der organisieren kann - und seit du weg bist, klappt hier gar nichts mehr."

Das ist ungewollt ein nettes Kompliment. Es war mir tatsächlich gelungen, mich unverzichtbar zu machen. Der Paraná hatte nie mitbekommen, woher ich die ganzen Sachen immer organisiert hatte. Er hielt es für selbstverständlich, dass Wasser da war, wenn es gebraucht wurde, oder Zement, Sand, lacol, Ziegel, Stangen, Trolleywagen. Selbstverständlich hatte ich ihm nie verraten, wo ich das immer her hatte. Er tut mir aber auch nicht sehr leid, wenn er jetzt die Zementsäcke von Hand schleppen muss, weil er keinen Trolleywagen findet.

Auch hatte ich im Gegensatz zu ihm gelernt, mich auf dem Bau beliebt zu machen. Die Geschichte mit Praims Hammer sprach Bände. Natürlich hatte es sich sofort herumgesprochen - sogar die Haïtianer hatten danach hohen Respekt vor unserer Gruppe. Manchmal brachte ich ganz anderen Arbeitsgruppen Wasser oder Zement, ohne dass es Paraná mitbekam - und wenn ich einen Engpass hatte, liehen sie mir etwas aus. Vor allem Wagen waren oft schwer zu bekommen.

Nachdem ich bei den Haïtianern im Vorbeigehen trickreich ein paar freundliche Worte auf Haïti-Creol verloren hatte, fingen sie in meiner Gegenwart sogar an aufzupassen, was sie untereinander sagten. Ich hatte vorher ein paar Brasilianer gebeten, mir ein paar Sätze zu übersetzen. Ma hiess ich. Von Hochfranzösisch moi.

Carlos zahlt mir nur sehr wenig - bis ich zu Gilbert gehe, und mit Gilbert zur Bauverwaltung. Dort erreichen wir, dass ich wenigstens einen Teil ausbezahlt bekomme, zweitausendsechshundert Francs, zum Ärger des Paraná. Doch Carlos bleibt mir am Ende immer noch tausendfünfhundert Francs schuldig.

Aber ich habe keine Lust, mir das gefallen zu lassen. Pierre erklärt mir, wo die Inspection de Travail ist - denn als Europäer habe ich das seltene Glück, nicht illegal hier im Land zu sein. Und es geht wesentlich unbürokratischer als ich dachte. Ich brauche nur Bescheid zu sagen - die von der Inspection de Travail kümmern sich um alles weitere.

Im squatt sind neue Leute, neue Gesichter. Eine Haïtianerin aus der Crique kommt manchmal, wenn sie dort Ärger hat, und schläft sich bei uns aus. Leonel, ein Franzose, bleibt zwei Wochen, auch ein Amerikaner wartet auf seinen Flug, danach ein Kanadier, ein Spanier, zwei aus Guyana... Pato schleppt immer alle möglichen Leute an. Das macht er solange, bis er merkt, dass seine Gutmütigkeit ausgenutzt wird.

Besonders dass Rickie, ein Surinami, der auch schon seit fünf Wochen bei uns im kleinen Zimmer ist, nichts anderes zu tun hat, als dauernd ausgerechnet in Patos alter Hängematte rumzuhängen. Pato selber hatte zwar eine bessere von Fernando bekommen, als dieser fort ging, trotzdem hatte er seine alte nicht verschenken wollen, auch nicht an Rickie.

Nicolas fliegt am 2. April nach Brasilien und zieht von dort allein weiter, steuert die Anden an. Zu sechst begleiten wir Nicolas zum Flughafen, nur Marie ist nicht dabei.

Marie hat genug von Französisch-Guyana. Nach dem langen Krankenhaus-Aufenthalt nimmt sie Bruno wieder auf, der Franzose, aus dessen Wohnung sie vor einem Monat rausmusste. Ich glaube, es tat ihm leid, was passiert ist.

Aber auch Marie will nicht mehr bleiben. "Nicolas ist weg", meint sie zu mir, sie will wieder nach Brasilien, nach Bahia. Irgendwann gehen wir zu den Bullen, die deportieren einige hundert Brasilianer im Monat: stecken sie alle ins Flugzeug nach Belém. Das wäre praktisch, denn so bräuchte sie den Flug nicht zu bezahlen. Die Bullen sind freundlich und verständnisvoll und wollen sich bei ihr melden, wenn ein Platz frei ist.

Es ist traurig mit Marie, denn sie weiss, dass sie auch in Bahia keine Zukunft hat. Sie arbeitet wieder, als Putzhilfe in einem vietnamesischen Restaurant, vielleicht kann sie dort ja bleiben.

Die spanisch-amerikanischen Ausländer sind zwar alle illegal, doch solange es nicht stört, kümmern sich die hiesigen Behörden nicht um sie. Der Flug in ihre Länder, den die Regierung bezahlen müsste, wäre zu teuer. Nur nach Europa dürfen sie nicht. Die Papiere der Passagiere auf den Flügen nach Paris werden streng kontrolliert, auch wenn es eigentlich Inlandsflüge sind. Abgeschoben werden nur immer wieder einige Brasilianer - und davon offenbar nur die, die nicht arbeiten. In der Crique gibt es hin und wieder Razzien.

Einmal besuchen wir Omar in seinem squatt in Montjoly. Er versucht, Tätowieren zu lernen, seine neueste Idee. Das Haus liegt in der Nähe vom Strand. Bei schönem Wetter gehe ich mit Pato und ein paar Chilenen aus der Nachbarwohnung zum Baden. Das Wasser ist hier immer noch gelblich-trübe und nur wenig salzig, obwohl die Amazonas-Mündung schon tausend Kilometer südlich liegt.

Pato hat wieder Arbeit gefunden, mit diesem Chilenen. Sonst wäre er wieder nach Brasilien. Über sieben Monate ist er jetzt schon hier. Irgendwo tut er mir ein bisschen leid, er ist zu lange hier hängengeblieben, "ja, zu lange, viel zu lange".

Aber er hat eine neue Perspektive: Julia aus Mannheim kommt nach Brasilien, in einem Monat will sie nach Recife fliegen, und dort wollen sie sich treffen. Das scheint ihn wieder zu motivieren, er strengt sich an zu arbeiten, etwas Geld zu verdienen. Auf einmal ist Pato wieder lebendig, auf einmal hat er wieder Energie, das Leben macht ihm wieder Spass. Eigentlich strahlt er immer gute Laune aus, nur in der letzten Zeit war er nachdenklicher geworden.

Dort wo Marie wohnt, gibt es sogar ein Telefon, und Julia ruft ihn hin und wieder an.

Einmal, ganz am Ende meiner Zeit, habe auch ich Julia einmal am Apparat... oh, das ist wirklich weit weg: ein lachendes, verliebtes Mädchen am Telefon zu haben. Wie ein Gruss aus einer anderen Welt...

Y así, viajaremos por el infinito... steht auf der Tür zu unserem Zimmer im squatt. Neben diesen wilden Bildern an den Wänden. "Und so reisen wir durch die Unendlichkeit..." manchmal ohne Perspektive, aber vielleicht lohnt es sich ja trotzdem.

Ich habe mir ein Flugticket für den 12. April geholt, nach Saint Georges. Marcelo wird mich zum Flughafen begleiten. Er will noch etwas in Cayenne bleiben, später möchte er dann in die Karibik, auf einer Insel Arbeit finden.

Pato wird ein oder zwei Tage nach mir fliegen, nach Belém, und von dort nach Recife, ein halbes Jahr später mit Julia nach Chile.

Heute ist der 10. April, Dienstag. Euch diese Zeilen zu schreiben, habe ich mich noch einmal zu Marie auf die Veranda gesetzt. Die Veranda, die mit einer alten, vermoosten Plastikplane überdacht ist, auf die der Regen trommelt. Es ist Regenzeit, immernoch.

Und an manchen Abenden, Pato in der Hängematte und ich im Sessel, erzählen wir uns was, vom Leben. Von Marie, von Bahia, von David, ja, vom berühmten David, von Julia, vom squatt...

"Wer hat die ganzen Bilder gemalt, hier an den Wänden?"

"Ach, die... ein Franzose, der hier war. Der hat hier gewohnt, hier im Zimmer. Eines Tages hat er eine riesengrosse Party gegeben, jede Menge Wein und Bier, unten im Garten, eine richtig grosse Party. Er sagte, er würde weggehen von hier, und alle dachten, er hätte einen Flug oder sowas. Aber er hat sein ganzes Geld, das er hatte, nur in diese Party gesteckt. Es gab jede Menge zu saufen. Und das teuerste Zeug."

"Bist du dabeigewesen?"

"Ich, nein. Ich kam leider fünf Monate zu spät."

"Ach, du kanntest den gar nicht."

"Nein, ich kannte den nicht. Muss ne wirklich grosse Party gewesen sein."

"Da unten im Garten?"

"Ja, im Garten, und hier im ganzen Haus. Hier im Zimmer auch. Sie haben die ganze Nacht gefeiert. Am Tag danach ist er runter und hat sich erschossen."

"Erschossen? Wie das?"

"Mit som Kleinkalibergewehr. Peng. Warn Idiot."

13. April 1990

Marcelo begleitete mich noch zum Flughafen Rochambeau, wo ich in eine kleine Propellermaschine nach Saint Georges stieg. Pato hatte mir eine Nachricht für eine Freundin in Macapá mitgegeben, Paiodi, die er nun auch schon seit sieben Monaten nicht mehr gesehen hatte.

Der Flug nach Saint Georges war abenteuerlich. Es ging nur durch Wolken. Ich fragte mich, wie es der Pilot schaffte, über dem wolkenverhangenen Dschungel genau den Landeplatz des Flugplatzes von Saint Georges zu finden. Irgendwann senkte er seine Maschine - und wenige Meter unter uns befand sich das Rollfeld.

40

Wir sind einfach nur Leute -

Eine Insel im Amazonas

In Saint Georges lebte auch ein Deutscher, Jean-Luc nannte er sich, pensionierter Fremdenlegionär aus Plön. Aber ich war stolz, bei den Indianern wohnen zu können, deren Familie mir sehr sympatisch war. Einmal hatten sie mich vor zwei Monaten sogar nach Brasilien mitgenommen, auf einen Ausflug in ihr Reservat. Mit dem Einbaum. Diesmal blieb ich aber nur für eine Nacht.

Eine besondere Nacht. Denn heute hatte ich zum ersten Mal seit Wenceslau wieder einen erotischen Traum. Schade, dachte ich mir. Es war schön gewesen, die Zeit ohne erotische Träume. War es damit jetzt vorbei? Was würde folgen?

Der Pastor begleitete mich am nächsten Morgen nach Oiapoque, Brasilien. Dort hatte mir Pato eine Adresse eines Goldgräbers gegeben, Luis o Garimpeiro, der Goldschürfer, bei dem er übernachtet hatte. Und wo auch ich schlafen konnte, bevor ich mich am Morgen zu Fuss auf den Weg nach Macapá machte.

Am nächsten Tag nahm mich nach vierzig Kilometern Fussweg ein Lkw mit.

Zwei Wochen blieb ich noch in Macapá. Ich kaufte mir ein Ticket für Ende April nach Cayenne. Der Flug nach Paris war im Mai. Mit Rugatto verblieb ich so, dass er sich in der Zeit, in der ich in Europa war, um mein Fahrrad kümmern sollte. Nun musste ich noch Paiodi finden, der ich einen Brief von Pato bringen musste.

18. April 1990

Schon wieder hatte ich einen erotischen Traum gehabt. Also auch in Macapá. Na gut, es war nicht zu ändern, ich musste herausfinden, wo im unendlichen Universum der Liebe ich mich befand. War ich frei, zu lieben wen ich wollte? Oder hatte Viktoria immer noch Einfluss und ei Grenzen waren eng gezogen?

Noch einmal nahm ich mir mein Tagebuch vor und las die letzten Zeilen durch, die ich geschrieben hatte, bevor Lula die Wahl veloren hatte. Frei werde ich natürlich nicht sein, hatte ich geschrieben, sollte Lula die Wahl verlieren. Aber wenn ich wissen wollte, wo die Grenzen waren, genügte es vielleicht nicht, einen Text nachzulesen. Manche Fragen konnten eben nur von Leben selbst beantwortet werden.

Endlich hatte ich Paiodis Adresse gefunden. Sie war eine nette junge Brasilianierin, alleinstehend mit einem sechsjährigen Sohn, die ganz verträumt an Pato zurückdachte. Ein halbes Jahr hatte er bei ihr in ihrer Wohnung gewohnt.

Es hatte damit angefangen, dass Pato mit anderen Chilenen durch den Kontinent reiste, von Universität zu Universität, und Vorträge über die aktuelle Situation in Chile hielt. Überall, wo sie hinkamen, schlug den Studenten eine Welle der Solidarität entgegen.

Auch in Belém, wo die offenherzige Paiodi nach den Vorträgen und Musikveranstaltungen zu den Chilenen ging und ihnen einen Platz zum Übernachten anbot. Paiodi sah hübsch aus, etwas mollig, mit grossen Brüsten und einer mitreissend fröhlichen und erotischen Ausstrahlung. Schon in der ersten Nacht hätten sie miteinander geschlafen. Ich konnte Pato verstehen, dass er ihr gleich in den folgenden Tagen nach Macapá ans andere Ufer des Amazonas folgte.

Er wäre auch in Macapá geblieben, wenn Paiodi ihn nicht für ihren sehr nervigen Jungen eingespannt hätte. Verzogen nannte ihn Pato, weil Paiodi sich alles von ihm gefallen liess. Nur Pato kam mit dem Jungen zurecht, weil er dem Kind die Grenzen aufzeigte. Irgendwann hatte Pato immer mehr das Gefühl bekommen, von ihr ausgenutzt zu werden, und war nach Cayenne gegangen.

Paiodi wollte an diesem Wochenende auf eine Insel im Amazonas und fragte mich spontan, ob ich mitkommen wollte. Sie hatte sich in einen Argentinier verliebt, Carlos, der als Einsiedler mit seinem Hund auf dieser Insel wohnte und nur hin und wieder nach Macapá kam.

Eine Insel.

Aber es verzögerte sich, weil eine Freundin von ihr auch noch mitkommen wollte. Joana. Also übernachtete ich bei Paiodi in einem Bett mit löchrigem Moskitonetz und würde am Morgen Joana kennenlernen. In Macapá war es unmöglich, ohne Moskitonetz zu schlafen. Obwohl ich seit Kolumbien eine Immunität gegen den Juckreiz hatte, konnte ich die lästigen Blutsauger nicht ausstehen.

Samstag, 21. April 1990

Joana hatte zwei Kinder. Ihr Sohn war sieben, ihre Tochter war zwölf, und sie schleppte an diesem Morgen beide bei Paiodi an. Paiodi ärgerte sich, aber sie sagte nichts. Sie selbst hatte ihren Jungen ja auch bei seinem Vater gelassen, der in der Nachbarschaft wohnte. Und sie hatten es so abgesprochen, dass Joana alleine mitkommen sollte. Na gut, nun konnte sie die Kinder nicht wegschicken, die sich natürlich auf den Ausflug freuten. Und ganz so anstrengend wie Paiodis Sohn waren Joanas Kinder nicht. Besonders ihre Tochter war ein nettes, ruhiges Mädchen.

Also nahmen wir einen Minibus und fuhren zum Strand nach Fazendinha auf die Südhalbkugel. Auf der Strecke überquerten wir den Äquator. In Fazendinha mieteten wir ein kleines Amazonasboot und fuhren auf die Ilha de Santana. Es war gar nicht so einfach, die paar Kilometer über den Fluss zu paddeln, seitlich zur Strömung. Aber ich hatte noch Übung, von Honduras.

Der bärtige Argentinier Carlos begrüsste uns herzlich. Er hatte ein Bedürfnis nach Einsamkeit und lebte deshalb auf der einsamen kleinen Insel, freute sich aber über unseren Besuch und vor allem auf Paiodi. Paiodi war total in ihm verliebt und fragte ihn, ob er nicht zu ihr nach Macapá ziehen wollte. Ein Zimmer in ihrer Wohnung war frei. Zögernd sagte er zu. Er fand sie unheimlich erotisch. Zu erotisch, wie er mir hinterher gestand. Länger als drei Wochen würde er bestimmt nicht bei ihr wohnen können.

Carlos hatte in seinem Leben zu viel Marihuana geraucht. Viele Jahre lang. Alkohol, meinte er, sei zwar die härtere Droge, weil sie abhängig machte, aber Marihuana war nicht weniger gefährlich. Denn wenn man zu lange Zeit und zuviel Marihuana rauchte, so der Dreissigjährige, gingen Gehirnzellen kaputt, die nie mehr ersetzt werden konnten. Er bereute es, sein Gehirn empfindlich geschädigt zu haben. Nie wieder wollte er Marihuana rauchen. Carlos war ein netter, einfacher Mensch, wirkte aber manchmal etwas fahrig. Seit drei Jahren wohnte er hier auf der Insel.

Joana war etwa fünfunddreissig und wirkte auf mich eher unscheinbar. Sie war alleinstehend, ihre beiden Kinder waren von verschiedenen Vätern. Das war nicht zu übersehen, denn der Junge war so hellhäutig wie sie, ihre Tochter dagegen fast genauso schwarz wie eine Afrikanerin. Joana schien sich schon lange nicht mehr um ihre Figur gekümmert zu haben. Vielleicht bereute sie es jetzt, dass sie sehr dick und vor allem auch sehr schwer geworden war.

Der Wind hatte die Palmenwedel vom Dach der kleinen Hütte auf der Ilha de Santana durcheinandergewirbelt, sodass wir sie erst einmal reparieren mussten. Die Hütte stand auf einer kleinen Lichtung, eingerahmt von Büschen und Bäumen, hinter denen der grosse Fluss um das Ufer plätscherte. Ein paar Meter weiter lag ein kleiner Strand, wo das Boot angelandet war und wir uns sonnen und baden konnten. Neben der Hütte befand sich eine kleine Sandfläche, auf die man sich auch legen konnte, und um die herum ein paar Metallstangen standen. Wir spannten eine blaue Plastikplane drüber. Dann gingen wir noch ein wenig schwimmen. Die Insel war so abgeschieden, dass wir nackt baden konnten.

Am Abend musste Joana ihre Kinder in die Hängematten bringen, die in der Hütte aufgespannt wurden. Sie selber hatte eine Art Zelthängematte, hatte ihr ein Bekannter vom Militär organisiert. Ich kam kaum damit zurecht, band sie zwischen zwei Bäume neben der Hütte. Sie wirkte nicht sehr stabil, aber wenn sie vom Militär war...

Mir dauerte das mit den Kindern zu lange. Es war ein wunderschöner Abend und viele Sterne waren zu sehen. Sie hätte schon längst fertig sein können mit den Kindern. So klein waren die auch nicht mehr.

Auf der anderen Seite der Wiese befand sich eine Holzbank und ich ging zu Joana um ihr zu sagen, da würde ich mich hinsetzen, mir die Sterne ankucken, und wenn sie Lust habe, könnte sie ja dazukommen. Und zwar in einem besonders schönen Portugiesisch.

- Eu tou lá, sentado no banco, olhando prás estrelhas. E se tu quer, ahi tu vem.

Für solche Situationen gab es in Brasilien die Möglichkeit, tu statt dem sonst üblichen você zu sagen, tu mit den Verben in der dritten Person, wie beim você.

Es war interessant. Sehr kompliziert war es in Brasilien, Sie zu sagen. In der Schule lernten die Kinder lauter Anrede- und Verbformen, die sie nie im Leben brauchen konnten.

Es war nicht zu glauben, in den Grundschulbüchern wurde den Kindern tatsächlich beigebracht, wie ein König, eine Prinzessin oder eine fürstliche Durchlaucht korrekt anzusprechen waren. Kein Wunder, dass sie die Analphabetenrate nicht unter achtzig Prozent bekamen.

Einige Wolken zogen vor den Sternen vorbei. Schade, es war immer nur ein Teil eines Sternbildes zu sehen. Ich hatte in Honduras meine eigenen Sternbilder erfunden. Schwabenpfeil[100], Kurts Regiestuhl[101], Krokodil, Thales, Pleitegeier, Matthias gefetzte Brille auf dem Fussboden, Rudis Rakete aus den Clever & Smart-Comics[102], die Brücke über die Milchstrasse...

Paiodi und Carlos hatten schon befürchtet, Joana würde mit ihren Kindern noch drei Stunden brauchen, aber nach einer halben Stunde hatte sie die Kinder ins Bett gebracht und kam zu mir auf die Bank.

Endlich war Ruhe.

Und endlich konnte auch mal Joana umschalten und die Schönheit des Planeten ein bisschen auf sich wirken lassen.

Ohne Sterne, das hatte sie nun davon. Denn inzwischen waren Wolken vor die Sterne gezogen. Ein leichter Wind kam auf. Aber es war immer noch romantisch genug. Welche Musik ich mochte, fragte sie mich. Was wollte ich denn da antworten? Tracy Chapman, sagte ich spontan.

Der Zufall wollte es, dass Tracy gerade ihre Lieblingssängerin war. Später sagte sie, es war wohl dieser Moment gewesen... sie legte ihren Kopf auf meinen Schoss.

She's got her ticket (Tracy Chapman, 1988)

She's got her ticket

I think she gonna use it

I think she goin' to fly away

No one should try and stop her

Persuade her with their power

She says that her mind is made

Up

Why not leave why not

Go away

Too much hatred

Corruption and greed

Give your life

And invariably they leave you with

Nothing

Young girl ain't got no chances

No roots to keep her strong

She's shed all pretenses

That someday she'll belong

Some folks call her a runaway

A failure in the race

But she knows where her ticket takes her

She will find her place

In the sun

And she'll fly, fly, fly...

Es war zu romantisch, sich nicht zu verlieben. Ein Mädchen, das in mich verliebt war, hatte eine beeindruckende Wirkung, die nur wenig dadurch geschmälert wurde, dass ich sie nicht besonders hübsch fand. Es war weniger, dass sie dick war, sondern vielmehr, dass ich das Gefühl hatte, sie hatte ihren Körper schon seit Jahren vernachlässigt. Sie war alleinstehend und hatte seit zwei Jahren nicht mehr mit einem Mann geschlafen. Auch auf Frauen stand sie nicht. Paiodi konnte auch mit Frauen schlafen.

Wir wollten uns zusammen für die Nacht herrichten. Ihr Hängemattenzelt hing zwischen zwei kleinen Bäumen am Rand der Wiese. Joana wollte nicht. Nicht weil sie mir nicht so nah sein wollte. Sondern weil sie der Hängematte nicht traute.

- Komm, das ist eine Armee-Hängematte, die ist für kräftige Soldaten gemacht. Ich wiege nicht viel, und dich wird sie doch auch noch aushalten.

Hielt sie nicht. So schwer wie Joana waren die brasilianischen Soldaten wohl nicht. Erst brach ein Ast ab, dann riss mit lautem Knall eine Schlaufe ab und wir landeten unsanft am Boden. Paiodi und Carlos mussten lachen über die Show hinter der Hütte. Na gut, dann mussten wir uns wohl was anderes überlegen.

Mussten wir wirklich, denn der Wind nahm zu und es fing bald an zu regnen. Wir gingen zu dem von der blauen Plastikplane überspannten Sandplatz neben der Hütte und brachten das Hängemattenzelt so an, dass wir uns praktisch wie in einem Zelt auf den Boden legen konnten.

Auch wenn es draussen nicht mehr sehr warm war, dauerte es nicht lange und wir hatten nichts mehr an. Nun war ich langsam selber gespannt, wo meine Grenzen waren. Es war zunächst ein Gefühl tiefgehender Schönheit, nackt neben einer Frau zu liegen. Die mit mir schlafen wollte. So viel hatte ich noch nie zugelassen.

Der Wind heulte immer mehr und rauschte immer lauter durch die Palmen der Insel. Sie wollte tatsächlich mit mir schlafen. Ich fragte sie, wie sie es mit der Verhütung halte, oder ob sie keine Kinder mehr bekommen könnte. Oh, antwortete sie verlegen, daran hatte sie gar nicht gedacht. Schien hier wohl sehr ungewöhnlich zu sein, diese Frage von einem Mann gestellt zu bekommen. Na gut, dann die nächste Frage: was hiess Monatsregel auf Portugiesisch?

Menstruação. Und die anderen Vokabeln bezüglich der weiblichen Sexualität waren auch der wissenschaftlichen Sprache sehr ähnlich, was sehr praktisch war. Sie ihre Regel gerade gehabt und war daher im Moment wohl noch nicht fruchtbar. Mein verantwortungsvolles Wesen machte mich in ihren Augen nur noch erotischer und begehrenswerter.

- Ich weiss trotzdem nicht, ob ich mit dir schlafen kann. Wenn du möchtest, kannst du es gerne versuchen. Ich weiss nicht, wie weit ich gehen kann. Ich kann es nicht erklären, aber irgendwie glaube ich, es geht nicht. Wenn du magst, kannst du es gerne ausprobieren.

Es war schade, dass es jetzt so kompliziert sein musste, aber es ging irgendwie nicht anders.

Es spielte kaum eine Rolle, ob Wasser in das Zelt kam. Je mehr wir uns streichelten, desto angenehmer empfanden wir die kühle Zeltwand, egal ob es Kondenswasser war oder das Zelt undicht. Es regnete immer heftiger.

Ich streichelte sie gerne, auch über ihre Brust, ihre Beine, über ihre Scheide. Und ich küsste sie auch gerne überall am ganzen Körper. Aber irgendwo schien es eine Grenze zu geben, die mit dem Eindringen in ihre Scheide zusammenhing. Ich konnte es wirklich nicht erklären.

Sie hatte so etwas noch nie erlebt, bekannte sie erstaunt, ein Mann, dessen Penis härter nicht sein konnte und der mit der Frau, mit der er zusammen lag, nicht schlafen wollte. Aber sie reagierte verständnisvoll, ein krasser Gegensatz zu den aufdringlichen Männern von vor einem halben Jahr. Sie fühlte sich in einer ungewöhnlichen Rolle.

Ich hatte Joana und Paiodi gefragt, ob sie als alleinstehende Mütter mit Kindern ausser den wirtschaftlichen noch andere, gesellschaftliche Schwierigkeiten hatten. Ich erzählte ihnen, wie schlecht Frauen mit unehelichen Kindern in Mexico behandelt wurden. Nein, hatte Joana gemeint, das sei hier aber anders. Sie würde sich ja wohl verbitten, sich von irgend jemandem Vorschriften machen zu lassen, von wem sie ihre Kinder zu bekommen hatte. Das könnte sie ja wohl selber entscheiden. Genausowenig störte sie es jetzt, wenn sie die Initiative ergreifen musste.

Regenschauer pladderten in den Windböen immer öfter gegen die Plastikplane und das Zelt. Wir waren froh, dass wir das Zelt unter der Plastikplane aufgebaut hatten, denn der Wind fegte immer stärker unter der Plane durch und hätte uns spätestens jetzt den kalten Regen ins Gesicht gepeitscht.

Sie wusste, dass sie vorsichtig und sensibel sein musste. Ich bat sie, sich auf mich zu legen. Wenn ich davon träumte, mit einer Frau zu schlafen, dass würde sie auf mir liegen und ich würde ihr Gewicht auf mir spüren, ihre Brüste, ihre Beine, würde in ihre Augen sehen.

Meinen harten Penis nahm sie zwischen ihre Beine - ich sagte ihr sofort, dass sie die Beine wieder breiter machen müsse, weil meine Erregung sonst zu schnell explodieren würde. Sie machte ihre Beine wieder etwas breiter, sodass mein Penis sanft ihre Scheide berührte. Das konnte ich aushalten.

Blitze. Auch das noch, Gewitter. Noch war der Donner mehrere Kilometer entfernt. Metallstangen mit nasser Plastikplane auf einem Sandplatz mitten auf einer Wiese auf einer Insel im Amazonas... und darunter wir in unserem dünnen olivgrünen Zelt. Dass die Stangen nicht gerade als Blitzableiter wirkten, sagte ich Joana nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit, von einem Blitz getroffen zu werden, war etwa so hoch wie ein Sechser im Lotto.

Ausserdem hatte ich immer mehr das Gefühl, ich hatte doch noch eine Lebensgarantie. Und dass ich nicht mit ihr schlafen sollte. Ich kam mir ganz schön unfair vor - erst einer Frau solche Hoffnungen zu machen, und dann doch nicht mit ihr schlafen zu wollen. Ich musste ihr das erklären.

Diese wissenschaftliche Sprache war zwar nicht sehr romantisch, aber was sollte es. Immerhin war es Portugiesisch, da klangen die Worte etwas schöner.

- Kannst du auch so kommen, ohne Penis in der Vagina?

- Nein, kann ich nicht.

- Aber wenn du - wenn du alleine kommst, wie heisst das?

- Masturbação heisst das. Ich kann keine masturbação.

- Du kannst keine masturbação?

- Nein, kann ich nicht. Wirklich nicht, tut mir leid.

- Chuta, ich weiss auch nicht, wie Frauen das machen. Wenn ich es wüsste, würde ich dir das wirklich gerne beibringen.

- Ich habe es schon oft probiert, aber es geht nicht. Ich kann dann nicht kommen.

- Ich hab null Erfahrung mit Frauen, weisst du, ich muss dir das jetzt sagen - du bist die erste, mit er ich so nah zusammen bin.

- Ich merk das schon. Du hast noch nie mit einer Frau geschlafen, stimmts?

- Ja, das stimmt.

Ein Blitz erhellte sie Szene. Der krachende Donner liess keine drei Sekunden auf sich warten. Das Gewitter kam immer näher. Joana hatte keine Angst vor Gewitter. Ich streichelte ihr über den Rücken, den Hintern, ihre Beine.

Die Nacht war erfüllt von Donnergrollen. Dann konnten die anderen in der Hütte wenigstens nicht hören, was wir sagten.

Indem sie auf mir lag, war sie bald in der Lage, mit wenigen Bewegungen meine starke Erregung zum Orgasmus zu bringen. Sie war nun tatsächlich in der ungewöhnlichen Lage, mich vergewaltigen zu können. Ich sagte ihr das. Nein, beruhigte sie mich, keine Angst, sie könne sich zurückhalten. Sie würde nichts gegen meinen Willen machen. Wie wohltuend sich doch Frauen von Männern unterschieden.

- Ich hoffem, ich verletze nicht deine Gefühle, wenn ich jetzt nicht mir dir schlafen kann.

- Ich will mit dir schlafen, aber wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Ich sehe, dass du dich bemühst. Ich glaube dir, dass vielleicht eine stärkere Macht dahinter stehen könnte. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Aber ich werde dich nicht verletzen.

- Okay, dann probier es aus.

Damit hatte ich sie freigegeben. Sie wollte mit mir schlafen. Sie begann, mich zu küssen. Lange würde sie nicht mehr brauchen, bis sie soweit war.

Der Sturm hatte sich inzwischen zu einem regelrechten Orkan ausgeweitet, der durch die Palmen und Büsche tobte und die Plastikplane bald mit sich reissen würde. Der Regen peitschte Bö für Bö gegen das Zelt und riss es von einer Ecke in die andere. Ohne uns darin wäre es schon längst davongeflogen. Die Blitze kamen bald im Sekundenabstand und der Donner krachte immer lauter durch die gespenstisch erhellte Nacht.

Ich lag unter Joana und wenn ich in diesem Moment Angst hatte, dann nur vor ihr. Die gespenstische Kulisse und der ohrenbetäubende Lärm von Donner und sturmgepeitschten Palmen und Büschen luden ein, ein Gebet in die aufgebrachten Elemente zu schicken.

- Gott, ich bin nach wie vor in deiner Hand. Wenn du es nicht willst, dann lass es nicht zu. Dein Wille geschehe.

Joana hatte sich bis jetzt kaum um das Wetter gekümmert. Zwischen den besonders nahen Blitzen und den Donnerschlägen waren bis jetzt immer einige Minuten vergangen. Während sie mit geschlossenen Augen meinen Hals und meine Schulter geküsst hatte, war ihr nicht aufgefallen, dass sich die Abstände zwischen den Blitzen in den letzten Minuten bedrohlich verkürzt hatten.

Doch plötzlich setzte ein ohrenbetäubender Lärm des auf die Plane prasselnden Regens ein und sie wurde unsicher.

- Du kannst ruhig weitermachen.

Sie zögerte. Der Regen war ihr nicht geheuer. Es vergingen einige Minuten. Als der Platzregenschauer wieder nachliess, begann sie, ihr eigenes Feuerwerk vorzubereiten. Ihr Körper verspannte sich, sie stemmte sich auf einen Arm und nahm den zweiten dazu, meinen Penis zu suchen. Transar hiess die ein wenig unromatische Vokabel für miteinander schlafen auf Portugiesisch, und genau das wollte sie jetzt.

In diesem Moment krachte es so laut, wie es vorher noch nie gekracht hatte. Es war, als würden Häuser zusammenstürzen. Augenblicklich folgten weitere Blitze, die wenige Millisekunden später von immer noch lauteren Donnerschlägen begleitet wurden.

Sie stand nicht kurz vor dem Orgasmus, sondern würde noch etwa eine Minute brauchen. Aber es war völlig klar, sie brauchte den Penis in ihrer Scheide. Anders ging es nicht.

Der krachende Donner der Schlag auf Schlag folgenden Blitze setzte bereits ein, ehe das Blitzlicht erloschen war. Es schüttete wie unter einem Wasserfall. Unser Zelt stand längst unter Wasser. Der Lärm der aufs Zeltdach einstürzenden Wassermassen war ohrenbetäubend. Ihre Hand fand meinen Penis.

- Nein, hör auf, es geht nicht, wir müssen aufhören.

Wenn sie noch eine Frage stellte, ging sie im Krachen des nächsten Donners unter.

Der Höllenlärm des Unwetters ging nur langsam zurück. Auch in der letzten Minute hatte sich Joana noch zurückhalten und ihre Erregung langsam wieder herunterfahren können.

Wenn es in den Tropen richtig regnete, dann konnte das nicht mit einem billigen Platzregen in Europa verglichen werden. Ganze Wasserwände fielen buchstäblich vom Himmel. Wenn es so weiterschüttete, mussten wir aufpassen, dass wir nicht davonschwammen. Sie wurde vorsichtig.

- Ich habe so etwas noch nie erlebt. Da muss jemand sein, den du sehr stark liebst.

- Ich glaub ich weiss, wen du meinst. Obwohl ich es nicht verstehe.

Auch wenn sich das Gewitter zu unserer Erleichterung wieder langsam in Richtung des Atlantischen Ozeans verzog - die Wassermassen des Regens liessen nicht nach und ich begriff spätestens hier, warum die Häuser und Hütten in den Tropen auf Holzpfählen gebaut wurden. Auch Carlos' Hütte. Der Sandplatz war eine einzige riesige Pfütze, aus der wir raus mussten. Aber noch waren wir beide zu erregt.

Der Sturm liess etwas nach, das Gewitter zog weiter in Richtung der Flussmündung. Ich legte mich auf Joana, küsste sie und streichelte ihr Gesicht. Ich war ihr sehr dankbar, dass sie so sensibel gewesen war. Unter meinem immer noch harten Penis spürte ich ihren Bauch. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich noch nie mit meinem harten Penis die Wärme des Körpers einer Frau gespürt hatte.

Einer Frau.

Zu spät. Ich hatte keine Chance, einen Orgasmus noch zu verhindern. Ich drückte den Penis gegen ihren Bauch. Ein wenig ärgerte es mich, dass ich kam, ohne es selber zu wollen. Sie merkte davon nichts. Nass waren wir sowieso. Es war ungerecht. Warum konnte ich kommen ohne es zu wollen und sie nicht, obwohl sie es sich gewünscht hätte?

Einige Zeit blieben wir noch aufeinander liegen. Dann mussten wir aus den völlig durchnässten Resten der Zeltkonstruktion herauskriechen und in die Hütte gehen. Als ich mich erhob, bemerkte sie einen weissen Fleck auf ihrem Bauch.

- Ah, tu molhou?

- Sou só um homem...ich bin auch nur ein Mann...

Sie lächelte. Wir öffneten das Zelt und rannten nackt mit unserem Hängemattenzelt durch den strömenden Regen in Carlos' Hütte.

Natürlich waren dort alle wach. Carlos und Paiodi hatten sich schon gewundert, warum wir bei diesem Unwetter noch draussen waren. Es war gut, dass wir das Dach der Hütte am Tag noch ausgebessert hatten. Trotzdem hielt es nicht dicht. An vielen Stellen tropfte es ins Zelt.

Sonntag, 22. April 1990

Wir standen viel zu früh auf. Der Sturm hatte nachgelassen. Sobald es hell war, sahen wir uns die Schäden an, die der nächtliche Orkan angerichtet hatte. Es sei der schlimmste Sturm gewesen, den er in seinen drei Jahren auf dieser Insel erlebt hatte, meinte Carlos. Aber schon bald kam wieder die Sonne heraus.

Er, Paiodi und Joanas Tochter fuhren heute mit einem kleinen Boot nach Fazendinha, wo sie am Strand als fliegende Händler Schmuck an die Badegäste verkauften. Ich nahm eine Machete, ging in den Wald hinter der Wiese und sammelte Palmwedel für die erneute Ausbesserung des Hüttendachs.

Die drei kamen am Nachmittag zurück und ich richtete für Joana und mich wieder das Zelt auf dem Sandplatz neben der Hütte her, der in der Sonne schon wieder getrocknet war. Es war ein schöner Tag auf der Insel.

Ich erzählte Joana und Paiodi die Geschichte mit Viktoria. Natürlich nicht die ganze komplizierte Geschichte. Ein Mädchen in Alemanha, das ich vor zehn Jahren einmal kannte und in das ich vielleicht immer noch verliebt war. Beide sagten, ich solle ihr schreiben.

Heute nacht regnete es nicht. Da wir die letzte Nacht kaum geschlafen hatten, hatten wir reichlich Nachholbedarf.

Montag, 23. April 1990

Joana machte einen Fehler, den sie hinterher bereute. Als ich sie am Morgen fragte, ob wir uns noch einmal streicheln wollten, sagte sie nein. Sie hatte Angst, die anderen würden aufstehen und könnten aus der Hütte kommen. Dann eben nicht noch einmal.

Im Amazonas zu schwimmen machte Spass. Es tat gut, dass das Wasser nicht salzig war. Der Amazonas floss nicht immer in eine Richtung. Die Gezeiten wirkten sich bis hierher aus. Manchmal floss er wieder zurück ins Innenland. Am Nachmittag hielt ein Einbaum an und wir paddelten zurück nach Fazendinha.

Mit Carlos und seinem kleinen Hund. Der Kleine würde uns bald leid tun, denn er hatte seit seiner Geburt immer auf der Insel gewohnt und kam nun zum ersten Mal in die Stadt. Die spannenden neuen Begegnungen mit anderen Hunden hatten einen hohen Preis: zum ersten Mal erfuhr der kleine Einsiedlerhund, was Flöhe waren. Ich fand in den nächsten Tagen ein Geschäft, wo ich ihm ein Hundeflohmittel kaufen konnte.

Bei Rugatto hatte ich diesmal ein Bett in einem kleinen Nebenhaus, das er in der Stadt hatte. Ich konnte kommen und gehen, wann ich wollte, musste nur wegen Essen Bescheid sagen. Ich meldete mich bei Rugatto kurz zurück und fuhr wieder zu Paiodi.

Joanas Eltern hatten einen Hotelbetrieb. Sie blieb bis spät nachts noch in der Rezeption. Wir begrüssten uns heimlich, hofften, dass keine Gäste kamen, küssten und streichelten uns. Joana hatte sich wirklich verliebt. Ich war zwar nicht in Joana verliebt, aber ich hatte nie das Gefühl gekannt, wie es war, ein Mädchen zu begrüssen, mit der Hand sanft unter ihre Unterhose zu gehen und einfach über ihre Scheide zu streichen. Dass so etwas überhaupt möglich war. Sie lächelte.

Aber mein Weg war vorherbestimmt. Denn ich hatte ein Flugticket und würde in drei Tagen nach Cayenne fliegen. Joana weinte. Ich versuchte, sie zu trösten.

Paiodi schrieb mir zum Abschied ein Gedicht ins Tagebuch. Sie musste es in diesem Moment selbst gedichtet haben.

wenn ihr meine Reisetagebücher anschaut

könnt ihr sehen

dass die Türen und Fenster der Landschaft

etwas von euch haben

es gibt nichts, das aufgegeben wurde

in einer Vergangenheit, die sich entwickelte

mit jedem nur möglichen Gefühl

immer und immer wieder

ihr seht zu dass ihr nicht sterbt

ich bewachte nur

das Innere

wenn ihr meine Reisetagebücher anschaut

könnt ihr sehen

Leute, die mich auf der Durchreise gesehen haben

und ihr könntet auch "euch" sehen

wenn ich zufällig an einem dieser Tage

dir irgendwo begegnen werde

kann ich schon sagen, dass ich "dich" kenne

wir sind von derselben Sorte

wir sind einfach nur Leute

27. April 1990

Rugatto, seine Familie und Paiodi begleiteten mich zum Flughafen von Macapá und verabschiedeten sich von mir Dann entdeckten wir Joana, die etwas abseits stand. Die anderen zogen sich zurück und Joana hatte mich für die letzten Minuten allein.

Noch Jahre später würde sie mir sehr lange Briefe schreiben. Und auf ihre Figur würde sie achten.

Viktoria. Sollte ich ihr schreiben? Nein, entschied ich mich. Auch wenn Lina, Jochen, Paiodi und Joana das vorgeschlagen hatten - ich wollte mir nichts vormachen. Lula sollte die Wahl nicht umsonst verloren haben.

Die nächste Wahl würde Lula gewinnen, hatte Joana gemeint.

Das Flugzeug landete in Cayenne.

In Cayenne ging ich wieder in den Latino-squatt in der Rue Lallouette und wurde freudig von Pato begrüsst, der sich über die Neuigkeiten von Paiodi freute. Auch Rickie, Marcelo und Oscar waren alle noch da. Marie war immer noch bei Bruno und wollte noch ein paar Wochen im vietnamesichen Restaurant arbeiten.

Als ich zwei Tage später zum chantier ging, ärgerte ich mich. Gilbert war schon wieder weg. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn unglücklich verpasst hatte. Von Pierre erfuhr ich, dass Gilbert um halb sechs Carlos einen Scheck über neunzehntausend Francs gegeben hatte. Carlos wiederum erklärte, er werde uns in acht Tagen, also am 10. Mai auszahlen. Mein Flug nach Paris ging am 11. Mai. Ich ärgerte mich, dass ich Gilbert nicht direkt gefragt hatte, mir mein Geld persönlich auszuzahlen. Er hätte es gemacht.

Ich hing also noch eine weitere Woche im squatt rum, schrieb Briefe oder ging zum Strand.

Es war witzig am Strand, an dem meist französische Touristen badeten. Er war nicht überfüllt und wir hatten meist eine Ecke für uns alleine. Ich hatte keine Badehose, aber an Europas Stränden konnte man seit den frühen achtziger Jahren auch nackt baden. Also nahm ich mir vor, hier durchzusetzen, dass wir hier in Europa waren. Die Franzosen kannten das schon und niemand hatte etwas dagegen. Pato und die anderen Chilenen wunderten sich über den vermeintlichen Gegensatz. Einerseits war Europa so fortschrittlich, und dann legten sie sich einfach nackt in die Sonne.

Sehr befremdet reagierten sie auch, als ich ihnen erzählte, dass in Europa Homosexualität nicht verboten war. Sie wussten gar nicht, dass es auch homosexuelle Frauen gab und waren erstaunt zu hören, dass deren Anteil in Europa genauso hoch war wie in Chile, wo sie ihre Neigung eben nur geheimhalten mussten. Dass Europas Fortschritt mit Toleranz und Minderheitsrechten zu tun hatte, hätten sie sich so nicht vorgestellt.

Auf dem Weg nach Hause kamen wir an einer Joghurtfabrik vorbei. Die Tore waren sonntags geschlossen, davor hatten sie kistenweise Joghurt und Kefir gestellt. Sie waren sogar noch kühl, mussten erst kürzlich hingestellt worden sein. Ich sah mir die Packungen genauer an und bemerkte, dass das Verfallsdatum gerade abgelaufen war. Die Chilenen wussten gar nicht, was ein Verfallsdatum war. Ich reagierte blitzschnell. Die Milchprodukte waren also noch gut, durften aber nicht mehr verkauft werden. Es war eine der lustigsten Szenen in der ganzen Cayenne-Zeit.

- Hey, Leute, das ist ein Fest!! Leute, schlagt zu, hier könnt ihr euch soviel reinziehen bis ihr umfallt! Jetzt können wir uns endlich mal nach Herzenslust richtig gesund ernähren!

In den letzten Tagen vor der Abreise verabschiedete ich mich von allen, die ich hier in Cayenne kennengelernt hatte. Von Omar, der immer noch in Montjoly wohnte, von Bruno und Marie. Pato rief noch einmal Julia in Mannheim an, die erst nach Spanien und dann nach Recife fliegen wollte, wo sie sich dann mit Pato treffen würde.

Donnerstag, 10. Mai 1990

Noch einmal ging ich mit Willy, dem Chilenen aus dem Nachbarzimmer im squatt, zur Milchwarenfabrik, wo wir wieder Joghurt organisierten. Wir brachten Pato etwas mit, der sich in den letzten Tagen nicht gut gefühlt hatte.

Pato sang seit ein paar Tagen das Lied Guajira guantanamera vor sich hin.

- Was heisst eigentlich guajira guantanamera?

- Una chica que viene de la cuidad de Guantánamo, Cuba. Ein Mädchen, das aus der Stadt Guantánamo, Cuba kommt.

Pato war unschlagbar. Vollkommen korrekt auf Hochspanisch übersetzt. Er schrieb mir nich ein paar nette Zeilen in mein Tagebuch, das bald etwas von einem Poesie-Album hatte. In einem süssen Mix aus Englisch, Spanisch und Portugiesisch.

"Caminante no hay camino, se hace camino al andar"

Wanderer es gibt keinen Weg, du machst deinen Weg indem du ihn gehst. Und auch der Spruch, den er in den letzten Wochen am häufigsten brachte, durfte nicht fehlen:

Yo estoy cansado de vivir con güevones. Ich habs satt, mit Deppen zusammen zu wohnen. Den konnte er sogar auf Französisch übersetzen. Je suis fatigué d'habiter avec les cons.

Viel zu lange war er schon hier in Cayenne. Aber morgen wollte er nach Macapá fliegen. Einen anderen Spruch hatte er an die Zimmerwand im squatt geschrieben.

Mein einziges Vaterland: ich selber.

Meine einzige Religion: ich selber.

Mein einziger Traum: einmal meinen Egozentrismus überwinden.

Als ich schliesslich zum chantier aufbrach, war Pato nicht mehr im squatt, nur noch Rickie. Im chantier wollte ich am Nachmittag meinen Lohn von Carlos abholen und von dort gleich weiter zum Flughafen. Der Flug nach Paris ging nachts um vier.

Rickie hatte in der ganzen Zeit nur zwei Tage gearbeitet, und das war selbst unter Patos Durchschnitt, der wahrhaftig nicht der Fleissigste war. Am Ende fand Pato in der Crique einen, der ihm die alte Hängematte abkaufte - und es tat dem langhaarigen Chilenen nicht leid, dass Rickie danach genau wie ich auf dem Fussboden schlafen musste.

Rickie war trotzdem ein netter Junge. Ein wenig naiv vielleicht. Er hatte meinen Zucker geklaut. Okay, was sollte es, war ja egal, das hatte Pato ja auch gemacht. Immer dieser Zucker, ein komischer Stoff war das.

Rickie nannte Pato Shiva. Pato hatte lauter verschiedene Namen. Eigentlich hiess er Luis. In Kalifornien hatten sie ihn Duck genannt, Ente, was auf Spanisch pato hiess. Die Chilenen nannten ihn Pantera, Panter. Das klang ihm fast zu martialisch.

- Warum nennst du ihn Shiva?

- 'Cause he's looking like some fuckin' Hindu god. Sieh ihn dir doch an mit seinen langen Haaren.

Rickie summte immer dasselbe Lied vor sich hin. Da es oft tagelang regnete, passte es ganz gut in die Zeit. Ich summte es vor mich hin, als ich zum letzten Mal zum Krankenhaus-chantier an der Route de la Madeleine entlang ging.

Blame it on the rain that was fallin', fallin'

Blame it on the stars that did shine at night

Whatever you do don't put the blame on you

Blame it on the rain yeah yeah

You can blame it on the rain

Cos the rain don't mind

And the rain don't care

You got to blame it on something

Whatever you do don't put the blame on you

Blame it on the rain yeah, yeah

You can blame it on the rain...[103]

Es regnete. Ich traf Carlos auf dem Weg zum chantier. Carlos war nicht auf der Grossbaustelle - das war ein schlechtes Zeichen. Er käme nachher. Und er habe kein Geld, sagte er noch.

Jetzt reichte es mir. Wie gut, dass die Inspection de Travail bereits den Fall notiert hatte. Der Paraná hatte nicht mehr als ein Schulterzucken übrig. Ich drohte Carlos, ich würde zur Bauleitung und zum Chef vom chantier persönlich gehen. Noch einmal sagte ich, ich sei Deutscher und damit nicht illegal hier.

Alle Brasilianer, überhaupt alle Ausländer begrüssten es, dass ich mir das nicht gefallen liess. David sass im Knast, weil er zwei Spanier betrogen hatte. Natürlich war ich als Europäer privilegiert und konnte mich auf ein französisches Arbeitsrecht berufen, von dem alle anderen Arbeiter auf diesem chantier nur träumen konnten. Aber wenn ich es nicht machen würde? Alle - die Haïtianer, die Brasilianer, die Surinamies, Praim aus Guyana - stimmten mir zu, dass die artesanos in die Schranken verwiesen werden mussten, wo es nur ging. Alle freuten sich, dass wenigstens einer von ihnen solche Rechte hatte, und sich dafür auch einsetzte. Das Problem war nur, dass ich keine Ahnung hatte, welche Stelle jetzt informiert werden musste.

Wer war für solche Fälle wirklich zuständig?

Bauleitung, Bauverwaltung, die Chefs der Baufirma Nord-France - wie ein kopfloses Huhn lief ich einfach überall herum und hoffte, ich würde zufällig irgendjemanden treffen, der zuständig war. Es war auch ein Wettrennen gegen die Zeit, denn kurz nach fünf wurde der chantier geschlossen und die Bauchefs gingen oft schon vorher. Schon war es drei Uhr durch. Schade dass Gilbert nicht da war!

Doch ich hatte Glück. Irgendein Bauchef nahm mich mit zu einem noch höheren Bauchef.

Und jetzt wurde es interessant.

Die Ingenieure und Bauchefs hatten ihre Büros in kleinen weissen Containern der Nord-France am Rand des chantiers nahe dem Eingang. Mit Klimaanlagen. Carlos wurde in die Bauleitung zitiert, die den Vorgang sehr ernst nahm.

Ich sollte dazukommen, der Paraná zwängte sich auch dazwischen. War mir recht, er konnte das gerne mitbekommen. Ein formloses Schreiben wurde formuliert, aus dem hervorging, dass mir der artesano zweitausend Francs schuldete. Carlos musste seinen vollständigen Namen nennen und unterschreiben. Der Vertreter des Generalunternehmens Nofrayane, Pfister, behielt ein Original. Es sei wirklich sehr hilfreich, bemerkte Pfister, dass der Fall bereits der Inspection de Travail bekannt war.

Ich hinterliess die Adresse des Museums in Cismar. Pfister versprach, das Geld würde per Postanweisung zugeschickt werden.

Damit war die Sache für Pfister erledigt und wir konnten wieder gehen. Nun ja, wenigstens waren sowohl Carlos als auch der Paraná der Bauleitung negativ aufgefallen. Wenigstens das hatte es gebracht.

Ich glaubte nicht wirklich daran, dass ich aus dieser Sache noch einmal Geld sehen würde.

Ja, hatte Pato erzählt, es gab Leute, die hier um den Lohn geprellt und nach Monaten trotzdem noch ausbezahlt worden waren. Allerdings hatten diese auch ausreichend gute Argumente in Form netter persönlicher Freunde mit sorgsam geschliffenen Messern mitgebracht, wenn sie nachts so einen artesano aufgesucht hatten. Jemandem den Lohn ins Ausland nachzuschicken, war eigentlich undenkbar.

Paranás zufriedenes Gesicht drückte genau das aus. Die zweitausend Francs würden wohl auf seinem Konto landen. Ein wenig würde er noch mit Carlos drüber diskutieren müssen.

Praim verabschiedete mich herzlich. Ich wünschte ihm viel Glück, und dass er hoffentlich einmal wieder mit Gilbert arbeiten könnte. Vielleicht in Guadeloupe.

Am Ende des Tages ging ich noch zu Oscar, dem treuen Argentinier aus dem squatt. Er sollte allen erzählen, dass ich nicht ausbezahlt wurde. Es sollte sich herumsprechen, was sich Carlos und Paraná wieder geleistet hatten.

Pierre hatte auch Feierabend und fuhr mich zum Flughafen Rochambeau. Ich hatte am Morgen noch etwas Reisefieber gehabt, aber das war jetzt verflogen. Nach dem ganzen Ärger auf dem chantier war ich froh, aus Cayenne wegzukommen. Nein, es war kein schönes Land. Ich war auf dem Flughafen zuhause, und wozu sollte ich da Reisefieber haben. Ich packte meinen Rucksack in der Wartehalle.

Im Regen mussten wir über das halbe Rollfeld zum Flugzeug der staatlichen Fluggesellschaft Minerve laufen. Der Name sagte alles. Mich nervte auch, dass ich keinen Fensterplatz in der engen stickigen Maschine hatte. Und natürlich hatte sie Verspätung, als sie nach Europa abflog. Mit Zwischenlandung in Point-à-Pitre, Guadeloupe.

Das neue Krankenhaus von Cayenne, Centre Hospitalier de Cayenne, wurde 1992 fertiggestellt und sollte zehn Jahre später einmal fünfhundert Betten und über tausend Beschäftigte zählen. Die Hälfte der Patienten würde aus Haïti kommen, ein Fünftel aus Brasilien.

Marcelo blieb noch eine Zeit in Cayenne und schrieb mir noch einen Brief. Pato traf sich ein paar Wochen später mit Julia in Recife und reiste mit ihr nach Chile. Von den anderen habe ich nie wieder etwas gehört.

Es gab eine Sache, die ich an meinem letzten Tag in Cayenne am allerwenigsten erwartet hätte.

Zwei Wochen später erschien eines Morgens ein Postbote mit einem roten Formular in Cismar an der Museumstüre und zahlte in bar gegen eine Unterschrift fünfhundertzweiundsiebzig Mark achtundachtzig aus.

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Zurück aus dem Urwald -

Europa, 1990

Paris. Was würde mich dort erwarten? Zunächst einmal der Flughafen Orly, von wo ich in die Stadt fuhr, bis Montparnasse. Ich spazierte mit meinem schäbigen Rucksack und noch schäbigeren Schlafsack am Eiffelturm vorbei, ging am Ufer der Seine spazieren, vorbei am Obelisken auf der Place de la Concorde bis zur Notre-Dame-Kirche. In Südamerika war mein Erscheinungsbild auf den Strassen nie besonders aufgefallen - hier in Paris wirkte ich dagegen ziemlich abgerissen. Und es war kalt im alten Europa. In Cayenne war es nachts nie unter dreiundzwanzig Grad gegangen.

Ich hatte gedacht, unter einer Seine-Brücke zu übernachten und mir schon eine ruhige Stelle ausgesucht, als immer wieder Typen vorbeikamen und mich komisch betrachteten. Schade, dass ich nirgends mal meine Ruhe haben konnte. Einer sprach mich freundlich an und erklärte mir, wo ich hier war.

Vorbei waren die romantischen Zeiten der clochards. Dieses Ufer der Seine war heutzutage der zentrale Schwulentreff von Paris, und die hatten es nicht so gerne, beobachtet zu werden. Ich sollte also lieber wieder verschwinden. Na gut.

Ein Wächter eines Parkhauses unter der Notre-Dame-Kirche wollte gerade die Tiefgarage abschliessen und nach Hause gehen. Ich fragte ihn, ob er mich einfach unten einsperren und morgen früh wieder rauslassen könnte. Er war einverstanden, und so verbrachte ich auf ein paar Kartons stilvoll unter der Notre-Dame-Kirche eine sichere Nacht in Paris.

Am nächsten Tag besuchte ich noch Montmartre, nahm dann einen Zug nach Liège, besuchte dort meine Bekannten und trampte eine Woche später zu Norbert nach Pinneberg. Die ersten Deutschen, die mich mitnahmen, fragten mich, ob ich Holländer war. Meine Aussprache. Ich musste mich an die deutsche Sprache erst wieder gewöhnen. Im Autoradio wurde wahrhaftig Deutsch gesprochen. Ein komisches Gefühl.

Lina freute sich. Wir gingen ein wenig im Hamburg spazieren und trafen auf eine andine Folkloregruppe aus Ecuador. Die Musiker von Ñunanchij Ñan - Quichua für Unser Weg - staunten nicht schlecht, als ich sie in ihrer Indianersprache begrüsste. Und auch noch in ecuadorianischem Dialekt. Lina meinte, ihr gefalle die Musik auch und sie habe zuhause schon eine CD von dieser Gruppe.

- Eine was?

- Eine CD.

- Aha, eine CD.

- Du weisst nicht, was eine CD ist?

- Nein, kann man das essen?

Lina erklärte mir in ihrer kleinen Wohnung in Hamburg-Altona, was ein CD-Player war, legte eine CD ein und liess Musik ertönen. In den letzten Jahren waren CD-Player in Europa zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Ich kam wohl tatsächlich direkt aus dem Urwald.

Bei Norbert war es sehr hektisch. Als Hausmann war er den ganzen Tag mit dem kleinen Kind beschäftigt. Marion arbeitete als Lehrerin und schaute nur hin und wieder herein. Es gab gar keine Möglichkeit eines Gesprächs. Ich erfuhr, dass Ilka mit ihrem Freund auch in Pinneberg wohnte. Sie hatte in Neumünster eine Ausbildung als Chemisch-technische Assistentin gemacht. Ein paar Tage später fuhren sie nach Neustadt und nahmen mich mit. Ihr Freund war bei der Bundeswehr. Seit vier Jahren waren sie zusammen. Ich wunderte mich, sie passten irgendwie gar nicht zusammen.

24. Mai 1990

Nach fast drei Jahren kam ich wieder nach Neustadt. Die Begrüssung war nett und herzlich. Mechthild und Gerwin freuten sich und gaben mir jede Menge Post, Irene und Joachim umarmten mich, Swantje Wortmann hatte fast Tränen in den Augen. Swantje wohnte gar nicht mehr in Neustadt und war extra meinetwegen aus Geschendorf bei Bad Segeberg hergekommen. Auch Matthias in Pelzerhaken freute sich, dass ich wieder da war.

Am nächsten Tag trampte ich nach Cismar und lieferte meine tropischen Schnecken ab. Vollrath bot mir an, den Sommer über im Museum zu bleiben und die Kasse zu machen. Andreas war alleine in Kreta gewesen. Jochen wollte mit mir nach Kreta. Er hatte Semesterferien. Wir bereiteten eine gemeinsame Tour vor.

Melanie Franke hatte lange genug Hausfrau gespielt. Sie wollte wieder zurück ins Berufsleben, hatte sie ihrer Freundin erzählt, deren jüngstes Kind auch vier Jahre alt war. Ihre Freundin kannte einen Verleger, der eine Bürohilfe brauchte. Melanie hatte vor fünfzehn Jahren bei Peppmüller eine Buchhandelslehre gemacht und hatte dann im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht die Werbeabteilung geleitet, bevor sie zum ersten Mal schwanger geworden war. Eigentlich hatte sie damals zur Abteilungsleiterin aufgebaut werden sollen. Nein, bekommen Sie ruhig ihr Baby, wir suchen uns eine andere Kraft, hatten sie in der Personalabteilung von V&R zu Melanie gesagt, als sie von der Schwangerschaft erfahren hatten.

Geld hatte die Familie genug. Ihr Mann war inzwischen Oberarzt im Weender Krankenhaus. Aber sie brauchte wieder eine Aufgabe. So fing sie im Thomas Grüter Verlag an. Der Chef des Ein-Mann-Betriebes hatte ein kleines Büro in der Wendenstrasse neben der Albanikirche in der Göttinger Innenstadt. Er war charmant und zuvorkommend.

Drei Tage später kam ihr Mann nach Hause. Heute hatte er ausnahmsweise einen seiner sensiblen Momente. Setz dich mal hin, begann er, ich muss dir etwas sagen. Setz dich hin, ich hole eine Flasche Sekt. Die wirst du brauchen.

Natürlich brach sie in Tränen aus, als er ihr erzählte, dass er schon seit zwei Jahren eine Geliebte hatte. Natürlich hatte sie es schon lange vemutet, besonders, weil der kleine Sohn immer schwerere Verhaltensstörungen zeigte. Aber sie behielt ihre Würde. Nein, sie machte keine Szene. Was hätten die Kinder davon? Fünfzehn Jahre hatte sie sich als Hausfrau und Mutter um ihre Kinder gekümmert. Erst seit drei Tagen arbeitete sie wieder, nach so vielen Jahren Pause. Der Kleine war erst vier. Und er hing mehr an seinem Vater als an ihr. Was sollte nun werden?

Sie erzählte es ihrem neuen Chef. Er hörte ihr zu. Ja, es gelang ihm tatsächlich, sie einigermassen aufzufangen. Auch wenn er eines Tages ziemlich gekränkt reagierte, als sie ihm erzählte, dass sie noch einmal ein Wochenende auf dem Steinhuder Meer mit Albrecht Dömrös verbringen wollte. Er konnte es ihr nicht ausreden, machte aber deutlich, dass es dann auch das letzte Wochenende sein sollte. Melanie verstand gar nicht, warum Thomas unbedingt so eifersüchtig reagieren musste. Was war denn schon dabei? Hatte Thomas ein Recht auf sie? Auch sie wollte einmal abschalten können. Schade, dass Albrecht sie nicht auffangen konnte. Wenn er doch nur etwas sensibler wäre - er wäre ihr Traummann! Aber der Oberarzt war es nicht. Er hatte sich kurz angehört, als sie von der Trennung mit Jens berichtete, und hatte sofort gemeint, er könne ihr da nicht helfen. Nein, das stehe ausserhalb seiner Kräfte. Er war selber verheiratet. Und auch seine Frau war schwierig.

Es war schon eigenartig. Da hatte sie drei Männer gleichzeitig und fühlte sich trotzdem so unglücklich wie nie zuvor. Thomas half ihr zwar, aber leider fand sie ihn nicht erotisch. Und er sie auch nicht. Es gelang ihm zu allem Übel auch noch, dafür die richtigen Worte zu finden. Die Proportionen stimmen nicht, war ihm eingefallen, als er sie das erste Mal nackt auf dem Bett liegend gesehen hatte. Was?! Das hast du dir gefallen lassen? Auf der Stelle hätte ich das Zimmer verlassen, hatte Irene Westerwald empört reagiert, als Melanie ihr davon erzählte. Warum liess sie sich so behandeln? Warum liess sie sich überhaupt auf ihn ein? Nun ja, wenigstens hörte er ihr zu. Und er konnte auch charmant sein, wenn er wollte. Schrieb ihr Gedichte, machte ihr Geschenke.

Mitte Juni brachen wir auf. Wir trampten von Hamburg-Stillhorn los bis Ljubljana und nahmen von dort den Zug nach Griechenland. In Jugoslawien gab es zwei Arten von Tickets. Eine Sorte für Jugoslawen und eine für Ausländer. Die für Ausländer waren viermal so teuer. Doch der Schalter für Ausländerfahrkarten hatte zu. Dannkaufen wir uns eben ein Ticket für Einheimische, schlug Jochen vor, und so kamen wir für wenige Mark tausend Kilometer weiter bis zur griechischen Grenze in Gevgelija. Irgendwo im Süden fiel das dem Kontrolleur auf. Es war wie immer - natürlich sprachen sie dann plötzlich weder Deutsch noch irgendeine andere Sprache, wenn wir ihnen etwas erklären wollten. Doch was sollte er machen? Als er merkte, dass er mit uns nicht weiterkam, liess er es wieder sein.

Passkontrolle vor der griechischen Grenze. Eine Mitreisende Deutsche holte ihren Reisepass aus der Tasche und liess schmunzelnd einen Kommentar über ihr Passfoto fallen. Urplötzlich ging der Beamte mit beiden Händen auf die am Fenster sitzende Frau los und begann, aggressiv auf sie einzuschlagen. Der deutsche Mitreisende am Sitzplatz gegenüber sprang sofort auf, ging dazwischen und schrie den Militär an, was ihm einfalle, und er solle sich benehmen. Der wehrte sich, Jochen und ich schritten auch ein, versuchten die Frau zu schützen und das Missverständnis zu klären.

Es war eine Sache von wenigen Sekunden. Der Militär war alleine und schien es nicht gewohnt zu sein, dass andere Fahrgäste in so einer Situation einschritten. Wir versuchten zu beschwichtigen. Endlich begriff der Jugoslawe, dass die Frau über sich selbst geschmunzelt hatte, und beruhigte sich wieder. Wir zitterten, zeigten es aber nicht, solange der Uniformierte noch nicht die Tür geschlossen hatte.

Dieses Land war ein Pulverfass, das kurz vor der Explosion stand. Der Vorfall war symptomatisch für die gesamte Stimmung. Slowenien wollte sich bereits von Jugoslawien abspalten. Lange konnte es nicht mehr dauern.

Nach einer halben Woche waren wir nach einer abenteuerlichen Tour in Kreta. Wir hatten uns ein Schlauchkanu mitgenommen, mit dem wir auf etliche kleine Inseln, die ein paar Kilometer von der kretischen Küste entfernt lagen, gelangten und sie nach Schnecken untersuchten. Das war nicht ungefährlich.

Als wir in Ostkreta von der kleinen Insel Kimó den einen Kilometer zurück aufs kretische Festland paddeln wollten, setzte aus heiterem Himmel plötzlich ein Sturm ein. Kreta war bekannt dafür, dass jederzeit aus dem Nichts ein Orkan losbrechen konnte. Dieser Sturm hatte etwa Windstärke zehn und kam von Norden, wehte also aufs Meer hinaus. Wir schlugen unsere Paddel mit aller Macht ins Wasser, kamen nur zentimeterweise vorwärts und wurden mit jeder neuen Bö wieder zurückgetrieben.

Aber in der Summe kamen wir voran. Jochen wollte irgendwann aufgeben und sich zur Insel zurücktreiben lassen, wo wir wieder hätten anlanden können. Aber ich wusste, dass wir dort dann tagelang hätten warten können und trieb ihn mit Durchhalteparolen weiter an. Mit unglaublichem Kraftaufwand erreichten wir nach ein paar hundert Metern den Windschatten der ersten Felsen auf Kreta.

Wir kamen auch dazu, uns über unsere Gefühle auszutauschen. Und unsere Gedanken über das Leben. Dabei stellten wir fest, dass wir beide einen sehr ähnlichen Ansatz hatten und das Leben auch ein wenig als knifflig betrachteten. War es wirklich so, dass wir mehrmals lebten und immer wieder neu geboren wurden? Und zwischen den Stationen auf der Erde eine Zeitlang an einem Ort zubrachten, der schwer zu umschreiben war? Wir einigten uns auf den Begriff Wabber. Der Wabber.

Auf der Rückfahrt nahmen wir den Zug bis Salzburg und trampten von dort an über die Autobahnraststätten nach Norden. Die deutschen Bahnpreise waren für uns unbezahlbar. Aber per Anhalter fahren ging sehr gut in Deutschland. Von der Grenze in Walserberg bis Cismar brauchten wir nur einen Tag.

Jens Franke hatte Melanie seine Geliebte vorgestellt. Die junge Medizinstudentin, die sich den Oberarzt geangelt hatte, konnte sich in die Mutter seiner drei Kinder nur schwer hineinversetzen. Aber sie verstand sich ganz gut mit ihr. Sie erzählte ihr, wie Jens und sie sich kennengelernt hatten. Er hatte sich nie getraut, Melanie solche Geschichten zu erzählen.

Er fuhr noch einmal mit Melanie und den Kindern in die Ferien. Wegen der Kinder. Aber er musste ständig an seine Geliebte denken. Auch Melanie empfand den Urlaub als schlimm. Nein, versprach er ihr, er werde solange in Göttingen bleiben, solange die Kinder ihn noch brauchten. Besonders der Kleine. So verantwortungslos wie andere Väter wollte er nicht sein.

Jochen und ich blieben noch bis in den September in Cismar. Für Vollrath wurde es ein erfolgreiches Jahr im Museum - Jochen und ich arbeiteten einen kleinen Museumsführer aus, der bald gedruckt werden konnte, schrieben Presseartikel und steigerten die Besucherzahlen. Aus den Aufsammlungen in Kreta entstanden wissenschaftliche Artikel für Vollraths neue Fachzeitschrift, an denen zum ersten Mal auch ich mitschrieb. Ich könnte Biologie studieren, meinten Vollrath und seine Eltern.

Vollrath hatte inzwischen eine kleine Tochter, die gerade Sprechen lernte. Ich war immer noch viel eher in der spanischen als in der deutschen Sprache zuhause und sprach mit der Kleinen einfach Spanisch. Sie begriff ziemlich schnell, dass ich andere Wörter nahm als die anderen und lernte fleissig die romanische Sprache.

Als Swantje im August wieder einmal für zwei Tage nach Neustadt kam, besuchte ich sie. Ich mochte das grosse Mädchen mit den blonden Locken und der spitzen Nase wirklich sehr gerne. Sie strahlte eine ruhige innere Zufriedenheit aus, die sie von ihrer Mutter zu haben schien. Geschendorf lag vielleicht fünfzig Kilometer entfernt im Kreis Bad Segeberg. Mit dem Rad konnte ich es in ein paar Stunden erreichen.

11. September 1990

Zwei Wochen später fuhr ich zu ihr. Sie machte eine Ausbildung als Fotografin in Bad Segeberg und zeigte mir in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung ihre Schwarzweiss-Fotos, die sie auf einem grossen Tisch in ihrem Zimmer liegen hatte. Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht.

Swantje glaubte auch daran, dass wir wiedergeboren wurden. Manchmal machte sie sich Gedanken über den Tod. Sie war beeindruckt von der Geschichte mit Lina und ihrer Mutter. Und von der Idee, dass Menschen nach dem Tod noch Leute besuchen könnten.

- Wenn du es wirklich willst und es dir vornimmst, scheint es möglich zu sein. Jedenfalls nach diesen Büchern in Chile. Die Menschen sind frei, wenn sie tot sind. Sie können machen, was sie wollen. Die meisten wollen wohl ihre Ruhe haben, bleiben noch ein paar Tage auf der Erde, beobachten vielleicht noch ihre Beerdigung und verschwinden dann irgendwann im Wabber. Aber das kannst du dir wohl selber aussuchen.

- Die Frage ist, ob du dann noch einen Willen hast.

- Scheint wohl so zu sein. Auch Gefühle. Du kriegst das auch mit, wenn Leute irgendwas über dich erzählen. Deshalb soll man in Gegenwart von Toten aufpassen, was man sagt. Ich mein, wenn du tot bist, kannst du keinen Einfluss mehr nehmen. Du kriegst ja keine Kommunikation mehr hin. Aber einen Willen hast du noch. Und Empfindungen. Du kannst auch Leute nochmal besuchen und schauen, wies denen geht, wenn du willst.

- Und wenn du nicht weisst wo die wohnen?

- Brauchst du wohl nicht zu wissen. Das scheint so zu sein, dass du irgendwie die Leute ganz schnell findest, die du suchst. Also- braucht man nicht im Telefonbuch nachschauen, irgendwie geht das automatisch. Man braucht sich nur wünschen, bei der und der Person zu sein und schon ist man da. Die sieht man dann so, wie mit einem Fernrohr oder so, so haben die das beschrieben. Egal ob sie jetzt in Freiburg oder Nürnberg wohnen. Kommst du offenbar mit unendlicher Geschwindigkeit hin.

- Wenn das stimmt. Müsste man mal testen.

- Ich glaube, es würde mich interessieren, wenn ich tot wär. Einmal zum Mars und zurück oder sowas. Oder kucken ob es andere Planeten gibt. In anderen Sonnensystemen. Gibt es irgendwo anders noch intelligentes Leben im All? Im wirklichen Leben scheint das nicht zu gehen, weil wir Information nur mit Lichtgeschwindigkeit transportiert bekommen. Die schnellstmöglichen Raumschiffe würden Generationen brauchen bis zum Sirius. Wenn du unendliche Geschwindigkeit hast, hast du viel mehr Möglichkeiten. Du beamst dich einfach hin und schaust nach, wie die grünen Männchen aussehen. Oder die Weibchen. Ich glaube es würde mich interessieren. Und im nächsten Leben auf der Erde könnte jemand mit mir ne hypnotische Rückführung machen und ich könnte alles erzählen. Müsste mir vielleicht noch die Koordinaten merken.

- Und keiner würde es glauben.

- Genau. Das würde der Menschheit wieder mal ähnlich sehen. Wird vielleicht noch paar Jahrhunderte dauern bis sowas als Forschungsmethode akzeptiert wird. Könnte ich mir gut vorstellen.

- Weisst du was? Ich würde mir wünschen, wenn du mal stirbst, dass du mich besuchst. Das würd ich mir wünschen.

- Echt? Soll ich dich mal besuchen, wenn ich gestorben bin? Würdest du dir das wünschen?

- Ja. Unheimlich gerne.

- Und hättest du dann keine Angst?

- Nein, hätte ich nicht. Ich würde mich freuen. Doch, ich würd mich wirklich freuen.

- Wenn du dir das wünschst, mach ich das auch. Und würdest du mich auch besuchen?

- Ja, würde ich. Ja, ich würde dich auch besuchen.

Irgendwann wollte sie ins Bett, genauer, auf ihre Matratze, und bereitete mir daneben eine Luftmatratze für meinen Schlafsack vor. Dann blies sie die Kerzen aus.

Swantje schlief bald ein. Sie lag keinen Meter neben mir. Eine Strassenbeleuchtung schien ins Zimmer. Ich konnte nicht einschlafen. Swantje lag viel zu nah neben mir.

Ich hatte ihr von Viktoria erzählt. Sie kannte Lina und Jochen flüchtig, die mir geraten hatten, Viktoria einen Brief zu schreiben. Swantje hatte gar keinen Rat gewusst. Sie war nachdenklich geworden. Swantje mochte mich gerne, hatte meine Reise bewundert und sich über meine Briefe gefreut. Tränen hatte sie in den Augen gehabt, als sie erfuhr, dass ein Brief an sie nie angekommen war. Abgeschickt 1988 in Punta Gorda, Belize und nie angekommen.

Swantje, das Bild müsstest du sehen. Ich sitze an der Karibik, vor mir noch paar Palmen, und hinter dem Meer die Berge von Zentralamerika.

Seit der verlorenen Wahl in Brasilien hatte ich keine Hoffnung mehr, was Viktoria anging. Aber was war es gewesen, das so stark gewesen war auf der Ilha de Santana?

12. September 1990

Als sie aufwachte, war es noch früh. Sie war erstaunt, dass ich wach lag.

- Ja, tut mir leid, ich habe nicht geschlafen.

- Die ganze Nacht nicht?

- Nein, es ging nicht.

- Oh.

Wir sahen uns an.

Swantje sah, dass es mir nicht gut ging. Sie überlegte, wie sie mir am besten helfen konnte - und hatte eine Idee. Sie wollte, dass ich mich auf den Rücken legte. Dann legte sie sich auf mich.

Ich war überrascht, dass sie so weit ging. Sie hatte einen dünnen, hellen Schlafanzug an. Sie war nicht so schwer wie Joana, ihr Gewicht auf mir tat gut.

Ich legte meine Hände auf ihren Rücken. Ich war unsicher, was sie jetzt wollte. Sie schien auch noch unsicher zu sein. Vorsichtig bewegte ich meine Hände und streichelte ihren Rücken.

- Nein, lass das sein, das geht nicht. Du musst ganz ruhig bleiben. Die Hände müssen da wieder weg.

Ich legte die Hände daneben und sah sie fragend an. Wie schön ihr Gesicht war. Ihre blauen Augen. Ich konnte ihr nicht richtig in die Augen sehen. Sie waren blau und schön, aber ich konnte Leuten generell nicht in die Augen sehen. Auch Hunden nicht. Hunde fingen an zu bellen, wenn ich es versuchte.

Dann machte sie die Augen zu, senkte ihren Kopf und suchte meine Lippen. Ich war sehr überrascht. Sie fand sie, küsste mich leicht, senkte ihren Kopf noch weiter und erhöhte den Druck. Sie nahm die Zunge nach vorne und schob sanft, aber bestimmt meinen Mund auf. Sie wollte mich tatsächlich küssen. Ich liess es zu. Immer tiefer ging sie mit ihrer Zunge in meinen Mund. Ihre Augen behielt sie zu. Es dauerte lange, bis ich meine auch schliessen konnte. Lange Zeit behielt ich sie noch auf, vielleicht aus Angst, ich könnte irgendwo herunterfallen.

Sie küsste mich sehr lange. Swantje überschritt ohne es zu ahnen bei mir eine Grenze, die sie gerne überschreiten durfte, denn so wie sie hatte mich noch nie eine Frau geküsst. So schön konnte das Leben sein. Vielleicht wollte sie mir etwas davon zeigen, was mich draussen in dieser Welt erwartete. Wenn sie das wollte, dann ist es ihr gelungen.

- Du siehst nicht gut aus. Entschuldige, wenn ich dir sowas so direkt sage.

- Du hast mich lange Jahre nicht gesehen und ich bin dir sehr dankbar, dass du mir sowas sagst.

- Du musst das Problem lösen, das du hast. Da ist etwas, das musst du lösen. Du musst nach Mainz. Versprich mir, dass du nach Mainz fährst.

Swantje musste zur Arbeit.

Sie hatte heute nur halbtags und kam mittags wieder zurück. Ich hatte meine Sachen schon zusammengepackt und wollte los.

- Warum hast du dich heute morgen so für mich eingesetzt?

- Ich hatte irgendwie Mitleid mit dir, wollte versuchen dir irgendwie zu helfen.

- Du hast mir sehr geholfen. Ich werde dir noch lange Zeit dankbar sein. Wirklich.

- Wirst du nach Mainz fahren?

- Ja.

Mehrere Leute hatten mich schon gefragt, ob ich mit Viktoria Kontakt aufnehmen würde. Ich war immer unsicher gewesen. So wie Swantje es mir gesagt hatte, blieb kein Platz mehr für irgendeine Unsicherheit.

Mainz. Sylvia Schmied aus der Friedensgruppe Neustadt machte in Mainz eine Ausbildung zur Krankenschwester.

Auf dem Uni-Campus-Gelände war vor einiger Zeit ein Haus instandbesetzt worden und Sylvia hatte dort ein paar nette Studenten kennengelernt. Einen Physiker fand sie besonders nett. Sie unterhielten sich lange, bis er sie beiläufig, aber interessiert fragte, wo sie herkam. Sie antwortete genau so, wie ich in ihrem Fall auch geantwortet hätte.

- Aus Schleswig-Holstein.

- Aha, und woher da?

- Das kennst du bestimmt nicht, das ist son ganz kleines Kaff.

- An der Nordsee oder an der Ostsee?

- An der Ostsee. Kennst du dich da aus?

- Oh, ja, an der Ostsee bin ich sogar selber schon einmal gewesen. Du kommst nicht zufällig aus Neustadt?

- Ja! Woher weisst du das denn?! Echt, du kennst Neustadt?! Das ist ja cool! Was hast du denn da gemacht?

- Da hab ich mal einen Freund besucht, mit dem ich hier in die Schule gegangen bin. Ist aber schon länger her. Kennst du bestimmt nicht.

- Wie heisst er denn?

- Wilfried Schultheiss.

- Schultheiss... nee... kenn ich nicht.

- Der hat da ne Zeitlang gewohnt, ist aber vor paar Jahren nach Südamerika gegangen.

- Südamerika? Ich kenn einen, der heisst Wilfried Wolter, glaub ich, der ist in Südamerika.

- Wart mal, das kann sein, der hatte irgendwie den Namen von seiner Mutter... so n mittelgrosser Blonder-

- Ja, und ziemlich schlank-

- Ja, dann ist der das. Ha, den kennst du auch. Wie klein die Welt doch ist.

Der Physikstudent war Fred Teickert gewesen.

Samstag, 15. September 1990

Die Welt war noch kleiner. Es war mutig von mir, mich in Weiskirchen bei Würzburg mit einem Schild an die Autobahn zu stellen, auf das ich Mainz geschrieben hatte.

Von Hamburg-Stillhorn war ich mit einem Wagen bis nach Rasthof Haidt zwischen Würzburg und Nürnberg gekommen. Das Trampen auf bundesdeutschen Autobahnen wollte gekonnt sein. Manchmal war es günstiger, sich in eine weit entfernte Ecke der Republik fahren zu lassen, von wo man aber viel besser ans Ziel kam. So war ich bei Nürnberg gelandet und konnte hier der A3 durch den Spessart ins Rheinland folgen, was besser ging als von Norden.

Die Nummernschilder der Autos an der Raststätte Weiskirchen zeichneten ein trübes Bild, Mainz bildete eine kleine Minderheit. Aber ich schrieb selbstbewusst Mainz auf den Karton. Alle Autos, die nur bis Frankfurt fuhren, würden mich jetzt nicht mehr mitnehmen.

Ein Student mit Mainzer Nummernschild hielt an.

- Als ich dich mit dem Schild Mainz gesehen hatte, wusste ich sofort, das kann kein Zufall sein.

Er war auch auf das Gutenberg-Gymnasium gegangen, wenn auch auf die Berliner Siedlung, einen Ableger der Schule bei Hechtsheim. Aber manchmal wurden die Lehrer zwischen beiden Filialen der Schule ausgetauscht. Frau Horst muss auf die Weise irgendwann regelrecht zwangsversetzt worden sein, weil sie in unserem Stammhaus einen Schüler in einem ihrer Wutausbrüche wohl ungerecht behandelt hatte.

Auf einmal brachte es wieder Spass. Von Anfang an hatte ich das starke Gefühl, dass hier alles unglaublich geschickt eingefädelt wurde.

Heidesheimer Strasse 30. Der Student hatte mich in Mainz-Gonsenheim gleich direkt bis vor Silkes Haustüre gefahren, weil er selbst zufällig in einem der Häuser am Rand des Gonsenheimer Wäldchens wohnte.

Sylvia war nicht da, aber in ihrer WG meinten sie, ich sollte einfach auf sie warten. Sie hatten auch ein Telefon. Fred Teickert in der Dumontstrasse stand nicht im Telefonbuch.

Ich rief Herrn Tann an, Juttas Vater, von dem ich ein Fahrrad ausleihen konnte. Es sei ein wenig kaputt, aber ich könnte es ja reparieren. Was vorteilhaft wäre, weil es ihm Arbeit sparen würde. Ich müsste es sogar reparieren, sonst könnte ich es nicht fahren. Ich hatte ja nur ein Fahrrad haben wollen. Davon dass es auch fahren sollte, hatte ich ja nichts gesagt. Herr Tann war ganz der Alte. Wie wertvoll, dass es solche Menschen gab. Der Familie ging es gut. Auch Juttas Oma lebte noch. Solchen Menschen wünschte man, dass sie hundert Jahre alt würden.

Ich musste Fred finden. Seine Nummer konnte nur Sylvia wissen. Doch Sylvia kam am Abend nicht mehr und ich legte mich mit meinem Schlafsack einfach in den Flur der WG.

An Göttingen war ich heute vorbeigetrampt. Die Stadt lag direkt an der A7 von Hamburg nach Würzburg.

In einem Haus am Berghang hatte eine Mutter von drei Kindern Grippe. Melanie Franke. Am Abend war sie kurz aufgestanden. Jens kam zu ihr ins Wohnzimmer. Heute offenbarte er ihr, dass er aus dem Haus ziehen und zu seiner Geliebten in ihr kleines Zimmer im Studentenwohnheim in Weende ziehen würde. Auch dieses Wochenende würde er mit ihr verbringen.

An diesem Samstagabend ging Jens Franke aus dem Haus und liess seine Familie endgültig alleine.

Nicht ohne schlechtes Gewissen. Er versuchte lange, es mit Geld wiedergutzumachen. Doch väterliche Fürsorge war nicht mit Geld aufzuwiegen. Der vierjährige Sohn weinte bitterlich. Nein, er würde trotzdem immer für ihn dasein, auch wenn er jetzt in einer anderen Wohnung wohnte, versprach er ihm.

Doch es war eine leere Phrase. Vier Jahre später würde seine Geliebte nach Beendigung ihres Studiums eine Karriere in Oldenburg beginnen und ihn alleine in Göttingen zurücklassen. In seinem Krankenhaus war der durch sein gestörtes Privatleben aufgefallene Oberarzt schon lange nicht mehr tragbar. Er würde sich als Chefarzt in einem ostdeutschen Krankenhaus bewerben, angenommen werden und den achtjährigen Sohn mit seiner Mutter und den beiden Brüdern endgültig alleine in Göttingen zurücklassen.

Und ein halbes Jahr später würde seine Geliebte sich endgültig von ihm trennen. Nie würde er das Gefühl loswerden, sie habe ihn nur als Karrieretrittleiter benutzt.

Sonntag, 16. September 1990

Am Morgen hinterliess ich Sylvia eine Nachricht an der Türe, nahm die berühmte Buslinie 22 und fuhr den ganzen langen Weg in die Südstadt zu Familie Tann. War ich überhaupt schon einmal mit der 22 die Goldgrube in diese Richtung entlanggefahren? Tag für Tag hatten wir diese Busse hier vorbeifahren sehen. Ein ganzes Jahrzehnt war das jetzt her.

Jutta sei nicht da, meinte Frau Tann, die allein im Haus war, mir erst einmal ihr Fahrrad auslieh und mich zum Mittagessen zurückerwartete. Ich schob ihr Rad ein wenig durch den Stadtpark. September. Noch war alles grün. Mainz konnte so schön sein.

Ich schob die Strasse Am Rosengarten entlang, hielt kurz an der Ampel Salvatorstrasse und bog in die kleine steile Seitenstrasse Auf der Steig ein. Oft war ich hier gewesen, in einem der Häuser hatte Michael Schuster gewohnt. Ich schob das Rad vorbei. Am Nachbarhaus hing ein Schaukasten einer Kirchengemeinde, der liebevoll gepflegt wurde. Oft hing in solchen Schaukästen ein Plakat mit einem schönen Bild und einem sinnlichen Spruch. So auch hier.

Nichts ist dunkler als die Nacht, in der du dich verweigerst.

Ich dachte über den Spruch nach, während ich zur Dumontstrasse ging, wo Freds Wohnung lag. Vor fünf Jahren hatte ich ihn das letzte Mal hier besucht. Und nun kam ich an seine Tür und mir fiel unweigerich dieses Lied von Roger Whittaker aus den achtziger Jahren ein. Dann an seiner Tür stand ein fremder Name...

Wenn es dich noch gibt

(Roger Whittaker, 1983)

Hm......

Wenn es dich noch gibt, sag wo ich dich finde,

Ich muß dich wiedersehn, suche dich überall.

Wenn es dich noch gibt, gib mir eine Chance,

Es war doch schön mit uns, aber das war einmal.

Ich ging fort, obwohl ich doch glücklich war bei dir,

Doch mein Traum von Freiheit war stärker.

Ich war dumm, nun komm ich zurück,

Und an der Tür, steht ein fremder Name.

Und darum:

Wenn es dich noch gibt, hüll dich nicht in Schweigen.

Ich lieb dich immer noch, willst du mir nicht verzeihn.

Hm......

Man sagt mir: Für dich wär es besser wenn ich geh,

Jetzt wo die grad die Wunden verheilt sind.

Willst auch du, auch du, daß ich dich nie wiederseh,

Das kann ich nicht glauben.

Und darum:

Wenn es dich noch gibt, laß es so nicht enden.

Ich lieb dich immer noch, willst du mir nicht verzeihn.

Ich lieb dich immer noch, willst du mir nicht verzeihn.

Vielleicht kann das für uns ein neuer Anfang sein.

... steht ein fremder Name. Gemeinheit, der restliche Text. Das Leben war komplizierter und es würde kein romantisches happy end mit Viktoria geben. Das Leben war vor allem schwieriger, wenn schon an Freds Tür ein fremder Name stand. Ohne Sylvia würde ich ihn nicht finden. Wenn es ihn noch gab...

Mittags war Herr Tann zuhause. Jutta kam erst morgen - also konnte ich erstmal Juttas Fahrrad haben. Am Nachmittag fuhr ich in die Stadt. Eine Gruppe Chilenen stand auf dem Domplatz. Es war nett, wieder mit Chilenen zu plaudern... aber irgendwie auch ein wenig enttäuschend. Ich war nicht mehr in Südamerika. Käme ich jemals dorthin zurück?

Am Abend war Sylvia da. Ich war sehr erleichtert. Jetzt konnte es weitergehen. Fred studierte hier Physik und wohnte seit kurzem auf dem Uni-Campus in einem Studentenwohnheim. Und sie hatte auch seine Nummer.

Natürlich fiel mir für Fred wieder ein Gag ein. Mal sehen ob unser Plan gelang.

Sylvia rief ihn an, tat hektisch und er solle sie möglichst schnell zurückrufen, wartete ab, bis er es verstanden hatte und legte wieder auf.

Warten.

Telefon. Oh, zwei Minuten hat er sich Zeit gelassen. Ich nahm ab und hatte vor mir in meinem Tagebuch Patos Worte, die er in Cayenne auf eine Wand im squatt geschrieben hatte.

- Ja, hier ist der Fred Teickert, kann ich mal bitte die Sylvia sprechen?

- Y cuando se apague la luz ¿qué venrdrá después? La nada absoluta y así; viajaremos por el infinito... hasta renacer en otro cuerpo...[104]

- Das war ja ganz schön, aber ich wollte bitte die Sylvia sprechen.

Fred konnte kein Spanisch, aber es hörte sich sehr schön an, auch sehr poetisch. Jemand von Sylvias Mitbewohnern, vermutete er. Aber er wollte dennoch die Sylvia sprechen. Nein, keine weitere Diskussion, er bestand darauf, die Sylvia sprechen zu wollen.

- Du weisst gar nicht, dass du gar nicht die Sylvia sprechen willst...

- Ähh, doch, eigentlich hatte ich vor-

- Das gab da einen Fred Teickert, einen mit c-k-e-r-t...

- Ach nein, das gibts ja nicht-

Jetzt hatte er mich erkannt. Fred war es gewesen, der mich vor fast zehn Jahren als einziger aus unserer Klasse nicht wiedererkannt hatte, als ich ihn das erste Mal wieder besuchte. Ein Jahr nachdem ich die Mainzer Schule verlassen hatte. Und nun war er schon seit langem der Einzige, mit dem ich noch Kontakt hatte.

Sylvia hatte ein ganz kleines Zimmer, das sehr gemütlich eingerichtet war und die ganze Wärme dieser Stadt ausstrahlte. Ich fühlte mich sehr wohl, wenn ich neben ihr lag und schlief. Doch, neben ihr konnte ich gut schlafen.

Irgendjemand musste mein Gedicht gelesen und sorgsam wieder hingelegt haben. Dieses Gedicht in einer völlig fremden Sprache.

Montag, 17. September 1990

Fred hatte am Mittwoch eine Prüfung, aber er war gut und konnte Prioritäten setzen. Wenn er für die Prüfung nichts tat, würde er eben eine Zwei bekommen, so schlimm war das auch nicht.

Da ich ihm meine ganze Geschichte mit Viktoria in einer Art Crashkurs erzählte, erzählte er auch mir von seinen Liebesgeschichten. Es war immer dasselbe. Die, die er gut fand, konnten sich in ihn nicht verlieben und umgekehrt. Natürlich war er überrascht, als ich ihm von Viktoria erzählte. Sie wohnte noch hier, studierte wie er in Mainz, hin und wieder sahen sie sich in der Stadt oder in der Mensa.

Nein, meinte er spontan, es sei gar nicht so unwahrscheinlich, dass ich bei Viktoria eine realistische Chance hätte. Ich sollte es einfach versuchen, und warum nicht durchaus optimistisch. Er würde jedenfalls nicht gleich aufgeben. Sich natürlich nicht anmerken lassen, was dahinter stand, sich mit ihr vielleicht über triviale Themen unterhalten. Fred war manchmal ein wenig naiv. Aber wer konnte es wissen, vielleicht hatte er ja auch recht.

Ganz so reell sah er meine Chancen allerdings auch wieder nicht, räumte er ein. Nachdenklich sah er mich an. Drei Jahre hatte ich auf der Strasse gelebt. Lateinamerika. Bei irgendwelchen Bergindianern in den Anden Schweine gehütet. Immer war ich unterwegs gewesen. Auch in Deutschland war ich wahrhaftig schon genug herumgekommen. Viktoria dagegen hatte immer nur in Mainz gelebt.

- Nicht ganz immer. In ihrer Kindheit muss sie eine Zeitlang irgendwo im Westerwald gelebt haben. Aber ich weiss natürlich nicht, wie lange.

- Ja, das zählt ja nicht richtig. Sie ging ja von Anfang an seit der Fünften in unsere Klasse. Es gibt Leute, die verbringen das ganze Leben vielleicht in einer einzigen Stadt. Du könntest dir das vielleicht gar nicht richtig vorstellen. Sie dagegen würde sich vielleicht gar nicht wohlfühlen, wenn sie woanders hinziehen müsste.

Je länger Fred darüber nachdachte, desto skeptischer wurde er. Ich war ihm dankbar, weil er oft die Fähigkeit hatte, die Welt gnadenlos realistisch zu sehen. Als er sagte, ich könnte mir ein Leben in einer einzigen Stadt gar nicht vorstellen, schätzte er mich jedoch möglicherweise nicht ganz richtig ein. Jahrelang durch die Länder zu ziehen, war mein Weg gewesen, das stimmte. Aber ich war immer der Meinung gewesen, wenn ich mit Viktoria zusammen wäre, hätte ich gar kein Bedürfnis gehabt, Mainz zu verlassen. Vielleicht war Viktoria erst der Motor gewesen, der mich in Bewegung gesetzt hatte.

Die letzten Monate in Brasilien hatte ich als immer anstrengender und ermüdender empfunden. Aber ich war unsicher und konnte nicht beurteilen, ob Fred nicht doch recht hatte.

- Ihr würdet auch gar nicht zueinander passen. Ihr lebt in zwei völlig verschiedenen Welten.

- Das kann ich überhaupt nicht beurteilen. Ich kenn die doch gar nicht, das ist doch zehn Jahre her. Ich weiss doch gar nicht, was die macht. Du weisst das besser.

- Die ist- okay, ich weiss auch nicht genau, was die macht. So gut kenn ich die auch nicht.

- Also: studiert sie Physik?

- Nein-

- Siehst du, dann weisst du schonmal mehr als ich.

- Irgendwelche Geisteswissenschaften, Geschichte oder sowas. Aber ich kenn sie zumindest so weit, dass ich sagen kann, dass ihr überhaupt nicht zueinander passen würdet. Das würde überhaupt nicht harmonieren. Die hat ganz andere Ansichten, völlig andere Interessen-

- Das kann kein Argument sein, dass zwei nicht zueinander passen. Gegensätze können sich ja auch anziehen.

- Ja, schon, aber nicht, wenn sie so extrem sind.

- Inwiefern extrem?

- Sie führt doch ein völlig anderes Leben. Die fühlt sich hier wohl, will vielleicht ihr ganzes Leben nicht mehr weg aus Mainz. Es gibt solche Leute. Die meisten vielleicht sogar. Haben die auch gar kein Bedürfnis nach. Und du - kuck dich doch an, du reist rum, willst die Welt kennenlernen, bist jeden Tag woanders, du würdest dich in Mainz doch viel zu beengt fühlen.

- Du weisst doch gar nicht, warum ich nach Südamerika bin. Und wie ich mich fühlen würde, wenn ich hier in Mainz wohnen würde. Ich weiss gar nicht, ob die Gegenätze so extrem sind. Aber das ist auch völlig egal. Tatsache ist, sie hat in der Richtung ja auch selber nie ein Interesse gezeigt. Und warum sollte sie das jetzt? Aber ich weiss es eben nicht.

- Ich bilde mir jetzt nicht ein, dass ich dir jetzt nach dreizehn Jahren ausrede, in sie verliebt zu sein. Das waren nur mal so ein paar Überlegungen dazu, zu den langfristigen Perspektiven.

Ich sollte sie dennoch in jedem Fall anrufen und mich mit ihr verabreden. Irgendeinen trivialen, unauffälligen Grund sollte ich mir einfallen lassen, sie einfach zu besuchen. Wenn ich mich mit ihr unterhalten würde, liessen sich diese Fragen viel klarer beantworten. Auch das mit den gegensätzlichen Interessen sei zu einem gewissen Grad nur Spekulation. Aber ich müsste aufpassen. Auf keinen Fall sollte sie merken, dass ich in Wirklichkeit ein Problem hatte und in sie verliebt sein könnte.

- Sobalds problematisch wird, wirds gleich ganz gefährlich.

So ein Satz konnte einfach nur von Fred sein.

Nein, ganz unrealistisch sei es trotzdem nicht, wenn ich mich mit ihr verabreden und sie praktisch von neuem kennenlernen würde. Allerdings schätzte er sie nicht so ein, dass sie sich auf den ersten Blick in einen Quasi-Fremden wie mich verlieben würde.

- Es gibt Frauen, die können sich schneller verlieben, bei anderen ist es komplizierter. Bei Viktoria scheint es wohl auch recht kompliziert zu sein, wie ich es einschätze.

Marilena lebte auch noch in Mainz. Immernoch in der Stahlbergstrasse. Fred musste was für seine Prüfung tun und ich fuhr zu Jutta. Unkompliziert begrüsste sie mich. Wir unterhielten uns über das Filmdrehbuch, aus dem nur ansatzweise hervorging, dass ich in dieser Zeit unglücklich verliebt war. Ich las ihr die Stellen vor.

Jutta hatte bis jetzt nie sicher einschätzen können, wer damals wen überredet hatte, aus Mainz abzuhauen. Es war neu für sie, dass nicht ich es gewesen war, der Norbert dazu überredet hatte abzuhauen. Warum er trotz Jutta aus Mainz weggegangen war, hatte ich nie nachvollziehen können. Diese nie geklärten Fragen trübten bis heute ein bisschen unser Verhältnis. Nun ja, 1980 war zehn Jahre her. Norbert und Marion hatten mit ihrem Baby Jutta vor kurzem sogar einmal besucht.

Als es bereits dunkel war, fuhr ich wieder nach Gonsenheim zu Sylvia. Juttas Fahrrad hatte weder Licht noch Schutzblech und der Weg über die Felder in den Vorort am Gonsenheimer Wäldchen war nicht beleuchtet. Erstmal verfuhr ich mich dreimal, weil ich mich nicht richtig auskannte, und dann passierte es. Nachtblind heizte ich mit voller Wucht auf einen Bordstein. Zum Glück kam ich mit einer eingebeulten Felge davon. Aber das Rad würde ich reparieren müssen.

Sylvia wohnte im schönsten Stadtviertel von Gonsenheim. Überall standen hohe Bäume in den Gärten der stilvollen alten Häuser. Als wir uns über Fred unterhielten, fragte sie nach und wollte meine Geschichte auch verstehen. Also nochmal einen ganz kurzen Crashkurs Viktoria, langsam war ich darin bald geübt. Ich erzählte so etwas eigentlich ungerne. Aber hier war ich in Mainz, und wenn es eine Zeit gab, diese Geschichte zu erzählen, dann war sie jetzt.

Ich sollte Viktoria ruhig besuchen, riet mir die Neustädterin, einfach abwarten, was komme. Ich könnte Viktoria auch ruhig erzählen, dass ich in sie verliebt sei.

Das widersprach sich mit dem, was Fred mir geraten hatte. Sylvia kannte Viktoria nicht, im Gegensatz zu Fred, der sie offenbar ganz gut einschätzen konnte. Andererseits war Sylvia wie Viktoria ein Mädchen und hatte einen Blickwinkel, den der Physikstudent vielleicht nur schwer nachvollziehen konnte. Für ihn blieben Frauen oft ein Rätsel.

Dienstag, 18. September 1990

Fred versuchte sein Bestes, Marilena heute zu finden, aber es gelang ihm nicht. Es half nichts, ich musste in der Stahlbergstrasse bei ihren Eltern anrufen. Sie sei in der Sprachlehranlage in der Uni. Also ging ich in die Sprachlehranlage und fand tatsächlich den Raum, der mir beschrieben worden war und in dem Marilena arbeiten würde.

Wenn sie da wäre. Ja, sie sei schon da, erzählten mir ein paar Leute und riefen sie an, sie möge runterkommen. Es könne zehn Minuten dauern. Ich kam mit einer Brasilianierin aus São Paulo ins Gespräch. Na, hier konnte man sich ja bestens unterhalten.

Nach einer halben Ewigkeit kam Marilena und entschuldigte sich für über eine Stunde Verspätung. Hatte etwas länger gedauert. Ein wenig unterhielten wir uns und nebenbei erwähnte sie, dass Viktoria noch in der Langenbeckstrasse wohnte, dort auch telefonisch erreichbar war, aber nicht immer ans Telefon geholt werden würde, weil sie jetzt ein Zimmer unter dem Dach hätte. Hatte wohl zuviele Studi-Bekanntschaften, wie es sich anhörte, und ihre Eltern hatten nicht immer Lust, Telefondienst zu spielen? Ja, meinte sie, die wollten nicht jedesmal raufgehen und sie ans Telefon holen.

Marilena arbeitete nur noch bis Donnerstag und hatte dann Urlaub. Freds Telefonnummer nahm sie sich mit. Warum eigentlich? Auch Fred wunderte sich ein wenig.

Niedlich war die Szene mit Jutta, die beim Friseur gewesen war und der ihre Frisur nicht gefiel. Es war sehr praktisch, dass ich gerade ins Haus kam - also ging sie mit mir zusammen noch einmal zum Fiseursalon und beschwerte sich mit der gebotenen Gründlichkeit. Und wenn Jutta sich beschwerte, dann sollte auch kein Zweifel über die Tatsache aufkommen, dass sie sich beschwerte. Die dachten natürlich, ich sei ihr Freund und würde bei Bedarf mindestens ebenso Terz machen wie das Mädchen. In was für Rollen ich manchmal schlüpfte. Schade, dass ich nicht schmunzeln durfte in dem Moment.

Wieder draussen, hätte ich es vielleicht auch nicht tun sollen. Auch meine gutgemeinten Ratschläge, es käme doch auf die seelische Schönheit an, oder die Haare würden auch wieder nachwachsen, waren auch nicht so richtig hilfreich. Irgendwann musste auch sie lächeln über meine Naivität und frisurentechnische Unkenntnis, und so verstanden wir uns wieder. Wenigstens hatte ich halbwegs akzeptable fahrradtechnische Kenntnisse und besorgte im Fachhandel noch die richtigen Ersatzteile für ihr Rad, bevor wir uns für heute verabschiedeten.

Fred musste für seine Prüfung lernen und gewährte Audienzen in seinem Wohnheim nur noch minutenweise. Auf seinem Flur lernte ich Eddy kennen, der ein ähnliches Problem wie ich hatte. Auch sein Fahrrad war kaputt. Wir verabredeten uns zusammen zu einer Fahrrad-Reparatur-Session. Alleine setzte er sich auch nur sehr ungerne hin, aber zu zweit machte es mehr Spass. Eddy beschrieb mir, wo zwischen den vielen Rädern im Ständer vor dem Wohnheim sein Drahtesel stand. Ich sollte schonmal runtergehen. Ah, und ein Problem gab es noch. Er hatte seinen Schlüssel für das Schloss verloren, ich sollte also schonmal mit der Rohrzange das Schloss abdrehen.

Na gut, ging ich runter, knackte professionell das Schloss und wartete auf Eddy. Der kam dann auch - und musste lachen. Ich hatte das Schloss wirklich perfekt abgedreht. Leider nur das vom falschen Rad. Seines stand direkt daneben.

In den Clever & Smart-Comics tippte einem in so einer Situation jetzt ein mieser Schläger-Typ der Sorte Billy Bonebreaker dezent von hinten auf die Schulter, gefolgt von bunten Sternen, fliegenden Knochen und dem unvermeidlichen Glglgl. Zum Glück nahm es der betroffene Student mit Humor.

Eddy hatte noch nicht die richtigen Ersatzteile, die wir morgen noch besorgen mussten, also liessen wir es für heute sein und gingen in ein Café. Schöner Brunnen, in der Innenstadt. Ich ging sehr selten in Kneipen. Eddy fand es ganz spannend, was ich in Südamerika erlebt hatte und wie ich dort zurechtgekommen war.

Zwei oder drei Studentinnen sassen am Nachbartisch. Eine weitere kam dazu, unterhielt sich kurz mit den anderen, schien nur etwas abklären zu wollen und verliess die Kneipe wieder. Gross, schlank, dunkle Haare. Ich bekam einen Schreck.

Konnte es sein, dass es Viktoria gewesen war? Mein Personengedächtnis war so schlecht. Ich traute mir nicht zu, sie aus ein paar Metern Entfernung sicher wiederzuerkennen. Es gab wenige, die ausahen wie sie, aber manchmal gab es welche. Eddy merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich musste es ihm erklären.

- Dieses Mädchen, das da eben rausging, es kann sein, dass ich sie einmal gekannt hatte. Ich bin mir nicht sicher.

- Was war das für ein Mädchen?

Sollte ich nun auch Eddy die Geschichte von Viktoria erzählen? Nein, ich liess es sein. Ich kannte Eddy gar nicht. Die Aufregung verflog langsam und das Mädchen würde nicht wieder hereinkommen. Er erzählte ein bisschen von sich.

- Ja, und dann muss ich dir noch sagen, dass ich geschieden bin. Das gehört auch dazu.

- Geschieden, von wem?

- Meine Ex-Frau ist Griechin und wohnt in Wiesbaden. Ich hab auch einen Sohn. Ich sag immer, Menschen wie wir sind nicht perfekt. Aber das müssen wir auch gar nicht sein.

- Zahlst du Unterhalt?

- Ja, natürlich, ist ja vorgeschrieben.

- Es gibt so viele Männer, die nach der Scheidung ihre Ex-Frau austricksen. Ich finde das mies. Mein Vater war so einer. Er hat immer nur rumgetrickst und weniger gezahlt als er musste.

- Aber er muss doch gesetzlich dazu verpflichtet gewesen sein.

- Ich sag ja, es gibt viele, die scheren sich da nicht gross drum und tricksen die Gerichte und die Ex-Frauen aus. Vor allem, wenn die Kinder darunter leiden.

Es entstand kurz eine unwohle Situation, als er fragte, wie mein Vater das angestellt habe, dass er einfach weniger zahlen konnte als er musste. Ich wollte ihm nicht verraten, dass die Gerichte in Deutschland gegen geschiedene Männer praktisch nicht vorgingen, wenn sie systematisch zu wenig Unterhalt zahlten. Eine Frau hatte vor Gericht nur dann Chancen, wenn der Typ überhaupt nicht zahlte. Dann konnte das Gehalt des Mannes gepfändet werden. Nicht aber, wenn er Monat für Monat nur die Hälfte zahlte.

- Kümmerst du dich um das Kind?

- Ich versuche es, so gut ich kann. Natürlich ist es umständlich, wenn ich extra nach Wiesbaden muss.

- Aber besser als nach Griechenland.

- Naja, sie ist ja hier in Deutschland aufgewachsen.

- Hast du Griechisch gelernt?

- Ganz wenig, eigentlich kaum was, war mir zu kompliziert. Wir haben immer nur Deutsch gesprochen.

- Griechisch ist eine schöne Sprache. Nicht einfach zu lernen, aber wenn man ein bisschen kann, ist es nett. Wenn du im griechischen Restaurant sitzt und auf einmal mit dem Kellner ein paar nette Sätze auf Griechisch sprichst - du kannst den Leuten richtig eine Freude machen, wenn du als Ausländer ihre seltene Sprache gelernt hast. Die freuen sich immer, wie über ein Geschenk.

- Kannst du perfekt Griechisch?

- Nein, nicht perfekt. Der Trick ist, du darfst es nicht perfekt können. Sonst denken sie, du kommst aus einer griechischen Familie und halten deine Kenntnisse für selbstverständlich. Aber wenn du gebrochen Griechisch sprichst, sehen alle, du hast es als Ausländer gelernt. Und dann hast du alle Sympatien. Wie kam es zur Scheidung? Habt ihr euch einfach nicht mehr verstanden?

- Nein, das ging halt auseinander. Weisst du, ich finde Scheidung nichts Schlechtes. Scheidung gehört dazu. Es ist Teil unseres Lebens, Teil unserer Kultur. Ich denke so: wir sind frei. Alles ist in Bewegung. Es ist eine Illusion zu glauben, man hätte nur eine Liebe im Leben. Ich glaube da nicht dran.

- Ich hatte das bis jetzt immer geglaubt. Aber ich möchte mich auch nicht verweigern, eine andere Sichtweise anzunehmen.

- Ich sage immer: du kannst nichts festhalten. Alles ist in ständiger Veränderung.

Ich war nach einiger Zeit überzeugt, es musste Viktoria gewesen sein, die kurz reingekommen war. Zwei Meter war sie an mir vorbeigegangen. Eddy hatte mir sehr geholfen mit dem, was er an diesem Abend gesagt hatte. Ich glaubte nicht, dass es ein Zufall war, dass er mir an diesem Abend diese Worte gesagt hatte. Hier in dieser Stadt schien in diesen Tagen sowieso kaum etwas zufällig zu geschehen.

Also war Viktoria in Mainz.

Zurück zu Fred und gleich weiter nach Gonsenheim zu Sylvia. Es wurde wirklich langsam Zeit, das Rad zu reparieren. Mein Kechua-Gedicht lag unverändert auf dem Telefontischchen. Ich sollte bei Viktoria anrufen. An dieser Aussage hatte sich nichts mehr verändert, und es würde sich auch nichts mehr verändern. Eddy hätte mir dasselbe geraten. Morgen vormittag wäre es soweit.

Mittwoch, 19. September 1990

Sylvia wusste, dass Fred heute früh seine Prüfung hatte und wollte ihn besuchen. Als ich aufwachte, war sie schon weg. Nicht ohne mir nochmal zu sagen, dass ich Viktoria anrufen sollte. Hier stand das Telefon. Um elf würde ich es tun. Was sollte ich sagen? Ich würde mich mit ihr treffen wollen. Nein, das würde nicht funktionieren. Was würde ich sagen, wenn sie zurückfragen würde, was das sollte? Wie ich darauf käme?

Elf Uhr. Fünf nach elf. Zehn nach elf. Es ging nicht. Ich war einfach zu aufgeregt. Dann stellte ich fest, dass ich ihre Telefonnummer nicht hatte, ich hatte mir die falsche Nummer aufgeschrieben. Ah, sehr gut. Ich konnte also gar nicht anrufen. Ich ging in die Bäckerei, kaufte Brot und fuhr zu Fred, dessen Prüfung jetzt vorüber sein müsste.

Freds letzte Vordiplomsprüfung war bestens gelaufen, er hatte eine Zwei plus bekommen. Sylvia war bei ihm und hatte ihm als Erste gratuliert. Ich kam rein und sie sahen mich fragend an. Es war klar, welche Frage sie hatten. Sie bestand nur aus drei miesen Buchstaben.

- Und?

- Hab mich nicht getraut.

- Was?! Nicht getraut? Wieso nicht?

- Äh, ich hab mich einfach nicht getraut, und ausserdem hab ich die falsche Telefonnummer gehabt- ich konnte also gar nicht-

- Das kann ja wohl nicht wahr sein, du nimmst jetzt hier das Telefonbuch, Chatel, das wirste ja wohl noch finden oder glaubst du da gibts hunderte von?!

Sylvia hielt sich zurück und Fred erzählte mir noch einmal Punkt für Punkt, was ich ihr sagen sollte. Erst sollte ich fragen, ob ich sie sprechen könnte, dass ich ein Schulfreund sei, und sie selber sollte ich dann fragen, ob sie sich mit mir treffen wollte. Und wenn ich eine Kneipe vorschlagen müsste, sollte ich Schöner Brunnen sagen. Das sei ungefähr die Art Cafés, in die Viktoria gehen würde.

- Ja, aber wenn sie fragt, wie ich da drauf komme?

- Völlig unverbindlich, nur einfach um zu plaudern! Denk doch nicht so kompliziert! Sie wird sich freuen, dich mal wiederzusehen, die wird da nicht nachfragen.

Ich bezweifelte, dass das realistisch war und fragte Sylvia. Warum nicht, meinte sie, das würde sie selbst auch nicht auffällig finden. Sylvia war ein wenig unsicher, weil sie das Mädchen nicht kannte. Aber wie Fred war auch sie streng der Meinung, ich müsse sie anrufen und mit ihr sprechen. Und zwar jetzt. Wann denn sonst, wenn nicht jetzt?

Fred wiederholte noch einmal, was er schon einmal gesagt hatte, und worin er sich mit Sylvia uneinig war. Denn Fred war überzegt, ich sollte ihr nicht sagen, dass ich schon so lange in sie verliebt war.

- Auf keinen Fall darf sie auch nur ansatzweise mitbekommen, dass du die ganzen dreizehn Jahre in sie verliebt warst. Das darf sie auf keinen Fall auch nur vermuten! Sie könnte gar nicht damit umgehen. Keine Frau könnte das. Überleg mal, die Belastung, die damit verbunden ist! Du würdest sie damit total schockieren. Dass sie praktisch die Verantwortung für über dreizehn Jahre deines vermurksten Lebens hat.

- Und wenn ich ihr sage, dass es nicht ihre Schuld ist? Ich mein, sie kann da ja wirklich nichts für.

- Nein, das darfst du auf keinen Fall auch nur andeuten! Sie würde sich Vorwürfe machen. Sie würde das auf sich beziehen.

Sylvia widersprach und meinte, dass sie es nicht so streng sehen würde. Aber sie war sich unsicher. Fred wirkte so überzeugend. Ich konnte es auch nicht so gut beurteilen, fand Freds Argumente aber nachvollziehbar. Vor allem kannte er Viktoria.

Die Argumente waren ausgetauscht. Ich traute mich trotzdem nicht. Die Telefonnummer hatten wir inzwischen gefunden. Das Problem war wieder einmal Adrenalin.

- Und wenn ich es morgen versuche?

Jetzt reichte es ihm. Sylvia wusste auch nicht, was sie da noch machen sollte und schaute unschlüssig zu, wie Fred fast der Kragen platzte. Er nahm das Telefon vom Tischchen und drückte es mir in die Hand.

- So, du rufst da jetzt an und bevor du das nicht gemacht hast, verlässt du nicht das Zimmer. Hier ist das Telefon, hier sind dreiundzwanzig Pfennig, hier, die leg ich dir hier hin, die spendier ich dir, und jetzt wählst du gefälligst diese Nummer!

- Ja, wart mal. Okay, ich machs. Aber ich muss mich noch kurz konzentrieren.

- Na also.

Ich musste feundlich klingen, sonst würden ihre Eltern sie nicht ans Telefon holen. Unsicher schaute ich mich noch einmal zu Sylvia um. Ja, hopp, sagten ihre Augen. Sie lächelte. Ich stellte das Telefon auf Freds Bett, rückte meinen Stuhl davor und fing an zu wählen.

Es klingelte.

Sehr schnell wurde abgehoben.

- Viktoria Chatel.

- Genau dich wollte ich sprechen.

Ich war froh, dass mir dieser Satz eingefallen war. Völlig überrascht war ich, sie so unkompliziert und so schnell am Telefon zu haben. Allein, wie lange es gedauert hatte, Fred ausfindig zu machen. Bei Sylvia hatte ich tagelang gebraucht, die ganze Lauferei bei Marilena, und auch Jutta hatte ich erst am dritten Tag treffen können. Bei Viktoria musste das Telefon nur zweimal klingeln - und schon war sie dran.

Nun musste ich ihr erklären, wer ich war. Das war schon komplizierter. Ich begann unsicher. Du kennst mich unter dem Namen Wilfried Schultheiss, ich war in der achten Klasse nach Schleswig-Holstein gegangen... ich brauchte ein paar Sätze, bis ich endlich das erhoffte feedback bekam.

- Ja, jetzt ist klar. Ja, ich erinnere mich. Okay, und was willst du? Warum rufst du an?

Das war sehr hart formuliert. Fred hatte sie zwar so ähnlich eingeschätzt, aber beide hätten nicht vermutet, dass sie schon so früh so wenig aufgeschlossen reagierte. Ich antwortete brav und zu meiner eigenen Überraschung ausgesprochen locker, nicht aufgeregt oder verkrampft, dass ich gerade zufällig bei Fred in Mainz war und ob sie Lust hätte, sich einmal mit mir zu treffen.

In diesem Moment war ich froh, dass ich Fred hinter mir hatte. Wenn ich in diesem Moment nicht Fred hätte anführen können, wäre das Gespräch sofort abgestürzt. Doch ich hielt mich erstaunlich gut. Die beiden sahen gespannt zu. Sylvia fing an, mich zu bewundern. Sie hätte es nicht so gut gekonnt, würde sie mir hinterher sagen. Jetzt wurde es spannend. Würde sie, wie Fred vorgeschlagen hatte, sich mit mir treffen wollen?

- Heute abend geht es bei mir nicht, da bin ich schon verabredet.

- Oder morgen vielleicht?

- Morgen eigentlich auch nicht, ich hab demnächst Prüfungen und muss dafür noch was tun, sodass ich eigentlich gar keine Zeit habe in den nächsten Tagen.

- Ja. Du hast also gar keine Zeit? Musst du soviel lernen?

- Ja, eigentlich schon-

- Marilena hat erzählt- also ich hab gestern Marilena besucht und mich mit ihr ein bisschen unterhalten, das war ganz nett gewesen, naja, die meinte, du studierst Geschichte, kann das sein?

Sie erwiderte nicht mehr als ja, aha, verlor ein paar Worte über ihr Studium. Ja, richtig, sie müsse lernen, bekräftigte sie, sie hätte eigentlich gar keine Zeit. Noch blieb das Wort eigentlich im Raum, zusammen mit einem gewissen Vorhof.

Daraufhin gab es eine kurze Pause. Eine interessante Pause, weil wir uns weiterhin unterhielten. Irgendwas war mir eingefallen, dass ich zur Überbrückung einfach sagen konnte. Hinterher wusste ich gar nicht mehr, was es war. Vielleicht etwas über Marilena. Ich hatte gedacht, wir könnten uns vielleicht in einer Kneipe oder einem Café treffen, meinte ich vorsichtig und kam nicht mehr dazu, sie zu fragen, ob sie gestern kurz im Schönen Brunnen gewesen war. Denn jetzt brach sie auf.

- Nein, auch wenn ich Zeit hätte, würde ich es ehrlich gesagt nicht wollen. Ich glaube auch nicht, dass es was bringen würde.

Ich war ihr dankbar für ihre Ehrlichkeit, und auch ein wenig stolz auf mich, dass ich es immerhin hinbekommen hatte, das Vertrauen aufzubauen, das dazu nötig war. Mir kam noch die Idee, sie zu fragen, ob ich ihr noch einmal schreiben könnte. Auch das wehrte sie ab.

- Ich wüsste nicht, was das bringen sollte.

Damit war Freds Vorschlag am Ende. Er hatte sich vorgestellt, sie würde sich schon mit mir treffen, aber dann im Lauf des Gesprächs irgendwann abblocken und die Grenzen aufzeigen. Dass es so schnell ging, hatte er nicht für wahrscheinlich gehalten. Ich war schneller am meinem Ziel als ich gedacht hatte. Ich hatte eine klare Antwort bekommen.

Ein letztes Mal hatte ich die Gelegenheit, sie zu fragen, wie es ihr ging, ob sie gut mit ihrem Studium zurechtkam, es ihr Spass machte, sie mit ihrem Leben glücklich war. Aber sie war nicht in Plauderstimmung und antwortete auf die Fragen knapp und präzise, meist nur mit ja. Gegenfragen zu meiner Person kamen nicht, aber die hatte ich auch nicht erwartet. Bald war das Gespräch am Ende, sämtliche Themen waren abgehandelt. Jetzt musste es noch beendet werden, und ich war eingeladen, eine Formulierung zu finden.

- Naja, ich denke wir haben uns dann wohl nicht mehr so viel zu sagen. Ja, oder siehst du das auch so?

- Ja, ich denke, das sehe ich auch so.

- Okay, also dann- machen wir Schluss?

- Ja.

Diese Formulierung hatte ich mit Absicht gewählt. Fred und Sylvia hatten beide vorgeschlagen, dass ich sie am besten dazu bringen sollte, die Beziehung oder was es war auch verbal zu beenden. Und Fred hatte dann hinzugefügt, am besten wäre es, wenn ich es so hinbekäme, dass ich das für mich akzeptieren konnte und Viktoria trotzdem keinen Verdacht schöpfen würde, was sie da eigentlich sagte. Wenn ich sie mochte, so argumentierte er, sollte es mein Interesse sein, sie so weit wie möglich aus der problematischen Sache herauszuhalten. Oh, wie gut konnte ich das nachvollziehen. Auf denselben Gedanken war ich auch schon vor zehn Jahren gekommen. Aus keinem anderen Grund war ich auf der Polizeiwache gesessen.

Sie hatte auf die Frage, ob wir Schluss machen wollten, ja geantwortet. Eigentlich war das klar genug. Doch im selben Moment spürte ich, das reichte noch nicht. Ich musste es noch ein zweites Mal fragen. Es war einfach wichtig, dass ich es noch einmal direkt so formulierte. Auch wenn ihr zweites Ja etwas unsicherer kommen würde.

- Ja, sollen wir wirklich Schluss machen?

- Ja-

- Okay, dann- Viktoria, ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch und wünsche dir alles Gute für dein Leben und- leb wohl. Tschüss.

- Ja, danke, wünsch ich dir auch. Tschüss.

Nach dem Auflegen war ich nicht ganz sicher, ob sie nicht doch einen leisen Verdacht bekommen haben musste. Aber vielleicht war sie dafür auch nicht sensibel genug. Natürlich hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen, ihr etwas aufgezwungen zu haben, was sie vielleicht gar nicht so formulieren hätte wollen.

Sie hatte am Ende nicht mehr als ja und tschüss gesagt. Sie schien fast ein wenig erleichtert gewesen zu sein, nicht mehr sagen zu müssen. Die Endgültigkeit hatte sie noch nie gemocht. Sie hätte ein ungutes Gefühl gehabt, wenn sie sie mir aufzwingen hätte müssen. Sie war froh, dass ich das Telefonat von mir aus beendete.

Nach dem Auflegen war ich fast ein wenig stolz, sie am Ende des Gesprächs wie vor zehn Jahren Polizist Schrader bei M-K mit meinen Fragen soweit gebracht zu haben, dass sie nur immer ja sagen musste und meine Fragen wie von selbst beantwortet wurden. Aber ob der Vergleich stimmte? Auch Schrader hatte mit seinen Fragen M-K's Gedanken erraten und ihr die Antworten leicht machen wollen. Doch M-K hatte vollkommen andere Gedanken gehabt als Schrader vermutet hatte. Heute hatte ich es Freds Ratschlag befolgend regelrecht darauf angelegt, dass Viktoria andere Gedanken hatte als ich. Also stimmte der Vergleich nicht ganz.

In erster Linie hatte M-K nach diesem berühmten ersten Anruf der Mainzer Polizeiwache überhaupt nichts kapiert, und hatte die einzelnen Fragen schon wenige Minuten nach dem Anruf wieder vergessen. Ich weiss gar nicht mehr, was er gefragt hat, ich hab immer nur ja gesagt und er war zufrieden. Vielleicht war das bei Viktoria nicht viel anders, auch wenn es jetzt nicht morgens um fünf war. Vielleicht stimmte der Vergleich also doch.

Hinterher kam es uns so vor, als hätte das Ganze nur dreissig Sekunden gedauert. Es mussten aber mindestens zwei Minuten vergangen sein. Fred und Sylvia waren erstaunt. Ich hatte mich in ihren Augen ungewöhnlich gut gehalten. Beide meinten, sie hätten das vielleicht nicht so leicht weggesteckt. So schnell wie Viktorias Antwort gekommen war, sei sie irgendwie ganz schön hart gekommen, urteilten beide übereinstimmend.

- Da war keine Chance. Das war zu deutlich.

Sie wussten nicht, ob sie mich bedauern sollten. Besonders Sylvia hatte viel eher das Gegenteil im Sinn. Später meinte sie, sie war sogar fast ein bisschen neidisch auf mich. Sie wäre froh gewesen, als sie unglücklich verliebt war, wenn die Antwort so schnell und so direkt gekommen wäre.

Nun konnten wir in die Mensa gehen. Anschliessend brachte ich es endlich fertig, in der Stadt die Ersatzteile für die beiden Fahrräder zu bekommen. Um halb fünf feierte Fred seine bestandene Prüfung. Ich hatte Kopfweh. Was war das denn? Noch nie hatte ich Kopfweh gehabt. Na, das war ja ein toller Anfang für ein neues Leben.

Eddy war nicht da, also reparierte ich Juttas Rad eben alleine. Dynamo, Rücklicht, Kettenschutz. Hinterbremse war nicht so einfach. Gegen Abend fuhren Fred, Sylvia und ich nach Gonsenheim.

Das Wetter war nicht schlecht und Fred und ich entschlossen uns, noch ein wenig durch den angrenzenden Wald spazieren zu gehen und uns zu unterhalten. Das letzte Mal hatten wir so etwas in Lorscheid gemacht. Wir liefen auf sandigen Spazierwegen durch das Gonsenheimer Wäldchen bis nach Bodenheim. Er staunte immer noch, wie prompt Viktorias ablehnende Antwort gekommen war. Doch für mich war es keine sehr grosse Überraschung gewesen.

- Ich hatte die Reaktion eigentlich mehr oder weniger erwartet. Vielleicht bin ich deswegen so locker gewesen.

Schon als Lina vor drei Jahren den Vorschlag gemacht hatte, ich sollte Kontakt mit Viktoria aufnehmen, war ich skeptisch gewesen und hatte genau diese Reaktion erwartet. Kannte ich Viktoria doch besser als Fred? Ich war mir schon damals sicher, sie hätte genauso reagiert wie heute vormittag.

Ich hatte mich erst recht nicht darin getäuscht, dass das Mädchen, das mir in Südamerika in den Träumen begegnet war, nicht gerade Viktorias aktuelle Stimmung vertreten hatte. Nach dem Traum Tieflandindianer in Feuerland war die Person der Viktoria, so wie sie mir in den Träumen begegnete, wieder etwas realistischer geworden. Wenn ich in letzter Zeit von ihr geträumt hatte, stand sie abseits, hielt sich eher zurück und gab mir hin und wieder nett gemeinte Ratschläge. Die kühle, sachliche Atmosphäre mit ein paar freundlichen Worten schien eher die tatsächliche, sozusagen historische Viktoria zu treffen.

Mich störte, dass ich es nicht verstand. Ich verstand das ganze Leben nicht, beschwerte ich mich bei Fred.

- Wozu denn diese dreizehn Jahre? Die Liebe hat keinen anderen Wunsch als den, sich zu realisieren, hat Khalil Gibran geschrieben. Das hört sich auch schlüssig an. Aber wenn der Sinn im Leben darin besteht, Liebe und Weisheit dazuzulernen, warum wird dann so ein Chaos veranstaltet? Ich meine, dreizehn Jahre unglücklich verliebt zu sein! Für nichts! Wo ist denn da der Sinn drin?

- In vielem ist der Sinn nicht drin. So darfst du das auch nicht sehen. Du kannst ja auch nicht das Leid der Welt anführen und Gott dafür verantwortlich machen. Warum sterben tausende Kinder in Afrika? Wenn du so anfängst, kommst du unweigerlich zu dem Schluss, es kann keinen Gott geben. Und das ist offenbar ein Fehlschluss. Gott scheint eben bewusst in Kauf zu nehmen, dass die Menschen leiden.

- Der Unterschied ist, hier hat ja Gott ne direkte Verantwortung, weil ich vor diesem Traum ja explizit ein Gebet gesprochen hatte. Das geht ja auf ein Gebet zurück. Eigentlich ist das ne Sache, die nur zwischen Gott und mir abgeht. Das hat ja nichts mit dem Leid der Welt zu tun. Wenn wir mal jetzt Viktoria aussen vor lassen wollen, die natürlich übel darunter leiden würde, wenn sie mit jemandem wie mir zusammen wär.

- Na, so schlimm wie die Kinder in Afrika würde sie da auch nicht leiden.

- Wer weiss - vielleicht ist Gott deshalb eingeschritten und hat das verhindert? Das ist der Beweis, dass es doch einen Gott gibt.

- Mann, denkst du egozentrisch. Deine Reden wären allein schon ein Beweis dafür, dass es keinen Gott gibt.

- Und paff- löste sich Gott in ein Logikwölkchen auf. Aber halt, das wäre gegen die Vereinigte Gewerkschaft der Philosophen, Erleuchteten und Weisen, die dann arbeitslos wären und einen landesweiten Philosophenstreik organisieren würden. Ich bin Magikweis-

- Und ich fordere, dass ich Vrumvondel bin!

- Das brauchst du doch nicht zu fordern, das bist du doch schon. Das ist eine feststehende Tatsache!

- Was wir fordern, sind feststehende Tatsachen! Ja okay, weiter. Kleiner Exkurs.[105]

- Das Problem ist, dass das eigentliche Problem gar nicht vorhanden wäre, wenn ich Gott nicht eine Frage gestellt- oder genauer, Gott nicht aus freier Entscheidung eine bestimmte Antwort gegeben hätte. Ich meine, der hatte ja die freie Entscheidung, so zu antworten wie er wollte. Würde ich sagen.

- Oder sie.

- Oder sie?

- Oder sie. Wer sagt dir, dass Gott männlich ist?

- Ach so, ja. Gott kann auch weiblich sein. Okay, kein Problem. Es war also seine oder ihre freie Entscheidung. Ich mein, ich glaube nicht, dass das haltbar wäre zu sagen, ich hab das zufällig geträumt. Ich denke schon, dass Gott in bestimmten Fällen auf unsere Träume Einfluss nehmen kann. Anders gäbe die ganze Bibel keinen Sinn.

- Ja, das würde ich jetzt auch nicht anzweifeln. Ich hatte eher an was anderes gedacht. Vielleicht wollte Gott dich nur auf die Probe stellen?

- Aber wieso denn so, das ist doch eine schwachsinnige Idee! Dann braucht mir doch nicht gesagt zu werden, ich heirate genau die! Ich hatte ja als Alternative extra die Möglichkeit einbezogen, dass das nicht voraussagbar war. Das hatte ich im Gebet ausdrücklich formuliert.

- Du hast das extra gesagt? Damals? In der Fünften? Mit elf Jahren hast du schon so genau und differenziert-

- Ja, allerdings. So schlau war ich mal. Ich hatte ganz ausdrücklich die Möglichkeit eingeschlossen, dass es sein kann, dass die Zukunft nicht vorhersehbar ist und selbst Gott nicht wissen kann, wen ich mal heirate. So schlau war ich auch schon. Und für den Fall sollte ich von gar keiner der beiden Mädchen träumen. Ja? Und das ist nicht eingetreten! Diese Frage war damit also auch beantwortet. So sieht das nämlich aus. Das Leben.

- Ja ja, das Leben.

- Tja, die ganze Zukunft ist nämlich vorherbestimmt. So schauts nämlich aus. Jede einzelne Sekunde. Du konntest von Anfang an gar nichts dagegen machen, mit mir hier durchs Gonsenheimer Wäldchen zu gehen. Aber du wehrst dich ja auch nicht. Hätte ja auch gar keinen Zweck. Ja? Siehst du ein? Aber es ist sowieso vorherbestimmt, dass dus einsiehst. Von daher können wir uns die Zeit auch sparen und den Punkt einfach überspringen.

- Ich werd dir zeigen, was gleich noch alles vorherbestimmt ist!

- Halt, nein, keine Handgreiflichkeiten! Es ist vorherbestimmt, dass wir hier ordentlich diskutieren.

- Und wie wärs, wenn jetzt vorherbestimmt wäre, dass ich dir jetzt zufällig-

- Arghhh! Gl, argl! Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil!

- Komisch, warum gerate ich immer an Leute, die jedesmal immer klein beigeben, wenn ihr Standpunkt angegriffen wird? Ist denn nirgendwo Substanz hinter? Was mache ich falsch? Brauche ich psychologische Hilfe?

- Na gut, wir können ja so tun, als würde ich standhaft meine Position halten. Natürlich nur um dir deine Selbstzweifel zu ersparen. Ich fordere also, dass die Zukunft vorherbestimmt ist oder auch nicht.

- Halt ich aber für unwahrscheinlich, dass die Zukunft festgelegt ist.

- Ich ja auch! Viktoria hat genau dasselbe gesagt. Der hab ich das ja mal erzählt, in Lorscheid.

- Dieses Gespräch, wo ihr da alle in dem Zimmer gesessen habt?

- Nein, das war nicht dieses Gespräch, das war ein anderes. Da gabs noch ein anderes. Unter vier Augen eins. Die hat genauso reagiert wie du. Bis auf das Detail mit den Handgreiflichkeiten.

- Da wirstes wohl auch anders formuliert haben.

- Na gut, ich gebs zu. Ich war da auch dagegen. Die ist dagegen. Du bist dagegen. So, und was passiert, wenn jetzt ausgerechnet Gott anderer Meinung ist? Sind wir diejenigen, die das beurteilen können? Was wissen wir denn schon vom Universum? Ich meine, von einem Gott Israels, der wenigstens ein bisschen was auf sich hält, und der den Job schon mindestens dreitausend Jahre lang macht, kann ich doch erwarten, dass er - oder sie - zumindest soviel weiss, ob die Zukunft vorhersagbar ist oder nicht! Der kann mir doch hinterher nicht erzählen, naja, hab mich wohl geirrt, bin in letzter Zeit wohl n bisschen vergesslich geworden. Oder sie. Natürlich ist vollkommen klar, dass ich Viktoria jetzt nicht heirate. Aber was soll denn dieser Schwachsinn? Ich mein, die dreizehn Jahre sind doch komplett verloren!

- Das weisst du nicht.

- Mich auf die Probe stellen, ey das kann man doch einfacher haben! Wenn ich Gott wär, und will jemand auf die Probe stellen - dazu muss ich mich doch nicht so ner absolut fragwürdigen Taktik bedienen! Und ich hab auch nicht das Gefühl, auf die Probe gestellt worden zu sein. Ich zweifel ja nicht daran, dass es Gott gibt. Ich versteh nur nicht, was er sich dabei gedacht hat. Oder sie. Ich mein, ich versteh es einfach nicht!

- Ich kanns jetzt auch nicht lösen. Ich würds an deiner Stelle etwas pragmatischer sehen. Siehs einfach etwas pragmatischer! Dein Schicksal war eben, dreizehn Jahre lang unglücklich verliebt zu sein. Du musst das ja auch nicht verstehen, das ist nicht gefordert. Gottes Wege sind unergründlich. Niemand verlangt von dir, dass du davon irgendwas verstehst. Wenn es einen Sinn im Leben gibt, erfüllst du ihn ja auch so. Viele Leute machen sich nie Gedanken über sowas. Viktoria zum Beispiel. Die käme wahrscheinlich nie auf die Idee, ihre Zeit mit solchen Gedanken zu verschwenden. Wozu auch? Sieh es doch einfach mal so, wie es ist. Du warst eben dreizehn Jahre unglücklich verliebt. Das war hart, aber du musstest es ertragen. Vielleicht war das wirklich der einzige Grund, warum du das damals geträumt hast. Kann ja sein. Ich würds an deiner Stelle auch nicht so verbissen sehen. Du lebst jetzt hier und heute. Wir haben 1990.

- Du meinst, bestimmte Voraussetzungen sind jetzt noch nicht gegeben, um das verstehen zu können?

- Du kannst es auch so sehen, dass es vorherbestimmt ist, dass nicht jeder immer alles versteht. Oder überhaupt verstehen kann. Überleg doch mal: das Universum! Unendliche Weiten! Hast du irgendeine kleine Ahnung davon? Vielleicht gibt es gute Gründe, dass wir nicht an jedem beliebigen Punkt im Raum-Zeit-Kontinuum unbedingt alles verstehen können. Wir würden wahrscheinlich erschlagen werden von Erkenntnissen und Informationen, wenn wir allwissend wären. Es kann durchaus sein, dass es für alles Antworten gibt. Vielleicht sogar ganz einfache Antworten.

- Zweiundvierzig.[106]

- Genau. Aber eben nicht zu jeder Zeit. Verstehst du, Sachen bei denen du hinterher sagst, ach, ist ja vollkommen klar, warum hab ich das damals nicht gesehn? Vielleicht gibt es wirklich Dinge im Leben, bei denen du, wenn du sie ständig thematisierst, einfach nicht weiterkommen kannst. Weil du dich selber blockierst. Ich würds an deiner Stelle etwas pragmatischer angehn. Versuch was Neues aufzubauen. Mach dir nicht so viele Gedanken. Lass das Leben einfach mal laufen. Geh auch nicht wieder nach Südamerika. Bleib jetzt noch n paar Tage in Mainz. Versuch, was in Cismar oder in Mainz oder in Griechenland zu machen. Irgendwas aufzubauen, verstehst du? Geh die Sachen langsam an. Achte auf die kleinen Dinge. Wenn du merkst, dass du doch irgendwie abdrehen könntest, dann würde ich an deiner Stelle vielleicht wirklich mal zum Psychologen gehen. Diese Leute sind extra ausgebildet, dass sie einem in solchen Situationen helfen. Und das können die auch.

- Ja, ich weiss. Okay. Ich werd erstmal sehn, wie sich das entwickelt. Ich kanns jetzt auch nicht voraussehen. Auf alle Fälle kann es ja nicht so weitergehen wie bisher. Das ist ja nicht schwer einzusehen.

- Kein Problem kann so schwer sein, dass du es nicht ertragen kannst. Du darfst dich auch nicht der Illusion hingeben, dass du das Werkzeug Gottes bist und Viktorias Lebensglück jetzt davon abhängt, dass du ihr begegnest. Die hat höchstwahrscheinlich gar nichts mit dir zu tun. Deshalb war es gut, dass du sie da nicht mit reingezogen hast. Ihr würdet wahrscheinlich auch gar nicht zueinander passen. Kuck mal. Du machst dir über alles Mögliche Gedanken, analysierst jedes Detail durch und stellst dir ständig Fragen über den Sinn des Lebens und des Universums. So wie ich die einschätze, interessiert die sich für ganz andere Sachen und hat über sowas vielleicht noch nie nachgedacht. Will die vielleicht auch gar nicht.

- Ja, das kann ich mir gut vorstellen! Die wird sich wahrscheinlich nie Gedanken darüber machen, was das Ganze soll. Das heisst, nein, ich muss fair sein. Sie hat einmal gesagt alles zu seiner Zeit.

- Sei doch nicht so verbittert! Das ist doch nicht dein Job, ihr zu erzählen, über was sie sich Gedanken machen soll! Die interessiert sich vielleicht für die neueste Mode und das ist genau ihre Aufgabe in diesem Leben! Das würdest du dir von ihr auch nicht aufzwingen lassen wollen!

- Na gut, da gibts Grenzen. Grenzen deiner Argumentation, mein ich. Ich würd da wahrscheinlich anders rangehen als sie. Unter bestimmten Umständen könnte ich mir schon vorstellen, dass ich mich auch für die neueste Mode interessieren könnte. Ich würd es vielleicht auch gar nicht als aufgezwungen empfinden. Vielleicht auch nur, weil es mir Spass machen würde, mich mal in was ganz anderes reinzuarbeiten.

- Vielleicht liegt es einfach daran, dass sich Frauen generell nicht solche Gedanken machen. Zumindest nicht so, wir wir das machen, über die intellektuelle Schiene.

- Ach du meinst, dass die eher mit dem Gefühl da rangehn?

- Frauen haben ne andere Gehirnstruktur.

- Was soll denn das heissen? Dass die bestimmte Sachen gar nicht verstehen können? Was meinstn damit?

- Ja, vielleicht. Von ihrer Gehirnstruktur her. Die denken anders.

- Du kannst doch nicht sagen, Frauen denken anders! Das ist ja wohl n bisschen überholt, so ne Einstellung.

- Natürlich denken die anders! Wieso willst du denn die Augen vor der Realität verschliessen!? Das nützt doch nichts, wenn du jetzt dogmatisch hingehst und die Tatsache negierst, dass es Unterschiede gibt!

- Doch nicht in den geistigen Kapazitäten.

- Natürlich! Warum willst du denn jetzt künstlich ne Gleichmacherei betreiben?! Das heisst ja nicht, dass die dümmer sind als wir, sie sind eben nur von der Gehirnstruktur her anders. Was denkst du denn, wieso es ständig Probleme in Beziehungen zwischen Männern und Frauen gibt?

- Das gibt genauso Probleme in homosexuellen Beziehungen, die sind nicht anders als bei Heteros. Wo hastn du das her, dass es da Unterschiede im Gehirn geben soll? Frauen haben doch die gleichen geistigen Kapazitäten wie Männer!

- Nein! Haben sie eben nicht!

- Wie willstn das belegen?

- Das gibts genug Studien drüber, könnt ich dir raussuchen, das zweifelt auch keiner an. Das ist beispielsweise erwiesen, dass sich viel weniger Mädchen egal in welchem Alter für Physik interessieren als Jungen. Was hastn davon, wenn de das anzweifelst? Da gibts genug Studien, die das belegen.

- Weltweit durchgetestet? Zimbabwe, Malaysia...

- Das ist überall gleich, das liegt auch nicht an der Erziehung, und auch nicht an der Kultur oder am Bildungsniveau. Das kannst du auch in allen Physik-Leistungskursen beobachten.

- Stimmt das jetzt echt, ist das erziehungsunabhängig?

- Ja, völlig unabhängig. Es nützt auch überhaupt nichts, wenn du jetzt dogmatisch ne Sollquote einführst und sagst, der Anteil der Physikerinnen soll jetzt überall fünfzig Prozent sein. Es ist ja heutzutage nicht mehr so, dass die Eltern den Mädchen erzählen, die sollen sich nicht für Physik interessieren, weil das unweiblich ist oder son Quatsch.

- Nee, das glaub ich auch nicht. Die Mädchen hier sind heute wahrscheinlich genauso erzogen wie wir. Zumindest solche wie Viktoria. Eher noch besser, würd ich mal sagen.

- Das hat gar nichts mit der Erziehung zu tun. Es gibt einfach Unterschiede in der Gehirnstruktur. Du kannst da natürlich die Augen vor verschliessen und sagen, ich will das nicht wahrhaben. Aber siehs doch mal anders. Solche Unterschiede können doch auch eine Bereicherung für die Menschheit sein.

- Und ist das bei Mathe auch so? Dass es da so ne Diskrepanz gibt?

- Nein, da ist es fünfzig fünfzig. Da müssten die Eltern denen ja differenziert erzählen, Physik dürften sie sich auf keinen Fall für interessieren, aber Mathematik ist kein Problem. Wenn wir jetzt mal vernachlässigen, dass die meisten Eltern gar keine Ahnung haben, was der Unterschied zwischen Mathe und Physik überhaupt ist.

- Weiss ich ja selbst nicht, davon mal abgesehen.

- Da gibts auch keinen. Na gut, Mathe ist vielleicht n bisschen theoretischer.

- Unser Problem ist von der Struktur her ja auch eher theoretisch angelegt und ähnelt eher Mathe als Physik. Okay, ich geb zu, es mag sein, dass sich Mädchen aus irgendeinem meinetwegen geschlechtsspezifischen Grund seltener für Physik interessieren. Aber selbst in solchen Fachgebieten heisst es immer noch nicht, dass die, die sich doch dafür interessieren, mit den Gehirnen von Männern nicht mithalten können. Das ist ja nicht so wie beim Sport, zum Beispiel beim Hundert-Meter-Lauf, wo Frauen die Spitzengeschwindigkeiten von Männern gar nicht erreichen können. In der Physik können Mädchen, die sich dafür interessieren, durchaus ja auch alle Männer komplett übertreffen. Gab ja auch Frauen, die Physik-Nobelpreise gekriegt haben. Marie Curie zum Beispiel.

- Nee, die war Chemikerin.

- Die war Physikerin! Und Chemikerin. Die hat zwei Nobelpreise gekriegt.

- Ach so, richtig, die hat auch n Physik-Nobelpreis gekriegt. Das war aber auch die einzige.

- Nein, gab auch andere. Die eine, wie hiess die, Maria- weiss nicht mehr, wie die hiess. Hatte son Doppelnamen.

- Ach so, Maria Goeppert-Mayer. Ja stimmt, die war auch Physikerin. Na gut, Ausnahmen bestätigen die Regel.

- Doch nicht in solchen Fällen! In dem Fall beweisen die Ausnahmen, dass die Grundannahme falsch ist! Keine Frau kann schneller als zehn Sekunden auf hundert Meter laufen! Da gibts keine Ausnahme.

- Aber der Anteil der Nobelpreisträgerinnen ist trotzdem niedriger als er normalerweise sein müsste, wenn man nach den Proportionen beim Interesse geht. Da liegt der Mädchenanteil so bei zehn Prozent. Da müsste jeder zehnte Nobelpreis an ne Frau gehen.

- Ja, da spielen ja andere Faktoren rein. Diese Spitzenforschungen werden ja meistens in irgendwelchen Uni-Strukturen gemacht, die dann noch aus dem letzten Jahrhundert sind und wo die Bedürfnisse von Frauen überhaupt nicht berücksichtigt werden. Die meisten Frauen können da ja nicht ordentlich arbeiten, wenn sie Kinderwünsche haben oder so. Wie hoch istn der Anteil der Professorinnen in den Geisteswissenschaften? Zwanzig Prozent?

- Nein, der ist niedriger, zwischen fünf und zehn würd ich mal schätzen.

- Echt??!

- Ja, eher bei fünf. Wird auch scharf kritisiert.

- So niedrig?! Hätt ich jetzt gar nicht gedacht. Jedenfalls kannst du in solchen Gebieten ja nun wirklich nicht sagen, dass die Männer mehr drauf haben als Frauen. Ich glaub kaum, dass du pauschal sagen kannst, Viktoria denkt vollkommen anders weil sie wie alle Frauen emotional an solche Sachen rangeht oder sich ihre Gehirnstruktur da unterscheidet. Gibt ja auch Männer, die mehr nach ihren Gefühlen gehen und Frauen, bei denens eher übern Kopf abgeht. Gut, mag sein, bei vielen Frauen geht das eher emotional ab. Aber das ist kein Muss. Grade Viktoria ist eher son Gegenbeispiel. Die scheint sich auch eher so wie wir mehr an den harten Fakten zu orientieren. Die scheint ja noch weniger von Gefühlen zu verstehen als ich. Und das will was heissen.

- Echt? Hätt ich jetzt gar nicht vermutet.

- Ja, die scheint da Schwierigkeiten zu haben. Das fällt auch nicht auf. Würd ich jetzt auch nicht als Problem bezeichnen.

- Die hat dir ne Zeitlang geschrieben. Hat sich das da rausgestellt?

- Ja, das kam dann irgendwann schon raus. Hatte auch nichts mit dem Verliebtsein zu tun.

- Eben, das wirste wohl kaum beurteilen können, weil da hätte ich wahrscheinlich auch abgeblockt und meine Emotionen nicht gezeigt.

- Nein, das ging auch um andere Sachen. Was weiss ich, ich hab ihr mal was über den Nato-Doppelbeschluss geschrieben. Einfach nur so. Gerade bei Politik geh ich ja eben ziemlich emotional ran. So wie bei der Frauenpolitik, eben, haste ja mitgekriegt, da sind ja Emotionen dahinter. Die konnte da überhaupt nicht drauf eingehen, hat da halt versucht, sachlich zu argumentieren.

- Ja, ich versteh.

- Die war nicht ganz emotionslos. Wenn die Talke irgendwelche Dinger gebracht hat, hat die sich schon drüber aufgeregt.

- Ja, die Talke. Na gut, da haben sich alle drüber aufgeregt. Die war auch ziemlich konservativ. Kam aus Hochheim.

- Das sind ja auch Gefühle, wenn man ne Lehrerin nicht mag. Irgendwann kannste eben nicht mehr sachlich bleiben. Steffen und ich waren da wahrscheinlich viel sensibler. Bei uns war der Ofen mit der Talke ja schon viel früher aus.

- Oh nein, ich erinner mich mit Grausen. Wo ihr immer eure Tischfussballtourniere gemacht und mich damit zum Wahnsinn getrieben habt.

- Genau, Jingo. Na gut, wir wolltens ja auch nicht übertreiben mit der Sensibilität. Gab aber auch andere Kleinigkeiten. Oder als Jürgen Jancker aus der Klasse gegangen ist. Hab ich sie gefragt, ob der durchgefallen ist.

- Wann istn der durchgefallen?

- Von der Achten auf die Neunte.

- Ah ja, stimmt. Nach der Achten schon.

- Ist die erst gar nicht drauf eingegangen. Dann hab ich se n zweites Mal gefragt. Ja, der ist durchgefallen. Völlig kühl und sachlich irgendwie. Dass ich den vielleicht mochte und mir was an dem lag, konnte die gar nicht nachvollziehen. Wenn ich mit der zusammen wär, würd ich wahrscheinlich eher so ne weibliche Rolle übernehmen. Ihr emotionale Sichtweisen näherbringen, Sensibilität und so. Ausgerechnet ich.

- Ja, du bist da ja der Spezialist für.

- Genau. Der hätte wahrscheinlich gar nichts besseres passieren können als mit mir zusammen zu sein. Aber sie wollte ja nicht.

- Manche kann man eben nicht zu ihrem Glück zwingen.

Wir hielten lange Reden und hörten uns lange gegenseitig zu. Er gab sich richtig Mühe. Manchmal wunderte ich mich über das Leben. Ein Physikstudent als Psychiater.

Noch einmal meinte Sylvia am nächsten Morgen zu mir, ich hätte Glück gehabt, so eine klare Abfuhr erteilt bekommen zu haben. Beneidenswert schnell und deutlich. Sie wäre froh gewesen, wenn sie diesen Service gehabt hätte. Und sie wäre sicherlich auch froh gewesen, wenn Fred mit ihr bis nach Bodenheim gegangen wäre und den perfekten Psychiater gespielt hätte.

Fred und Sylvia konnten stolz sein auf ihre Therapie. Fred testete in den folgenden Tagen noch ein paarmal an, was von dem langen Gespräch im Gonsenheimer Wäldchen hängengeblieben war.

- Du darfst jetzt auf keinen Fall denken, sie hat jetzt den Fehler ihres Lebens begangen, nur weil sie sich mit dir nicht unterhalten wollte.

- Nein, so sehe ich das nicht. Sie hat mit Sicherheit keinen Fehler gemacht. Soweit ich das beurteilen kann, hat sie in der ganzen Geschichte sowieso noch nie einen Fehler gemacht. Das heisst doch, einen. Aber das war nicht so wichtig.

- Und was war das?

- Sie hat mal einen Brief von mir weggeschmissen. Aber das ist eher ne Kleinigkeit. Und selbst da bin ich mir auch nicht hundertprozentig sicher, ob sie den auch wirklich wegeschmissen hat.

- Was warn das fürn Brief?

- Der eine Brief vom siebten Mai. Wo ich ihr genau geschrieben hatte, wie wir abgehauen sind und so. Acht lange Seiten, von denen ich mir keine Abschrift gemacht hatte. Ich war nämlich genauso blöd.

- Echt, wenns nur das ist. Ich kann sie ja einfach anrufen und sie fragen, ob sie den noch hat.

Fred konnte ich beneiden, wie unkompliziert er war. Sinnlos wie es mir schien, war ich gestern gar nicht auf die Idee gekommen, sie danach zu fragen. Als er sie erreicht hatte, meinte Fred tatsächlich, sie wollte nachsehen und ihm eine Kopie schicken. Aber sie meldete sich nicht wieder bei ihm.

Der Abschied aus Mainz war insgesamt ein wenig enttäuschend. Freds Abschied war kühler als ich erwartet hatte. Der Alltag hatte ihn schnell wieder eingeholt. Als ich mich von Sylvia verabschiedete, wollte sie noch eine Sache wissen. Warum ich eigentlich die ganze Zeit bei ihr übernachtet hatte, nicht bei Fred.

Hm. Vielleicht mochte ich sie ganz gerne? Vielleicht fühlte ich mich in ihrem kleinen Zimmer wohl? Ich wusste nicht, ob sie die Frage wirklich so gemeint hatte, oder ob es ihr leid getan hätte, wenn sie gewusst hätte, wie so eine Frage wirken konnte. Vielleicht war sie manchmal zu unerfahren oder auch nur einfach ein wenig tollpatschig. Es war ihr zuzutrauen, dass sie es wirklich einfach nur wissen wollte.

Jutta brachte ich im Regen das Fahrrad zurück, um danach zur Autobahnauffahrt zu gehen und nach Griechenland zu trampen. Ich wollte nach Griechenland. Was hätte ich im Winter in Cismar machen sollen? In Kreta konnte ich Schnecken suchen und mir darüber klarwerden, ob ich nun wirklich frei war oder aus irgendeinem Grund immer noch nicht.

Genau als ich ziemlich nass bei Jutta ankam, hörte es auf zu regnen. Jutta musste von ihrer Mutter aus dem Bett geholt werden. Sie kam nach oben und frühstückte mit mir, doch ihre nette und gesprächige Oma kam dazu und wir hatten nicht mehr die Ruhe für ein paar letzte Gedanken vor dem Abschied. Jutta begleitete mich zwar noch nach unten zur Haustüre, aber nur, um ihre Katze zu suchen.

Sobald ich Mainz hinter mir hatte, schien ich wieder mehr Glück zu haben. Bis zum Abend kam ich nach Salzburg, wo ich an der Grenze übernachtete.

Von Salzburg aus musste ich durch Österreich an die jugoslawische Grenze nach Spielfeld. Der Lkw, der mich diese Strecke fuhr, hatte einen breiten Anhänger mit Boot. Er war ein paar Zentimeter zu breit für den Stadtverkehr in Österreich, sodass er in Graz extra mit Polizeischutz und Blaulicht durch die Stadt eskortiert werden musste. Eine interessante Show. Der Lastwagen hatte Mainzer Kennzeichen. Es waren die Kleinigkeiten, die das Leben manchmal schön machten.

Ich wachte auf, als ich mit voller Wucht quer durch den Speisesaal geschleudert wurde. Unsanft landete ich an einer Wand. Wo war ich? Ach so, auf einer kleinen Fähre nach Kreta. Von Spielfeld Grenze hatte mich ein griechischer Trucker direkt bis Thessaloníki mitgenommen. Endlich hatte es sich auf dem Autoput einmal gelohnt, dass ich Griechisch konnte. In Thessaloníki hatte ich die Fähre nach Kreta genommen, die auch nicht langsamer sein konnte als der Zug. Und nun waren wir irgendwo mitten auf dem Meer vor Míkonos und in einen heftigen Sturm geraten. Alle Passagiere hatten Angst.

Ich sammelte meine verstreuten Sachen wieder zusammen, band den Rucksack zu und befestigte ihn. Das Schiff schaukelte wie verrückt. Alles war bereits von den Tischen geflogen. Frauen schrien. Griechische Fähren konnten in solchen Situationen durchaus sinken, daher die Angst der Griechen. Warum hatte ich eigentlich keine Angst? Egal. Vielleicht war ich zu müde. Entweder das Schiff würde sinken, dann würden bei diesem Sturm alle ertrinken, oder es würde eben nicht sinken und gar nichts würde passieren. Ich entschied mich für das Zweite. Ich schlief sogar wieder ein.

Kreta. Der schwere Sturm hatte sich wieder gelegt und die Fähre aus Thessaloníki war in Iráklion angekommen. Ich ging in die Uni und holte das Schlauchboot. Das Schlauchkanu hatten Jochen und ich bei Professor Legakis in der Biologie-Abteilung der Kretischen Universität gelassen. Legakis war nett und zuvorkommend und freute sich, mich wieder zu sehen. Am liebsten sass er vor dem Bildschirm und spielte mit seinen Kindern Computerspiele. Ich nahm das Kanu und fuhr nach Ostkreta.

Zehn Kilometer nördlich der ostkretischen Küste lagen die Dionisádes-Inseln, auf denen ich Schnecken suchen wollte. Aus der Fachliteratur wussten Vollrath und ich, dass dort das letzte Mal 1942 Schnecken gesucht worden waren. Ich suchte mir eine geeignete Stelle, wo ich einen windstillen Tag abwarten und dann mit dem Kanu zu den Inseln paddeln wollte.

Ein paar kleine weniger entfernte Inseln hatte ich in den letzten Tagen schon besucht. Mit dem Kanu konnte ich gut umgehen. Die Erfahrung im Einbaumpaddeln half mir. Vorne befestigte ich in Plastiktüten das Forschungsmaterial, Schlafsack und Proviant, hinten kniete ich mit angewinkelten Beinen und paddelte.

In Kreta konnte es wochenlang stürmen. Ich wartete eine ganze Woche. Eines Morgens hörte es plötzlich auf und ich brachte das Boot zu Wasser. Eine halbe Stunde später paddelte ich über die spiegelglatte See.

Ich wusste, dass es riskant war, zehn Kilometer übers offene Meer völlig alleine im Schlauchboot zu paddeln. Oft genug hatte ich in Kreta erlebt, wie plötzlich ein Sturm aus heiterem Himmel einfach losbrechen konnte. Aus irgendeinem Grund machte es mir wenig aus, das Risiko auf mich zu nehmen.

Ich erreichte die vier kleinen, unbewohnten Inseln. Eine nach der anderen sammelte ich gründlich ab. Auf einer fand ich eine bislang unbekannte Schneckenart, die Vollrath und ich wissenschaftlich beschreiben würden. Ich übernachtete in einem verlassenen Häuschen, beendete die Aufsammlungen am nächsten Vormittag und wollte gerade lospaddeln, als plötzlich Nordwestwind aufkam. Er nahm bedrohlich schnell an Stärke zu.

Mir war sofort klar, dass ich mit dem leichten Kanu bei starkem Nordwestwind nicht mehr nach Süden paddeln konnte, wo ich hergekommen war. Der Wind steigerte sich in wenigen Minuten zum Sturm. So ein Sturm konnte tagelang anhalten und ich wäre auf der öden Inselgruppe gefangen, fast ohne Nahrung und Wasser. Noch hatte ich Kraft. Ich entschied mich, mit dem Sturm im Rücken nach Südosten zu paddeln, wo ich mit Glück irgendwo das im Dunst sichtbare kretische Ufer erreichen müsste.

Würde der Sturm allerdings in den nächsten Stunden nach West drehen, dann würde ich das Ufer nicht mehr erreichen. Denn dann könnte ich bei Kap Síderos an der kretischen Küste vorbei und aufs offene Meer getrieben werden. In der Regel drehten die kretischen Stürme aber nur selten ihre Richtung. Ich entschied mich, alle Sachen einschliesslich mich selbst im Boot gut festzubinden und trotz der möglichen Gefahr in See zu stechen. In wenigen Minuten war ich aus dem Windschatten der Inseln, mitten auf dem schwarzblauen und schäumenden Meer.

Ein Sturm im Rücken hatte die unangenehme Eigenschaft, unablässig das Boot quer zum Wind zu drücken, wo es mit der nächsten schäumenden Welle umgeworfen werden und kentern konnte. Ich war also die ganze Zeit dabei, mit kräftigen Paddelschlägen das Boot längs zum Wind zu halten. Ich konnte gar nicht vorwärtspaddeln und bewegte mich alleine dadurch fort, dass das Boot immer weiter von den Inseln abgetrieben wurde. Ich hätte nicht die geringste Chance gehabt, gegen diesen Wind wieder zurück zu den Inseln zu paddeln. Tief blauschwarz war das Wasser, das schon bald über hundert Meter Tiefe hatte.

Je weiter ich aufs offene Meer kam, desto grösser und wilder wurden die Wellen. Oft brachen sie sich über dem Bootsheck und fluteten von hinten gegen meinen Rücken und über das Kanu. Nach einiger Zeit hatte ich mich daran gewöhnt und es wurde zur Routine. Immer mehr Wasser sammelte sich im Kanu, um das ich mich nicht allzu sehr kümmerte. Schliesslich war es ein Schlauchboot. Doch plötzlich entdeckte ich im Norden am Horizont etwas, das mir für einen kurzen Moment das Blut in den Adern gefrieren liess.

Es war der Bug eines weit entfernten, riesigen Schiffes. Nur der Bug! Es fuhr genau auf mich zu! Was wollte denn hier ein Schiff? Ich sah zu, dass ich weiterkam. Wenn ich mich sehr anstrengte, konnte ich zwischen den ganzen Paddelschlägen zur Stabilisierung des Bootes im Wind auch noch ein paar Schläge riskieren, die das Bott noch schneller nach Südosten brachten. Ich durfte mich jedoch nicht zu sehr verausgaben.

Es war ein Passagierdampfer. Er wurde immer grösser und drehte eine leichte Kurve in Richtung der Fahrrinne zwischen Kreta und den Inseln, um danach den Hafen von Sitía anzulaufen. Ich hatte im zweiten Moment gehofft, mit aller Anstrengung aus der voraussichtlichen Fahrrinne des Dampfers entweichen zu können. Und nun kurvte er und machte alle diese Hoffnungen zunichte! Nun lag mein Schlauchboot wieder einige hundert Meter vor der Fahrrinne des Schiffes - und trieb vom Sturm getrieben direkt auf die Fahrrinne zu.

Ich konnte mein Boot kaum steuern und erst recht nicht rückwärts paddeln. Machtlos sah ich zu, wie ich mich der Stelle näherte, wo gleich das Schiff vorbeifahren würde. Das Schiff war ausserdem viel schneller als ich anfangs vermutet hatte. In rasender Schnelligkeit kam es auf mich zu. Bedrohlich schnell wurde es immer grösser.

Der Schrecken der ersten Minute war verflogen. Ich musste lächeln. Ich hatte den Sturm gefürchtet, aber nicht im Leben damit gerechnet, dass mich ein riesiger Passagierdampfer einfach überfahren könnte. Der Name des Schiffes stand vorne am Bug und bald war das Schiff so nah, dass ich ihn bereits lesen konnte.

Sifnos Express - Sifnos Express.

Dieses Schiff kannte ich. Es war eines der Kreuzfahrtschiffe, die ich schon oft im Hafen von Piréus liegen hatte sehen. Solche Kreuzfahrten führten quer durch die Inseln der Ägäis. Die Sifnos Express musste gerade von Ródos gekommen sein und würde jetzt den Hafen von Sitía ansteuern. Diese Schiffe fuhren dreissig oder vierzig Stundenkilometer. Allein der Aufprall vor den Bug würde einen im Meer treibenden Menschen töten können.

Es gab zwei Möglichkeiten. Wenn er mich rammen würde, hatte ich keine Chance. Wenn nicht - dann würde ich mich ärgern, wenn ich jetzt kein Foto davon gemacht hätte. So einfach war das. Ich wartete ab, bis mir ein Wellental Windschutz gab, ging an die Materialtüte und holte mit wenigen Handgriffen den Fotoapparat heraus. Der Dampfer hupte nicht. Es war kein Wunder, dass er mich nicht sah. Mein kleines Boot war nur ein weisser Punkt von vielen inmitten der aufgewühlten See. Unaufhaltsam fuhr er auf eine Stelle zu, die in diesem Moment noch vor mir lag und von der ich nicht abschätzen konnte, ob ich sie bis zum Zusammentreffen erreichen würde. Wie schnell war das Schiff wirklich?

Es blieb spannend bis zum Schluss. Erst ganz am Ende stellte sich heraus, dass das Kreuzfahrtschiff vor mir vobeifahren würde. Ich nahm den Fotoapparat und fotografierte aus kurzer Entfernung die Sifnos Express. Einige Passagiere standen an Deck und unterhielten sich. Auch sie schienen mich nicht gesehen zu haben.

Die Bugwellen waren harmloser als ich gedacht hatte. Der Dampfer entfernte sich so schnell, wie er gekommen war. Der Nordwestwind trieb mich weiter. Nach über zwei Stunden landete ich völlig erschöpft in einer geschützten Bucht an der kretischen Küste. Ich hatte Glück, dass ich nicht irgendwo gegen die steile kretische Felsenküste gedrückt wurde.

Woche für Woche wanderte ich durch Kreta auf der Suche nach Schnecken. Jeden Tag sammelte ich an bis zu dreissig verschiedenen Stellen irgendwo in den kretischen Bergen Schneckenhäuschen auf und trug dabei die Koordinaten der Fundstellen in mein Notizbuch ein. Hin und wieder setzte ich mich in ein Kafeníon eines Bergdorfes und studierte die Karten, wertete die Funde aus und erklärte den Kretern alles über die Schnecken ihrer schönen Insel. Ein Biologe auf der Suche nach Schnecken in ihrer Gegend.

Die alten Leute in den Dörfen äusserten sich zustimmend und ermutigten mich weiterzumachen. Ich war überrascht. Normalerweise reagierte die Landbevölkerung eher mit Unverständnis auf solche Forschungen. Wer genau hinsah, entdeckte in diesem Land noch heute etwas vom Geist ihrer stolzen Vorfahren. Es waren Griechen gewesen, die die Wissenschaft in Europa vor über zweitausend Jahren begründet hatten.

Je länger ich durch die Mittelgebirge des Iráklion-Kreises wanderte und Schnecken suchte, desto sicherer konnte ich sagen, dass ich nicht mehr in Viktoria verliebt war. Und ich wusste auch immer sicherer, an dem Tag, an dem ich noch vor wenigen Wochen mit Eddy im Café gesessen war, war ich noch in sie verliebt gewesen.

- Min pas Paximádia! Du darfst nicht nach Paximádia!

Ein paar Wochen später hatte ich Manólis und Eftichía von der Pension Panorama in Pitsídia erklärt, ich wollte von Agía Galíni aus mich dem Schlauchboot auf die Paximadia-Inseln. Die malerischen Inseln mit dem eigenwilligen minoischen Namen, die zwanzig Kilometer vor dem schönsten Strand in Kreta im Dunst lagen und hinter denen an romantischen Sommertagen die Sonne unterging. Wie so viele schöne Dinge im Leben, waren die Paximádia-Inseln aber nur zum Anschauen gedacht.

Manólis und Eftichía wollten mein verrücktes Vorhaben mit aller Macht verhindern. Sie führten mir noch einmal vor Augen, auf was für ein gefährliches Abenteuer ich mich einlassen würde. Die unberechenbaren Stürme, die tückischen Strömungen, und niemand würde mich retten. Es kursierten Geschichten unglücklicher Menschen, die wochenlang auf den kleinen Inseln gefangen waren, auf den Gipfeln Feuer angezündet hatten und niemand war gekommen, sie zu retten. Es war November und selbst die Fischerboote wagten sich nicht so weit heraus.

Ich hatte keinen Respekt vor den Fischern, die in dieser Gegend immer noch mit Dynamit fischten und praktisch alle Fische dieser Gewässer ausgerottet hatten. Ich fuhr trotzdem nach Agía Galíni, ein im Winter trostloser Touristenort mit einem kleinen Hafen. Die Entfernung zu den Paximádia-Inseln betrug von hier knapp vierzehn Kilometer. Ich wusste, auf was ich mich einliess, als ich das Schlauchkanu aufpumpte, es zu Wasser liess und meinen Proviant darin verstaute. Noch war die See ruhig.

Vier Stunden später immer noch. Ich war auf den Inseln gelandet. Ein komisches Tier bewegte sich vor mir durchs Wasser, als ich von der Ost- auf die Westinsel paddelte. Ein Delphin war es nicht, auch kein anderer Kleinwal. Eine Seekuh? Erst später würde ich erfahren, dass ich am diesem Tag die wohl letzten lebenden Exemplare von Mönchsrobben in kretischen Gewässern zu Gesicht bekommen hatte. Die Mönchsrobbe, Monachus monachus, brauchte ungestörte Höhlen an Felsküsten, um ihre Jungen zur Welt zu bringen. Die griechischen Inseln hatten davon genug. Doch die zunehmende Tendenz, im Sommer mit Ausflugsbooten unzählige Touristen an jeden noch so abgelegenen Winkel der griechischen Meere zu fahren, würde noch in diesem Jahrzehnt zur Ausrottung der letzten Robbenart in den kretischen Gewässern führen.

Auch die Schnecken, die ich auf den beiden ansonsten trostlosen Inseln fand, waren interessant. Genau in dem Moment, als ich sie alle beisammen hatte und wieder nach Agía Galíni zurückpaddeln wollte, musste es unbedingt anfangen zu stürmen. Ich war gefangen und konnte nicht weg. Diesmal hatte ich keine Chance. Der Sturm kam von Osten. Er würde mich aufs offene Meer im Westen treiben. Das nächste Land wäre wahrscheinlich Malta. Ich konnte nur abwarten.

Es gab eine Stelle auf der winzigen und steilen Ostinsel, wo Süsswasser aus dem Berg tropfte. Leider hatte ich mir nur für zwei Tage zu Essen mitgenommen. Es stürmte und regnete. Ich nahm das Schlauchkanu als Zelt und legte mich an einen kleinen geschützen Kiesstrand. Eine Nacht. Es stürmte weiter. Zwei Nächte. Es stürmte noch weiter. Drei Nächte. Es stürmte immer noch weiter.

Tagsüber sammelte ich gründlich Schnecken auf der Ostinsel. Aber es war kalt, der Sturm zehrte an den Kräften. Schneckensammeln im Sturm kostete Energie. Den dritten Tag verbrachte ich zusammengekauert in einer engen Felsspalte. Doch auch hier war es kalt.

Am vierten Tag hatte ich den letzten Proviant verbraucht. Die Büsche auf den kargen Inseln gaben nichts her. Jetzt musste ich mir etwas einfallen lassen. Oststurm war in Kreta der seltenste Sturm, aber das half mir jetzt auch nichts. Die kretische Küste lag im Norden, Agía Galíni im Nordosten und der Sandstrand von Pitsídia im Osten. Nach Westen und Süden hin hatte ich das freie Meer.

Ich hatte Karten und führte genaue Berechnungen durch. Könnte ich es schaffen, das Kanu beim Oststurm auch nur ein bisschen nach Norden zu drücken, während ich vom Sturm nach Westen abgetrieben würde, dann könnte ich irgendwo zwischen hier und Frangokástelo an die kretische Küste gelangen. Frangokástelo lag achtunddreissig Kilometer entfernt im Westen. Ich berechnete Vektoren mit verschiedenen Unbekannten.

Erfahrung hatte ich nur darin, wieviel ich bei so einem Sturm abgetrieben wurde. Fünf Kilometer in der Stunde. Aber könnte ich es überhaupt schaffen, das Boot quer zum Wind zu halten, ohne bei den grossen Wellen zu kentern? Und wieviele Kilometer in der Stunde würde ich nach Norden vorankommen?

Oder wäre es schlauer, nach Nordosten zu paddeln, anstatt nach Norden, also praktisch gegen den Wind? So käme ich auch nach Norden, allerdings wesentlich langsamer und mit wesentlich mehr Kraftaufwand. Die grosse Unbekannte war der Kraftaufwand. Ich hatte keine Ahnung, nach wie vielen Stunden ich, der ich schon seit Tagen praktisch nichts mehr gegessen hatte, völlig erschöpft sein würde. Trotzdem, es musste etwas passieren. Ich konnte nicht zwei Wochen hier auf diesen Inseln bleiben. Nach zwei Wochen ohne Essen käme ich auch bei Windstille nicht mehr aus eigener Kraft an die Küste.

In der vierten Nacht entschied ich mich. Ich würde am nächsten Morgen in See stechen und mit allen Kräften versuchen, zur Küste zu paddeln. Ich betete, dass der Wind aufhören möge. Aber auch sonst würde ich in jedem Fall fahren. Und ich schlief gut in dieser Nacht.

Ich hätte nicht sagen können, warum ich so etwas machte. Ich nahm Manólis durchaus ernst. Bei bestimmten Winden gab es sicherlich gefährliche Strömungen, und retten würde mich im November von diesen Inseln niemand. Irgendwie hatte ich keine grossen Hemmungen davor, mein Leben zu riskieren. Dies war eine einfache Frage von Leben und Tod. Ich konnte mich nicht verletzen, stark unterkühlen oder anderweitig meine Gesundheit riskieren. Ich riskierte einfach nur das Leben. Erschöpft ins Wasser fallen und ertrinken oder nicht, war die einfache Frage. Ähnlich wie bei der Sifnos Express. Ich hätte viel grössere Hemmungen gehabt, wenn ich riskiert hätte, meine Schere oder Landkarte zu verlieren. Woher kam das?

Ich war es schon seit Jahren gewohnt, eine Lebensgarantie zu haben. Wenn ich mich verletzen konnte, war ich vorsichtig. Aber wenn ich nur sterben konnte, war ich immer schon wesentlich lockerer gewesen. Mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, es war eine Art Angewohnheit geworden, über die ich mir kaum noch Gedanken gemacht hatte. Ich verhielt mich einfach so, als hätte ich noch eine Lebensgarantie. So, als würde ich Viktoria irgendwie doch noch heiraten.

Ich wollte mir darüber auch keine Gedanken machen. Wenn ich noch eine Lebensgarantie hatte - bitte, dann sollte ich sie eben heiraten. Und wenn nicht, dann eben nicht, dann hatte ich eben keine Lebensgarantie. Vielleicht würde es mir dann auch nicht viel ausmachen zu sterben. Wer sollte denn bei dieser komplizierten Geschichte noch verstehen, was das alles bedeutete? Denn eigentlich fand ich es gemein. Fred hatte dieses Problem nicht gelöst.

Vor dem Traum im April 1977 hatte ich meine Frage präzise gestellt. Und sie war beantwortet worden - Viktoria würde ich einmal heiraten. Und nun hatte ich Viktoria verloren, weil ich Fehler gemacht hatte, genau wie Lula vor seiner verlorenen Wahl. Sie würde mich auch gar nicht heiraten wollen. Sie wollte ja noch nicht einmal mit mir sprechen. Wie sollte sie mich dann heiraten? Wer sollte denn bei dieser Sache noch irgendwas verstehen? Sicher war ich mir nur, dass es einen Gott Israels gab. Den Rest verstand ich nicht.

Es gab in der Bibel keine Geschichte, in der Gott jemandem ein Ereignis in der Zukunft vorausgesagt hatte, das dann nicht eingetreten war. Wo sich hinterher herausgestellt hatte, dass Gott so eine Prophezeihung nur deswegen formuliert hatte, um dem Menschen etwas vor Augen zu führen. Es gab viele Geschichten von Menschen, deren Glaube auf die Probe gestellt worden war - aber eigentlich immer mit fairen Mitteln. Ijob war ein Beispiel dafür.

Wenn es, wie Fred meinte, mein Schicksal gewesen sein sollte, dreizehn Jahre unglücklich verliebt gewesen zu sein - warum musste Gott das auf diese Weise zustande bringen? Nach wie vor blieben diese Fragen in der Luft. Ich fühlte mich wie jemand, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

Nun gut, streng genommen war in Mainz noch nichts endgültig entschieden worden. Was Viktoria gesagt hatte, bezog sich auf einen einzigen Tag. Was konnte Gott dafür, wenn sie mich am 19. September 1990 nicht sprechen wollte? Warum sollte sie das müssen? Wenn Viktoria eine Lebensgarantie hatte, hatte sie noch jede Menge Zeit, es sich anders zu überlegen. Bei der Sache mit Lula sah das vielleicht anders aus. Wenn Lula verliert, habe ich auch verloren. So hatte ich das formuliert. Weiter kam ich nicht.

Vielleicht sollte ich tatsächlich nicht weiter kommen. Vielleicht hatte Fred recht, wenn er sagte, es sei nicht gut, jedes Detail im Leben verstehen zu wollen. Und es gab wirklich diese Sachen, die sich hinterher von alleine aufklären würden. Vielleicht war es wirklich nicht die richtige Zeit.

Ich wachte noch einmal auf in der Nacht, doch es stürmte unentwegt weiter. Wie stark der Wind wohl am Morgen wäre? Egal, ich würde trotzdem aufbrechen.

Freitag, 16. November 1990

Ich wachte am frühen Morgen auf.

Windstille.

Keine schlechte Show. Kurz vor Anbruch des Morgens hatte sich der Sturm plötzlich gelegt und kein Lüftchen regte sich.

Ich setzte das Boot zu Wasser, trank noch ein wenig und paddelte zurück nach Agía Galíni. Das Meer war noch etwas aufgewühlt, aber neuer Wind kam nicht auf. Als ich nach fünf Stunden im Hafenort ankam, fiel ich völlig erschöpft vom Schlauchboot ins Wasser. Eine halbe Stunde später konnte ich meine Beine wieder bewegen und ging an Land. Eine Bäckerei hatte auf.

Gegen den Wind zu paddeln hätte ich keine zwei Stunden durchgehalten. Trotzdem würde ich zwei Jahre später so etwas noch einmal machen - diesmal zwischen zwei einsamen und acht Kilometer voneinander entfernten Inseln mitten im Libyschen Meer. Praktisch jeder aufkommende Sturm konnte mich hier aufs offene Meer treiben. Und in der Tat würde bei der Rücktour auf halber Strecke genau so ein Sturm einsetzen. Aber auch hier würde ich es mit letzter Kraft wieder auf die rettende Insel schaffen.

Jahrelang hatte ich versucht, Schritt für Schritt mehr vom Leben zu verstehen und hatte immer das Gefühl gehabt, vom Leben dazu eingeladen worden zu sein. Das hatte sich geändert. Vielleicht hatte ich Ferien, eine Pause, durfte mich ausruhen. Vielleicht hatte ich einfach nur freibekommen. Noch mehr wäre vielleicht über meine Kräfte gegangen.

In Iráklion verkauften sie auf dem Markt in der 1866-Strasse neben den üblichen englischsprachigen Urlauber-T-Shirts auch eines mit einem Motiv in griechischer Schrift. Es war ein Zitat von Nikos Kazantzakis.

Den elpizw tipota

Den fobaw tipota

Eimai leuteroV

Ich hoffe nichts

Ich fürchte nichts

Ich bin frei

Epilog

Ich war tatsächlich nicht mehr in Viktoria verliebt. Im Januar kehrte ich zurück nach Cismar, wo ich Vollrath im Museum weiterhalf. Noch einmal schlug er mir vor, Biologie zu studieren. Irene Westerwald hatte die Idee, ich könnte mich für Göttingen bewerben. Die Stadt kannte sie. Sie hatte dort in den siebziger Jahren eine Buchhandelslehre gemacht. Ich reichte meine Unterlagen bei der ZVS ein, wurde angenommen und fing Ende 1991 in Göttingen an.

Die Adresse ihrer besten Freundin gab mir Irene nicht. Nach der Trennung von Jens hatte Melanie genug Probleme als alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Dafür gab sie mir die Adresse von Thomas Grüter in der Wendenstrasse.

Den ich zweimal besuchte, von Irene grüsste und ihn fragte, ob er vielleicht eine freies Studentenzimmer in der überfüllten Universitätsstadt wüsste. Nein, er wüsste nichts, antwortete er einsilbig.

Eines Abends Anfang der neunziger Jahre sassen Lina und ich in Pinneberg bei Ilka, die sich von ihrem Freund getrennt hatte. Es wurde spät und Lina musste sich beeilen, um den letzten Zug nach Hamburg noch zu bekommen. Es regnete. Weder Lina noch ich hatten einen Schirm mitgenommen. Ich würde Lina mit Ilkas Regenschirm zum Bahnhof begleiten müssen.

- Ach so, Ilka, hmm. Das gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Ich bringe Lina zum Bahnhof, gehe danach entweder zu Norbert, übernachte dort wie sonst auch und bringe dir den Schirm morgen früh zurück - oder ich bringe dir den Schirm heute abend noch zurück. Wie möchtest du es?

Ilka sah mich an und überlegte. Ich musste in diesem Moment ausgestrahlt haben, wie froh und erleichtert ich war, dass ich diese Frage hatte stellen können.

- Bring den Schirm heute abend noch zurück.

- Bist du sicher?

- Ja.

- Bist du wirklich sicher?

- Ja, ich bin wirklich sicher.

Am Morgen gingen wir Hand in Hand den Fussweg an der Pinne entlang. Immer wieder sahen wir uns in tiefer Dankbarkeit an. Ich sah es als ein Geschenk des Lebens, dass Ilka die erste Frau war, die mit mir geschlafen hatte.

Parallel dazu lief auch noch eine erotische Begegnung mit Marion. Aber das ist eine andere Geschichte.

Für Ilka war ich der Zweite gewesen. Es war auch ihr anzusehen, wie schön sie das empfand und wie dankbar auch sie war. Und wir waren nicht ineinander verliebt. In dieser Zeit war ich immer noch sehr vorsichtig und fragte Gott vor jedem meiner Schritte. Linas Ideal, erst mit dem zu schlafen, den sie auch heiraten würde, hatte offenbar für mich keine Gültigkeit. Es war für Ilka und mich nie eine Frage, vielleicht heiraten zu können. Lina und Marion kannten sich auch, sie verstanden sich gut und wussten auch davon. Ganz sanft wurde ich in eine Freiheit entlassen, über die ich ein wenig überrascht war.

Überrascht, weil die strengeren christlichen Glaubensgemeinschaften, die Ideale von Jungfräulichkeit propagierten und Sexualität in den Bereich einer zu vermeidenden Sünde abqualifizierten, sich auf Stellen in der Bibel bezogen. Doch an Gottes Realität schienen diese Religionen vorbeizuleben, wenn sie diese Ideale als für alle Menschen uneingeschränkt gültig hinstellten. Es gab Sinn, dass solche starren Haltungen nicht gerade Gottes Einstellung zum Leben widerspiegelten. Auch Jesus von Nazareth hatte sich über verkrustete Haltungen in der israelischen Religion aufgeregt.

Melanie lernte ich völlig zufällig durch eine Kontaktanzeige im Göttinger Stadtmagazin charakter im Sommer 1997 kennen. Wir trafen uns ein paarmal in verschiedenen Göttinger Kneipen und konnten anfangs nicht viel miteinander anfangen. Dass wir viele gemeinsame Interessen hatten, würden wir erst viel später entdecken. So sassen wir eines Abends im Schucan am Kornmarkt und wussten eigentlich kaum noch, über was wir uns unterhalten sollten. Ich fing aus Verlegenheit an, etwas von mir zu erzählen und dass ich schon in Bayern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein gelebt hatte. Vielleicht würde sich ja zufällig irgendeine Verbindung ergeben. Bei Schleswig-Holstein hakte sie nach.

- Wo genau da in Schleswig-Holstein? Ein bisschen kenn ich mich da aus.

- Das ist ein ganz kleines Kaff, das kennst du bestimmt nicht, an der Ostsee, bei Lübeck in der Nähe, Lübeck kennst du vielleicht-

- Ja, wie heisst der Ort denn?

- Neustadt-

- Ich weiss, wo Neustadt liegt, das kenn ich ganz gut. Da wohnt meine beste Freundin.

Oh. Sieh mal an. Ausgerechnet in Neustadt. Noch eine kurze Klärung, ja, es war eindeutig dieses Neustadt, das sie kannte, nicht eins der anderen achtzehn.

Ich lehnte mich zurück. Neustadt hatte fünfzehntausend Einwohner. Wer in Neustadt könnte zu ihr passen? Ich lehnte mich noch etwas weiter zurück, lächelte sie an. Dann sah ich nochmal an die Decke. Was folgte, war ein sehr langer Moment. Dann hatte ich eine Idee. Entweder es würde ein voller Erfolg werden, oder ich würde mich total blamieren. Ich könnte Mechthild sagen. Oder Irene. Wer würde besser zu ihr passen? Irene Westerwald? Irene hätte mir aber sicher die Adresse ihrer Freundin gegeben, damals, vor sechs Jahren. Also Mechthild? Aber würde Melanie zu Mechthild passen? Je länger ich in diesen Sekundenbruchteilen nachdachte, desto sicherer war ich mir, Mechthild war die falsche Antwort. Ich sollte jetzt nicht Mechthild Holzer sagen.

Auf die pastellgelben Wände hatten sie in Wischtechnik grosse leuchtend orange und grüne Pflanzenmotive gemalt. Ich entschloss mich, den Satz nur vor mich hinzumurmeln. Würde sie den Namen nicht kennen, würde sie kaum reagieren, und die Blamage würde sich in Grenzen halten.

- Sagblossdukennstirenewesterwald.

- ??! Bitte? Was hast du eben gesagt? Ich hab das eben nicht verstanden, kannst du das nochmal wiederholen?

Jetzt sah ich sie an. Ihre Reaktion verriet tatsächlich, sie musste den Namen herausgehört haben. Irene war anscheinend ganz gut bekannt in Deutschland. Ich wiederholte den Satz, diesmal deutlich.

- Sag bloss, du kennst Irene Westerwald?

Sie sah mich sehr komisch an. Ihre Gedanken waren nicht schwer zu erraten. Konnte der Gedanken lesen? Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sie war es, die die Chiffre-Anzeige im charakter aufgegeben hatte, ich war eine von zwanzig Zuschriften und ich konnte weder etwas von ihr und schon gar nichts von ihrer Neustädter Freundin wissen. Sie verstand absolut nicht, was hier gespielt wurde.

- Kannst du Gedanken lesen???

- Nee, ich hab nur gefragt, ob du Irene Westerwald kennst. Die Frage muss ja erlaubt sein. Du musst ja nicht zugeben, dass du sie kennst. Kannst ja mit nein antworten. Eine kleine dünne? Mit langen glatten Haaren? Und Brille? Nö, die kenne ich nicht. Die habe ich nie gesehen.

Als ich zwei Wochenenden später das erste Mal eine Nacht mit Melanie verbrachte, bemerkte ich, dass ich ihr vorher noch nicht in die Augen gesehen hatte. In ihren Augen war Magie. Lange hatte ich diese Augen gesucht. Ich hatte schon immer vermutet, dass ich die Frau meines Lebens eines Tages an ihren Augen erkennen würde.

Melanie und ich heirateten zwei Wochen später.

Lina blieb sich treu. Anfang der neunziger Jahre erfuhr ich, dass sie geheiratet hatte. Sie hatte tatsächlich erst mit dem geschlafen, den sie einmal heiraten würde.

Jutta wurde Bauingenieurin in Darmstadt und gründete dort eine Familie. Als ihre Oma mit über hundert Jahren starb, gehörte sie zu den wenigen Menschen, die in ihrem Leben drei Jahrhunderte gesehen hatten.

Fred blieb bei der Physik und ging später an die Uni nach Amsterdam. Jochen wurde Informatiker und zog nach Lübeck.

Dagoberto el costeño kam nach langer Reise tatsächlich in New Jersey an, wo es eine kolumbianische Gemeinde gab und er ein paar Jahre später heiratete.

Fernando Henrique Cardoso regierte Brasilien seit 1994 und wurde 1998 bereits im ersten Wahlgang als Präsident wiedergewählt.

Bei den vier Jahre später folgenden Präsidentschaftswahlen wurde am 27. Oktober 2002 der zum vierten Mal in Folge kandidierende Luis Inácio Lula da Silva mit 61,3 Prozent gewählt und erhielt mehr Stimmen als jeder andere brasilianische Präsident zuvor.

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[1] Nach dem Reiseführer Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams war ein Handtuch der so ziemlich nützlichste Gegenstand, den ein Anhalter überhaupt dabeihaben konnte. Eigentlich war es kaum möglich, ohne sein Handtuch zu trampen.

[2] Bedeutete möglicherweise nicht Weinland, sondern Wiesenland, altnorwegisch vin = Wiese. Leifur Eriksson, 1002. Weintrauben sind in den um 1200 entstandenen Wikinger-Sagas jedoch auch dokumentiert. Die Wikinger siedelten dort bis mindestens 1120, danach verlor sich der Kontakt zu Europa.

[3] Nockamixon, in der Sprache der Lenape nocha-miska-ing, "Ort der weichen Erde".

[4] Der Fluss Delaware wurde 1610 nach Lord de la Warr benannt, Gouverneur von Virginia, und wurde später auch auf die etwa 20000 Lenape-Indianer von Süd-New York, New Jersey und Ost-Pennsylvania bezogen. Von denen waren bereits 1675 nur noch 4000 übrig, die von den Weissen nach 1700 immer weiter nach Westen vertrieben wurden, Ohio, Indiana, Missouri, bis sie schliesslich in Kansas landeten. Von dort mussten sie 1867 nach Oklahoma, wo die meisten Lenape bis heute leben.

[5] Pennsylvania bildete eine Ausnahme. Teile dieses Bundesstaates gehören den Vereinigten Staaten wohl tatsächlich, die Veträge von William Penn waren offenbar völkerrechtlich gültig.

[6] The Hitch Hiker's Guide to the Galaxy (Band 1), Douglas Adams, 1979.

[7] Matthäus 7, 7.

[8] Eigentlich nicht verboten, aber die Afrikaner kamen aus vielen verschiedenen Gebieten und hatten ausser der Musik keine gemeinsame Sprache. Die Furcht der Weissen war nicht unbegründet. Nach einem erfolgreichen Sklavenaufstand 1791 wurde in Haïti zwei Jahre später die Sklaverei abgeschafft. Seit 1804 von Frankreich unabhängig, wurde das von Schwarzen regierte Haïti erst 1862 von den USA anerkannt.

[9] The Hitch Hiker's Guide to the Galaxy, Band 1.

[10] Vera Cruz, USA 1954, mit Burt Lancaster und Gary Cooper. Zwei Desperados aus den USA zieht es 1866 nach Mexico, wo sie die Kutsche einer Gräfin auf dem Weg von Mexico an die Küste nach Veracruz bewachen sollen. Sie entdecken, dass in der Kutsche Gold versteckt ist. Gold, um in Europa Waffen für den Kampf der Monarchie gegen die Revolutionäre zu bezahlen. Am Ende wendet sich alles zum Guten und das Gold fällt in Veracruz den Revolutionären von Benito Juárez in die Hände.

[11] Aussprache Tlaskala oder Tlachkala.

[12] Aussprache Oachaka.

[13] Solche Briefe waren eher Dokumentation als Kommunikation. Ich zitiere sie nicht immer ganz wörtlich.

[14] Aussprache Ushmal, die Mayas nahmen das x für sh.

[15] Viva Zapata!, USA 1951, mit Marlon Brando, Harold Gordon und Anthony Quinn. Anthony Quinn war übrigens auch Mexikaner, Sohn eines Iren und einer Mexikanerin aus Chihuahua.

[16] Gegner der sandinistischen Regierung Nicaraguas.

[17] Willkommen! Nigaragua - Land von freien Menschen.

[18] Frente Sandinista de Liberación Nacional, Nationale Sandinistische Befreiungsfront, nach Augosto César Sandino (1895-1934), Guerillero, nach Somozas Putsch von dessen Truppen ermordet.

[19] Cassiopeia.

[20] Maniok, Spanisch yuca.

[21] Maniok heisst auf Englisch cassava, aber hier war es die Bezeichnung einer bestimmten Zubereitungsart.

[22] Stimmt nicht, Kolumbus hatte auf seiner dritten Reise 1498 die Orinoco-Mündung in Südamerika entdeckt. Auf der vierten Reise versuchte Kolumbus 1502, eine Westpassage zu entdecken und stiess auf die Küste von Honduras, allerdings weit westlich von hier, auf der Höhe von La Ceiba. Er fuhr die ganze Küste entlang bis Panamá und entdeckte keine Durchfahrt zum Pazifik.

[23] Mískito, Sumu und Pech.

[24] The Hitch Hiker's Guide to the Galaxy (Band 1), Douglas Adams, 1979.

[25] Alto Comisionado de las Naciones Unidas para los Refugiados, Hohes Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen.

[26] Das mit den aufgeblasenen Wasserbäuchen bei den Kindern der Garífuna müsste wirklich nicht sein. Ursache für die Fehlernährung war weniger die Armut als vielmehr eine ziemlich verantwortungslose traditionell-patriarchalische Verteilung der Lebensmittel in der Familie in Verbindung mit einer krassen Unkenntnis der Ernährungsbedürfnisse von Kindern.

[27] Stimmte sogar.

[28] Alle zum umtauschen - Neue Córdobas, die sind was Wert!

[29] Die Einführung der Wehrpflicht galt später als die Hauptursache, weswegen die Sandinisten 1990 die Wahlen gegen die Konservativen unter Violeta Chamorro verloren haben.

[30] Swietenia macrophylla, Mexico bis tropisches Südamerika ohne Amazonasbecken, Holz als Echtes Mahagoni im Handel, mittelamerikanisches Spanisch cáoba. Stark gefährdet und international geschützt.

[31] Grüner Leguan, Iguana iguana, Mexico bis Nordost-Brasilien.

[32] Sie hatten extra Häuser mit Plumpsklos gebaut. Ich hatte praktisch immer Durchfall in dieser Zeit. Muss an der hohen Zahl an tropischen Keimen gelegen haben, an die ich mich nie gewöhnen konnte. Einmal muss ich auch Würmer gehabt haben, die gingen nach ein paar Wochen wieder weg.

[33] Wenn sie kommen, haben wir eine Machete.

[34] Schlecht.

[35] Nee, da war noch ein kleiner Zusatz dabei, "oder jeder Mann will, dass seine Frau..."

[36] Spanisch für Schmetterling.

[37] Spanisch für Grenze. Als Hundenamen dienten irgendwelche schönklingenden spanischen Wörter.

[38] Bothrops asper, Mexico bis Ecuador, bis 1,60 m lang, braun mit Tarnmuster. Ernährt sich von Kleinsäugern und Vögeln, häufig in Kulturland, Zuckerrohrplantagen und an Gewässerufern. Dringt in Siedlungen ein. Biss hochgiftig, oft tödlich, meist durch intrakranielle Blutungen (Hämaturie, Hämatemesis, zerebrale Krampfanfälle, schwere Störungen der Blutgerinnung).

[39] Die vierzehn giftigsten Schlangenarten der Welt leben in Australien. Auch die Indische Kobra (Naja naja, LD50 = 0.28) gilt als über zehnmal so giftig wie die Barba Amarilla. Die Schwarze Mamba (Dendroaspis polylepsis) ist etwa doppelt so giftig wie die Indische Kobra.

[40] Anspielung auf eine Äusserung im Vorwort des Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis.

[41] Donde no hay doctor: una guía para los campesinos que viven lejos de los centros médicos (Wo es keinen Arzt gibt: ein Führer für Bauern, die fern von den medizinischen Zentren leben), David Werner, 1973.

[42] Spanisch chico = klein, chiquito = Verkleinerung von klein, chíquito = wie alles bei den Mískitos immer auf der ersten Silbe betont.

[43] Mittelamerikanischer Tapir, Jungtier, Tapirus bairdi, Süd-Mexico bis Kolumbien, 1996 international als "gefährdet" (vulnerable) eingestuft. Waldtier, an Gewässern, bis 2,40 m lang. In El Salvador seit 1982 ausgerottet, in Nicaragua und Honduras stark gefährdet, nach 1990 wurden für Honduras nur noch 1000 Tiere geschätzt, Tendenz sinkend. Niedrige Fortpflanzungsrate (Weibchen bekommt nur alle drei Jahre ein Junges). Wurden früher nicht von den Sumus gejagt, erst seit kurzer Zeit, was im Zusammenspiel mit der Überbesiedlung in der Region und damit einhergehender Waldzerstörung schnell zur Ausrottung führen dürfte. Betonung von ibíhina auf der zweiten Silbe, also nicht Mískito, Spanisch auch nicht, vielleicht Sumu.

[44] Wieder angespielt auf das Vorwort von Per Anhalter durch die Galaxis.

[45] Zitat von Otto Waalkes, aus irgendeiner Otto-Show.

[46] Wampusirpi = kleines Wampú, Miskito sirpi = klein, Wampú ist Sumu.

[47] Das könnte sich später geändert haben, Sprachen wie Mískito und Garífuna wurden später offenbar auch Schulsprachen.

[48] Mískito auas = Kiefer(n), bila = Sprache. "Sprechende Kiefern".

[49] Spanisch llano = flach, bezeichnet hier eine trockene, steppenartige Flachlandschaft mit Kiefernbesatz.

[50] Mískito für tschüs.

[51] Mískito sixa = schwarz, tingni = tief. Nach dem tiefen dunklen See.

[52] Die Sturmtruppen kursierten manchmal in Neustadt rum, auch in Clever & Smart gab es entsprechende Szenen.

[53] Aussprache Leymus.

[54] Falsch, hundert Kilometer nordöstlich. Ich hatte keine Ahnung von den Entfernungen.

[55] Hochspanisch para que hablamos = damit wir uns unterhalten.

[56] Yapti Tasba Masraka Nanih Aslatakanka - Organisation der Kinder der Mutter Erde. Bewaffneter Kampf gegen die Sandinisten ab 1981.

[57] Spanisch Iglesia Morava, Englisch Moravian Church, deutsche Bezeichnung Brüdergemeine (sic). Protestantische Glaubensgemeinschaft, gegründet 1457 östlich von Prag in Tschechien von Anhängern des 1415 von der katholischen Kirche ermordeten Priesters Jan Hus. Später schwer verfolgt (history/). Hat viel unter Indianern missioniert, Karibik und Nordamerika. Heute mehrheitliche Glaubensrichtung an der nicaraguanischen Atlantikküste, im Gegensatz zur katholischen Pazifikküste (miskito-nicaragua.de).

[58] Die Ähnlichkeit mit dem Design der DDR-Stempel war frappierend.

[59] Bauministerium. Sah eher nach Waffenproduktion aus.

[60] Die Mosquitia war vor 1894 unabhängig oder britisch (vor 1787). 1894 marschierte Nicaragua ein, nahm sich das Land und verbot nicht-spanische Schulen. Die Somoza-Diktatur hat sich um die Mosquitia nur wenig gekümmert, und so gab es selten Probleme. Die Indianer betrachten sich nach wie vor theoretisch als souverän, ähnlich wie Belize von Guatemala souverän ist, und die Besetzung 1894 durch Nicaragua völkerrechtswidrig. Die Sandinisten dürften das gar nicht gewusst haben.

[61] Das ll wird in Honduras und Nicaragua kaum ausgesprochen, oder nur als schwaches deutsches j. Silla und sía hört sich dort gleich an.

[62] Das mit dem Erfolg war so eine Sache. Nach 1990 hat YATAMA die Waffen abgegeben, doch ihre Hoffnung auf Autonomie erfüllte sich nicht. Zu den Kommunalwahlen 2000 wurde die Mískito-Partei nicht einmal zugelassen, was Kämpfe und massiven (85 %) Wahlboykott zur Folge hatte.

[63] Flüchtlingsrückführung.

[64] Mískito mana = teuer, wertvoll; Spanisch agua = Wasser.

[65] Happy End.

[66] Miskito mayara = flussabwärts.

[67] Strassenblocks. Medellín ist schachbrettartig aufgebaut, 1 cuadra = 80 m.

[68] Wir nehmen täglich Drogen, damit wir schlafen können.

[69] Du bist Freund Punker? Absichtlich nahm ich die tu-Form, die in Panamá dem deutschen du entsprach.

[70] Enemigo = Feind.

[71] Es handelte sich am 3. Mai 1986 um eine Aktion der Friedensgruppe gegen die Einführung des neuen maschinenlesbaren Personalausweises. Dabei hatten wir Ausweise in Grösse A6 vorbereitet, unpersönlich, mit lauter Barcodes und undurchschaubaren Nummern, die an die Leute ausgegeben wurden. Sie sahen auf den ersten Blick ziemlich professionell aus. Anstelle eines Lichtbildes befand sich ein Fingerabdruck. Statt Deutschland hatten wir Deutschhund draufgeschrieben. In Nicaragua hatte ich befürchtet, dadurch könnte es auffliegen.

[72] Renato, 1986. Das Mädchen mit den kaffeebraunen Augen.

[73] "Wenn er wenigstens sein hijueputa-Bett machen würde, dieser geisteskranke Deutsche!" Hijueputa, eigentlich hijo de puta = hijo de prostituta = Sohn einer Prostituierten. Sehr unfeines Vokabular. Gewöhnte ich mir natürlich gleich an.

[74] Spanisch pájaro = Singvogel, hier etwa: Libero.

[75] Strasse.

[76] Kaffeeanbauer.

[77] Spanisch lejos = weit, lejote ist eine Steigerungsform von lejos, ultraweit.

[78] Hochebene.

[79] Muss irgendeine historische Abkürzung sein, die später beibehalten wurde. Auf der Homepage () ist es ihnen offenbar zu peinlich, zuzugeben was sie ursprünglich bedeutete.

[80] Joseph Smith: Buch Mormon, 1823-1826, veröffentlicht 1830.

[81] Zaphod Beeblebrox zu Marvin in Band 2. Marvins Antwort: Hört sich grässlich an.

[82] Ford Prefect zu Arthur Dent in Band 1, kurz vor dem Vogonenangriff.

[83] Ford Prefect im Gespräch mit Arthur Dent und zwei Mädchen auf der prähistorischen Erde.

[84] Aus der Schluss-Szene aus dem Anhalter-Film. Weicht von Buch (Ende Band 1) leicht ab.

[85] Band 1, Arthur unterhielt sich mit Slartibartfass, der ihm gesagt hatte, jeder im Universum habe eine Paranoia. Wenn jeder so etwas habe, könnte das ja was bedeuten, hatte Arthur gehofft. Der alte Slartibartfass hatte entgegnet, die Chancen, herauszufinden was wirklich im Universum passierte, seien so lächerlich gering, dass es besser sei, es aufzugeben und sich anstattdessen einfach eine Beschäftigung zu suchen. Slartibartfass arbeitete auf dem Planeten Magrathea, wo die Erde als riesiger Supercomputer mit organischer Matrix gebaut worden war. Sein Job war es gewesen, die Küstenlinien zu entwerfen. Besonders viel Mühe hatte er sich bei Norwegen gegeben.

[86] Eigene Übersetzung aus dem griechischen Original.

[87] Ich spreche Quichua, aber ich weiss nicht, ob ihr das versteht.

[88] Wurde auch durchgesetzt, nach der Machtübernahme 1989.

[89] Curapil Curruhuinca & Luis Roux, Las Matanzas del Neuquén. Crónicas mapuches, 1984, Edición Plus Ultra, Buenos Aires.

[90] Chomun Nguen = Herbst; inche = ich; ichechalineimi = ich grüsse dich; mapu = Erde; che = Mensch; inchepoyeneimi = ich liebe dich.

[91] Mystische Richtung des Islam, um 800 in Basra erstmals von der Irakerin Rabi'a al-Adawiyya in Worte gefasst. Frühe islamische Asketen waren mit Gewändern aus grob wollenen Stoff (suf) bekleidet.

[92] Partido do Movimento Democrático do Brasil

[93] Diese Anekdote wurde später in der brasilianischen Geschichtsschreibung anders bewertet, wo ihm besonders von linker Seite mehr Wirkung beigemessen wurde als es in Wirklichkeit gehabt hatte.

[94] Anspielung an die Szene in Per Anhalter durch dieGalaxis, wo Douglas Adams irgendeinen Ort in der Galaxis Frankreich genannt und dazugeschrieben hatte, der Name sei ein völlig unbedeutender Zufall.

[95] Panflöten, australische Musik.

[96] Lange Zeit dachte ich, es hiesse Vorarbeiter. Die korrekte Übersetzung lautet Polier. Ich schrieb artesano.

[97] Er sprach das Englisch aus, es war aber kein englisches Wort. Es kann sein, dass sie es in dieser Gegend aus dem Französischen entlehnt hatten, la colle, Fliesenkleber.

[98] Guayaba oder Guava. Tropische Frucht, ähnlich wie Kiwi, nur lieblicher.

[99] Grobes Maniokmehl, Portugiesisch farinha de mandioca.

[100] Orion

[101] Cassiopeia

[102] Stier

[103] Blame it on the rain, Milli Vanilli, 1989.

[104] Und wenn das Licht ausgeht, was wird danach kommen? Das absolute Nichts, und so reisen wir durch die Unendlichkeit... bis wir in einem anderen Körper wiedergeboren werden...

[105] Aus Per Anhalter durch die Galaxis, Band 1. Immer wieder glitten unsere Gespräche in den Anhalter ab, fingen sich dann aber wieder. Douglas Adams hatte in seinem Roman nebenbei auch philosophische Fragen abgehandelt, gibt es einen Gott oder nicht?, und steuerte manchmal ganz nette und witzige Ideen bei.

[106] Diese Antwort von mir musste kommen. Fred war brilliant. Er legte sich seine Argumente so zurecht, dass ich immer wieder irgendein Anhalter-Zitat bringen musste und er durch den Tonfall in meiner Stimme ein Feedback bekam, was ich von seiner Argumentation hielt. Zweiundvierzig war Supercomputer Deep Thought's Antwort auf die letzte aller Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Die Menschen erkannten daraufhin, dass das eigentliche Problem darin bestand, die Frage zu formulieren.

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